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LIEGENDE KÖRPER IN HEILENDEN RÄUMEN

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EMILIA

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Architektur als Medikation

Jérôme Becker & Lukas Vejnik

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An die Fassade angedockte Sleeping Porch

Foto: Mary H. Northend

01_ Für biographische Informationen zu Edward L. Trudeau: Vgl. Trudeau, Edward L.: An autobiography. Lea & Febiger: Boston/ New York 1916. Für Details zum Sanatorium in Falkenstein: Vgl. Rundle, Henry: Note on Falkenstein im Taunus Germany. A health resort for consumption and diseases of the chest. Adlard and Son: London 1896.

02_Vgl. Woodward, Theodore E.: Edward L.Trudeau: Pioneer Climatologist. https://europepmc.org/ backend/ptpmcrender.fcgi?accid=PMC2376713&blobtype=pdf (Abgerufen am 29.5.2020)

03_National Association for the Study and Prevention of Tuberculosis (Hg.): Tuerculosis hospital and sanatorium construction. New York 1911.

Als 1873 beim jungen Arzt Edward Livingston Trudeau eine Tuberkulose-Infektion diagnostiziert wurde, begab sich dieser auf Anraten seiner Freunde und Ärzte in die Adirondack Mountains im Nordosten von New York, um dort so viel Zeit wie möglich an der frischen Luft zu verbringen. Während des Aufenthalts verbesserte sich sein Gesundheitszustand merklich. Drei Jahre später übersiedelte Trudeau mit seiner gesamten Familie an den Saranac Lake, der am Ende des 19. Jahrhunderts vorwiegend von Fischern und Jägern aufgesucht wurde. Aus dem medzinischen Journal Practitioner, erfuhr er von den Sanatorien Hermann Brehmers und Peter Dettweilers in den Kurorten Görbersdorf und Falkenstein. An beiden Orten wurden seit längerem Frischluftkuren für Tuberkulosepatient*innen praktiziert. Während Brehmer auf Bewegung als Teil der Therapie setzte, verordnete Dettweiler strikte Bettruhe an der frischen Luft. In Falkenstein lagen die Patient*innen auf speziell angefertigten Liegestühlen nebeneinander auf halboffenen Terrassen. Inspiriert von den Entwicklungen in Europa gründete Trudeau 1884 an den Ufern des Saranac Lake die erste derartige Anlage in den Vereinigten Staaten, die im darauffolgenden Jahr ihren Betrieb in einem kleinen Holzhaus aufnahm. Little Red bestand aus einem Raum und einer kleinen Veranda für eine Person.1

Trudeau schloss aus seinem eigenen positiven Krankheitsverlauf, dass die klimatische Veränderung, der Aufenthalt an der frischen Luft sowie gesunde Ernährung Einfluss auf den Genesungsprozess hatten. Um diesen Selbstbefund näher zu untersuchen, startete er im Sommer 1886 ein Experiment mit fünfzehn Kaninchen, von denen er zehn mit dem Tuberkelbazillus infizierte. Fünf der infizierten Tiere setzte Trudeau auf einer kleinen Insel im Saranac Lake aus, wo sie sich den ganzen Sommer über frei bewegen konnten. Die zweite Hälfte wurde unter schlecht belüfteten Bedingungen ohne Sonnenlicht eingesperrt und auch die nicht infizierten Kaninchen verbrachten die Monate als Kontrollgruppe in einem dunklen Erdloch. Das Ergebnis bestätigte Trudeau in seiner Annahme. Die Inselkolonie konnte sich über den Sommer hinweg vollständig von der Krankheit erholen. Vier von fünf der im dunklen Keller gehaltenen infizierten Tiere starben hingegen an den Folgen der Tuberkulose, während die Kontrollgruppe zwar ausgezehrt aber ohne weitere Erkrankungen überlebte.2

Dr Edward Livingston Trudeau 1895 in seinem Labor in Saranac Lake, NY

Hütte für einen Patienten im Millet Sanatorium in Massachusetts

Foto: National Association for the Study and Prevention of Tuberculosis (Hg.): Some Plans and Suggestions for Housing Consumptives. New York 1909. S. 65.

Window-tent von Sigard A. Knopf

Foto: Knopf, Sigard A.: Tuberculosis. A preventable and curable disease. Moffat, Yard and Company: New York 1916. S. 67.

