Chen long bin mobil oct 2013

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Drucksachen

Neue Erscheinung Auf der Frankfurter Buchmesse kämpfen Tausende von Werken um Aufmerksamkeit. Nicht alle werden sie bekommen. Die missachteten aber erhalten eine zweite Chance – recycelt als Kunstwerk. Text: Helmut Ziegler

E Glückszahl 13: Der taiwanesische Künstler Long-Bin Chen fertigt Skulpturen aus alten Telefonbüchern.

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s gibt recht präzise Zahlen da­ rüber, wie viele Bücher jedes Jahr in Deutschland neu ver­ öffentlicht werden – zuletzt rund 78 000. Es gibt zumin­ dest grobe Schätzungen darüber, wie viele ungelesen bleiben – sieben Prozent der Bundesbürger sagen, dass sie zwar Bücher kaufen, aber nicht konsumieren. Worüber es aber kaum verlässliche Informationen gibt, ist die Frage, was eigentlich mit all den verschmähten Exemplaren geschieht. Verstauben sie im Regal? Wandern sie Atemtherapie: Installation von Edith ins Altpapier? Werden sie im öffentlichen Kollath, in der sich ein Exemplar der Bibel und des Korans gegenseitig Luft zuhauchen. Nahverkehr ausgesetzt oder gleich zu Dämmmaterial für den Hausbau zerhäck­ selt? Nun, zumindest nicht alle. Einer kleinen Gruppe von Druckwer­ – mit Haken versehen an die Wand gebracht – zur Gar­ ken gelingt die Wiederauferstehung, in­ derobe, ebenso bearbeitete kleinere Werke zum dem sie recycelt werden. Man schafft etwa »Schlüsselroman«. Findige Redesigner verwandeln mit einem Skalpell in einem Folianten alte Werke gar zu Handtaschen oder Laptophüllen. Den großen Sprung auf der Karriereleiter schaffen Platz, legt Folie hinein, gibt Erde dazu – fertig ist der Blumentopf. Großformatige Bücher aber dann, wenn sich ihnen jemand gewalt­ Bände wie der »Diercke Weltatlas« werden sam nähert: die Seiten zerschneidet, es mit Hammer mobil 10.2013 103


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Der Literatur einen neuen Tempel errichtet: Landschaft von Guy Laramée.

Kunst aus Büchern I Zur Frankfurter Buchmesse [9. bis 13. Oktober] erscheint ein Katalog von Edith Kollath, der mit Linsenraster-Drucken ihre bewegliche Kunst erfahrbar macht: »Manoeuvre of Plenty«, Distanz Verlag, 80 Seiten, 34,90 € www.edithkollath.net

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und Meißel bearbeitet oder gleich Tausende von Ex­ emplaren in raumfüllende Installationen verwandelt. Vom Informationsträger zum Kunstwerk. Beide Ideen, Wiederverwertung wie Aufwertung, finden sich in den Arbeiten des US-Amerikaners Jim Rosenau. Er treibt jene Idee weiter, dass Bücherwän­ de auch als intellektuelle Tapete fungieren können: Ausgediente Ratgeber werden von ihm zu Regalen umfunktioniert. Und dies durchaus mit Humor, wenn die Regalstützen Titel tragen wie »The Fine Art Of Reading«. Edith Kollath dagegen, in Berlin lebend, haucht alten Werken buchstäblich neues Leben ein. Prosa und Lyrik, etwa Gedichte des britischen Exzentrikers Dante Gabriel Rossetti, postiert sie auf einem Sockel, wo sie sich im Rhythmus des menschlichen Atems öffnen und schließen. In einer aktuellen Installation stehen sich sogar Bibel und Koran gegenüber, fried­ lich einander Luft zuhauchend. Möglich gemacht wird dies durch programmierte Motoren in den Bü­ chern, die aber verborgen bleiben, da die Seiten so miteinander vernäht sind, dass sich das Buch nur bis zu einem bestimmten Grad aufbläst. »Die Bücher sol­ len ihre Geschichte, die im Buch, aber auch die ihrer Vorbesitzer, räumlich weitergeben«, sagt Kollath.

Manchmal erzählen ihre Installationen sogar eigene Geschichten. Etwa die, als Kollath von New York nach Hamburg flie­ gen wollte, im Handgepäck zwei ihrer Kunstwerke. Nach der Sicherheitskontrol­ le war sie plötzlich, von Polizisten und FBI-Beamten umgeben, die einzig verblie­ bene zivile Person am Terminal. Sogar ein Helikopter samt Bombenentschärfungs­ team war im Einsatz. Fünf Stunden dauer­ te es, bis nach einem CIA-Check klar war, dass sie keine Terroristin ist. »Seither bin ich mir nicht mehr sicher«, bilanziert Kol­ lath bitter lachend, »dass die Feder mäch­ tiger ist als das Schwert.« Deutsche Künstler wagen sich aller­ dings selten auf eine Weise an Bücher, dass etwas vollkommen Neues entsteht. Der im September vergebene Preis der Stif­ tung Buchkunst zeigte erneut, sie gestal­ ten überaus kunst- und liebevoll, die visu­ elle und haptische Erscheinung arbeitet aber stets mit dem Inhalt, nicht gegen ihn. Ausländische Künstler besitzen da weni­ ger Respekt vor dem Heiligtum Buch. Als


Die hohe Kunst des Lesens: Bücherregal aus Büchern von Jim Rosenau.

