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PRESTIGE Switzerland Volume 56

DER MEISTER DER VERHÜLLUNGEN

Autorin_Lone K. Halvorsen

Im Alter von 84 Jahren starb dieses Jahr der Verhüllungskünstler Christo. Zusammen mit seiner Frau Jeanne-Claude eroberte er mit unvergleichlichen Installationen die Kunstwelt. Selbst bezeichnete er seine Kunst als «irrational und sinnlos», aber sie war unverwechselbar und unvergänglich.

Bekannt wurde der gebürtige Bulgare durch seine aufwendigen Installationen wie etwa die Verhüllung des Reichstagsgebäudes in Berlin, die safranfarbenen Tore «The Gates» im Central Park New York, die schwimmenden, mit Nylongewebe bezogenen Stege «Floating Piers» auf dem Wasser des Iseo-Sees in der Lombardei oder der verpackte Pont Neuf in Paris, um nur einige zu nennen. Im Mai dieses Jahres und kurz vor seinem 85. Geburtstag starb der Verhüllungskünstler eines natürlichen Todes in seinem Haus in New York.

HINTER DEM EISERNEN VORHANG

Am 13. Juni 1935 wurde Christo, der Sohn einer Industriellenfamilie, als Christo Javacheff in Bulgarien geboren. In bescheidenen Verhältnissen wuchs er auf, und er sollte viele Abenteuer in seinem Leben – schöne und weniger schöne – erleben, bis er Erfolg erfahren durfte. Er lebte ein Leben mit vielen nervenzerreissenden Episoden hinter dem Eisernen Vorhang, obgleich er immer alles auf eine Karte setzte. Dieser Charakterzug sollte ihn ein Leben lang begleiten und ihm vor allem im Winter 1957 einen Neuanfang ermöglichen. Irgendwo in der Tschechoslowakei versteckte er sich mit anderen Flüchtlingen in einem Güterwagon hinter Kartonstapeln, in der Hoffnung, unentdeckt über die österreichische Grenze nach Wien zu gelangen. Ob diese Flucht in die Freiheit dem unwiderstehlichen Drang entsprang, aufgezwungenen Beschränkungen zu trotzen, oder ob sie einfach seinem Charakter entsprach – dieses Ereignis markierte einen Wendepunkt in seinem Leben.

Zweitausend Kilometer entfernt, zur gleichen Zeit, genoss Jeanne-Claude Marie de Guillebon ein privilegierteres Leben. Auch sie am 13. Juni 1935 geboren, hätten die zwei nicht unterschiedlicher aufwachsen können, aber zusammen sollten sie eines der erstaunlichsten Gespanne der Kunstgeschichte werden. Christo blieb nicht lange in Wien, denn gleich darauf ging die Reise weiter nach Paris, wo er einige Avantgardisten kennenlernte. Von einer wohlhabenden Dame namens Précilda de Guillebon erhielt er einen Auftrag für Portraits und lernte dabei deren Tochter Jeanne-Claude kennen. «Für mich war es nur zum Spass», erzählte Jeanne-Claude. «Jede reife Frau, jung oder alt, will sich einem Künstler hingeben. Nachher, wenn man ihn gehabt hat, kehrt man ins wirkliche Leben zurück. Er war mein Künstler. Aber er war ein super Liebhaber. Das schaffte mich.» Für Christo verliess Jeanne-Claude ihren Ehemann Philippe nach nur drei Wochen. Philippe mochte sich viel Mühe geben, aber sie gierte nach einem Leben mit Christo. Da sich das Zentrum der Kunst zunehmend von Paris nach New York verlagerte, traten Christo und Jeanne-Claude 1964 die Überfahrt nach New York an.

DER BEGINN DER VERHÜLLUNGEN

Die Zusammenarbeit von Christo und Jeanne-Claude beschrieb eine enge Freundin von Jeanne-Claude als «einen Adler mit zwei Köpfen». Die beiden spürten sich gegenseitig, als wären sie unsichtbar miteinander verwachsen. Je mehr Zeit verging, desto schwerer fiel es, sie voneinander zu unterscheiden oder sich ein Projekt vorzustellen, das nicht von ihrer gemeinsamen Energie belebt war. Zwar waren es Christos Werke, die wachsenden Zulauf fanden, denn er hat alle Zeichnungen, Collagen, Drucke und Modelle hergestellt. Jeanne-Claude hingegen kümmerte sich um die geschäftlichen Dinge. Ungeachtet dieser unterschiedlichen Aufgaben haben die beiden stets eine identische Zielsetzung verfolgt und sämtliche Entscheidungen gemeinsam getroffen. Manche rümpften darüber jedoch die Nase und hielten es für unangebracht, Jeanne-Claude als Künstlerin zu bezeichnen.

