Präparierte Klassik Das Ereignis Konzert und seine GEstaltungsmÜglichkeiten explorativ erforscht
Präparierte Klassik – Das Ereignis Konzert und seine GEstaltungsmöglichkeiten explorativ erforscht
Sunita Maldonado
Master of Arts in Design Field of Excellence: Ereignis Zürcher Hochschule der Künste
2013
Pr채parierte Klassik
Forschungsprozess
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1 Recherche 2 Hypothese 3 Cultural Writing [1-27] 4 Experteninterviews [1-3] 5 Konzertg채nger [1-4] 6 Zwischenergebnis 1 7 Workshop [7] 8 Zwischenergebnis 2 9 Resultat 10 Projektende
Die Bilder, die das Stichwort Klassische Musik auslöst, sind einander sehr ähnlich: Ein festlicher Saal, große Orchester, nach bestimmten Regeln klatschen, schweigen, zuhören, husten und Sekt trinken. Doch das Genre bietet viel mehr: lebhaft, bunt, spannend und emotional kann es sein. Vielfalt und Neuerung sind möglich – so wie es heute in der freien Szene und in der aktuellen ernsten Musik üblich ist, oder vor 300 Jahren im Musikleben war – sodass ein zeitgemäßer Umgang mit dem Kulturgut entsteht. Klassische Konzerte als Ereignisse betrachtend, die sich auf kultureller, inszenierter und sozialer Ebene bewegen, werden Konzertmacher und (potenzielles) Publikum in den explorativen Forschungsprozess integriert. Methoden des user-centrered design ermöglichten ihre Meinungen, Bedürfnisse und Emotionen einzubeziehen. Die beiden sich gegenüberstehenden Positionen kreieren ein neues Verständnis für das Phänomen Konzert, das bestehende Rituale und Konventionen reflektiert. Für die zentralen Faktoren Musik, Musiker, Publikum, Raum, Zeit und Kommunikation wurden Strategien wie z.B. Spielen, Erleben oder Verflüchtigen entwickelt. Diese nutzend gilt es nicht nur einen flexiblen Umgang mit dem Gegenstand zu etablieren, sondern auch spezielle Erlebnisse zu kreieren, die auf Erfahrungen wie Nähe, Bewegung oder Kontemplation abzielen. Als Ergebnis steht eine konzeptuelle Anleitung für Konzertschaffende, die mit Impulsen und Fragen Konzerte herausfordert, die klassische Musik erlebbar machen. Klassische Musik Konzert Ereignis Neuerung Co-Creation
Anmerkungen Auf das Thema „Konzerte für klassische Musik“ bin ich bei dem PODIUM – Junges Europäisches Musikfestival Esslingen gestoßen, das seit 2009 mit innovativen Konzertformen für Kammermusik experimentiert und an dem ich seit 2010 mitgearbeitet habe. Persönliche Überzeugungen und Erfahrungen stützen sich mehrheitlich auf im Rahmen des Festivals realisierte Projekte. [www.podiumfestival.de] An verschiedenen Stellen der Arbeit wird ein impliziter Bezug zum Künstler und Komponisten John Cage (1912–92) hergestellt. Auch wenn seine Arbeit, Einflüsse und Errungenschaften nicht im einzelnen thematisiert werden können, soll erwähnt sein, dass der von ihm gelebte Umgang mit Musik bei der Entwicklung dieser Thesis mitgeschwungen ist. Der Einfluss drückt sich beispielsweise in den Grafiken aus, die von graphischen Notationen inspiriert sind oder im Titel, der sich an den Begriff des von Cage entwickelten Präparierten Klavier anlehnt. Dessen Klang wird durch innen angebrachte Gegenstände wie Münzen oder Schrauben modifiziert, so wie die Bestrebungen dieser Arbeit das klassische Konzert modifizieren, um es auf bisher ungehörte Art zum klingen zu bringen.
Abstract
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Musik aufführen, Konzerte Erleben: Eine Einleitung
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Es ist einmalig und nur jetzt: Konzerte als Ereignis
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Das Jahrhundert-alte Hören von Heute: Ein Rückblick und aktuelle Neuerungen
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3.1 Wie die Musik in den Konzertsaal kam: Ein historischer Abriss
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3.2 Und heute? Aktuelle Entwicklungen klassischer Konzertformate
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Was das Konzert macht: Eine explorative Forschung
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4.1 Fokus Wissen: Experteninterviews
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4.2 Fokus Erfahrung: Cultural Writing
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4.3 Fokus Erlebnis: Konzertgテ、nger
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4.4 Fokus Reflektion: Workshop
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Variationen i窶度II: Strategien zur Konzertgestaltung
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How to impress your audience: Versuch einer Anleitung
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Prepared and impressed: Resテシmee
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Musik Auff端hren, Konzerte Erleben: Eine Einleitung
Die Einleitung dieser Arbeit kann als ihr Präludium gelesen werden: Es steht allem voran – und ein wenig abseits der folgenden Teile. Und doch ist es ein wichtiger und zentraler Teil, um das Folgende vorzubereiten. Es reißt die Themen an, die im Weiteren ausgeführt werden und deutet auf Wege und Ergebnisse hin. Dazu werden Fragen in den Raum gestellt und Schritte angedeutet, mit denen diese Arbeit Antworten finden möchte.