Zerstörung und Bewahrung zugleich: Skulptur von Georgia Russell.

»Book Art« firmiert jene Richtung, welche die Hierarchie von Form und Inhalt des Mediums neu definiert – auch angesichts des technologischen Fortschritts, der dem Holzbuch deutlich zu schaffen macht. Die Schottin Georgia Russell reagiert direkt auf diese Entwicklung. So schred­ derte sie das Buch »De Baudelaire Au Surréalisme«, bis es einer Perücke bei Windstärke zehn ähnelte. Anschließend stülpte sie aber – wie in einem Museum – eine Glasglocke über die neu entstandene Skulptur. »In jedem meiner Objekte«, sag­ te sie, »geht es um die Gleichzeitigkeit von Verlust und Bewahren.« Der Kanadier Guy Laramée dagegen schleift Bücher erst mit dem Sandstrahler ab, um dann in feiner Handarbeit Land­ schaften wie Zen-Gärten, Wellen- oder Bergtäler entstehen zu lassen. Er versteht seine Arbeit als Opferung im kultischen Sinne: »Manche Menschen würden das Opfer gern vor seinem Schicksal retten. Aber in diesem Denken zeigt sich, dass ih­ nen der Gedanke an die Vergänglichkeit aller Dinge nicht bewusst ist.« Mike Stilkey aus Los Angeles arbeitet wieder anders. Einzelne Bücher interessie­ ren ihn nicht die Bohne, er nutzt sie hau­ fenweise. Rund 5000 Stück, ordentlich gestapelt, dienten beispielsweise als Lein­ wand für das expressionistisch anmuten­ de Gemälde »See What You Say«, bei dem stellenweise noch die originalen Buchrü­ cken aufblitzten. »Ich träume davon«, sagt er, den inzwischen diverse Bibliotheken mit ihren Überschüssen beliefern, »dass 106 mobil 10.2013


Zersetzte Werte: Eingeweichte, zermanschte und neu formatierte Buchseiten von Lisa Kokin.

Im Taumel der Lektüre: Installation von Alicia Martín.

Kunst aus Büchern II Kunstwerke, gefertigt aus Büchern, kann man ganz altmodisch auch zweidimensional in anderen Büchern erfahren. Paul Sloman [Hrsg.]: »Book Art«, Gestalten Verlag, 208 Seiten, 29,90 € shop.gestalten.com

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die Farben und die Buchstaben miteinander kommuni­ zieren – und hier, in ihrem zweiten Leben, tun sie es.« Viele Bücher erleben inzwischen so ein zweites Le­ ben. Telefonbücher mutieren mithilfe einer Flex zu Köpfen antiker Gottheiten. Die Titelseiten billiger Krimis wandeln sich zu albtraumgleichen Pop-upCollagen. Und natürlich wird gefaltet, geknickt, geris­ sen, zerschnitten, was die Seiten hergeben: Landkar­ ten ähneln Origami-Quallen, aufgeschlagene Werke tragen einen Irokesen, ausrasierte Zeilen verschiede­ ner Bücher sind miteinander verschlungen. Mehr als raumfüllend schließlich sind die Arbei­ ten von Alicia Martín. Kaskadengleich – um drasti­ schere Begriffe zu vermeiden – ergießen sich in Wer­

ken wie »Biographies« mehrere Tausend Bücher um Kunststoffrohre aus Gebäude­ fenstern direkt auf die Straße. Der Frage »Ist das Kunst oder kann das weg?«, ver­ weigert sich die Spanierin, weist aber da­ rauf hin, dass kein Buch während ihrer Installation verletzt wurde. Wie auch immer, das Buch, seit Jahrhun­ derten der physische Körper für geistige Ideen, lebt auf diese Art weiter. Man darf gespannt sein, ob den nahezu im Sekun­ dentakt upgedateten E-Books ein ähnlich ausdauerndes, ähnlich originelles Schick­ sal bestimmt ist.

Fotos: one buddha, two systems [new york], 2008, courtesy plum blossoms gallery; Edith Kollath DUETT, BIBLE & KORAN, mixed media installatin: antiuquarian books, electrical mechanism, approx. 40 x 30 x 25 cm, 2013. Edith Kollath „Manoeuvre of Plenty“, 13. September – 1. November 2013, COLLECTIVA, Berlin. © Artist & COLLECTIVA, Berlin; Larousse Méthodique, 2011. Carved books, inks, tar. 9 x 5 x 12 inches. Courtesy of Jayne H. Baum/JHB Gallery, New York; mikestilkey.com; Georgia Russell ‚English to Hindustani Dictionary‘ Cut book in a bell jar, Photograph courtesy England & Co Gallery, London; Jim Rosenau/thisintothat.com, Foto: Kim Harrington; Kunst in die Stadt - Alicia Martin Copyright: Alicia Martin, Biografias 2003, Casa de América, Palacio de Linares, Madrid, Foto: Mario Marquerie; Lisa Roozendaal/Jagwire Design

Das Druckwerk als hoch gestapelte Leinwand: Gemälde von Mike Stilkey.


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