Gonzales Cure Cottage, Saranac Lake, NY

Foto: Mwanner

In den darauffolgenden Jahrzehnten entstanden zahlreiche weitere Cure Cottages. Das Sanatorium am Saranac Lake wurde zu einer zentralen Institution für die Behandlung von Tuberkulose. Neben wohlhabenden Gästen, die sich auch in bereits bestehende Hotels der Gegend einmieten konnten, wollte Trudeau mit Bauten wie dem kleinen roten Holzhaus auch für Tuberkulosepatient*innen aus ärmeren Gesellschaftsschichten den Zugang zur Frischlufttherapie erschwinglich machen.

1909 veröffentlichte die National Association for the Study and Prevention of Tuberculosis Empfehlungen und Pläne für den Bau von Anlagen zur Unterbringung von Tuberkulosepatient*innen. Neben einer Dokumentation zeitgenössischer Sanatorien in den USA, enthielt das Buch ein Kapitel über selbst gebaute Sleeping Porches für die Behandlung der Tuberkulose unmittelbar außerhalb der eigenen vier Wände.3

Bis die Idee des Schlafens an der frischen Luft in privaten Haushalten vermehrt zur Anwendung kam, sollte es noch ein wenig dauern. Als die Nachfrage stieg, entwickelten Unternehmen Montagesysteme, die in bestehende Fassaden eingehängt werden konnten. In einer Anzeige aus dem Jahr 1917 warb eine dieser Firmen mit der einfachen Aufhängung ihrer Sleeping Porch, die praktisch an jedes Haus angefügt werden könne. Für Patient*innen, die in einer städtischen Wohnung ohne Balkon lebten, entwickelte der Arzt Sigard A. Knopf das sogenannte window-tent. Der zeltartige Aufbau wurde über das Bett gestülpt und direkt an ein nahes Fenster angedockt. Die Konstruktion war so angelegt, dass sich Frischluft und Raumluft nicht vermischen.4 Es ist anzunehmen, dass solche Frischluft-Prothesen bald wieder aus den Schlafzimmern verschwanden. Die Sleeping Porch, die bald zu einem integralen Element des Raumprogramms wurde, prägte dagegen in den folgenden Jahrzehnten eine an Gesundheitsaspekten orientierte Architekturlandschaft. Mit ihren Langfenstern wirken die Porches wie Vorboten der Moderne. Der luftige Anbau verkörpert das Bewusstsein dafür, dass sich ein architektonisches Element positiv auf Schlafkomfort und Gesundheit auswirken kann.

Rudolph Schindler nahm ab den 1920er Jahren die halboffenen Schlafräume als integrales Element in sein Raumrepertoire auf. Erste Experimente damit lassen sich bis in die Zeit bei Frank Lloyd Wright zurückverfolgen. Auf den Entwurfsskizzen für das Eagle Rock House, das Schindler später in Eigenregie fertigstellte, ist das Schlafzimmer ein auf drei Seiten mittels Schiebetüren öffenbarer Raumaufsatz.5 Der Schlaf unter freiem Sternenhimmel und das Bad im eiskalten Wasser bei einem Campingaufenthalt mit seiner Frau im Yosemite Nationalpark inspirierten ihn dazu, auch sein privates Wohn- und Arbeitshaus nach Camping-Prinzipien zu errichten.6

Im 1922 fertiggestellten Schindler-Chase House verwirklicht Schindler seine Camping-Vision in Form von zwei luftigen Sleeping Porches auf dem Dach. Nach dem Auszug der Chases bewohnte Richard Neutra mit seiner Frau Dione die zweite Schlafveranda, die Schindler zu einem über dem Haus schwebenden Nest weiterentwickelt hatte. Dione Neutra

04_ Knopf, Sigard A.: Tuberculosis. A preventable and curable disease. Moffat, Yard and Company: New York 1916. S. 67-68.

05_Vgl. Gebhard, David: Schindler. Thames and Hudson: London 1971. S. 42-43.

06_Dies geht aus einem Briefwechsel zwischen Rudolph Schindler und Richard Neutra hervor. Vgl. Hailey, Charlie: Campsite: Architectures of Duration and Place. Louisiana State University Press: 2008. S. 224.

