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Redaktion

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Agenda

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Stephanie Werder Das Beziehungsdrama «Drii Winter» führt in die Welt der Schweizer Bergdörfer.

Wenn sich die Kamera zu Beginn von «Drii Winter» um 360 Grad im Kreis dreht, dabei Gesicht für Gesicht freigibt, um so die um den Stammtisch versammelten Dorfbewohner aufzunehmen, die behaglich miteinander plaudern, so zeigt sie diese Menschen als eingeschworene, nach Innen gerichtete Gemeinschaft. Die Kamera selbst ist mitten drin platziert – und das verrät viel über das Selbstverständnis des Spielfilms, der in deren Lebenswirklichkeit vorzudringen versucht.

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Der Stammtisch gehört zu einer Beiz in einem abgelegenen Dorf in den Urner Alpen, in dem der Film spielt. Erzählt wird von Anna und ihrem Freund Marco, der zu seiner Partnerin in die Berge zieht und bei den Bauern hilft. Ihre glückliche Beziehung gerät ins Wanken, als Marcos Persönlichkeit sich krankheitshalber verändert.

Cast aus Laiendarstellenden.

Die Gesichter der Stammtischgäste und die Gespräche lassen vermuten: Es sind echte Bergler, die hier, auffallend kunstvoll, in Szene gesetzt werden. In der Tat handelt es sich beim ganzen Cast um Laiendarstellerinnen und -darsteller. Auch der Hauptdarsteller Simon Wisler steht normalerweise jeden Tag im Stall. Es sei schwierig gewesen, den beflissenen Bauern und die anderen Dorfleute für seinen Film zu gewinnen, berichtet der Schweizer Regisseur Michael Koch an anderer Stelle. Erst durch etliche Besuche und Beharrlichkeit sei ihm dies gelungen, denn zuerst seien sie an der Präsentation ihrer selbst keineswegs interessiert gewesen. Es mag an den jahrelangen Recherchen oder an einer Verpflichtung den Porträtierten gegenüber liegen, dass die erzählte Geschichte, so «down to earth», ja «realistisch» wirkt und fast ohne zugespitzte, dramaturgische Höhepunkte auskommt. Dieser Realismus geht auf der formalen Ebene aber nicht etwa mit einer verwackelten Handkamera einher. Im Gegenteil: In «Drii Winter» reiht sich ein durchgestaltetes Bild an das andere. Ja, in gewissen Momenten wirken die hochästhetischen Aufnahmen der strammen, arbeitsamen Bauern sogar etwas befremdlich. Zwischen Realitätsanspruch und Ästhetisierung entsteht eine spannende Irritation, die zu denken gibt. Vielleicht ist es gerade diese Reibung, von welcher der Sog des Dialektfilms ausgeht und die dafür sorgte, dass der Film von der Schweiz ins Rennen als bester internationaler Film an der Oscarverleihung 2023 geschickt wird.

«Drii Winter» läuft ab Do 1.9. in den Kultkinos Basel, www.kultkino.ch (Vorpremiere Mi 31.8., 18.15, in Anwesenheit des Regisseurs Michael Koch) → S. 48

VERWANDELT

Jacqueline Maurer

Wenn aus Fassbinders «Die bitteren Tränen der Petra von Kant» Ozons «Peter von Kant» wird.

Nach dem realistischen «Tout c’est bien passé» kommt mit «Peter von Kant» schon das nächste François-Ozon-Drama in die Kinos, das erneut durch hochrangige Besetzung brilliert. Ozon adaptiert «Die bitteren Tränen der Petra von Kant» des von ihm bewunderten Rainer Werner Fassbinder. 50 Jahre nach dessen Kammerspiel verwandelt Ozon die weiblichen Figuren in männliche: Aus der Modeschöpferin Petra von Kant wird der Filmregisseur Peter von Kant, aus der gedemütigten Sekretärin Marlene der erniedrigte Diener Karl und aus der geliebten Karin der Liebhaber Amir. Die Handlung verbleibt in den 1970ern.

Der korpulente Lebemann Peter von Kant bewohnt ein luxuriös eingerichtetes Kölner Appartement und wird vom schmächtigen Karl stumm und stets bedient. Dieser ist es auch, der die Handlung an einem sonnigen Morgen eröffnet. Er holt den gut gebetteten Peter aus den Federn, der seine Mutter anruft und mit seiner Produktivität im Filmgeschäft prahlt. Als Peter langsam seinen Tag beginnt, läuft die Platte mit dem Refrain «Jeder tötet, was er liebt» derjenigen Starschauspielerin und Vertrauten Sidonie, die Peter die ganz grosse Liebe bescheren wird. Sie stellt ihm den Jüngling Amir Ben Salem vor, der durch Peters Zutun bald eine erfolgreiche Schauspielkarriere startet. Die von Eifersucht und Besessenheit angetriebene Beziehung geht indes in die Brüche. Peters Gefühlsausbruch gegen Ende des Films kann nur die nun in die Filmhandlung eintretende Mutter eindämmen. Zwischen Melodram und Komödie.

Ozon hat nicht nur Fassbinders autobiografischen Film frei adaptiert, sondern Peter, der vom Schauspieler-Schwergewicht Denis Ménochet körperhaft verkörpert wird, offensichtlich mit dem bisexuellen Fassbinder selbst vermischt. Das Kammerspiel Ozons wechselt zwischen melodramatischen Szenen, in denen die Tränen des Originaltitels mehrmals in Peters Augen schiessen, und komödiantischer Übertreibung, etwa wenn das junge Aussehen Sidonies mehrmals betont wird, die von der nie alternden Isabelle Adjani gespielt wird. Der Auftritt von Hanna Schygulla, die Stammschauspielerin Fassbinders, ist ebenso ein wahrer Genuss.

«Peter von Kant» läuft ab Do 15.9. in den Kultkinos Basel, www.kultkino.ch → S. 48

Dagmar Brunner Die Zauberlaterne, der internationale Filmklub für Kinder, feiert ihr 30-jähriges Bestehen.

Derzeit erleben die meisten Kinos schwierige Zeiten, unter anderem weil Besuchende (auch noch coronabedingt) fehlen. Anders die Zauberlaterne, der Filmklub für ein junges Publikum, der heuer seinen 30. Geburtstag feiern kann. Auslöser seiner Erfolgsgeschichte war ein Symposium an den Solothurner Filmtagen 1992 zum Thema Kinderfilm. Dort wurde festgestellt, dass es in der Schweiz kaum Filmvermittlungsangebote für Kinder gibt. Ein kleines cinephiles Team aus Neuenburg entwickelte daraufhin das Konzept eines Filmklubs für Sechs- bis Zwölfjährige: die Zauberlaterne. Zum Auftakt wurde der Stummfilmklassiker «Goldrausch» von und mit Charlie Chaplin präsentiert. Werke dieses Grossmeisters sind nun auch im Jubiläumsprogramm zu sehen.

Rasch eroberte sich die Zauberlaterne Terrain, fast 80 Klubs (mit insgesamt knapp 20 000 Mitgliedern) gibt es heute in der Schweiz. Seit 1999 ist sie zudem international präsent: in zehn Ländern und auf vier Kontinenten. 2016 wurde ergänzend «Die Kleine Laterne» ins Leben gerufen, ein Programm für Vier- bis Sechsjährige und ihre Eltern, das in 42 Schweizer Kinos angeboten wird. Die Vorstellungen für die grösseren Kinder finden ohne Eltern statt. Ausser in ihren Klubs ist die Zauberlaterne auch im Internet, im TV, auf Festivals und in Schulen aktiv.

Kluge und breite Filmbildung.

Die zentrale Aufgabe der Zauberlaterne ist, Kindern auf spielerische und lehrreiche Weise die Freude am Kino zu vermitteln. Die Filmvorführungen werden akribisch vorbereitet und von geschultem Personal begleitet. Vor jedem der neun Events pro Saison erhalten die Mitglieder eine illustrierte Klubzeitung zugeschickt, die über den aktuellen Film und seine Machart informiert. Zur Vorstellung werden die Kinder von einem Moderationsduo empfangen, das sie didaktisch und künstlerisch auf das Kinoerlebnis einstimmt. Gezeigt werden jeweils drei mal drei Filme aus aller Welt und aus unterschiedlichen Epochen der Filmgeschichte. Sie sollen zum Lachen, Nachdenken und Träumen anregen. Die Zauberlaterne trägt damit zur Filmbildung bei, gibt Einblick in Entwicklung und Handwerk des Mediums, in Gestaltung und Technik. Die Kinder lernen so, audiovisuelle Inhalte kritisch und differenziert zu reflektieren.

Zu ihrem Jubiläum hat die Zauberlaterne eine multimediale Kommunikationskampagne lanciert, die von Kunstschaffenden unterstützt wird, etwa vom Illustrator und Gründungsmitglied Yves Nussbaum (Noyau), der den visuellen Auftritt der Organisation verantwortet – so auch das blaue Maskottchen. Landesweit werden Gratisvorstellungen geboten, zu denen ausnahmsweise Erwachsene ebenfalls Zutritt haben.

Die Zauberlaterne: Sa 24.9., 9.30 und 11.30, Pathé Küchlin, Steinenvorstadt 55, www.lanterne-magique.org

BRUTALE ARBEITSWELT

Bruno Rudolf von Rohr

Mit «Un autre monde» erneuert Stéphane Brizé seinen kritischen Blick.

Nach «La loi du marché» (2015) und «En guerre» (2018) beschäftigt sich Stéphane Brizé in seinem neusten Film «Un autre monde» wieder mit der Arbeitswelt. In diesem Fall steht Philippe Lemesle (Vincent Lindon), Direktor der französischen Filiale eines amerikanischen Konzerns, vor der herausfordernden Aufgabe, eine neue Entlassungswelle im Betrieb durchzusetzen – und dies gegen seinen Willen. Gleichzeitig ist er auch mit einer privaten Krise konfrontiert: seine Frau (Sandrine Kiberlain) hat die Scheidung eingereicht, denn die immer höheren beruflichen Anforderungen verunmöglichten jegliches Privatleben. Ausserdem muss ihr Sohn wegen einer schweren Depression hospitalisiert werden. Mensch im Zentrum.

