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Carte blanche
Sabine Knosala Teil 1: Mit Augmented Reality zu den Römern in Augusta Raurica. Die ProgrammZeitung hat es ausprobiert.
Seit Anfang Mai hat die Römerstadt Augusta Raurica in Kaiseraugst eine neue Attraktion: Mit der App «Augusta Raurica AR Experience» soll man in den Alltag in den ehemaligen römischen Gewerbehäusern eintauchen können. Sie gelten als der am besten erhaltene private Gebäudekomplex der Römerzeit nördlich der Alpen.
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Grund genug, das Angebot einmal selbst auszuprobieren: Bereits zu Hause laden wir die kostenlose App aufs Smartphone runter, Tablet ginge auch, und packen Kopfhörer ein. Los gehts dann im Museum der Römerstadt, wo man zuerst ein kostenloses Ticket holen soll – zumindest theoretisch, denn wie uns die nette Angestellte an der Kasse erklärt, sind die Gewerbehäuser momentan (Mitte Juni) noch frei zugänglich. Wir marschieren etwa sechs Minuten den Hügel hinunter bis zur Ausgrabung an der Hauptstrasse. Bereits seit 1987 befindet sie sich unter einem Schutzbau: Gebäude und Ruinenareal wurden jedoch komplett saniert und unter anderem durch eine neue Beleuchtung aufgewertet.
Im Eingangsbereich folgt dann der erste Frust: Die App läuft nicht. Die Ursache ist rasch gefunden: Man muss sich zuerst ins dortige WLAN einwählen. Dann klappt alles wie am Schnürchen: Auf dem Handy erscheint die Statue des römischen Hausgotts Lar, der uns durch die Geschichte führt und uns auffordert, nun die Ausgrabung zu betreten. Von der Besucherplattform aus richtet man das Handy auf die Ruinen unter einem. Die App erkennt automatisch, um welchen Raum der Gewerbehäuser es sich handelt und spielt den entsprechenden Teil des Hörspiels ab, das in verschiedenen Sprachen verfügbar ist. Gleichzeitig sieht man auf dem Handy, wie der Raum zu Römerzeiten ausgesehen hat, und auch die Protagonisten des Hörspiels werden gezeigt. Der Clou daran: Die 3-D-Visualisierungen von Gegenständen stützen sich auf Funde in Augusta Raurica, diejenigen von Kleidungsstücken auf Erkenntnisse von anderen Fundorten oder auf bildliche Darstellungen aus römischer Zeit. Will heissen: Sie sind so originalgetreu wie möglich.
Kurz und kurzweilig.
Die Geschichte selbst ist zwar fiktiv, handelt aber von den letzten Stunden vor dem realen Brand, durch den die Gebäude um das Jahr 300 zerstört wurden. Ganz nebenbei erfährt man einiges über die Funktion der Räume, waren doch die römischen Gewerbehäuser eine Mischung aus Gewerbebetrieb, Taverne und Herberge. Fünf Räume und damit fünf Teile des Hörspiels gibt es zu entdecken. Keine der Folgen dauert länger als fünf Minuten, was den Besuch angenehm kurz und kurzweilig macht.
Wichtig: Die App funktioniert nur vor Ort. Ermöglicht wurde das schweizweit einmalige Projekt durch die Kantone Aargau und Basel-Landschaft sowie das Bundesamt für Kultur.
www.augustaraurica.ch/angebote/ar-experience# Ausserdem: 25. Römerfest: Sa 6.8. bis So 7.8., Römerstadt Augusta Raurica www.augustaraurica.ch → S. 49 Nächstes Mal Teil 2: Mit Hörspielen zu den Rittern auf der Burgruine Pfeffingen.
INSELN DER KRISE
Peter Burri
Die Ausstellung «Nos îles» in der Fondation François Schneider im elsässischen Wattwiller beleuchtet das Thema fernab von Ferienklischees.
Das spektakulärste Objekt ist «Le Refuge». Stéphane Thidet hat eine Holzhütte aufgebaut, doch es regnet in Strömen durch ihr Dach und alles im vermeintlichen Refugium ist klatschnass.
Damit ist schon viel über diese faszinierende Ausstellung gesagt. Inseln gelten vorab als paradiesische Orte der Sehnsucht oder Terrains für Abenteuer. In Wattwiller am Fuss der Vogesen, wo die aus den örtlichen Mineralwasserquellen hervorgegangene Fondation François Schneider in einer einstigen Abfüllhalle das Thema Wasser immer wieder künstlerisch sichtet, steht die Insel jetzt als Metapher für Krisen und Probleme. Migration und Umweltsünden.
So etwa bei der aus dem Iran stammenden australischen Künstlerin Hoda Afshar. In ihrer Videoarbeit «Remain» thematisiert sie das Schicksal von abgeschobenen Migranten, die Australien auf einer Insel in Papua-Neuguinea isoliert. Die französische Fotografin Yohanne Lamoulère dokumentiert, wie sie sich während des Corona-Lockdowns auf eine wild bewachsene Insel in der Rhone zurückzog, Robinson spielte und sich die Zeit mit Verkleidungsaktionen vertrieb. Der Franzose Olivier Crouzel wiederum hat in Griechenland eine Insel entdeckt, auf der Bimsstein abgebaut und zerrieben wird, um als ökologisches Isolationsmaterial zu dienen. Während eine riesige Maschinerie das Eiland zerstört, werden auch Tagestouristen herbeigeschifft, die trotz Lärm und Staub hier ihren Badefreuden nachgehen.