Eine Einleitung
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Der Begriff Klassische Musik wird hier im Sinne eines Genres gebraucht, das im Gegensatz zur U-Musik steht und auch Alte und Neue Musik einschließt. „Klassik bezeichnet heute (...), im Zusammenhang mit der verwaltungstechnischen Einteilung der Musik in U und E, den gesamten Bereich der E-Musik (...); dabei suggeriert der Begriff unterschwellig, noch nicht gänzlich traditionellen Inhalte beraubt, Qualität und appelliert an Bildung, Bildungsbewusstsein und Bildungsstreben als Relikte der bürgerlichen Gesellschaft. (...) Das Klassische ist das qualitativ Herausgehobene schlechthin.“ (Finscher: s.V. Klassik, MGG, 1996) Konzert wird im Sinne des Konzertwesens als Veranstaltungsform gebraucht. Es ist eine „spezifische Form der produktiven wie rezeptiven Verwirklichung von Musik“, die sich in drei Dimensionen widerspiegelt. Dazu zählen (1) die produktive Realisierung, als Verwirklichung der Musik, konzentriert im Werk als ästhetisches Ereignis, (2) die rezeptive Realisierung, in Form der Aneignung durch das Hören bis zum Wirksamwerden der Musik und (3) die ökonomische Realisierung der Tätigkeit des Musizierens als gesellschaftlich-materiell anerkannter Sachverhalt (vgl. Heister: s.V. Konzertwesen, MGG, 1996). Auf der ersten und zweiten Dimension, versinnbildlicht durch Musiker und Publikum, liegt der Fokus der Arbeit, während die ökonomische Dimension außen vor gelassen wird. Während zu ersten Zeiten des Walkmans noch über eine „Mode der Geheimhaltung“ gesprochen wurde, bei der der Hörer seiner Umgebung nicht nur vorenthält, was er selber hört, sondern es auch demonstriert, ist es heute üblich im öffentlichen Raum über Kopfhörer Musik zu hören. Für dieses eigene Phänomen ist hier leider kein Raum, für weitere Ausführungen vgl. Der Walkman Effekt (Hosokawa: 1987)
In der Masterthesis Präparierte Klassik – Das Ereignis Konzert und seine Gestaltungsmöglichkeiten explorativ erforscht geht es um klassische Musik. Dieses diffuse und große Gebilde steckt den Rahmen für alle Aktivitäten der Arbeit ab. Womit ich mich beschäftigt und was ich untersucht habe, hatte mit den verschiedenen Formen zu tun, in denen dieses Kulturgut Ausdruck findet und dem Status, den es in unserer Gesellschaft trägt. Vor allem geht es um Konzerte und die Präsentation klassischer Musik. Es interessieren also nur die Situationen, in denen klassische Musik live aufgeführt wird. Per CD zu Hause auf dem Sofa oder über Kopfhörer auf der Zugfahrt und andere vorproduzierte Formen werden nicht berücksichtigt. Damit können schon zwei essentielle Parameter für diese Arbeit ausgemacht werden: Es müssen Musiker an dem Ort präsent sein, an dem die Musik rezipiert wird. Und diese spielen nicht etwa Pop, Rock oder Punk, sondern Klassik. Hier ist gleich der nächste Faktor impliziert: Es gibt ein Publikum, für das die Musiker spielen. Damit sind die zentralen Parameter für ein Konzert abgesteckt: Es gibt Musiker, die klassische Musik spielen, und es gibt ein Publikum, das zuhört. Wie aber dieses Konzert aussieht, ist noch nicht definiert. Wann beginnt es, wann hört es wieder auf? Wie hat das Publikum von der Veranstaltung erfahren? In was für einer Formation spielen die Musiker? An welchem Ort findet es statt? Was für eine Gruppe von Menschen ist gekommen, um zuzuhören? Sind sie gekommen, um zuzuhören, oder vielleicht, um Freunde zu treffen? Den Fragen, wie Konzerte für klassische Musik aussehen können, geht diese Arbeit nach. Das wohl bekannteste Format der Rezeption klassischer Musik ist das Hören im Konzertsaal, und auch wenn es sich nicht ohne Grund dort etabliert hat, ist es lange nicht das einzige mögliche und angebrachte Format. Wie können andere Formate aussehen? Für wen können sie gemacht sein? Und wer möchte klassische Musik hören und wie? Die grundlegende Frage auf der diese Arbeit basiert ist, ob Konzerte immer Ereignisse sind oder ob bestimmte Prämissen dafür erfüllt sein müssen. Daran knüpft die Thematik an, welche Voraussetzungen es für die heutige Zeit im Gegensatz zu vergangenen Jahrzehnten sind und wie diese im speziellen für die Präsentation von Klassik aussehen. Denn ist ein Konzert nicht immer ein Ereignis? Musik wird live produziert, man hört sie als Gruppe gemeinsam mit anderen Menschen – etwas, das nicht unbedingt täglich passiert. Und dennoch ist es eben nicht immer ein Ereignis, es gibt zu viele Konzerte, die doch zu gleich, zu monoton, zu langweilig sind, und an die man sich später nicht einmal erinnern kann. Und dann wiederum sprechen Berichte von spannenden, interessanten, überraschenden Konzerten dafür, dass es reichlich erinnerungswürdige Momente und Abende gibt. Ist es immer Zufall, wenn ein Abend erinnerungswürdig ist oder kann man dies gezielt herbeiführen? Ja, es ist möglich, Konzerte zu gestalten. Damit sind wir an einem weiteren zentralen Punkt der Arbeit angelangt: Dem Gestalten von Konzerten. Konzerte werden gegeben (von Musikern), Konzerte werden besucht (vom Publikum), Konzerte werden gebucht (von Agenturen für Veranstaltungsorte), Konzerte werden geplant (von Veranstaltern), aber viel zu selten werden Konzerte gestaltet. Gestaltet werden Plakate, Künstlerfotos und vielleicht Programmhefte oder Konzertsäle (diese aber, um dann mindestens für die nächsten hundert Jahre unverändert zu bleiben). Viel zu selten werden Konzerte selber gestaltet. Damit ist nur nicht der Programmablauf, sondern der gesamte Abend gemeint: Wie gibt es etwas zu hören und was passiert außerdem? Gibt es z.B. etwas zu sehen oder eben nicht? Gibt es eine Pause und was geschieht da? Dient sie wirklich als Pause von dem gerade Gehörten und ist damit unabdingbar, oder
ist sie nur für einen obligatorischen Small Talk da? Mit welchem Gefühl gehen die Zuhörer nach Hause? Inspiriert, bedrückt oder erheitert? Neues entdeckt zu haben? Oder sich in Wohlbekanntem gewogen zu haben?