Stéphane Brizé geht auch in diesem dritten Film wie ein Dokumentarfilmer vor. Er spricht mit den betroffenen Menschen, deren Situation er in seinem Film schildert. Auch besetzt er den grössten Teil der Darsteller mit Laienschauspielern, die ihre eigenen Rollen spielen. Damit bekommen seine Filme jene Intensität, die sie sehr nahe an die Realität heranführen, wo sich Zorn und Ohnmacht die Waage halten. Was Brizé interessiert, sind nicht so sehr die äusseren Umstände, sondern wie der immer härtere Umgang die Menschen verändert. Diesen inneren Prozess setzt er mit seinem Szenaristen (Olivier Gorce) bildlich um, indem er eine sehr ruhige Kameraführung (Eric Dumont) wählt, welche die Figuren oft von der Seite oder von hinten ins Bild nimmt und uns so in ihre Gedankenwelt eintauchen lässt. Oft spielt er auch mit der Unschärfe, so in der Szene des Hausverkaufs, wo die Käufer nie scharf gefilmt werden, sondern wie Phantome, gleichsam wie Geier, um den in seinen Gedanken verlorenen Manager kreisen.

Brizés Film entlarvt auf unerbittliche Weise eine Welt, die von jedem verlangt, «jederzeit über sich hinauszuwachsen», was hier bedeutet, immer bereit zu sein, sich und seine Überzeugungen hinter sich zu lassen im «höheren Interesse» des Konzerns, sprich: der Aktionäre. Es ist ein Film über die Entfremdung eines Menschen, der sich erst vor dem Sprung von der Klippe bewusst wird, zu welchem Menschen er eigentlich geworden ist. Seine Frau formuliert es auf ihre Weise: «Ich habe das Gefühl, das sind nicht wir.»

«Un autre monde» läuft ab Do 1.9. in den Kultkinos Basel, www.kultkino.ch → S. 48

AUFBEGEHREN

Clea Wanner

Frauen im frühen russischen Kino: Das Stadtkino Basel zeigt Archivperlen. 1913 proklamiert die russische Revolutionärin Alexandra Kollontai einen neuen Typ Frau. Eine Frau, die ihr Glück in Arbeit und Unabhängigkeit sucht. Diesem Credo folgten die Stummfilmheldinnen. Sie waren nicht mehr romantisch und naiv, sondern forderten, oft mit einem ausgeprägten (sexuellen) Selbstbewusstsein, das konservative Frauenwunschbild des bürgerlichen Mannes heraus. Doch auch hinter den Kulissen, als Koloristin, Drehbuchautorin oder Unternehmerin spielten die Frauen eine bedeutende Rolle. Dies gilt nicht nur für die Metropolen Sankt Petersburg und Moskau, auch an den Rändern des Vielvölkerreichs, in Riga, Odessa und Tiflis, schuf die aufblühende Filmindustrie neue berufliche Perspektiven für Mann wie Frau.

Das Stadtkino Basel widmet sich an zwei Abenden dieser spannungsvollen Periode der Filmgeschichte, als die Emanzipationsbewegung auf den Film – das neue Medium der Moderne – traf.

Exklusive Einblicke.

In Zusammenarbeit mit der Universität Basel wurden zwei selten gezeigte Filme neu digitalisiert: «Der triumphierende Satan» ist ein Melodrama, das mit Augenzwinkern den Sündenfall eines Pastors erzählt. Hinter dem Kassenschlager von 1917 steht Olga Blazhevich, eine der meistgefragten Autorinnen und Autoren der Epoche, die mit der Doppelgängerfigur des Satans den Nerv der Zeit traf. Begleitet wird die Vorführung von der Soundkünstlerin Purpura, bekannt für ihre rauen Klanglandschaften, und dem Saxofonisten Anton Ponomarev, der jüngst mit dem feministischen Kollektiv Pussy Riot in Basel auftrat.

«Toteninsel» wiederum ist eine ungewöhnliche Hommage an Vera Kholodnaya, den ersten weiblichen Filmstar des russischen Zarenreichs, die 1919 mit 35 Jahren in Odessa starb. Eingeführt wird der Film vom Regisseur selbst. Oleg Kovalov nutzte 1992 nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Gunst der Stunde und holte die lange unbeachteten Filmschätze aus den Archiven hervor. Entstanden ist eine traumhafte, stellenweise einem Thriller ähnliche Collage, die dem Publikum einen neuen Blick auf die vergangene Epoche eröffnet.

Kurzreihe «Frauen im Kino des späten Zarenreichs»: Do 1.9. bis Fr 2.9., Stadtkino Basel, www.stadtkino.ch → S. 49

Dagmar Brunner Initiativ im Alter, heisst die Losung im Kosmos space, wo es Raum für vielfältige Aktivitäten und Begegnungen gibt.

Ein riesiger Magnolienbaum steht schattenspendend vor dem geräumigen Bau und lädt zum Verweilen ein. Nach dem Spaziergang hierher hat man ohnehin eine Pause verdient, denn der Kosmos space befindet sich neben der Binninger Sternwarte auf dem Margarethenhügel oberhalb der Kunsteisbahn. Im zugehörigen Café Magnolia, das jeden Donnerstag, Freitag und Samstag nachmittags geöffnet ist, wird selbstgemachter Kuchen serviert. In diesem Haus sind alle und insbesondere die Generation 60 plus willkommen.

Nach dem Spatenstich im Sommer 2020 wurde im Mai 2021 der Verein Kosmos space gegründet, der sich für ein aktives Alter einsetzt und Projekte sowie Netzwerke von älteren Menschen fördern will. Denn viele haben auch nach ihrer Pensionierung Lust, ihre Energie, Fähigkeiten und Erfahrung irgendwo einzubringen, Neues zu lernen oder alte Vorhaben endlich umzusetzen. Die Initiative stiess auf viel Zuspruch und breite Unterstützung, sodass bereits im Herbst 2021 ein erfolgreicher Tag der offenen Tür durchgeführt werden konnte. Erstmals findet nun auch ein Sommerfest statt.

Kultur, Bildung, Freizeit.

Das Gebäude, vormals Sitz des Astronomischen Instituts der Uni Basel, das 2007 aufgelöst wurde, gehört Immobilien Basel-Stadt und kann bis Ende 2025 zwischengenutzt werden. Auf vier Etagen laden rund 30 gepflegte Räume zu vielfältigen Aktivitäten ein. Einige sind bereits belegt, andere können temporär oder dauerhaft für Arbeit oder Freizeit gemietet werden. Zur Palette der aktuellen Angebote und Projekte gehören Schreibkurse, Fremdsprachentraining, ein Erzählcafé, Film und Suppe, Klavier- und Gitarrenunterricht, Computerkurse, eine Shared-Reading-Lesegruppe, Stimmbildung, Humortraining, Offenes Malen und Kunsttherapie, Gemeinschaftsgarten, Yoga und Bewegung, eine Spielzeug-Eisenbahngruppe usw. Die Projektleitenden vermitteln ihr Know-how kostenlos oder zu moderaten Preisen, die Mitarbeitenden sind ehrenamtlich tätig. Finanziert wird Kosmos space durch Mieterträge, Mitgliederbeiträge und Spenden sowie von Stiftungen und Sponsoren (substanziell von der Christoph Merian Stiftung und der Walder Stiftung).

Durch die Corona-Zeit konnte sich der Kosmos space nicht so zügig entwickeln wie geplant, doch der Verein unter Präsidentin Daniela Finke ist dafür besorgt, dass die Einrichtung zukunftsfähig bleibt. Geschäftsleiterin Pascale Witte betreut die Mitwirkenden und kuratiert und koordiniert die Angebote. Eine siebenköpfige «Critical Friends Group» und ein prominenter Beirat aus Wissenschaft und Alterspolitik begleiten das Unternehmen.

Kosmos space, Venusstr. 7, Binningen, www.kosmosspace.ch Sommerfest: Sa 27.8., 10–20 h Projektvorstellung: Di 13.9., 19.30, Quartieroase Bruderholz Ausserdem: Luststreifen Film Festival Basel: Do 29.9. bis So 2.10., Basel, www.luststreifen.com Fantoche, internationales Festival für Animationsfilm: Di 6.9. bis So 11.9., Baden, www.fantoche.ch

Mit Biréli Lagrène tritt ein topmoderner Erbe der grossen Sinti-Tradition im Rheinfelder Q4 auf.

Mancher Jazzfan erinnert sich noch gerne an den Auftritt des Teenagers Biréli Lagrène im Basler Atlantis in den frühen 80er-Jahren. Dem Gitarristen aus der Sinti-Gemeinde im elsässischen Soufflenheim wurde früh das Etikett «Nachfolger von Django Reinhardt» angehängt. Tatsache ist, dass er seit seinem vierten Lebensjahr Gitarre spielt und die rhythmischen Traditionen der Manouche schon früh verinnerlicht hat. Er liess sich aber schon als junger Künstler nicht beirren und machte dort weiter, wo das allzu früh verstorbene Genie Django aufhören musste.

Lagrène bewegt sich heute auf der Höhe der zeitgenössischen Gitarrenmeister: Er kann in allen Stilen und mit allen spielen bis hin zur Teilnahme an Orchester-Projekten. Und vor allem: Wer mit ihm spielt, ist gefordert, denn Lagrène kann im gleichen, rhythmisch horrend ausgelegten Lauf eine Anspielung auf Duke Ellington mit einer Phrase von Jimi Hendrix verbinden. Selbst auf «Solo Suites», seinem ersten Album als Solist in über 40 Jahren Karriere, ist er ungemein fordernd – natürlich gegenüber sich selbst. Das unterstreichen atemberaubende Titel wie das rhythmisch enorm vertrackte «Question réponse» oder die polychorale Version des Standards «Caravan».

Lagrène verlässt sich bei seiner modernen Spielart immer wieder auf sein stupendes Swinggefühl. Daneben pflegt er durchaus auch seine Sinti-Tradition und tritt mit Musikern dieser ureigenen, europäischen Jazz-Richtung auf – beispielsweise demnächst im Q4 in Rheinfelden zusammen mit dem GypsyJazz-Gitarristen Wawau Adler und dem Bassisten Joel Locher.

Wegen Umbau im Exil.