Andere Künstlerinnen und Künstler nähern sich dem Thema Insel kartografisch, mythisch oder mit der Verfremdung von Projektionsobjekten wie etwa der Palme an. Oder sie laden zu Geräuschräumen ein. Dass die ganze bewohnbare Erde eigentlich nur aus je länger, je mehr gefährdeten Inseln besteht, stellt die aus Belgrad stammende Brankica Zilovic eindrücklich dar, indem sie aus roten Fäden ein grosses Netz knüpft, das einer Weltkarte gleicht, aber wie rinnendes Blut aussieht. Passend dazu ist, wie der in Genf und Metz lebende Benoît Billotte Umrisse von Inseln auf Überlebensdecken aus goldener Folie druckt.
«Nos îles»: bis So 18.9., Fondation François Schneider, Wattwiller, www.fondationfrancoisschneider.org
Tilo Richter Dem S AM gelingt ein wunderbares Neapel-Porträt – das zum Glück weit über Architektur und Städtebau hinausreicht.
Pietro Maria Paolucci ist italienischer Konsul in Basel und sorgte an der Eröffnung von «Napoli Super Modern» im Schweizerischen Architekturmuseum (S AM) – zusammen mit den kulinarischen Leckerbissen – für die genau richtige Portion Italianità unter den Gästen. Zusammen mit mehreren Hundert anderen flanierte er durch eine Schau, welche die Stadt am Fusse des Vesuvs aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zeigt und lebendig macht.
Im Fokus stehen 16 ausgewählte Gebäude, die in den drei bewegten Dekaden zwischen 1930 und 1960 entstanden sind – von einem Klinikum über Verwaltungsgebäude bis zu Sozialwohnungen. Neapel, heute mit knapp einer Million Einwohnerinnen und Einwohnern die drittgrösste Stadt Italiens, wuchs in dieser Zeit gleichermassen in die Breite wie auch entlang der prägnanten Topografie in verschachtelte Höhen. Architekturfotografien des Franzosen Cyrille Weiner sepa rieren ausgewählte Bauten der Zeit des Faschismus und des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg, lösen sie mitunter behutsam aus dem städtebaulichen Kontext und legen so ihre gestalterischen Qualitäten frei.
Konzeptionelle Basis der Ausstellung ist das gleichnamige Buch, das 2020 erschienen ist und die Goldmedaille des Deutschen Fotobuchpreises 2021/22 erhielt. Dank brillanter szenografischer Ideen laden die Ausstellungsräume zu Entdeckungsreisen ein: Raumhohe Vorhänge mit Fotos aus Neapel vermitteln das Gefühl, der Stadt und ihren Menschen ganz nah zu sein. Filigran ausgear-
«Mittendrin statt nur dabei!» – Besuchende an der Vernissage der Ausstellung «Napoli Super Modern», Foto: Tilo Richter
beitete Fassadenreliefs bilden eine Art Kompendium der Stile, das sich ganz auf Lineaturen und Proportionen konzentriert und dazu einlädt, den Zeitgeist verschiedener Jahrzehnte anhand ihrer Gebäudeaufrisse zu vergleichen. Gerade hier bestätigt sich, dass Neapel eine eigene Form der Moderne entwickelt hat, welche die mediterrane Kultur mit lokalen Materialien und einem starken internationalen Geist verbindet.
Filmische Innenansicht einer Metropole.
Einmal mehr ergänzen handverlesene Filme das zwei- und dreidimensionale visuelle Programm: Ein Ausschnitt aus «Le mani sulla città» (Die Hände über der Stadt) von Francesco Rosi aus dem Jahr 1963 thematisiert politische Korruption und Immobilienspekulation im Neapel der Nachkriegszeit.
Der sinnliche Höhepunkt der Schau hat eher indirekt mit Architektur und Städtebau zu tun, dafür umso mehr mit dem, was man als Urbanität bezeichnen darf. Die Filmemacherduo Bêka & Lemoine, bestehend aus Ila Bêka und Louise Lemoine, steuert mit «Homo Urbanus Neapolitanus» als Teil einer «citymatographic odyssey» einen faszinierenden Spaziergang vom Meer hinauf auf den schlummernden Vulkan bei, der das Publikum so nahe an den neapolitanischen Alltag bringt, wie kein Architekturfoto oder -modell es vermag. Das Museum of Modern Art in New York nahm das künstlerische Werk der beiden Filmschaffenden in seine Sammlung auf.
Die Stadt als Bühne.
Es ist dieser aus still und feinsinnig beobachtenden Sequenzen komponierte, fast eine Stunde dauernde Film, der die eigentliche Quintessenz dieser von Andreas Ruby und Andreas Kofler in Zusammenarbeit mit LAN Local Architecture Network kuratierten Ausstellung verkörpert. Es geht nicht allein um das Gebaute, sondern vor allem um die Erkenntnis, dass Architektur nie Selbstzweck ist. Die gebaute Stadt war, ist und bleibt – bei allem, was sie an Diskussionen und Emotionen über sich selbst hervorruft – nur die Bühne für das Eigentliche: das pralle Leben.
Ausstellung «Napoli Super Modern»: bis So 21.8., S AM Schweizerisches Architekturmuseum, Steinenberg 7, Basel, www.sam-basel.org Begleitpublikation (Englisch): «Napoli Super Modern», hrsg. von LAN Local Architecture Network, Benoit Jallon, Umberto Napolitano und Le Laboratoire R.A.A.R., Park Books, Zürich, 2020. 232 S., geb., CHF 49 Infos zu Bêka & Lemoine: www.bekalemoine.com