07_Vgl. Weschler, Lawrence: To tell the truth. Interview with Dione Neutra. University of California: oral history program 1983. S. 111.

08_Schindler, Rudolph: „Care of the Body, About Furniture.“ In: Los Angeles Times vom 14. April 1926.

09_ Die anfangs noch offenen Freiluft-Schlafkojen wurden später geschlossen.

10_ So wurde das Bundesland in einem offiziellen State Health Report von 1870 tituliert. Siehe: https:// www.latimes.com/books/ la-ca-jc-sun-seekerslyra-kilston-20190315story.html (Abgerufen am 29.5.2020)

11_ Vgl. Starr, S. Frederick: MELNIKOV. Solo Architect in a Mass Society. Princeton: Princeton University Press 1978, S. 179.

12_ Vgl. Ebd. 13_ Ebd. 14_ Ebd., S. 181. 15_ Ebd.

16_ Pavlov, Ivan P.: Conditioned Reflexes. New York: Dover 1960. S. 263. erinnert sich in einem Interview daran, dass sie selbst bei Regen draußen schliefen und dass das Paar, wenn der Wind aus der falschen Richtung kam, einen zusätzlichen Überwurf verwenden musste. Trotzdem schätzten beide das Schlafen an der frischen Luft als Teil der Kalifornischen Lebensart.7 Nach ihrem ersten Erscheinen Mitte des 19. Jahrhunderts machte die Sleeping Porch also eine Serie an Verwandlungen durch: von der adaptierten Veranda über feingliedrige Anbauten bis hin zu einem im Entwurf integrierten architektonischen Element.

In der Person des Gesundheitsgurus Philip Lovell fand Schindler später einen kongenialen Partner, für den er mehrere Häuser plante. Lovell verbreitete seine Gesundheitsideologie – Vegetarismus und Sonnenbäder als Gegenmodell zur Medikamententherapie – in seiner Kolumne ‚Care of the Body‘ in der L.A. Times. Auch Schindler meldete sich gelegentlich darin zu Wort: „The relations between home and health are such that their importance cannot be overestimated. We are what our environment makes us and if our environment is such as to produce excellent health, beauty, joy and comfort, it will reflect immediately in our lives.“8 Das wohl prominenteste architektonische Resultat dieser Zusammenarbeit ist das Lovell Beach House. Die Ideen des gesunden Lebens ziehen sich durch alle Funktionsbereiche und machen das Haus zum Prototyp einer privaten, den naturheilkundlichen Vorstellungen entsprechenden, physiologischen Optimierungseinrichtung. Auffälligstes Element ist ein über die gesamte Gebäudelänge auskragender Balkon: jedes der vier Schlafzimmer verfügte über eine eigene offene Freiluftkoje.9

Der Schlafplatz an der frischen Luft bedeutete auch, der umgebenden Geräuschkulisse ungefiltert ausgesetzt zu sein. Ein leises Pfeifen des Seewindes und das rhythmische Aufschäumen des Meeres; mit dieser Vorstellung, lässt sich annehmen, dass die nächtliche Symphonie von Newport Beach ein angenehmes Einschlafen in der Sleeping Porch ermöglichte. Die sonoren Eigenschaften des Ortes sind neben dem milden Klima ein weiteres essentielles Element der vorgefundenen Kulisse Kaliforniens als „Sanatorium of the world“10, welche Schindler die Umsetzung der offenen Schlafplätze ermöglichte.

In eine ähnliche Klanglandschaft eingebettet, sollte die Moskauer Bevölkerung in Konstantin Melnikows Entwurf für die Green City ihren Schlaf finden. Der Wettbewerb wurde 1929 – ein Jahr nach dem Inkrafttreten des ersten Fünfjahresplanes durch Stalin – abgehalten und forderte eine für 100.000 Menschen ausgerichtete Erholungsinfrastruktur in einem dicht bewaldeten Gebiet der bereits stark industrialisierten sowjetischen Hauptstadt. Melnikow nutzte die Situation der nur minimal ausgeführten formalen Kriterien des Wettbewerbs für die Entwicklung neuer Typologien zur Hebung des physiologischen Wohls der Arbeiter*innen. Das Ensemble an Prototypen der Green City sollte zu einer Initiations-Anstalt für den sowjetischen ‚Neuen Menschen‘ werden. Eines seiner architektonischen Reproduktions-Instrumente ist ein kollektives Schlafhaus: die SONaia SONata.