Es ist das erste Konzert im Herbstprogramm des Jazzclubs Q4, dessen Name an die Konzerte im Gewölbekeller der Villa von Mes Knöpfli (1987–2002) an der Quellenstrasse 4 erinnert. Zuvor und danach war der Club im Keller des Hotels Schützen zu Gast. Die Konzerte können dort wegen Umbauarbeiten voraussichtlich bis Herbst 2023 nicht stattfinden. Daher weicht der Club 38 Jahre nach seiner Gründung nun auf die Kapuzinerkirche in der Altstadt aus, wo er im Monatsrhythmus für Stimmung und Qualität sorgen wird. Bis Weihnachten sind dort das im traditionellen Mainstream verankerte Amaranth-Quartett mit dem Vibraphonisten Loe Locke angesagt, dann ein Schwergewicht der Jazzgeschichte, der amerikanische Tenorsaxofonist Houston Person mit dem Pianisten Claus Raible, dem Bassisten Giorgos Antoniou und dem Drummer Xaver Hellmeier sowie das Septett des Bassisten Daniel Schnyder und zum Abschluss die Blues- und Gospel-Sängerin Denise King.

Biréli Lagrène, Wawau Adler, Joel Locher: Di 13.9., 20.15, Q4, Kapuzinerkirche Rheinfelden, www.jazzclubq4.ch Biréli Lagrène, Album «Solo Suites», Peewee, 2022 Ausserdem: Jazzfestival Freiburg: Sa 17.9. bis So 25.9., Freiburg im Breisgau, www.jazzfestival-freiburg.de

FAMILIÄR

Christoph Dieffenbacher

«Piano di primo al primo piano» feiert seine ersten 15 Jahre mit einem Jazzkonzert im Allschwiler «Fachwerk».

Der auf Klaviermusik spezialisierte Jazzveranstalter «Piano di primo al primo piano» im Dorfkern von Allschwil gehört zu den kleineren in der Region. Vor 15 Jahren ehrenamtlich und mit viel Herzblut gegründet, geht die Konzertreihe auch in Zukunft weiter. Im Angebot steht zur Hauptsache Klavierjazz, in Bands oder solo, daneben aber auch Klassik oder zeitgenössische Musik, manchmal begleitet von ungewöhnlichen Instrumenten wie Alphorn oder Akkordeon. Das Besondere: Das Publikum erlebt die Konzertabende aus nächster (Bühnen-)Nähe mit. Ihr Konzept sei es denn auch, so die Gründerin und Leiterin Béa Lareida-Boenzli, für die Gäste eine «familiäre Atmosphäre mit Stubencharakter» zu schaffen.

«Ungewohnte Klangkombinationen».

Fanden die ersten Klavierkonzerte noch unter dem Dach einer umgebauten Scheune und nur in den Sommermonaten statt, lässt sich dafür nun das nahe gelegene «Fachwerk» nutzen. In diesem im Riegelbaustil errichteten Bauernhaus war das frühere Allschwiler Heimatmuseum untergebracht; es steht heute für kulturelle Aktivitäten offen. Dieser Spielort an der Baslerstrasse biete mit seinen 50 Plätzen eine ebenso gemütliche Umgebung und eine bessere Akustik, versichert die Veranstalterin. Nun möchte sie mehr Konzerte organisieren, auch im Winter.

Zur Frage, welche Art von Klavierjazz künftig auf dem Programm stehen wird, gibt sich Lareida-Boenzli offen: «Ungewohnte Klangkombinationen reizen mich immer wieder.» Bisher waren in Allschwil zahlreiche bekannte Jazzpianistinnen und -pianisten zu Gast, darunter internationale Stars wie George Gruntz, Iiro Rantala oder Irène Schweizer. Zum Jubiläum wird das Trio um den schwedischen Schlagzeuger und Komponisten Emil Brandqvist auftreten, mit Tuomas Turunen am Piano und Max Thornberg am Bass. Der Programmtitel «Entering The Woods» passt jedenfalls prima zu den Holzbalken des Fachwerkhauses.

«Piano di primo al primo piano»: Jubiläumskonzert «Entering The Woods» mit Apéro, Sa, 17.9., 20 h, Emil Brandqvist Trio, Fachwerk, Baslerstr. 48, Allschwil, www.piano-di-primo.ch

«Erasmus klingt», ein neues biennales Festival, will das Wirken des Humanisten Erasmus von Rotterdam beleuchten.

Über die Musik – «diese emotionalste künstlerische Ausdrucksform», wie Projektleiterin Julia Mäder betont – will uns das neue Festival die literarischen und philosophischen Welten von Erasmus von Rotterdam öffnen. Dass hier ein zwar interdisziplinäres Festival entsteht, das den Schwerpunkt jedoch auf die Musik zwischen Renaissance und Frühklassik legt, hängt auch mit dem Erfinder und Gründer zusammen: dem Basler Musikmanager Christoph Müller. Er hatte die Idee für ein Festival zu Ehren des die Neuzeit prägenden Philosophen und Literaten, dieses grossen Humanisten, der lange in Basel lebte und hier begraben ist. Das Festival «Erasmus klingt» soll bis 2036, wenn sich der Todestag von Erasmus zum 500. Mal jährt, alle zwei Jahre stattfinden. Es ist durch die Zusammenarbeit mit der Schola Cantorum Basiliensis und dem musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Basel stark im hiesigen kulturellen Leben verankert. Eng eingebunden in Konzeption und Programmation sind der Musikwissenschaftler Giovanni Andrea Sechi und der Basler Schriftsteller Alain Claude Sulzer.

Bekanntestes Werk im Mittelpunkt.

Im Mittelpunkt des sechstägigen Festivals, das in historischen Basler Räumen stattfindet, steht «Das Lob der Torheit», das wohl bekannteste Werk von Erasmus. Dementsprechend heisst das Motto «La Follia». Damit verdeutlich sich, weshalb auf die Barockmusik fokussiert wird: Ob Oper, Canzone oder Instrumentalmusik – viele Werke erzählen ergreifend vom Wahn, von der Follia. So entstand im Austausch mit renommierten Künstlerinnen und Künstlern, die für die erste Edition gewonnen werden konnten, ein spannendes, schlüssiges Programm mit Musik von Monteverdi über Lully bis Händel und Vivaldi. Die Sängerin Magdalena Kozená, Dirigent Andrea Marcon und sein Venice Baroque Orchestra widmen sich «Alcinas betörender Liebe», das Sängerduo Kateryna Kasper und Yannick Debus, Dirigent René Jacobs und das Freiburger Barockorchester dem «Delirio amoroso». Die Blockflötistin Dorothee Oberlinger, die mit in die Programmarbeit einbezogen worden ist, lädt mit ihren Kollegen Maurice Steger und Michael Oman unter dem Motto «The Noise of Folly» zu einer Nacht der Blockflöten. An den Konzerten liest Alain Claude Sulzer jeweils Passagen aus «Das Lob der Torheit».

Die Konzerte bilden jeweils den krönenden Abschluss eines jeden Tages des Festivals, das interdisziplinär und als Gesamterlebnis für Geist und Sinne angedacht ist. Tagsüber werden Stadtführungen zu den Stationen des Erasmus angeboten. In den klingenden «Laboratorien» spielen verschiedene Ensembles der Schola Musik aus der Zeit von Erasmus, also der Spätrenaissance. Zudem ergründen Kolloquien mit Vorträgen und Diskussionen sowie Konzerteinführungen die Welt des grossen Humanisten und zeigen die Verknüpfungen der Musik mit seinem Denken und Werk auf.

Erasmus klingt: Mo 12.9.–So 18.9., Basel, www.erasmus-klingt.ch Ausserdem: 4. Basler Orgelfestival, gewidmet dem Komponisten César Franck: Fr 2.9. bis So 18.9., diverse Kirchen in Basel und Liestal, www.orgel-basel.ch

HOCH DIE GITARREN

Benedikt Lachenmeier

Das neue Album von Don’t Kill The Beast zeigt in eine neue Richtung.

Wenn der Kopf der Basler Indieband Don’t Kill The Beast das aktuelle Album «I Am & I Change» nennt, ist das auch so gemeint. Nach der letzten Veröffentlichung «Cupid Bite» von 2017 ist David Blum die Lust am Musikschreiben vergangen. Verkopft und ideenlos arbeitete er an neuen Songs. Aber ausgerechnet durch einen Sturz im Jahr 2019, der ihm verunmöglichte, seinen Beruf als Velokurier auszuüben, fand er den Weg zur Musik zurück. Der Songwriter nutzte die freie Zeit und holte die Platten seiner Lieblingsbands aus der Jugend wieder hervor. Und so entstanden wie von selbst neue Lieder.

Neue Lieder, die in eine neue Richtung gehen. Die Band hat an Tempo zugelegt. «I am & I Change» bringt neuen Schwung in den Sound, der bisher von verträumten Indiepop geprägt war. Mit seiner sanften, hohen Stimme und den fein säuberlich arrangierten Songs machte David Blum bereits vor sieben Jahren als Einzelmaske von sich reden – und holte sich in Zürich bei der M4Music-Democlinic den Titel «Bester Newcomer in der Kategorie Pop». Innerhalb der nächsten zwei Jahre entwickelte sich das Soloprojekt zu einer kompletten Band. Erinnerung an die 90er.

Wie ein roter Faden ziehen sich nun treibende Gitarren durch das neue Album. Gleich vier von sieben Songs legen ordentlich los. Die Single «Anxiety» sticht dabei als Ohrwurm heraus, der kaum mehr wegzubringen ist. Mit der Ballade «Way To Go» ist der Sturm vorbei und die Einflüsse aus den Platten der Jugendzeit werden spürbar. Noch intimer und noch mehr angelehnt an Bands wie Radiohead ist der experimentelle Song «Collapse». Der Titelsong «I am & I Change» am Schluss fasst das Album zusammen als «eine musikalische und lyrische Hommage an die Veränderung, ein Bekenntnis zur Ehrlichkeit gegenüber sich selber und seinem Umfeld.» Doch ganz so verkopft möchten Don’t Kill The Beast nicht rüberkommen: «Wer einfach Bock hat, Gitarrensongs zu hören, die den Vibe jener gegen Ende des letzten Jahrtausends versprühen, dem oder der sei auch ohne grosses Reden Schwingen eine halbe Stunde Indie-Wucht gegönnt.» Ein Hoch auf die Gitarren!