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Eine Einleitung
Es ist möglich, eine Dramaturgie für einen Abend herzustellen. So individuell die Wahrnehmung und die Assoziationen zu Musik auch sein mögen, ist eine gewisse Wirkung planbar. Dafür muss mit einer Gewohnheit gebrochen werden, die die meisten heutigen Konzerte prägt: Jede Musik wird im gleichen Rahmen unter den gleichen Bedingungen präsentiert. Ein Streichquartett von Schubert, ein Sinfonie von Beethoven, Neue Musik von Cage oder eine Oper von Mozart klingen sehr unterschiedlich und sind in den verschiedensten Kontexten und Epochen entstanden; unter dem Genre klassischen Musik subsumiert werden sie alle im gleichen Rahmen präsentiert. Worin begründet sich diese Art der Rezeption? Dass sich aus einer Vielzahl von Formen eine durchgesetzt hat, die vor allem eine absolute Musikzentrierung mit sich bringt, wird detaillierter im Kapitel Das Jahrhundert-Alte Hören von heute: Ein Rückblick und aktuelle Neuerungen dargelegt. Schon an dieser Stelle soll der Hinweis gegeben werden, dass es hinsichtlich dieser Aufführungsform ein großes Spektrum an Möglichkeiten der Gestaltung gibt. Dabei gilt zu beachten, was Tröndle (2011: 10ff) darlegt: „Es geht nicht um die ,Eventisierung‘ des Konzerts, sondern darum, die Kunstform Konzert als Präsentationsform zeitgemäß weiterzuentwickeln, um der Musealisierung des Konzerts und der steten Veralterung des Publikums entgegenzuwirken“, denn „Musik ist kein Ding, sondern ein Ereignis“. Der Sparte der klassischen Musik fehlen oftmals nachhaltige Innovationen, die eine Offenheit für Neues genauso voraussetzen wie Neugierde und Experimentierfreude. An der Musik selber liegt es nicht. Auch nicht am allgemeinen Interesse an klassischer Musik, wie die Probanden der durchgeführten Experimente bestätigen. Vielmehr fehlt es an einem lebendigen Umgang mit dem Gegenstand, der gegebene Vorurteile eliminiert und damit seiner eigenen Musealisierung entgegenwirkt. Das Gestalten von Konzerten kann genau diese Ebene bieten: Einen lebendigen offenen Umgang mit dem Genre, der Spielraum bietet und Vielfalt mit sich bringt, anstatt festgefahrene Strukturen zu bedienen. So kann ein großer Mehrwert geschaffen werden, der zwei wesentliche Parteien des Konzertwesens anspricht: Musiker als Konzertschaffende und Publikum als Konzertgänger. Es geht weniger um die Musikvermittlung mit (konzert-) pädagogischen Konzepten oder einem Audience Development im Sinne des Kultur- oder Marketingmanagements, zwei Positionen die davon ausgehen, die Praxis des Konzerts unverändert zu belassen und Publikum durch pädagogische, sozialisierende oder werbende Maßnahmen zu gewinnen (vgl. ebd.); vielmehr geht es darum, das Konzert als „ästhetisch-soziales Ereignis zu verstehen, das durch die Herausbildung bestimmter Qualitäten die Aufmerksamkeit des Publikums an sich binden und so langfristig seine Existenz sichern kann“ (ebd.). Dies bedeutet nach neuen Aufführungsformen zu suchen und damit unterschiedliche (potenzielle) Publikumsgruppen anzusprechen und zu gewinnen. In dieser Arbeit werden zwei Zielgruppen direkt und indirekt angesprochen. An erster Stelle stehen die Konzertmacher, Musiker, Komponisten, Dramaturgen, Organisatoren. Es richtet sich an diejenigen, die neue Wege suchen, sich durch Experimentierfreude und Ungebundenheit an Traditionen auszeichnen. An zweiter Stelle steht ihnen ein neugieriges Publikum gegenüber. Eine überwiegend junge Zielgruppe, bzw. Personen mit einem jungen Lebensstil, denen ein Zugang zum Genre der klassischen Musik eröffnet wird. Das Resultat der Arbeit spricht die Konzertmacher an, die die direkte Zielgruppe bilden. Ihre
Zielgruppe – das Publikum – kann wiederum als indirekte Zielgruppe verstanden werden. Daraus ergibt sich als Leitfrage der Untersuchung: Wie können Konzerte für klassische Musik als Ereignisse gestaltet werden?
EIne Einleitung
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Mit dem Thema behandele ich eine Problematik, die in der Szene der klassischen Musik momentan in aller Munde ist. Schwindende Besucherzahlen und das Ausbleiben von nachwachsendem Publikum zwingen die Szene dazu, sich mit ihrem Image und ihrer Relevanz als auch mit Potenzialen und möglichen neuen Formen auseinanderzusetzen. Zahlreiche Publikationen, Tagungen und Konferenzen bezeugen die aktuelle Relevanz, die die Thematik in sich trägt. Wenn auch in aller Munde, ist noch lange keine Lösung gefunden und kein Ende der Diskussion in Sicht. Den Diskurs möchte ich mit meiner Arbeit aus einem weiteren Blickwinkel, als den bisher eingenommenen, bereichern. Dafür wende ich Methoden an, die für die Kultur und Kulturwissenschaften bisher kaum genutzt wurden und verspreche dadurch tiefgehende und neue Ergebnisse. Designmethoden, die den Endnutzer in den Mittelpunkt stellen und somit von einem user centered design ausgehen, können Bedürfnisse und Lösungsansätze aufzeigen, die so nicht erkannt wurden. Dies trifft nicht nur auf die Konsumenten – das Publikum – zu, sondern ebenso auf die Konzertschaffenden. Damit werden die zwei zentralen Positionen abgedeckt, die für das Gestalten eines Konzertes unabdingbar sind und in direkter Verbindung miteinander stehen. Beiden wird eine gleichwertige Stellung eingeräumt, sodass ein ausgewogenes Bild entstehen kann, das Möglichkeiten, aber auch Grenzen aufzeigt. Das Forschungsdesign der Arbeit kann als explorativ bezeichnet werden. Von der Fragestellung nach möglichen Formen für klassische Konzerte ausgehend, wurde das Vorgehen fortlaufend in einem iterativen Prozess angepasst. Daraus ergab sich die Möglichkeit, auf die jeweils generierten Erkenntnisse aufzubauen und durchweg von einer Ergebnisoffenheit auszugehen. Diese Art der experimentellen Arbeit beschreibt Toro Pérez (2012: 5ff) als „freien, spielerischen Aneignungsprozess, (...) bei dem explorative, ergebnisoffene Erkundungsphasen nach wie vor zu den wesentlichen Momenten der Bestimmung von Material, Spielart und Formgestaltung gehören“. Eben der spielerische Ansatzpunkt zusammen mit der ernsthaftigen Verwendung der Resultate hat für die vorliegende Arbeit eine entscheidende Rolle gespielt. Nur so konnten Materialien qualitativer Forschung generiert und verarbeitet werden. Dabei wurde ein Weg gewählt, der sich zwischen der künstlerischen und der wissenschaftlichen Forschung ansiedelt. Diese beiden Forschungswege vergleichend, kann der Unterschied nach Toro Pérez (ebd.) darin erfasst werden, dass „[wissenschaftliche] Forschungsergebnisse offen sind und