In Melnikows Entwurf – halb Hotel, halb Labor – war Schlaf der letzte private Rückzugsort des Individuums. Unmittelbar nach dem Aufwachen in einer der beiden zweigeschossigen Schlafhallen war jede/r Einzelne wieder mit der Anwesenheit von Vielen konfrontiert. Die insgesamt 220 Einzelbetten waren wie Operationstische fest im offenen Raum verbaut. Die Liegeflächen nahmen die leichte Neigung der längs zu den Betten abfallenden Bodenplatte auf, um eine “natürlichere” Körperposition ohne Verwendung von Kopfpölstern zu ermöglichen. Über eine Kontrollstation am äußeren Ende jeder Halle konnten die einzelnen Parameter für die perfekte Schlafatmosphäre durch technisches Personal überwacht und gesteuert werden.11 Temperatur, Feuchtigkeit, Luftdruck, heilsame Düfte: alles war wissenschaftlich definierten Mustern folgend regulierbar. Einschlaf- und Aufwachzeiten waren getaktet. Man ruhte gemeinsam.

Ein weiteres Element des ritualisierten Ablaufs im Schlaflabor war das Abspielen von entspannenden Klängen. Isolierte Naturgeräusche – Vogelgesang, Regen, Wind, Wellengang – wurden zu einer artifiziellen Komposition zusammengemischt und über Lautsprecher zu den Patient*innen in die Schlafsäle übertragen. Ausgewählte Gedichte und Musikstücke konnten zusätzlich abgespielt werden und die wegdösenden Arbeiter*innen der Industriemetropole in eine künstlich hergestellte Gegensphäre der Entspannung begleiten. Sollte all das keine Wirkung zeigen, sorgte ein Mechanismus am Bett für leichte, regelmäßige Schaukelbewegungen, um schließlich das erforderliche Maß an Schläfrigkeit auszulösen.12 Unter technisch regulierbaren Bedingungen sollte hier die erschöpfte Arbeiterschaft von der staatlichen Regenerationsmaschine sanft in den optimierten Erholungsschlaf gewogen werden. „Schlaf ist der kurierende Faktor! Jeder der anders denkt ist krank“, stand groß auf einem der eingereichten Wettbewerbsplakate.13

Rudolph Schindlers Lovell Beach House,Plans

© R. M. Schindler papers, Architecture & Design Collection. Art, Design & Architecture Museum; University of California, Santa Barbara

Allgemein wurde dem Problem entsprechend inszenierte Intention des gang zum Schlaf kein romantischer geeiner kranken und ermüdeten Arbei- Entwurfs gewesen. Obwohl Melnikow wesen. Das Konzept der Schlaflabore terschaft mit einer Verbesserung der hiermit direkt auf Programmpunkte ordnete sich voll und ganz dem Zweck Wohnverhältnisse entgegen gewirkt: der Partei reagierte, war sein Projekt der Produktivität unter. Ziel war nicht der Staat oder private Industrielle ver- heftiger Kritik ausgesetzt. Die Wettbe- der Genuss am Müßiggang, sondern anlassten den Bau von Siedlungen werbsjury wunderte sich, wie einer der die Effizienz mittels präzise entwickelnach neuen hygienischen Standards führenden Architekten der Zeit sich mit ter Reproduktionsinstrumente. und übernahmen somit auch die Kon- dem Schlaf auseinandersetzen konntrolle über die häuslichen Die Überzeugung von der Reproduktionsräume. Die Wirksamkeit der geplanten räumlichen Bedingungen Schlaflabore beruhte außerdem des Schlafens wurden so auf Melnikows Vertrautheit mit mitverändert, ohne jedoch der damals aktuellen, mediziniexplizit Thema zu sein. schen Forschung.15 Neben ErDer Ort des Übernachtens gebnissen zur Lernfähigkeit des blieb also weiterhin dem Menschen in schlafendem ZuDomizil und dem familiä- stand kann davon ausgegangen ren Verbund zugeordnet. werden, dass vor allem auch Eine Entkopplung von die Entdeckung der klassischen Schlafort und Wohnraum, Konditionierung durch den wie sie Melnikow in sei- russischen Physiologen Ivan P. nem Projekt für die Grüne Pawlow einen Einfluss auf MelStadt vorgeschlagen hatte, nikows Entwurf hatte. scheint selbst im Kontext Aufbauend auf den phyder stalinistischen Umge- siologischen Studien, für die er staltung der Gesellschaft 1904 den Nobelpreis erhalten eine radikale Vorstellung hatte, konnte Pawlow festgewesen zu sein. stellen, dass Hunde bereits auf Rudolph Schindlers Lovell Beach House das Klingen einer Glocke mit