Don’t Kill The Beast, Album «I Am & I Change», Radicalis, erscheint Fr 9.9. Plattentaufe: Sa 24.9., Rossstall, Kaserne Basel, www.kaserne-basel.ch → S. 43

Christian Fluri Die Programme von La Cetra, Basel Sinfonietta, Kammerorchester Basel und Sinfonieorchester Basel im Überblick.

Das Sinfonieorchester Basel (SOB) startet seine Saison am letzten August- und ersten Septembertag mit «Liszts Faust». Zu hören ist an dem von Chefdirigent Ivor Bolton geleiteten Konzert neben der Faust-Symphonie von Liszt unter anderem eine Perle der frühen Moderne: Lili Boulangers «Psaume 24» für Chor, Orgel und Orchester von 1916 mit den Basler Madrigalisten und Babette Mondry. Zwei Tage später lädt das Kammerorchester Basel (KOB) zum spannungsvollen Dialog von Mozarts 23. Klavierkonzert, A-Dur, mit Ravels Orchestersuite «Le Tombeau de Couperin» ein – mit Trevor Pinnock, einem Altmeister der historisch-informierten Aufführungspraxis als Dirigenten und der Pianistin Maria João Pires. Am 18. September beginnt die Basel Sinfonietta ihre letzte Saison mit Baldur Brönnimann als Principal Conductor: Musik von John Cage, Hans Abrahamsen, Kaija Saariaho und Michael Jarrell evoziert imaginäre Landschaften und einen – auch düsteren – Himmel. Ende September überrascht als Viertes das international erfolgreiche Basler Orchester La Cetra mit dem Besonderen: Dessen auf den Barock spezialisiertes Vokalensemble wendet sich der Romantik zu mit Brahms’ «Liebeslieder Walzer», op. 52.

La Cetra.

Im zweiten Konzert des herausragenden Barockorchesters La Cetra stellt die Violinistin Leila Schayegh, die mit ihrer Einspielung von Jean-Marie Leclairs Geigenkonzerten international Aufsehen erregt hat, dem Franzosen Arcangelo Corelli gegenüber. Das weihnächtliche Mitsingkonzert unter Andrea Marcon, dem künstlerischen Leiter, präsentiert Beethovens Neunte. Marcon dirigiert im Februar 2023 zudem Vivaldis Oper «Il Giustino». Zur Einstimmung auf Ostern wird Buxtehudes Meisterwerk «Membra Jesu Nostri» aufgeführt. Der Tenor Julian Prégardien schliesst die Saison mit Händel-Arien ab.

www.lacetra.ch → S. 36

Basel Sinfonietta.

Die Basel Sinfonietta spielt, was sie hervorragend kann: Musik des 20. und 21. Jahrhunderts und erfreut mit drei Uraufführungen: «Loosing the Red Queen’s Race» des jungen Schweizers Mauro Hertig sowie je ein neues Orchesterstück der Polin Anna Sowa und der in Luzern lebenden Lettin Asia Ahmetjanova. In den sechs Konzerten sind in schlüssiger Verknüpfung Klassiker der Moderne von Charles Ives über John Cage bis Helmut Lachenmann sowie spannende Werke unseres Jahrhunderts mit leichtem Schwergewicht auf nordischen Komponisten zu hören.

www.baselsinfonietta.ch

Kammerorchester Basel.

Auch das Saisonprogramm des KOB verspricht viel Aufregendes. Das Orchester präsentiert als Artiste étoile Dmitry Smirnov. Er spielt an der 17. Haydn-Nacht dessen Violinkonzert in C-Dur unter Giovanni Antonini und im kommenden Frühjahr Éduard Lalos 3. Violinkonzert unter Heinz Holliger. Ausser Antonini, der noch die 18. Haydn-Nacht, Beethovens Ouvertüre zu «Die Geschöpfe des Prometheus» und Mozarts «Così fan tutte» dirigiert, konnte das KOB weitere Koryphäen der Alte-Musik-Szene gewinnen: Philippe Herreweghe wendet sich der Familie Mendelssohn zu, René Jacobs dirigiert zum Advent Bachs «Magnificat». Kristian Bezuidenhout leitet zwei Konzerte von Bach bis Mozart.

www.kammerorchesterbasel.ch

Sinfonieorchester Basel.

Das SOB bietet eine vielfältige, musikalischen Reise von der Klassik in die Gegenwart mit Schwergewicht auf dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Artist in Residence ist der finnische Geiger Pekka Kuusisto, Composer in Residence der Schwede Anders Hillborg. Beide treffen im ersten Konzert aufeinander: Hillborg hat Bachs Orgelstück «ich ruf zu dir Herr Jesu Christ» für Solovioline und Streicher arrangiert. Kuusisto spielt im Oktober Tschaikowskys Violinkonzert D-Dur, am gleichen Abend erklingt Hillborgs «Sound Atlas» und Debussys «La Mer». Hillborgs Cellokonzert trifft im November auf Schostakowitschs 10. Sinfonie. Mark Elder dirigiert im Konzert Wagners «Siegfried». Ivor Bolton zeigt im Saisonabschluss seine Meisterschaft in der französischen Musik mit César Francks Sinfonie d-Moll. Im April 2023 spielt das SOB Bruckners Neunte.

www.sinfonieorchesterbasel.ch → S. 41

Die aus Lemberg stammende Christina Daletska über ihr Menschenrechtsengagement und die Missa solemnis, die sie zusammen mit dem Motettenchor Region Basel und dem Tablater Konzertchor St. Gallen singt.

Sie treten als Solistin und zugleich als Menschenrechts-Botschafterin für Amnesty International auf. Im Gegensatz zur Popmusik ist es in der Klassikszene selten, dass sich Musikerinnen positionieren ...

Christina Daletska: Das liegt zum einen daran, dass Pop ein Massenphänomen ist, wo man als Musikerin die Möglichkeit hat, Botschaften an ein breites Publikum zu bringen. Zum andern sind wir es uns in der Klassik schlicht nicht gewöhnt, uns zu anderen als musikalischen Fragen zu äussern.

Aus meiner Sicht ist es jedoch das Selbstverständlichste überhaupt, mich für Menschenrechte einzusetzen – gerade, wenn man ein so unglaublich privilegiertes Leben führen kann wie wir alle hier in Europa.

Wie verknüpft sich für Sie Beethovens Werk und seine Missa solemnis mit dem Thema Menschenrechte?

Beethoven ist der Menschenrechts-Komponist schlechthin. Für mich ist sein Werk seit jeher zentral, die Emotionen, die es hervorruft, die Welt, die er uns auftut, das dringt tief in alle Schichten ein und berührt bis heute.

Die Missa solemnis ist mein absolutes Lieblingswerk. Vor inzwischen 14 Jahren habe ich sie zum ersten Mal gesungen. Es gibt ja bloss wenige Chöre, die sich an das Werk heranwagen: Viele Jahre klappte es daher mit einer Wiederholung nicht. Und dann kam Corona.

Entsprechend glücklich bin ich, dass die Aufführungen jetzt zustande kommen – allerdings in einer Situation mit dem Krieg gegen die Ukraine, die sich vor Kurzem niemand hätte vorstellen können. Das ist so schrecklich wie nie mehr seit dem Zweiten Weltkrieg. Ich versuche mit dieser Situation zu leben, aber es ist schwierig.

Was wissen Sie von der Situation der Musikerinnen und Musiker in der Ukraine?

Ich werde Anfang Oktober an einem Konzert in der Philharmonie in Lemberg, meiner Heimatstadt singen. Wir planen, als ob alles normal wäre, aber niemand weiss, ob die Philharmonie dann noch steht. Im bisher vom Krieg mehr oder weniger verschonten westlichen Teil des Landes geht das Musikleben weiter, sogar besonders intensiv nach dem Unterbruch durch Corona. Die Menschen bleiben dran, als ob nichts wäre. Es gibt keinen anderen Weg. Und Konzerte können Balsam für die Psyche sein.

Es wird viel über die Frage diskutiert, ob man russische Musikschaffende boykottieren soll. Was ist Ihre Haltung?

Bei Künstlerinnen und Künstlern, die eine Nähe zum Regime haben und sich nicht aktiv gegen den Krieg aussprechen, gibt es für mich nur eine Antwort. Man würde auch nicht mit jemanden zusammenarbeiten, der sich zu Hitler bekennt. Aber russische Kultur insgesamt zu boykottieren, ist falsch und macht es den russischen Musikschaffenden, für die dieser Krieg selber herzzerreissend ist, noch schwerer.

Sie setzen sich mit Benefizkonzerten, Hilfsaktionen und auf Podien für die Ukraine ein. Haben Sie noch die Kraft dazu nach inzwischen sechs Monaten Krieg?

Ich habe keine andere Wahl, genau wie all die Menschen, die das Land an den Fronten verteidigen. Jetzt, noch viel mehr als vorher, gilt: nicht aufgeben! Die Hilfs- und Spendenbereitschaft sinkt von Tag zu Tag, der Krieg ruft meistens kein Entsetzen mehr hervor, er ist zur Normalität geworden. Man hat genug ... aber Russland tötet und verstümmelt und zerstört weiter. Pausenlos. Und ich befürchte, dass der Krieg noch lange dauert und noch katastrophaler werden kann, man denke zum Beispiel an das AKW Saporischschja! – wenn Russland nicht ganz bald gestoppt wird.

Ludwig van Beethoven, «Missa solemnis»: So 11.9., 18 h, Stadtcasino Basel, Motettenchor Region Basel, Tablater Konzertchor St. Gallen, Nathalie de Montmollin, Sopran, Christina Daletska, Alt, Achim Schulz, Tenor, Manuel Walser, Bass, Orchester Les Temperaments, Leitung Ambros Ott, www.motetten-chor.ch → S. 38

Dieser Artikel ist eine Kooperation mit dem Kul tur magazin Saiten aus St. Gallen.