einen gemeinnützigen Charakter haben. Die Ergebnisse künstlerischer Tätigkeit hingegen sind auf die Singularität einzelner Werke und nicht auf eine allgemeine Verwendung ausgerichtet“. Das hier umgesetzte Ergebnis zielt, auch wenn es keine künstlerische Arbeit ist, mehr auf eine singuläre als auf eine gemeinnützige Verwendung ab. Die Ergebnisse aus einer experimentellen, abduktiven Forschung extrahiert, verlangen eine experimentelle Rezeption und Aneignung, anstelle von exakt dargestelltem Wissen. Der Forschungsprozess hat sich aus mehrstufigen Experimenten zusammengesetzt. Diese teilen sich in zwei Hauptgruppen auf, die einerseits die Positionen und Bedarf des Publikums und andererseits die Standpunkte und Bedürfnisse der Konzertschaffenden untersuchen. Daraus entsteht die konzeptuell-abstrakte Anleitung für das Gestalten von Konzerten, die sich primär an Konzertschaffende richtet. Der abstrakt-fragende Ansatz dient insbesondere dazu, Themen anzuschneiden, Fragen aufzuwerfen und Ideen in den Raum zu
stellen, sodass die Leser von diesen ausgehend ihre eigenen Ansätze und Entwicklungen ausarbeiten können. Die Darlegung des Forschungsprozesses wird eingebettet in Überlegungen zum Phänomen des Ereignisses und dem Verhältnis zu Konzerten (Kapitel 2). Zudem wird in einem geschichtlichen Abriss dargelegt wie sich das Konzertwesen im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hat (Kapitel 3.1). Davon ausgehend werden aktuelle Entwicklungen dargelegt und in vier Case Studies dargestellt (Kapitel 3.2), die durch weitere Fallbeispiele im Anhang ergänzt werden. Die Ergebnisse der Forschung werden in Strategien zur Gestaltung von Konzerten zusammengefasst (Kapitel 5), bevor die Übertragung der Ergebnisse in die Anleitung dargestellt wird (Kapitel 6).
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Eine EInleitung
Es ist einmalig und nur jetzt: Konzerte als Ereignis
Das Ereignis steht im Raum. Mit ihm die unübersehbare Frage, was es denn nun sei. Ein Event? Ein Anlass? Etwas, das passiert? Dazu kommt die Verbindung mit Design: „Ereignis-Design“, also nicht Stühle und Plakate gestalten, sondern Ereignisse? So wie die Harmonielehre die grundlegenden Strukturen der Musik analysiert, werden in diesem Kapitel die Eigenheiten und Bedeutungen der Grundelemente Konzert und Ereignis betrachtet. Konzert – Ereignis – Design bildet damit den Dreiklang der Arbeit und bestimmt ihre Tonalität.
Konzerte als Ereignis
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Als „eines der mächtigsten Ideologeme der gegenwärtigen Kultur- und Medienindustrie“ wird der Begriff Ereignis von Müller-Schöll (2003: 9ff) bezeichnet. Damit kann Ereignis als Trendbegriff gesehen werden, der in vielen Fällen die englischsprachige Bezeichnung Event ablöst und vor allem mit Massenveranstaltungen und Mainstream assoziiert wird. Doch im Gegensatz zu Event zielt Ereignis auf ein breiteres Verständnis ab. Nicht nur die genannte Kultur- und Medienindustrie macht von dem Begriff Gebrauch, sondern er ist auch in anderen Bereichen und Disziplinen verbreitet. So z.B. in der Philosophie, die das Ereignis in Hinblick auf die Zeit und die mit ihr verknüpften Erfahrungen nutzt, als auch der Geschichts-, oder vermehrt auch Politik-, und Sprachwissenschaften, der Soziologie oder dem Theater als performativer Kunst. Spätestens bei dieser pluralistischen Aufzählung wird deutlich, dass es nicht den einen Ereignis-Begriff mit einer definierten Bedeutung geben kann. Vielmehr bringt die Vielfalt von Kontexten, in der Ereignis eingesetzt wird, mit sich, dass es ebenso viele Auslegungen und Interpretationen des Begriffes gibt. Es können drei Positionen ausgemacht werden, die das Phänomen Ereignis nutzen: (1) Theoretische Betrachtungen im Kontext u.a. der oben genannten Wissenschaften. (2) Ereignis als für die Unterhaltungsindustrie relevanter Aufhänger, als „Stoff, von dem die Unterhaltungsindustrie lebt“ (ebd.). Damit einher geht ein permanentes Verlangen nach Ereignissen, sodass sich die Frage anschließt, ob ein Ereignis noch Ereignis ist, wenn es ständig neu produziert werden muss. (3) Ereignis als inner-künstlerisches oder werk-immanentes Ziel und Methode: „Vom Ereignishaften ist die Rede, wo in der Kunst die Kunst verlassen werden soll – etwa in einer Theater, Museum und Speichermedien infragestellenden Happening-, Aktions- und Performance-Kunst sowie in experimentellen Formen Neuer Musik, die an und mit den Grenzen des Musikalischen und Hörbaren arbeiten. (...) Ihr Interesse scheint es zu sein, an die Grenze dessen zu gehen, was noch als (künstlerisches) Ereignis wahrgenommen werden kann“ (ebd.). Trotz des grundlegend verschiedenen Verständnisses der Phänomenologie Ereignis und damit der variierenden Nutzung und Interpretation weisen die drei Ansätze einen gemeinsamen Ausgangspunkt für das auf, was ein Ereignis ist. Im Allgemeinen kann festgestellt werden, dass der Begriff überall dort auftaucht, wo „über das Einmalige, Neue, noch nicht Dagewesene gesprochen werden soll, über eine Revolution, einen Epochenbruch, eine Erfindung, eine unvorhergesehene Wendung“ (ebd.). Dies kann eben geschichtlich oder philosophisch interpretiert werden (1), das Besondere in den Medien sein, die dadurch weitere Aufmerksamkeit erregen (2), oder eben etwas noch nicht Dagewesenes in der Kunst darstellen (3). Im Rahmen seiner Ausführungen zur Aufmerksamkeit unterscheidet Waldenfels (2004: 35) zwischen intraordinären und extraordinären Ereignissen. Während erstere primär darauf hinauslaufen, eine bestimmte Ordnung zu erproben, zu festigen oder zu reproduzieren, durchbrechen, unterhöhlen oder ersetzen zweitere eine bestehende Ordnung. Demnach sind vor allem (2) und (3) als intraordinäre Ereignisse zu betrachten, die innerhalb ihrer bestehenden Ordnung vorkommen. Die Charakteristika, die Seel (2003: 37ff) einem Ereignis zuschreibt, damit es sich von einem regulären Vorkommnis unterscheidet, steht als erster zentraler Punkt die Veränderung und schließt damit direkt an Waldenfels an:
Ereignisse sind Veränderungen: „Ein Ereignis (...) ist nicht einfach etwas, das geschieht, (...) sondern vielmehr etwas, das in einer bestimmten Weise auffällig geschieht“ (ebd.) Damit hebt es sich von etwas Alltäglichem ab und stellt damit entweder für ein Individuum oder für ein Kollektiv eine Veränderung des Üblichen dar. Dadurch, dass etwas in einer Situation auffällig wird, verändert es ihre Bedeutung und kann damit auch den Menschen verändern – im Großen oder im Kleinen: Ereignisse verändern.