Neben der medizi© R. M. Schindler papers, Architecture & Design Collection. Art, Design & Architecture Museum; University of California, Santa Barbara Speichelsekretion reagieren, nisch betreuten Erholung wenn dieser Reiz regelmäßig von den Strapazen der der Fütterung vorausgeht. Im Fabrikarbeit ist vor allem die kollektive te, während die Nation dabei war, das Zuge weiterer Versuche am Institut für Erfahrung des Ausruhens im nicht pri- Leben durch eine Reorganisation der Physiologie in St. Petersburg zeigte sich vaten Raum eine wichtige und dem- Arbeit zu verändern.14 Dabei ist der Zu- allerdings auch, wie der konditionierte

Konstantin Melnikov. Sleeping chamber (SONaia SONata) in Green City. 1930. Photo of the project model.

© Melnikov House archive, Moscow

Reflex des Speichelns unter gewissen Umständen – wenn der bedingte Reiz zu oft oder in zu kurzen Abständen ausgelöst wurde – ausblieb, und die Hunde stattdessen auf das Klingen der Glocke in der Testbox des Labors einschliefen. Die Beobachtung der Reaktionshemmung und der gleichzeitig einsetzenden Müdigkeit führte Pawlow zur Erkenntnis, dass auch Schlaf über konditionierte Stimuli abrufbar ist.16 Es gibt hier also Parallelen zwischen den in den 1920er Jahren durchgeführten wissenschaftlichen Versuchen und dem Entwurf der SONaia SONata. Den Glockenton, auf den Pawlow seine Hunde im Labor konditionierte, entwickelte Melnikow weiter zur Sonate.

Der Einfluss der Medizin auf die Architektur auf die Architektur der Moderne ist ein breit rezipiertes Thema. Was eine nähere Betrachtung der beiden Entwürfe von Schindler und Melnikow jedoch zeigt, ist, dass es sich dabei nicht bloß um eine Übersetzung von abstraktem, medizinischen Wissen in generalisierbare Regeln oder Hygienestandards handelte, welche bei der Gestaltung, neben anderen Entwurfsmotiven, zu berücksichtigen waren. In beiden Projekten sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse der medizinischen Forschung von entscheidender Bedeutung für den Entwurf. Was sich bei Trudeau als erfolgreiche Maßnahme gegen die Tuberkulose-Bakterien der Kaninchen zeigte, wurde in Schindlers Architektur zum bestimmenden Entwurfsfaktor: die konsequente Exposition der schlafenden Körper im Freien. Melnikow pflegte hingegen einen anderen Umgang mit den unkontrollierbaren Faktoren der Umgebung: er klammerte sie aus und führte sie mit

Ivan Pawlow bei der Vorführung eines Versuches

Foto: http://history-foto.livejournal.com/268684.html#cutid1

technologischen Mitteln in einer künstlich inszenierten und regulierbaren Atmosphäre wieder ein. Das Schlaflabor sollte den reizarmen Raum imitieren, in dem Pawlows Hunde mit gezielten Stimuli konditioniert wurden. Sowohl das Lovell Beach House als auch die SONaia SONata basieren also auf einer direkten Übertragung der räumlichen Parameter von physiologischen Experimenten in den architektonischen Entwurf. Der Aufenthalt in diesen Räumen wurde wie ein Arzneimittel wohl dosiert und auch präventiv verschrieben: Architektur als Medikation.

Jérôme Becker ist Universitätsassistent an der Plattform future.lab (Fakultät für Architektur und Raumplanung der TU Wien) und Gründungsmitglied des MAGAZIN Ausstellungsraum für zeitgenössische Architektur in Wien. Lukas Vejnik geht mit den Mitteln der Architektur aus der Architektur hinaus und stößt dabei auf verborgene Lebensräume und Alltagspraktiken.

Lukas Vejnik

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