Christina Daletska, Foto: © DR

Singfestival enchanté feiert den Gesang

Neues ausprobieren, sich mit anderen Singenden austauschen, vor Publikum auftreten, Konzerten lauschen und singen, singen, singen ... Auch die zweite Ausgabe des Singfestivals enchanté in Riehen schlägt wieder eine Brücke zwischen professionellen Sängerinnen und Sängern und Laien. Das Festival feiert alle zwei Jahre die Vielseitigkeit der Stimme und die Lust am gemeinsamen Singen. Dafür verwandelt sich das Dorfzentrum ein Wochenende lang in einen Ort, wo sich Gesangsbegeisterte aus der ganzen Region begegnen können.

Singfestival enchanté: Fr 16.9. bis So 18.9., Riehen, www.enchante-riehen.ch → S. 35 Ausserdem: Contrapunkt Chor, Ensemble liberté, Konzert «Canto»: Fr 2.9., 20 h, Sa 3.9., 20 h, So 4.9., 18 h, Tonwerk Lausen, www.contrapunkt.ch → S. 35

Ein Tag im Leben von …

Aufgezeichnet von Christoph Dieffenbacher

BERUFSLEUTE AUS DEM KULTURBEREICH ERZÄHLEN AUS IHREM ARBEITSALLTAG.

Franziska Schmidt, Produktionsleiterin des Theaterfestivals Basel

Ich bin nicht der Typ, der morgens rasch in die Gänge kommt. Nach dem Aufstehen um 7 Uhr setze ich mich in dieser Jahreszeit meist mit einem Kaffee auf den Balkon. Da gehe ich am Handy kurz die News durch und überlege mir, was ich erledigen muss und ob Deadlines anstehen. Ich wohne im Kleinbasel nicht weit weg von meinem Arbeitsplatz in der Kaserne. In unserem Gemeinschaftsbüro direkt am Rhein treffe ich so gegen 8.30 Uhr ein.

Als Produktionsleiterin bin ich dafür zuständig, alles unter einen Hut zu bringen, was mit einer Theater- oder Tanzaufführung zu tun hat. Das bedeutet vor allem Organisieren und Koordinieren: E-Mails, Telefonate, Sitzungen. Ich werde bei der Planung der Stücke mit einbezogen, setze die Verträge mit den Künstlerinnen und Künstlern auf und mache die Abrechnungen. Dazwischen fällt auch immer wieder einiges an. Kommunikationstalent und Erfahrung helfen da weiter.

Ich arbeite für die Kulturwerkstatt Kaserne und für das internationale Theaterfestival Basel, das alle zwei Jahre stattfindet. Dafür müssen auf wenige Tage konzentriert gleich mehrere Produktionen stehen. Die Zeit unmittelbar vor dem Festival ist extrem vollgepackt: Ich hole etwa Arbeitsbewilligungen ein, bestelle Bühnenmaterial oder buche zusätzliche Hotelzimmer für Theaterleute. Erfolg heisst für mich, wenn bei einer Produktion alles klappt.

In der Mittagspause esse ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen am Rhein oder auf der Kasernenwiese eine Kleinigkeit. Wenn viel los ist, drehen sich unsere Gespräche auch hier um das Theater. Am Nachmittag folgen wiederum E-Mails, Telefonate, Sitzungen. Das ist alles Arbeit hinter den Kulissen: Als Schauspielerin auf der Bühne aufzutreten oder die Lichtregler zu bedienen, wäre nicht mein Ding. Mir reicht es, beim Schlussapplaus vorne zu stehen.

Kein Schluss nach dem Schluss.

So zwischen 17 und 18 Uhr mache ich Feierabend im Büro. Dann ist aber nicht immer Schluss mit dem Theater: Während des Festivals verfolge ich sowieso fast jede Aufführung vor Ort. Sonst schau ich oft noch in eine Stückprobe rein oder besuche ein anderes Theater in der Region oder in der Deutschschweiz. Als Deutsche, die seit 15 Jahren in Basel lebt, kenne ich mich inzwischen hier in der Theaterszene ziemlich aus.

Wenn möglich, nehme ich mir abends Zeit für Sport, zum Beispiel für Yoga und Pilates, koche etwas und setze ich mich auf den Balkon, manchmal mit meinem Mann. Er ist Grieche und arbeitet als Theaterinspizient in Athen, koordiniert also den künstlerischen und technischen Ablauf einer Bühnenaufführung. An die nicht erledigten Dinge des Arbeitstags denke ich dann nicht mehr.

Theaterfestival Basel: bis So 4.9., diverse Theater in Basel, Birsfelden, Dornach und Saint-Louis (F), www.theaterfestival.ch → S. 44 Ausserdem: Zürcher Theater Spektakel: bis So 4.9., Zürich, www.theaterspektakel.ch Das Tanztheaterstück «Shallow Waters» nimmt die bedrohte Ressource Wasser in den Fokus.

Dürreperioden häufen sich, die Klimakatastrophe wird spürbarer. Sitzen wir bald alle auf dem Trockenen? Im Stück des Basler Choreografen Sebastian Zuber glaubt eine Gruppe von Tänzerinnen und Tänzern gegen diese Zukunft antanzen zu können. Im Filter4, der heute als Kulturraum genutzten alten Wasserfilteranlage auf dem Basler Bruderholz, hat sich dafür ein hochsymbolischer Ort gefunden, in dessen Säulengewölbe Sand und ein sich langsam leerender Wassertank als spartanisches Bühnenbild dienen. Die Tanzenden glauben, durch ihr Verhalten Einfluss auf eine übergeordnete Macht und den Pegelstand im Tank nehmen zu können. Das scheint mal zu funktionieren, mal nicht. Was also tun?

Inspiriert durch Maja Lundes teildystopischen Roman «Die Geschichte des Wassers», aber auch durch die Frustration über uns alle, die wir sehenden Auges der Umweltkatastrophe entgegen gehen, ohne wirklich zu reagieren, wagt Zuber den provokativen Ansatz. Beherrschten doch entgegen aller lauthals berufenen Einigkeit in Sachen Umweltbewusstsein überall weiterhin Inkonsequenz, eher symbolischer Verzicht und der gelegentliche Griff nach grünen Produktlabels das Bild. «Wir könnten ja stattdessen auch sagen, wir befreien uns von allen Schuldgefühlen und tanzen mit erhobenen Champagnergläsern der Katastrophe entgegen», so der Choreograf. Starke Bilder.

Seinen Tanzenden wird im Verlauf des Stücks immer klarer, dass der Tank sich nicht mehr füllen wird. Bleibt da nicht nur noch irrwitzige Dekadenz und das Verbrauchen auch der allerletzten Ressourcen? Während es bei Maja Lunde aus bedrohten Gletschern gebrochene Eiswürfel sind, die andernorts die Longdrinks der Superreichen kühlen sollen, lässt Zuber seine Protagonisten in so etwas wie Eselsmilch baden, während um sie herum das Wasser versiegt. Starke Bilder lässt der 1986 geborene Choreograf und Tänzer so entstehen, der unter anderem schon mit der Choreografin Doris Uhlich oder dem Choreografen Johannes Wieland, aber auch mit Christoph Marthaler zusammengearbeitet hat.

Shallow Waters: 23.9, 30.9., 1.10. jeweils 19.30, 25.9., 2.10. jeweils 18 h, Filter4, Reservoirstrasse, Basel, www.sebastianzuber.com

Shallow Waters, Foto: Brigitte Fässler

Iris Kretzschmar Unterwegs mit der Strassentänzerin Tzvetana Messerli.

Heute trägt sie ein bordeauxrotes Tutu mit rosa Volants aus Tüll, gefasst mit Goldborte, dazu weisse Netzstrümpfe und helle Sandalen. Wie eine Erscheinung aus dem Märchen bewegt sie sich selbstvergessen auf der Strasse, konzentriert, mit ernstem, fast dramatischem Gesichtsausdruck, zwischen vorbeiflitzenden Velos, Trottinetts, zwischen Kinderwagen und Spaziergängern.

Zwischendurch schluckt sie etwas Magnesium, dann trippelt sie weiter über die Pflastersteine, setzt zur Pirouette an und wagt einen kleinen Sprung. Die langen, weissen Haare fliegen im Wind und das Tutu wippt im Takt der klassischen Musik, die aus einem Recorder ertönt. Es ist das Adagio in G-Moll von Tomaso Albinoni – immer das gleiche Stück.

Früher hat ihr Mann Ernest Messerli den Recorder bedient und sie an die verschiedenen Plätze begleitet. Im letzten November ist er mit 85 gestorben. Tzvetana vermisst ihn sehr. Sie macht allein weiter, weil sie den Tanz braucht, um sich frei und lebendig zu fühlen.

Bulgarien–Schweiz.

Tzvetana Messerli ist in Plewen, Bulgarien, geboren. Dort hat sie viele Kinderjahre lang Ballett geübt und davon geträumt, Ballerina zu werden. Doch der Vater fand, das sei kein richtiger Beruf. 1981 kommt ihr Sohn zur Welt. Um ihrem Kind ein besseres Leben zu ermöglichen, zieht sie 1994 in die Schweiz, lernt ihren Mann kennen und arbeitet an der Kasse, während sie von der Bühne träumt.

Heute mit 78 Jahren lebt sie von der AHV und verdient mit der Performance etwas Geld, um sich eine biologische Ernährung und ihre Tanzausstattung leisten zu können. Es sind kostbare Stücke, die sie der Qualität wegen in Genua kauft: Das passende Kostüm ist wichtig für ihren Auftritt.

Ihr Publikum, in Bars und Restaurants, sitzt locker plaudernd im Freien – einige legen ihr etwas ins Körbchen, andere ignorieren sie oder lächeln. Tzvetana entspricht eben nicht dem stereotypen Bild des weissen Schwans. Um schiefe Blicke schert sie sich nicht – nur nach Tanzen steht ihr der Sinn.

Seit ihrer Pensionierung hat sie ihren Traum verwirklicht. Am Anfang brauchte es viel Mut, erzählt sie, als sie sich nach einem Schlüsselerlebnis im Stadttheater entschloss, öffentlich aufzutreten. Mit Lampenfieber begann sie vor der Heilig-Geist-Kirche in Bern zu tanzen. Heute reist sie zwei bis drei Mal pro Woche in verschiedene Städte. In Genf ist sie eine kleine Prominenz. Arabische Touristen lieben sie und fragen nach ihr.