Ein Ereignis ist nicht beliebig wiederholbar. Ein Ereignis kann sich wiederholen, aber nicht in uneingeschränkter Häufigkeit. Somit trägt es keine absolute Einmaligkeit inne, aber ist nicht beliebig oft hervorzurufen und abzuspielen. Genauso ist es nicht im Ganzen produzierbar. Bestimmte Teile können mit dem Zweck das Ganze zu bilden, bestimmt werden, aber in der Summe kann es nicht vollständig festgelegt werden. Ein Ereignis ist nicht intentional bewirkbar. Damit wird deutlich: „Ein Ereignis muss sich ereignen. Nur dann wird es uns – den Beteiligten und Betroffenen – zum Ereignis. Es entzieht sich jeder durchgehenden Regie“, nach Seels (ebd.) Zusammenfassung. Diese Charakteristika betrachtend wird deutlich, wie weit und zugleich beschränkend der Begriff des Ereignisses ist. Oftmals können Vorgänge erst im Nachhinein als Ereignisse bezeichnet werden, wenn ihre Wirkung bekannt ist. Außerdem sind sie eben kaum aktiv herbeizuführen (was gegen Position 2, die Verwendbarkeit in der Unterhaltungsindustrie spricht) und können eben niemals per se Ereignis sein, sondern es für ein Individuum oder ein Kollektiv erst werden. Mit Seel (ebd.) kann an diese Aussagen angeknüpft werden: „Das [sich Entziehen jeder durchgehenden Regie] gilt gerade auch für ästhetische Ereignisse, bei denen beliebig viele Anfangszustände feststehen können, die aber doch nur der Anfang eines Geschehens sind, das, wenn es gut geht, seine eigene Dynamik entfaltet. Nicht nur jede Performance, überhaupt jede Bühnenaufführung steht dafür: in Anwesenheit des Publikums geschieht etwas, das sich nicht nur auf die beteiligten Intentionen zurückrechnen lässt. Denn das Tun der Darsteller ist – wie die Inszenierung, der es sich verdankt – wesentlich ein Geschehen-Lassen.“ Damit werden der Rahmen, die Möglichkeiten, Einschränkungen und auch der Zwiespalt deutlich, in dem sich diese Arbeit bewegt. Sich mit der Entwicklung von Möglichkeiten beschäftigend, die das Konzert als Veranstaltungsform für
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Konzerte als Ereignis
Prinzipiell ist zunächst einmal jedes Geschehnis Ereignis, muss für ein Individuum im Folgenden aber zum Ereignis werden. Ob das geschieht oder eben nicht, das heißt ob etwas als ereignishaft wahrgenommen wird und daher etwas Außergewöhnliches darstellt, hängt von den Verhältnissen und Umständen ab, in denen es auftritt: Ein Ereignis ist nicht, ein Ereignis wird. Dem Ereignis eine zeit-und raumbildende Kraft zuschreibend, kann mit Waldenfels (2004: 47) ergänzt werden, dass „man sich an dem orientiert, was nicht mehr ist, aber das Ereignis an seinen Ursprung zurückbindet, oder an dem, was noch nicht ist, aber das Ereignis an sein Ziel zu bringen verspricht. Was hier und jetzt geschieht, bildet dann den bloßen Übergang (...)“. Ein Ereignis ist somit immer ephemer, nicht-greifbar und damit auch unvorhersehbar: Man weiß im Vorhinein nicht, dass es auftreten wird oder wie es eine bestimmte Situation verändert, genauso wie nicht prognostizierbar ist, was es in der betroffenen Person auslöst. Damit stellt es eine unvorhersehbare Störung des Alltäglichen dar: Ein Ereignis ist Irritation.