Der 400 Meter lange Vorhang «Valley Curtain» wurde durch ein breites Tal in den Rocky Mountains aufgehängt.

Zu ihren ersten bekannten Projekten gehörte der Auftritt auf der Documenta 4 im Jahr 1968 mit der 85 Meter hohen Liftsäule «5600 Cubic Meter Package» – welche eher als Monster- Zigarre oder Super-Salami betitelt wurde. Unermüdlich war Christo jedoch darauf erpicht, ein grosses Gebäude zu verhüllen. «Bereits 1964 war mir klar, dass die Verhüllung eines Gebäudes nur innerhalb der Museumswelt möglich sein würde.» 1968 wurde mit der Berner Kunsthalle ihr Traum, ein öffentliches Gebäude zu verhüllen, verwirklicht, und anschliessend ging es dann Schlag auf Schlag. Neue Ideen, neue Orte und neue Projekte, denn schliesslich gab es mehr als nur Museen zu verhüllen. Es folgte «Wrapped Coast», wo der Künstler einen ganzen Küstenstreifen in Australien verhüllte. Gefolgt von «Valley Curtain», wo ein sechs Tonnen schwerer und 111 Meter hoher Vorhang durch ein 400 Meter breites Tal der Rocky Mountains gezogen wurde. Kurze Zeit danach liess Christo bei «Running Fence» einen meterhohen Zaun aus Stoffbahnen 40 Kilometer durch die Landschaft Kaliforniens schlängeln. Mit der Verhüllung des Pont Neuf im Jahr 1985 verwandelte Christo die älteste Steinbrücke in Paris zu einem Kunstwerk, und fünf Jahre später stellte das Paar für «The Umbrellas» insgesamt 3100 Schirme in Kalifornien und Japan auf. Dieses poetische Projekt gehört zu einem ihrer spektakulärsten und wurde zu einem grossen Publikumserfolg. Oftmals dauerte es Jahre, bis ein Projekt realisiert werden konnte. Dazu gehört eine seiner bekanntesten Verhüllungen, der «Verhüllte Reichstag» in Berlin. Diesem Projekt war eine 20-jährige beharrliche Vorbereitung vorausgegangen, bevor es 1994 in einer Bundestagsabstimmung die Zustimmung der deutschen Regierung erhalten hatte und ein Jahr später Menschen aus aller Welt nach Berlin pilgerten, um dieses Projekt mit eigenen Augen zu erleben. Etwas mehr an Geduld und Beharrlichkeit musste Christo für das Projekt der «Verhüllten Bäume» rund um die Fondation Beyeler und dem benachbarten Berower Park aufbringen. Als im Herbst 1998 162 Bäume in Polyesterstoff verhüllt und in ein fast bildhauerisches Meisterwerk verwandelt wurden, war dies die künstlerische Vollendung einer langen Geschichte von Baumverhüllungen.

DIE VERWIRKLICHUNG DER PROJEKTE

Christo und Jeanne-Claude lehnten Sponsorengelder aus öffentlicher oder privater Hand strikt ab, und somit wurden die Projekte durch den Verkauf von Planskizzen, Modellen und Zeichnungen finanziert. Womöglich wären viele Projekte auch nie zustande gekommen, wenn die beiden nicht die Kosten dafür selbst übernommen hätten. «Zwischen 1991 und 1995 haben wir 39 Millionen Dollar ausgegeben», berichtet Jeanne-Claude. Das Geld hatten sie von der Bank geliehen, und so zahlten sie «Zinsen bis zu dem wundervollen Tag, an dem wir sagen können, vielen Dank, wir haben unsere Zahlungen nun abgeschlossen». Insgesamt konnten von 1962 bis 2019 23 Projekte realisiert werden. Ob verhüllend, leitend oder abgrenzend – die Projekte einen die immense Grösse, die Verwendung von Stoffen sowie – und das war ihnen besonders wichtig – die öffentliche Zugänglichkeit. Auch nach dem Tod des Künstlers hält Frankreich an der geplanten Verpackung des Triumphbogens fest. Die Verhüllung des legendären Wahrzeichens von Paris wird im kommenden Jahr stattfinden, und es verspricht, ein spektakuläres Ereignis zu Ehren eines der aussergewöhnlichsten Künstler zu werden.

Der 40 Kilometer lange «Running Fence» in Kalifornien wurde 1976 vollendet.

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