Der Tanz hält sie fit und beweglich – in der Tat wirkt sie viel jünger als ihre 78 Jahre. Sie trägt sich Sorge, trinkt jeden Tag fünf verschiedene Teesorten für die Gesundheit, Ruhepausen sind wichtig. Bis 90 möchte sie so weitermachen und ihre ganze Seele ins Tanzen legen. Man glaubt ihr, berührt von der Hingabe und Überzeugung dieser aussergewöhnlichen Frau.

Ausserdem: Theaterplatz-Fest: Sa 17.9., diverse Kulturbetriebe rund um den Basler Theaterplatz, www.theaterplatz-fest.ch

Christoph Marthaler inszeniert Webers romantische Oper am Theater Basel.

«Weber kam auf die Welt, um den ‹Freischütz› zu schreiben», meinte der deutsche Komponist, Dirigent und Autor Hans Pfitzner (1869–1949). Das ist zwar sehr überspitzt formuliert, dennoch erfreut sich bis heute kein anderes Werk Carl Maria von Webers einer derartigen, ungebrochenen Beliebtheit. Bereits die Uraufführung 1821 im Königlichen Schauspielhaus in Berlin, bei welcher der Komponist selbst am Dirigentenpult stand, wurde, wie Weber in seinem Tagebuch notierte, «mit dem unglaublichsten Enthusiasmus aufgenommen». Kurz darauf wurde die Oper – zumeist in der jeweiligen Landessprache – an vielen weiteren Bühnen in Europa gespielt. «Obschon das Libretto etwas sperrig ist, hat Weber mit der Wahl des schauerromantischen Märchenstoffes gepaart mit musikalischen Elementen aus der deutschsprachigen Singspieltradition, der italienischen Opera seria, der französischen Opéra-comique sowie den volkstümlichen, eingängigen Melodien (zum Beispiel Jägerchor, Lied vom Jungfernkranz) den damaligen Nerv der Zeit getroffen», erklärt Roman Reeger, Operndramaturg und Dramaturgieleiter in der Sparte Oper am Theater Basel. «Überdies hat er musikalisch auch neue Welten geschaffen. Bei Weber speist sich das Theater aus der Musik heraus», so Reeger weiter. Die grosse, musikdramatische «Wolfsschluchtszene» im zweiten Aufzug könne dafür Pate stehen.

Verschiebung und Dekonstruktion.

Zuletzt war Webers Meisterwerk 2003 in einer Inszenierung von Claus Guth am Theater Basel zu erleben. Heuer wird sich der renommierte und in Basel altbekannte Zürcher Regisseur Christoph Marthaler, der in der vergangenen Spielzeit das Schauspiel «Der letzte Pfiff – ein Drehschwindel» (Wiederaufnahme am 18. September) inszenierte, dem Bühnenwerk annehmen. Auch der «Freischütz» wird deutlich die Regiehandschrift Marthalers tragen. «An vielen Stellen werden die Publikumserwartungen gebrochen», betont Reeger. Das Stück wird zwar noch klar erkennbar sein und die zentralen Musiknummern werden erklingen, jedoch geht Marthaler sehr frei mit dem «Text- und Musikmaterial» um. Er erfindet beispielsweise neue Figuren, die mitspielen, lässt fremde Texte in die Dialogpassagen einfliessen und macht musikalische Verschiebungen.

Auch Marthalers Probenarbeit unterscheidet sich deutlich von derjenigen anderer Opernregisseure: Er kommt nicht mit einem vorgefertigten Konzept zur ersten Probe, sondern pflegt vielmehr eine offene Arbeitsweise. «Die Regie entwickelt sich organisch aus der Gruppe heraus», erläutert Reeger. Dies ist nicht zuletzt auch eine grosse Herausforderung für alle Beteiligten auf und hinter der Bühne und im Orchestergraben. Wir dürfen also gespannt sein auf unseren «Basler Freischütz».

Der Freischütz: Do 15.9., 19.30 (Premiere), bis Fr 2.12., Theater Basel, Grosse Bühne, www.theater-basel.ch

ARC JURASSIEN

Bruno Rudolf von Rohr

La Chaux-de-Fonds wird Kulturhauptstadt Schweiz 2025 – ein Pilotprojekt.

Der 2013 gegründete «Verein Kulturhauptstadt Schweiz» unter dem Vorsitz des Stadtpräsidenten von Nyon, Daniel Rossellat, hat sich zum Ziel gesetzt, mit einer Wanderveranstaltung die kulturelle Vielfalt und die Begegnungsmöglichkeiten innerhalb der verschiedenen Landesteile zu fördern und so zu einer nachhaltigen Entwicklung der Städte und ihrer Regionen beizutragen. In einem noch zu bestimmenden Turnus soll der Titel «Kulturhauptstadt Schweiz» verliehen werden.

Vor diesem Hintergrund und nach längerer Suche, inklusive wissenschaftlich ausgewerteter Umfragen, erkannte der Verein «Kulturhauptstadt Schweiz» in der Stadt La Chaux-de-Fonds die ideale Kandidatin, um mit ihr das Konzept als Prototyp zu realisieren und so seine Machbarkeit zu prüfen. Sie besitzt eine sehr lebendige, künstlerische Szene, renommierte kulturelle Institutionen und hochwertige Infrastrukturen. Teilhabe an der Kultur verbessern.

Eine breite Konsultation bestätigte das Interesse von Stadt und Kanton, aber vor allem auch der Kulturschaffenden der Region sowie der Wirtschaft. Für Anouk Hellmann, Präsidentin des Vereins «La Chaux-de-Fonds – Kulturhauptstadt Schweiz», soll dieser Anlass hohen Ansprüchen genügen: die Menschen untereinander in Verbindung bringen und Produktionen mit lokaler, nationaler, ja internationaler Tragweite realisieren. Hauptziel ist es, die Anzahl Menschen, die an kulturellen Anlässen teilnehmen, zu verdoppeln, und so die Teilhabe an der Kultur im Dialog mit der breiten Bevölkerung zu verstärken. Die Planung sieht vor, dass sich die Veranstaltung über das ganze Jahr 2025 erstreckt. Von der künftigen Kulturhauptstadt soll der Impuls ausgehen, sich schweizweit zu vernetzen, sich dabei aber auf die bestehenden kulturellen Infrastrukturen zu stützen und diese gegebenenfalls zu erneuern.

So soll die DNA La Chaux-de-Fonds – Innovation, Authentizität und Gemeinschaftlichkeit – über das Netzwerk Kultur dazu beitragen, die kulturelle Vielfalt und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern und dabei der am höchsten gelegenen, von der Unesco geadelten Stadt Europas die verdiente Sichtbarkeit zu verleihen.

www.capitaleculturelle.ch (auch auf Deutsch) www.ccs2300.ch

Samuel Herzog

Postkarte aus Anchorage, Alaska, USA.

LITERARISCHE REISEKOLUMNE.

«Origin of Our Solar System Quartett», Foto: Samuel Herzog

«Hier, genau hier», krachender Husten, angestrengtes Schlucken: «Hier habe ich die Welt erschaffen.» Ich drehe mich um. Die alte Frau hat eine flache Nase, hohe Wangenknochen, ledrige Haut, kleine schwarze Augen hinter feinen Lidschlitzen. Wie eine Brandungswelle gleitet ihr Blick in mein Gesicht und wieder zurück in den Ozean ihrer Trunkenheit. Jetzt sinkt ihr das Kinn auf die Brust, gleichzeitig hebt sie mit der Linken eine Plastikflasche hoch, deutet damit auf eine kleine Gruppe, die unter einem gebogenen Schild sitzt, auf dem der Ursprung unseres Sonnensystems erklärt wird: «Dort bin ich gesessen und plötzlich war sie da, erst nur … Sie wissen schon. Und dann alles.»

Ich stehe mitten in Anchorage neben einer mannshohen Kuppel, die sich leuchtend gelb aus dem Boden wölbt und die Sonne darstellt, das Zentrum eines Light Speed Planet Walk, den man kreuz und quer durch die Stadt unternehmen kann, um hier auf Erden schon das Himmelreich zu ersichten.

First Nations.

Überall im Zentrum von Anchorage stösst man auf Obdachlose, viele von ihnen sind Trinkerinnen und Trinker. Überall hocken, liegen, zittern und brabbeln sie vor sich hin – Planeten, die es aus der Bahn geworfen hat. Die meisten gehören den sogenannten First Nations an, und es hat sie aus entlegenen Dörfern in die Hauptstadt von Alasksa verschlagen, denn in vielen Reservaten ist Alkohol verpönt. Natürlich gibt es viele weitere Gründe, warum sie hier sind, Tausende von Schicksalen. In Anchorage hausen sie am Rand von Parks unter Bäumen, in Passagen, vor den Vitrinen aufgegebener Geschäfte.

Ich frage die Frau, wie sie das meint mit der Schöpfung der Welt. Doch sie hört mich nicht, wendet sich ab, schlurft davon und zieht dabei eine himmelblaue Sportjacke am Boden hinter sich her.

Erst als sie aus meinem Blickfeld verschwunden ist, fällt mir eine Geschichte ein, die ich in einer Sammlung von Alaska-Legenden aus dem Jahr 1951 gelesen habe. Bertha Young aus Sleetmute am Kuskokwim River erzählt von den ersten Menschen: «Ein kleiner Bub wachte auf und sass ganz alleine auf einem kleinen Stück Erde, mitten in der Luft. Er streckte die Arme aus, pflückte Beeren, ass sie und wurde grösser. Als er schliesslich aufstand, war auch die Welt so gross geworden, dass er jagen gehen konnte, ohne an ihr Ende zu gelangen.» Der Rest der Story ist dann eher konventionell. Die Idee einer Weltschöpfung aus dem Menschen heraus aber hat mir gut gefallen.

Wahrscheinlich habe ich die Alte, die sich mir eben als alkoholisierte Demiurgin präsentiert hat, einfach nur falsch verstanden. Andererseits: Spricht nicht einiges dafür, dass die Welt in angetrunkenem Zustand geschaffen wurde? «Mein Freund Pax – die Heimkehr» zeigt, was Frieden im Zusammenleben eigentlich heisst.