Konzerte als Ereignis
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klassische Musik bietet, treffen hier die Positionen (2) der Unterhaltungsindustrie und teilweise die Position (3) der werk-immanenten Bestrebungen zu. Das beschriebene Verständnis von Ereignissen aufgreifend, kann ein Konzert zu einem Ereignis werden, aber ist niemals per se ein Ereignis. Es ist eine Veranstaltung, ein Geschehnis, mit bestimmten Teilnehmern, das nach mehr oder weniger bekannten Regeln und Abläufen vonstatten geht. Unter bestimmten Umständen kann es zu einem Ereignis werden – für ein Kollektiv, sprich für das anwesende Publikum und die anwesenden Musiker oder für eine der beiden Gruppen, oder aber auch für nur ein Individuum innerhalb des Kollektivs. Konzerte als ästhetische Ereignisse nach Seel verstehend können Anfangszustände definiert, bestimmt und verändert werden, die aber eben nur den Beginn eines Geschehens bilden. Diese Zustände können dem weiteren Verlauf eine Richtung geben, aber diesen nicht im genauen festlegen. Dieses Verhältnis ist erst einmal darauf zurück zu führen, dass die Präsentation unter Anwesenheit des Publikums geschieht und damit das Verhalten eines wesentlichen Faktors nicht zu bestimmen ist. Zudem liegt es in der Natur der Aufführung, dass sie immer im Moment stattfindet und nicht komplett determinierbar ist, oder, um Fischer-Lichte (2004: 11ff) heranzuziehen, „entsteht eine Aufführung aus der Interaktion aller Teilnehmer, d.h. aus der Begegnung von Akteuren und Zuschauern“. Ihre Beobachtungen bezüglich Performanz und Theater können hier auf die Darstellungsform Konzert angewandt werden und damit zu einem Verständnis dieser hinsichtlich ihrer Ereignishaftigkeit verhelfen. Fischer-Lichte (ebd.) beschreibt, dass das jeweilige Verhalten von Aufführenden und Zuschauern Auswirkungen auf die jeweilige andere Gruppe und auf die weiteren Teilnehmer der eigenen Gruppe hat und durch diese Unvorhersehbarkeit ein Ablauf nicht vollständig planbar ist. Weiter charakterisiert sie, dass „was sich in Aufführungen zeigt, immer hic et nunc in Erscheinung tritt und in besonderer Weise als gegenwärtig erfahren wird“(ebd.). Damit sind Aufführungen flüchtig und transitorisch, was auf das Charakteristikum der nicht beliebigen Wiederholbarkeit von Ereignissen hinweist. Im Gegensatz zu Inszenierungen hat bei einer Aufführung keiner der Beteiligten volle Verfügungsgewalt über sie; sie widerfährt allen und ist damit für alle gleichermaßen unvorhersehbar (vgl. ebd.). Hiermit wird ein für Konzerte essenzieller Aspekt genannt: Auch wenn ein identisches Programm vom gleichen Ensemble mehrmals gespielt wird, ist die Aufführung niemals identisch. Selbst wenn das gleiche Publikum anwesend wäre – die Reaktionen wären unmöglich jedes Mal die gleichen, sodass das Resultat ein Ähnliches aber niemals ein Identisches werden kann. In einem begrenzten Rahmen können gewisse Aspekte intentional herbeigeführt werden, aber die ganze Aufführung ist nicht wiederholbar; das Ereignis ist nur begrenzt intentional bewirkbar. Aufführungen als ästhetische Ereignisse geben die Möglichkeit zu ästhetischen Erfahrungen. Sie können als Schwellenerfahrungen verstanden werden, die nicht wie in Ritualen üblich zu z.B. Statuswechseln führen, aber die Möglichkeit zur einer veränderten Welt-, Selbst- oder Fremderfahrung bieten, „im und durch das Ereignis der Aufführung kann sich in diesem Sinne eine Transformation der an ihr beteiligten Subjekte ereignen, die auch über das Ende der Aufführung hinaus anzudauern vermag“ (ebd.). An diesem Punkt wird besonders sichtbar, warum Ereignisse nicht intentional herbeizuführen sind: Sie bieten Möglichkeiten, niemals aber Garantien für bestimmte Ergebnisse oder Wirkungen. Anhand dieser Beobachtungen konnte ein erstes Verhältnis von Konzerten im Besonderen oder Aufführungen im Allgemeineren als Ereignis erkannt werden. Jede Aufführung kann zu einem Ereignis werden, wohingegen ein Ereignis
nicht immer die Form einer Aufführung haben muss (z.B. politische oder historische Ereignisse). Jedes Konzert als Aufführung von Musik hat das Potenzial ein Ereignis zu werden, ist es aber niemals per se, da jedes Ereignis erst wird und nicht ist. Auch wenn sich nicht vorher bestimmen lässt, dass eine Aufführung, oder im Speziellen ein Konzert, zu einem Ereignis wird, lassen sich doch die Prämissen definieren, unter denen es stattfindet und die die Möglichkeit erhöhen, dass das Konzert zu einem Ereignis werden kann. Es ist abhängig von Elementen, die den Ablauf und das Aussehen eines Konzertes ausmachen und entsprechend zu seiner möglichen Ereignishaftigkeit beitragen. Diese Elemente lassen sich dadurch identifizieren, dass ein Konzert als Veranstaltung immer aus den folgenden Faktoren bestehen muss: eine Vereinbarung hinsichtlich Ort und Zeit, eine musikalische Quelle und mindestens zwei Personen als Sender und Empfänger, zwischen denen ein Vereinbarung getroffen sein muss, dass es sich bei ihren Aktionen um ein Konzert handelt. Es lässt sich erkennen, dass die beeinflussbaren Elemente Ort und Raum sind, die Zeit, die Musik und die in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehenden Anwesenden. Ergänzend können die folgenden Elemente eines Konzerts als die untersuch- und modifizierbaren genannt werden. Zusammen ergeben diese das Ganze, von dem Seel spricht und das nur im Zusammenspiel seine volle Wirkung trägt:
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der Konzertort als sozialer Ort die architektonische Geste des Gebäudes, seine geographische Verortung und das Ambiente des Innenraums der Konzertort als akustischer Raum das Repertoire, die Programmgestaltung und die Dramaturgie Ereigniszeit, -dauer und -häufigkeit das akustische Umfeld und die Hörgewohnheiten Image und Kommunikation die Ökonomie des Betriebes (Tröndle, 2011: 36)
Das Medium Konzert birgt einige Besonderheiten, die es von anderen Aufführungs- oder Kunstformen abgrenzt und die es zu beachten gilt, wenn über seine Gestaltung und Modifikation nachgedacht wird. Durch das Präsentieren von Musik in einem Konzert ergibt sich ein spezieller Umstand: Das Dargebotene ist in einem bestimmten Moment wahrzunehmen, der aber nicht wiederholbar oder individuell modifizierbar ist. Der Zuhörer hat keine andere Wahl, als sich mit der Art, in der es präsentiert wird, zufrieden zu geben. Das führt zu einer ähnlichen Rezeption wie im Theater und steht mit ihrem live Charakter im Gegensatz zur Ausstellung. So erläutert Kraut (2012: 363): „Eine Ausstellung überlässt dem individuellen Betrachter ein eigenes Zeitbudget und die Möglichkeit, die Werke an einer unverrückbaren Stelle beliebige Male wahrnehmen zu können. Das Konzert dagegen ist ein Ort der kollektiven Echtzeit-Erfahrung, die Musik ist flüchtig, ihre Aura entfaltet sich stets im gerade vergangenen Moment, der nur noch aus der Erinnerung spricht.“ Der Zuhörer muss sich auf eben diese Erinnerung stützen, um das Erlebte fassbar zu machen. Aufnahmen von bestimmten Werken oder besonderen Künstlern sind immer der Versuch, diesen Moment zu verlängern oder wiederholbar zu machen, können aber die erlebbare Aura eines Konzerts nicht ersetzten. Damit ist die Flüchtigkeit oder das Ephemere identitätsstiftend für Konzerte. Es wird ein weiteres zentrales Charakteristikum
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angesprochen: die Kollektivität des Erlebens. In der Regel wird ein Konzert nur in einer Publikumsgruppe rezipiert und ist damit nicht nur von der musikalischen Darbietung, sondern auch vom Publikum geprägt. Die Aufführung entsteht erst aus der Interaktion aller Teilnehmer. Durch diese Charakteristika sind Voraussetzungen gegeben, die die Ereignishaftigkeit von Konzerten zu ermöglichen. Die Nicht-Wiederholbarkeit und nicht beliebige Abrufbarkeit von live gespielter Musik in einem bestimmten Rahmen kann sie zu etwas nicht Alltäglichem und damit zu einem Ereignis machen. Als Prämisse dafür, dass eine Aufführung zu einem Ereignis werden kann und damit mehr ist als ein reines Vorkommnis, legt Roselt (2011: 114) dar, dass das Potenzial von Aufführungen ist, dass etwas passiert, das nicht passieren sollte. Es gibt die Möglichkeit, dass etwas schiefgeht und es entsprechend eine andere Erfahrungssituation ist, als beim Hören einer Aufnahme. Ereignisse müssen nicht die ihnen entgegengestellten Erwartungen erfüllen, sondern können mit etwas Unerwartetem konfrontieren, sodass der Aspekt der Irritation im Wesentlichen zum Ereignis gehört. Nach Roselt bewegt sich die Wahrnehmung von Musik genau zwischen den Polen von Erwartung, Irritation, Antizipation und Erinnerung. Wenn diese Wahrnehmung zusammentrifft mit den genannten Faktoren, kann ein Konzert zu einem Ereignis werden.
