Marie T. Martin
Lu�post Erzählungen
poetenladen
Erste Auflage 2011 © 2011 poetenladen, Leipzig Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-940691-20-0 Illustration und Umschlaggestaltung: Miriam Zedelius Druck: Pöge Druck, Leipzig Printed in Germany poetenladen, Blumenstraße 25, 04155 Leipzig, Germany www.poetenladen-der-verlag.de www.poetenladen.de verlag@poetenladen.de
INhaLT
Lupost
7
Nachmittag
17
Füner Stock
26
Drei Teller
35
Grünspan
43
Er käme
50
Niemand
57
Nebenrolle
64
Lichtnetz
71
Fallschirm Flieger Wind
78 91
98
Winterreise
109
Packmans Party Morgens
134
124
6
LuFTPoST
Ich öffne die Tür und sehe Fiona im Wartezimmer, sie sitzt auf dem äußersten Rand des Stuhles, als wolle sie jederzeit aufspringen. Ihre Stirn ist gerunzelt, ich bin nur hier, weil ich soll, sagt ihre Haltung. Sie steht auf und folgt mir, zieht die Jacke nicht aus und setzt sich mit verschränkten Armen vor mich. Ich hee das Rezept ab und klickere mit dem Kugelschreiber, gerne würde ich auf eine andere Art mit ihr kommunizieren als zu sprechen, wir könnten mit unseren Kulis um die Wette klickern, bis die Stunde um ist. Ich denke an meine Mentorin, wie sie mit einer Patientin, die nicht sprechen wollte, einfach Monat um Monat spazieren gegangen ist und irgendetwas in die Akte eingetragen hat, sie gingen am Fluss entlang, die Hände in den Hosentaschen, und schwiegen, bis das Mädchen nach ein paar Monaten anfing zu sprechen, einfach so. Ich drehe den Kugelschreiber in der Hand und drehe und drehe und drehe. Der Postbote brachte Botschaen aus anderen Welten. Was wohl die Marsmenschen für eine Sprache beherrschten? Wir dachten uns ein Alphabet aus und schrieben ihnen einen Brief, wir befinden uns hier, und dass sie uns bald abholen sollten. Ich steckte die Abschri in meine Geheimschublade, in der ich alle wichtigen 7
Dinge auewahrte: Zähne in einer kleinen Holzdose, Glückwunschkarten, die ich mir manchmal ansah, um zu verstehen, dass es mich wirklich gab, Auleber, die im Dunkeln leuchteten, ein paar Knochen von einem toten Frosch, einen Brief, den ich an einem regnerischen Nachmittag auf dem Bürgersteig gefunden und nicht geöffnet hatte, und das Dokument für unseren Geheimbund mit dem Siegel aus Knetwachs. Roderik meinte, er wisse nicht, ob die Marsmenschen unsere Botscha lesen könnten, er wisse noch nicht einmal, ob sie Augen besäßen oder überhaupt einen Kopf. Er habe neulich im Fernsehen eine Sendung über Glasschwämme gesehen, sagte er und verzog sorgenvoll das Gesicht. Seit ich einmal im Garten umgefallen war, weil mir schwarz vor Augen wurde, runzelte Roderik o die Stirn, wenn er mir etwas erzählte, als fürchtete er, dass ich mitten im Satz umkippen könnte. Ihre Skelette, sagte Roderik, sind aus Glasnadeln. Er wollte Meeresforscher werden, um all das unter Wasser zu sehen: Alte Städte und Meerjungfrauen, Glasschwämme und Fische, die im Dunkeln leuchten. Ich werde Arzt, sagte ich zu Roderik, und erfinde ein Mittel gegen mein Umfallen und gegen Schläge, gegen Schmerzen und gegen Verschwinden. Manchmal aßen wir nach der Schule Spaghetti-Eis. Der Eisverkäufer lächelte und steckte blaue Schirmchen in unsere Becher. Ich stellte mir vor, dass ich später mit Roderik den Amazonas hinunterrudern würde. Ich würde einen Schirm halten, von dem der heiße Regen rann. Ärztin hieße es, sagte die Lehrerin, sie konnte nicht wissen, dass ich kein Mädchen war. Roderik nannte mich seinen besten Freund, Watson, Amundsen, Cowboy 8
Jim, den blinden Passagier auf Columbus’ Schiff, XY. Er war YZ. Unser Geheimbund traf sich täglich, es sei denn, bei mir flog Geschirr und ich dure nicht raus. Bei mir gab es fliegende Untertassen, aber nicht solche mit grünen Männchen. Mein Vater warf das Geschirr gegen die Wände und meine Mutter zerknüllte Taschentücher. Ich saß auf dem Bett und schrieb Roderik eine Nachricht in unserem Alphabet, ich verwischte die Buchstaben, damit die Nachricht älter aussah. Ich zündete eine Kerze an und hielt das Papier ganz kurz darüber, so dass sich ein schwarzer Fleck ausbreitete. Eine Schatzkarte. Danach hielt ich meinen Finger in die Kerzenflamme. Ein sehr altes Dokument, sagte Roderik zufrieden und steckte das Papier ein. Ich blättere um und sehe Fiona an. Sie fährt sich mit der Hand durch die Haare und ich sehe den Ärmel zurückrutschen. Für einen kurzen Moment kann ich ein paar Narben erkennen, dann senkt sie den Arm wieder. Ich habe überhaupt keinen Bock auf diese Scheiße, sagt sie, das kotzt mich alles an. Ich kann machen, was ich will. Ich sage nichts und blättere weiter. Wenn ich Bock habe, kann ich mich auch einfach von einer Brücke stürzen, sagt sie. In der Klinik hat sie ein Gedicht geschrieben: Ich bin allein, aber niemand sieht mich, ich schreie, aber niemand hört mich, ich weine rote Tränen. ...
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Foto: Ilker Gurer
Marie T. Martin, geboren 1982 in Freiburg, studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und absolvierte eine Ausbildung zur Theaterpädagogin. Sie lebt in Köln. 2007 erhielt sie den Förderpreis des MDR-Literaturwettbewerbs und 2008 das Rolf-Dieter-BrinkmannStipendium. 2010 war sie Stipendiatin der Stadt Köln in Istanbul. Luftpost ist ihr erzählerisches Debüt.