Peter hat die Trennung von Pax, den er als Welpen aufgenommen und gepflegt hatte, sowie den Tod der Mutter und den Verlust des Vaters im Krieg nicht verwunden. Seine Trauer ist gross, mit gegen sich selbst gerichteter Härte versucht er, sie zu überwinden. Er will sich auf keine menschliche Nähe einlassen, keine Liebe zulassen: Gehst du keine Bindung ein, vermeidest du den Schmerz, der eine (unvermeidliche) Trennung verursachen würde. Das verunmöglicht ihm, nicht nur Freundschaften einzugehen, sondern auch ein neues Zuhause bei Vola zu finden, bei der er im Krieg Unterschlupf gefunden hatte. Vielmehr macht er sich mit einer Gruppe junger Wasserkrieger auf, die Gewässer in der Gegend um seine alte Heimat zu entgiften, die im Krieg verseucht wurden.

Abwechselnd erzählt die Autorin aus der Sicht von Pax und von Peter. Beide sind in derselben Gegend unterwegs, nach und nach nähern sich ihre Wege an. Kunstvoll führt die Autorin die beiden zueinander. Was für ein Glücksmoment, als sie sich endlich treffen! Ihre Wege trennen sich wieder, aber diesmal in gegenseitigem Einverständnis. In Frieden mit sich und der Umwelt können sie heimkehren, wirklich heim zu «ihrer Familie».

Sensible Beschreibung von Beziehungen.

Die Autorin schafft auch in diesem neuen Band über Pax von Anfang an eine besondere Atmosphäre, der man sich nicht entziehen kann und sich auch nicht entziehen will. Der Geist von Pax, übersetzt: Frieden, umweht dieses Buch. Pennypacker zeigt, was Frieden im Zusammenleben eigentlich heisst. Sensibel und einfühlsam beschreibt sie die Beziehungen, die Verletzungen und Schmerzen genauso verursachen wie Freude und Glück, Kummer und Sehnsucht. Und zwar sowohl unter Menschen als auch unter Tieren und zwischen Mensch und Tier. Die Zeichnungen in Schwarz-Weiss von Jon Klassen sind zurückhaltend und verleihen dem Buch eine dezent melancholische Note.

Sara Pennypacker (Text)/Jon Klassen (Ill.), «Mein Freund Pax – die Heimkehr»: Sauerländer Verlag, Frankfurt am Main, 2021. 268 S., gb., CHF 24.50 «Weltsichten» sind Kinder- und Jugendbuchempfehlungen der Lesegruppe Kolibri von Baobab Books: www.baobabbooks.ch

Kulturschaffende aus der Region – darunter Autoren, die auch für die ProgrammZeitung tätig waren oder sind – haben im ersten Halbjahr 2022 neue Bücher für Gross und Klein präsentiert.

Catherine Meyer, «Beben über der Reuss»: Historischer Roman, eFeF-Verlag, 2022. 340 S., gb., CHF 32 Lesung: So 4.9., 15 h, Internationaler Lyceum Club, Münsterplatz 17, Basel

Feinsinnige Weltbetrachtungen

Dagmar Brunner

Ein anregendes Sammelsurium unterschiedlicher Texte findet sich in Walter Beutlers neuem Buch «Bevor mir die Worte ausgehen». Was bereits im Titel anklingt, ist Thema vieler seiner Reflexionen: das Abschiednehmen. Schon früh war der Autor (geboren 1956) damit konfrontiert, da er mit drei Jahren an Kinderlähmung erkrankte. Doch trotz Einschränkungen liess er sich nicht behindern und führt mit Rollstuhl bis heute ein weitgehend autonomes Leben. Er war viel unterwegs, verfasste auch einen eindrücklichen Bericht über seine Indienreise, machte Strassenmusik, studierte, erwarb ein Übersetzerdiplom, arbeitete als Lektor und Korrektor. Seit seiner Jugend schreibt er, liefert Beiträge für diverse Organe, ist ein begeisterter, auch politisch wacher Blogger. In seinem Buch gibt er in sieben Kapiteln mit sorgfältig formulierten Kurztexten gehaltvolle und bewegende Einblicke in sein reiches Innenleben und seine kritisch-optimistische Weltsicht.

Walter Beutler, «Bevor mir die Worte ausgehen. Ausgewählte Texte der letzten zwanzig Jahre»: BoD, 2022. 132 S., gb., CHF 25, Bezug über walter.beutler@bluewin.ch

Eine Puppe wird selbstständig

Sabine Knosala

Wie wäre es weitergegangen? Das fragt man sich oft nach einer Geschichte. Die Autorin Ursula Pecinska (Jahrgang 1947) aus Blauen greift genau diese Idee auf: Sie hat eine Fortsetzung des berühmten Theaterstücks «Nora oder ein Puppenheim» des Norwegers Henrik Ibsen von 1879 geschrieben. Darin fälscht Nora eine Unterschrift, um ihrem kranken Ehemann eine Reise in den Süden zu ermöglichen, durch die er wieder gesund wird. Das dunkle Geheimnis kommt jedoch ans Licht und Noras Mann rastet aus, weil er sich um seine Ehre sorgt. Darauf verlässt Nora ihn und die Kinder.

Pecinskas Roman setzt genau hier an: 20 Jahre später schreibt Leonora, wie sie sich neu nennt, wie sie sich nach der Trennung im englischen Manchester ein neues Leben aufgebaut hat – nicht mehr als irgendjemandes Puppe, sondern selbstständig durch die Kraft der Freundschaft und eine sinnvolle berufliche Tätigkeit.

Sensibel und sprachlich gekonnt lässt uns Pecinska in die Seele ihrer Protagonistin blicken und berichtet ganz nebenbei von den grossen sozialen Umwälzungen Ende des 19. Jahrhunderts wie der Frauen- und der Friedensbewegung. Eine wahrlich gelungene Fortsetzung!

Ursula Pecinska, «Leonora – Eine Überfahrt»: Roman, Edition sacré, Zürich, 2022. 120 S., br., CHF 18

Packendes Zeit panorama

Dagmar Brunner

Tief in die Vergangenheit ist auch Catherine Meyer (geboren 1965) eingetaucht. In ihrem ersten historischen Roman «Beben über der Reuss» schildert sie anschaulich ein Frauenleben in dem von grossen Umbrüchen gekennzeichne ten 16. Jahrhundert. Zentraler Schauplatz ist der Muri-Amthof in Bremgarten, der einst zum Kloster Muri gehörte. Dort lebte und wirkte die ehemalige Nonne Anna Adlischwyler mit ihrem Mann, dem Pfarrer Heinrich Bullinger, der später Nachfolger von Zwingli am Zürcher Grossmünster wurde. Kenntnisreich und einfühlsam erzählt die Autorin und Pädagogin von den Machtkämpfen zwischen Alt- und Neugläubigen (Katholiken und Reformierten), von Krieg und Pest, von gebildeten Frauen und klugen Männern, von Freundschaft und Solidarität. In kleinen Parallelkapiteln steuert sie eigene Erinnerungen an den Muri-Amthof bei, wo

Ein Traum wird wahr

Iris Kretzschmar

Allein hinter Gitterstäben und das schlammige Wasserloch lädt so gar nicht zum Bade: Da wächst die Sehnsucht nach Freiheit ins Unermessliche. Schon lange träumt das kleine Nilpferd vom grossen Fluss unter weitem Sternenhimmel. Eines Tages fasst es sich ein Herz, nimmt alle Kraft zusammen, stürmt über die Barrikaden, rennt durch Strassen und Wälder bis zum Meer. Wie wohltuend ist doch der Sprung ins kühle Nass und wie freundlich die anderen Tiere. Als der Mond aufgeht, hebt eine Herde von Flusspferden den Kopf aus den Fluten und begrüsst den

Neuling aus dem fernen Land. Endlich angekommen: Nil, Nil, ich bin da!

Eine wundersame Kindergeschichte, die Mut macht auszubrechen, um das wahre Leben zu suchen. Der Text der Jugendliteraturpreisträgerin Jutta Richter ist unterlegt mit poetischen Bildern der Basler Illustratorin und Grafikerin Petra Rappo (Jahrgang 1969). Übrigens: Das Bilderbuch wurde vom Deutschlandfunk zu den besten sieben Büchern für eine junge Leserschaft im August gekürt.

Text Jutta Richter, Bilder Petra Rappo, «Nil, Nil, ich komme!»: Bilderbuch, ab 4 Jahren, Carl Hanser Verlag, München, 2022. 40 S., CHF 22.90

Kunst-, Koch- und Reisebuch

Dagmar Brunner

Wer Fleisch und kulinarische Experimente schätzt, gerne unterwegs ist oder gute Geschichten liebt, wird das neue Buch von Samuel Herzog (geboren 1966) mögen. Gleich im Untertitel wird klar, worum es geht: «Eine Reise auf den Spuren eines Metzgermeisters aus Lemusa und diverser Innereien aus der Schweiz». Lemusa ist eine Insel, die der Autor vor über 20 Jahren ins Leben gerufen hat und seither mit sprühender Fantasie bevölkert sowie in Publikationen, Museen und im Internet vorstellt. Nun verbindet er Tagebuchnotizen des lemusischen Metzgers Tartarieu Seugrem (dessen Namen auch rückwärts an Fleischprodukte erinnert), der 1884 mit einem Begleiter das Land seiner aus Luzern stammenden Mutter erkundet, mit eigenen Wandererlebnissen 140 Jahre später. Kochrezepte und Blumenskizzen, Zeichnungen und Fotos runden die köstliche Lektüre ab, die durch 18 Regionen der Zentralschweiz und ins Innerste von Schlachttieren führt.

Samuel Herzog, «Bei Vollmond ist das ganze Dorf auf den Beinen»: Edizioni Periferia, 2022. 124 S. mit Abb., kt., CHF 15. Mehr zu Lemusa: www.hoio.org

«Amboss oder Hammer sein»

Verena Stössinger

Clara Felshag hat «das ganze so scheusslich missratene 20. Jahrhundert» erlebt, vom Kaiserreich bis zur Wende; drei Ehen, vier Kinder, viel Anpassung. War sie nur «Amboss»? Und was bleibt von ihrem Leben? Das fragt sich Roman, der sie bewundert und weiss, dass eine Biografie ihr und der Zeit nicht gerecht würde.