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rt nze Ko
1 ist inszeniert und kulturell 2 riskiert das eigene Scheitern 3 kreiert ein Verh채ltnis zwischen Publikum und Akteuren 4 ist ein Ausbruch aus dem Allt채glichen 5 ver채ndert 6 ist dramaturgisch gestaltet 7 hat einen gleichwertigen Ort und Inhalt 8 ist einmalig und nicht wiederholbar
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Das Jahrhundertalte Hören von Heute: Ein Rückblick und Aktuelle Neuerungen
Um die angebrachten Ansatzpunkte nachvollziehen zu können, wird zunächst ein historischer Abriss der Geschichte des Konzerts vorgelegt. So wie wir das Konzert heute kennen, hat es nicht immer ausgesehen und die Entwicklung ist sicherlich auch noch nicht abgeschlossen. Welche Neuerungen zu beobachten sind, wird im Folgenden thematisiert und mit Case Studies illustriert. Wie eine Etüde hilft, das eigentliche Stück zu spielen, helfen die Ausführungen dieses Kapitels, die Forschung und Erkenntnisse nachzuvollziehen. Und auch wenn es nur eine Hilfe ist, kann es – wie auch eine Etüde – als Komposition mit eigenständiger Relevanz und nicht nur als Fingerübung gelesen werden.
was das Konzert macht: Eine explorative Forschung
Die Forschung der Arbeit ist wie eine mehrteilige Komposition. Methoden, die verschiedene Fokusse setzen und unterschiedliche Herangehensweisen bieten, bilden die Gesamtheit. Auch wenn sie fßr sich alleine stehen, kÜnnen erst durch die Gesamtheit die Erkenntnisse zusammengestellt werden. Wie die einzelnen Tänze einer Suite haben die Methoden jeweils ihren eigenen Charakter und Rhythmus. Das Vorgehen wird im Detail dargelegt, um die Einzelergebnisse auszuwerten und im Folgenden zu interpretieren.
Variationen i–XII: Strategien zur Konzert gestaltung
Die Interpretationen des voranstehenden Kapitels werden nun für die Gestaltungsmöglichkeiten von Konzerten genutzt. Jedem der sechs Kernfaktoren sind zwei Strategien zugeordnet. Diese können Konzertgestaltern als frei nutzbare Handlungsanweisungen dienen. So wie eben eine Variation als kompositorisches Prinzip fungiert, kann man nun das Konzertgeschehen verändern. Das Gebilde kann anhand der Strategien abgewandelt und damit immer wieder zu neuen Kompositionen geformt werden.
Strategien zur Konzertgestaltung
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Bisher hat diese Arbeit von klassischer Musik, ihren Werten und ihrem Platz in der Gesellschaft gehandelt, von Konzerten, in denen dieses Genre präsentiert wird, davon, was Konzerte erlebbar und ereignishaft werden lässt, sowie von Konzertgestaltern, ihren Überzeugungen und Schwierigkeiten. Die Relevanz klasssischer Musik ist ebenso deutlich geworden wie ihre Potenziale. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse wird nun die Gestaltbarkeit von Konzerten für klassische Musik dargelegt. Konzerte zu gestalten bedeutet, einen Gesamtkontext zu schaffen: Ein umfassendes Geschehen kreieren, in das alle vorhandenen Faktoren hinein spielen. Von der Botschaft oder dem Erlebnis für den Rezipienten ausgehend, lassen sich sämtliche Elemente deduzieren. Die Botschaften können unterschiedliche Ziele haben: z.B. die Zuhörer zu überraschen, ihnen einen bestimmten Aspekt der Musik zu verdeutlichen oder eine besondere Atmosphäre und damit verbundene Emotionen entstehen zu lassen. Daraus ergibt sich dann, ob ein Konzert unter der Prämisse der Bewegung, Nähe oder Kontemplation gespielt wird (vgl. Ergebnisse Cultural Writing). Der Impuls für die Gestaltung kann von jedem der konzertrelevanten Faktoren ausgehen: Musik Den Zuhörern eine bestimmte Musik präsentieren, z.B. bekannte Werke in einen neuen Kontext setzen oder sie an noch unbekannte Stücke heranführen Musiker Dem Publikum einen bestimmten Musiker als Person näher bringen, z.B. dadurch, dass er nicht nur die Musik präsentiert, sondern ebenso etwas von sich, seinen Zielen und Ideen preisgibt Zeit Ein bestimmtes Zeitgefühl vermitteln, z.B. ein flüchtiges, ein intensives oder eines von Zeitlosigkeit, und damit unterschiedliche Erfahrungen hervorrufen, Ort Ein Ort oder Raum spielt eine besondere Rolle, wird inszeniert, auf spezielle Weise genutzt, oder in anderer als der bekannten Form gezeigt Kommunikation Mit dem Publikum auf bestimmte Art in Kontakt treten, z.B. ihm etwas erklären – verbal oder non-verbal, oder auch ein Gefühl vermitteln Zuhörer Die Zuhörer, die man ansprechen möchte, bestimmen, wie das Ziel erreicht wird und welche zu ihnen passende Form das Konzert annimmt Nach dem Definieren des Konzertziels und dem Festlegen eines Ansatzpunktes gilt es, das Gesamtbild zu entwerfen. Es setzt sich aus allen Elementen zusammen, die ein Konzert ausmachen und die sich in harte und weiche Faktoren trennen lassen. Die harten Faktoren sind die materiellen Elemente, wie z.B. die Raumausstattung. Sie repräsentieren die weichen Faktoren, z.B. Stimmung und Atmosphäre, die als immaterielle Bestandteile die Anmutung der Veranstaltung mindestens soweit mitbestimmen wie die harten Faktoren. Um eine Vorstellung vom Gesamtbild zu schaffen, hilft es sich an den folgenden Fragen zu orientieren:
97 Faktoren Konzert
2 3
Strategien zur Konzertgestaltung
1
4
6
5
1 Musik 2 Musiker 3 Zuhรถrer 4 Ort 5 Zeit 6 Kommunikation
An welchem Ort findet das Konzert statt? Wie ist der Raum eingerichtet? Was übermittelt der Raum mit seiner Einrichtung? Ist das Publikum z.B. durch die Stühle in Reihen geordnet oder kann es selber bestimmen, wo es sich aufhält, und sich bewegen?
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Was für Attribute trägt der Ort in sich? Mit welcher semantischen Konnotation sind diese aufgeladen? Wie ist der Raum beleuchtet, was für eine Stimmung ruft dies hervor? In welcher Position stehen Musiker und Publikum zueinander: Sind sie z.B. durch eine erhöhte Bühne getrennt oder ebenerdig auf Augenhöhe? Wie ist das Programm gestaltet? Welche Musiken werden kombiniert? Gibt es eine Spannungskurve, wie verläuft diese? Wie verhalten sich die Musiker? Was strahlen sie aus? Nehmen sie das Publikum wahr?
Strategien zur Konzertgestaltung
Welche Ansprüche werden an das Publikum gestellt? Ist ein Vorwissen erforderlich oder ist es ausreichend, sich in dem Moment auf das Präsentierte einzulassen? Wie wird das Konzert angekündigt? Wo wird es angekündigt? Was vermitteln die Kommunikationsmedien und an wen richten sie sich?
Jede der Ausführungen – sitzt das Publikum auf Stühle in Reihen oder steht es, ist die Bar im Raum und während der Musik geöffnet oder nicht, gibt es buntes Licht oder einen abgedunkelten Zuschauerraum – hat ihre Berechtigung, Gründe und Vorteile. Doch es ist immer fundamental, sich darüber bewusst zu sein, welche Wirkung die genannten Faktoren haben. Es spricht nichts dagegen diese einzusetzen, solange es absichtlich geschieht. Eine Reflexion über das Zusammenspiel der Elemente und ihre Auswirkungen ist dafür essenziell. Es wird sichtbar, dass es unendlich viele Möglichkeiten gibt, die Faktoren zu kombinieren, um Ideen umzusetzen, Ziele zu erreichen und damit Konzerten ein spezifisches Erscheinungsbild zu geben. Was besser und was weniger gut funktioniert, ist nur teilweise beschreibbar, vielmehr kommt es darauf an, Prototypen zu entwickeln, etwas auszuprobieren, Abläufe durchzuspielen und weiterzuentwickeln. Auch heute bekannte und bis zur Perfektion gebrachte Formate, wie z.B. das Sinfoniekonzert, waren in ihren Anfängen noch nicht so ausgefeilt, wie man es heute kennt. Zudem gilt es herauszufinden, was für jeden Musiker, Komponisten und Konzertgestalter persönlich funktioniert, für seine Musik und sein Publikum und Errungenschaften oder Fehltritte zu reflektieren, um sie weiter zu nutzen oder zu verbessern. Wenn bei potenziellen Konzertorganisatoren Ambitionen bestehen und sich Tatendrang bemerkbar macht, um Konzerte zu gestalten, stehen sie oftmals vor der Frage des wie. Um sie zu unterstützen, wurden 12 Strategien entwickelt, die Organisatoren, Musiker und Komponisten inspirieren können. Jedem Konzertelement sind zwei Strategien zugeschrieben. Auch wenn sie sich auf einen Faktor beziehen, sind sie jedoch immer übergreifend zu lesen und ebenso auf andere Elemente anwendbar. Zur Veranschaulichung der Strategien ist im Folgenden jeweils eine mögliche Konzertsituation beschrieben. Diese sind unbedingt als Beispiel zu lesen und zeigen je nur eine von vielen Möglichkeiten, die Ansätze zu interpretieren und umzusetzen.
99 Strategien Konzertgestaltung
4
3
10
1
6
11
9
2
8 7 12
1 Verwandeln 2 Produzieren 3 Spielen 4 Riskieren 5 Begehren 6 Erleben 7 Bewegen 8 Inszenieren 9 VerflĂźchtigen 10 Rhythmisieren 11 Verdichten 12 Ăœberraschen
Strategien zur Konzertgestaltung
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How to impress your audience: Versuch einer Anleitung
Dass die Komplexität von Konzerten nicht durch eine Anleitung fassbar gemacht werden kann, ist sicherlich schon deutlich geworden. Dennoch kann ein Lösungsvorschlag für die Herausforderungen vermittelt werden. Sowie eine Partitur das Gesamtbild eines Werks darstellt, wird die hier entwickelte Anleitung das Gesamtbild Konzert zeichnen. Die Konzertgestalter als Dirigenten können sich damit eine Vorstellung des Klangbildes, also des Konzerts als Ganzes, verschaffen.
Prepared and Impressed: Res端mee
In diesem Kapitel werden die Erkenntnisse und wichtigsten Beobachtungen der Arbeit resümiert und zu einem Ganzen zusammengefügt. Als würde das Stück Präparierte Klassik von Beginn an wiederholt, bis es zu dem mit Fine bezeichneten Punkt gelangt. Dieser Schluss betont die Relevanz der Konzertgestaltung für klassische Musik und zeigt zukünftige Perspektiven und Möglichkeiten.