Er erfragt die Lebensgeschichten ihrer Angehörigen und Valentin Herzog (Jahrgang 1941) zeichnet diese in seinem Mosaik- Roman genau und kundig nach. Sichtbar werden unterschiedliche Menschen, die alle etwas Exemplarisches haben; doch es sind nicht nur diese historischen Bohrkerne, die den Text tragen. Es ist eine tiefe Emotion. Clara wird durch eine von Romans Gesten an 1944 erinnert, als sie einem Flüchtling (oder Deserteur?) begegnete; das weckt in der nun bald Sterbenden etwas wie Liebe zum so viel jüngeren Wiedergänger. Und berührt.

Valentin Herzog, «Zeitscherben oder die aufgehobene Zeit»: Roman, IL-Verlag, Basel, 2022. 220 S., CHF 24

Poetische Peinlichkeiten

Dagmar Brunner

Dem «Geist der Peinlichkeit» war Birgit Kempker auf der Spur. Zahlreiche Missgeschicke hat sie in Dialogform selbstkritisch befragt. Der Reiz des Bandes ist die poetische Kraft der Autorin (geboren 1956), die mit Prosawerken und Hörstücken bekannt und vielfach ausgezeichnet wurde und derzeit in Baden auch als Zeichnerin zu entdecken ist. Ihr Buch verrät breite kulturelle Interessen, spiegelt Zeitgeist und -geschehen, thematisiert mit zum Teil schmerzhafter Schärfe familiäre und körperliche Bürden. Und es enthält etliche wunderbare Formulierungen und Wortfindungen wie Trostjunkie, Unblume, Festkralldüse, Herzschutz, Hirndreck oder Buchstabenclown. Peinlich ist etwa, bedingungslos verstanden werden zu wollen, auf falschen Entscheidungen zu hocken, Aussenseiter oder faul zu sein, für ein Opfer gehalten zu werden oder nichts fürs Glück zu tun. Dass der einst peinlich freche Hippie heute lieber ein Alien als eine ältere Dame sein will, ist jedenfalls ein Lichtblick.

Birgit Kempker, «Geist der Peinlichkeit»: Neue Sammlung 10, Engeler Verlag, Schupfart, 2022. 202 S., kt., CHF 18 Ausstellung: bis So 4.9., Museum Langmatt, Baden, www.langmatt.ch

Kuriose G’schichten

Dagmar Brunner

Ein Himmel voller Bassgeigen ziert das Cover des neuen Buches von Christopher Zimmer. Unter dem Titel «Concerto Grosso» hat er eine Fülle meist kurzer Texte aus seiner «kreativen Schuhschachtel» versammelt, dem Kleinstverlag Piepmatz. Dieser besteht seit gut 40 Jahren und beinhaltet eine breite Palette von Poesie und Prosa. Ihr Autor ist ein lustvoller Fabulierer mit einem grossen Herzen für Käuze aller Art. Seine heiteren, skurrilen und abgründigen Beobachtungen, Gedanken und Geschichten – etwa von drei kühnen Hühnern – sind erfrischender Lesestoff. Christopher Zimmer (geboren 1959) schreibt Fantasy-Romane und Erzählungen für Gross und Klein sowie Texte für verschiedene Medien. Tolkiens «Der Herr der Ringe» war für ihn «ein Augenöffner», aber auch Werke von Eugen Roth, Heimito von Doderer, Ringelnatz und Morgenstern haben ihn inspiriert. Als Musikliebhaber schreibt er zudem Libretti für verschiedene Ensembles und tritt als Sprecher auf.

Christopher Zimmer, «Concerto Grosso. Geschichten und Allotria»: BoD, 2022. 156 S., gb., CHF 27.90. Auch als E-Book lieferbar.

Ausserdem: Zum 75. Geburtstag von Rudolf Bussmann: Lesung, Performance, Gastbeiträge, Mi 31.8., Literaturhaus Basel, www.literaturhaus-basel.ch Literatur Openair Basel: mit Catalin Dorian Florescu, Joachim B. Schmidt und Lara Stoll, So 4.9.,14 h, Schmiedenhof, www.stadtbibliothekbasel.ch

Heinz Stahlhut Das Hek zeigt Kunst über den Klimawandel.

Mehrfach schon hat das Haus der elektronische Künste (Hek) Ausstellungen aktuellen Themen gewidmet, so dem Begehren und der Sexualität, der Mode oder der Kartografie im digitalen Zeitalter. Auch die neue Ausstellung «Earthbound – Im Dialog mit der Natur» betrachtet mit Beiträgen einer internationalen Künstlerschaft ein immer dringenderes Thema: die Auswirkungen menschlichen Handelns auf unser Ökosystem. Ebenso stellt die Schau die Frage nach dem Beitrag der neuen Techniken zur Bekämpfung des Klimawandels, des Artensterbens und anderer Probleme oder für einen Bewusstseinswandel hinsichtlich unserer Umwelt und unserer Rolle darin.

Folgen menschlicher Eingriffe.

Das Künstlerinnenkollektiv Fragmentin aus Lausanne thematisiert in seiner Installation «Displuvium», deren Titel sich auf das Vordach in den Innenhöfen römischer Villen bezieht, die Eingriffe des Menschen in das Wetter: Unterwasserdüsen erzeugen in einem Bassin zuerst den Eindruck von willkürlich fallenden Regentropfen, die sich dann aber immer stärker zu regelmässigen Mustern organisieren und so ihre künstliche Hervorbringung offenbaren; währenddessen wird auf den unmittelbar benachbarten Monitoren von realen Versuchen des Menschen berichtet, das Wetter nach seinen Vorstellungen zu gestalten, die meist katastrophale Folgen hatten – Bilder, die sich in der durch künstliche Regentropfen bewegten Wasseroberfläche spiegeln.

Die beweglichen Elemente in der schon in der Praxis erprobten Arbeit «Korallysis» (seit 2019) des Mexikaners Gilberto Esparza können die Regeneration von durch Meeresverschmutzung und -erwärmung geschädigter Korallenpopulationen initiieren. Durch ihre Bewegung locken sie natürliche Organismen wie Plankton und Algen an und unterstützen so das Korallenwachstum.

In seiner interaktiven Installation «Akousmaflore» von 2007 präsentiert das französische Künstlerduo Scenocosme, bestehend aus Grégory Lasserre und Anaïs met den Ancxt eine Reihe von Pflanzen, die auf die Intensität der Berührung durch Betrachterinnen und Betrachter mit unterschiedlichen Klängen reagieren. Durch die Veranschaulichung der von unserem Körper ausgehenden statischen Energie wird die enge Verbindung zwischen unserem Körper und unserer Umwelt deutlich.

Die Welt retten?

Allen Arbeiten ist gemeinsam, dass sie nicht vorgeben, die bedrohte Welt retten zu können. Vielmehr setzen die Künstlerinnen und Künstler die neue Technologie dafür ein, unsere Wahrnehmung für die anstehenden Probleme zu schärfen und so zu einem schonenderen Umgang mit der Schöpfung beizutragen. So wird eines denn auch ganz klar: Mag die Technik auch noch so avanciert sein, lösen kann sie unsere Probleme nicht, denn handeln müssen wir selbst.

Earthbound – Im Dialog mit der Natur: Sa 3.9. bis So 13.11., Haus der elektronischen Künste (Hek), Dreispitz, Münchenstein, www.hek.ch

KUNST UND UMWELT

Sabine Knosala

Ausstellungen im Museum Tinguely und in La Kunsthalle Mulhouse setzen sich kritisch mit dem Einfluss des Menschen auf die Erde auseinander.

Schon in den 1960er Jahren haben Kunstschaffende des Nouveau Réalisme und der Junk Art den Wandel vom Mangel zur Konsumgesellschaft durch die Verwendung von Abfall und Schrott für ihre Kunstwerke gespiegelt. Einer ihrer bekanntesten Vertreter war Jean Tinguely, dem heute das gleichnamige Museum in Basel gewidmet ist. Während der Müll damals durch regionale, kaum gesicherte Abfalldeponien sehr präsent war, ist er heute in der westlichen Welt weitgehend aus unserem Bewusstsein verschwunden. Eine ausgeklügelte Abfallwirtschaft sorgt dafür, dass er abtransportiert, verbrannt, geklärt, kompostiert, recycelt, in Bergwerken deponiert oder gar exportiert wird.

Viele Kunstschaffende holen das Verdrängte jedoch wieder an die Oberfläche und hinterfragen, analog zur Klimabewegung, die Konsequenzen unserer Wegwerfgesellschaft. So zeigt das Museum Tinguely in der Gruppenausstellung «Territories of Waste» Werke, die sich unter anderem mit der Verschiebung von Abfall in Länder des globalen Südens, der gesellschaftlichen Stigmatisierung von Menschen, die in der Abfallbeseitigung tätig sind, oder der Vermüllung der gesamten Ökosphäre beschäftigen. Fortschritt versus Ressourcenschwund.

Um unser Verhältnis zur Umwelt geht es auch in der Retrospektive «Exhumer le futur» (Die Zukunft ausgraben) von Maarten Vanden Eynde in La Kunsthalle Mulhouse. Durch eine genaue Beobachtung des industriellen Aufschwungs und der zunehmenden Globalisierung konfrontiert der belgische Künstler die Idee des Fortschritts mit dem Ressourcenschwund der Erde. Was hinterlassen wir der Zukunft?

Dabei fällt Vanden Eynde immer wieder durch seine auf den ersten Blick witzigen, auf den zweiten Blick jedoch hintergründigen Aktionen auf – zum Beispiel, wenn er die Risse eines Sees in Kanada mit Gips abzudichten versucht, der durch globale Erwärmung und Wasserentnahme des Menschen ausgetrocknet ist.

Territories of Waste – Über die Wiederkehr des Verdrängten: Mi 14.9.2022 bis So 8.1.2023, Museum Tinguely, Basel, www.tinguely.ch Exhumer le futur: bis So 30.10., La Kunsthalle Mulhouse, www.kunsthallemulhouse.com

ERLEBBARE KUNST

Sabine Knosala

An den Kunsttagen Basel werden erstmals zwölf Projekte im öffentlichen Raum gezeigt.

Was die Museumsnacht Basel für die Museen ist, sind die Kunsttage Basel für die zeitgenössische Kunst: Anfang September findet die nunmehr dritte Ausgabe statt. Während 72 Stunden präsentieren sich 55 regionale Ausstellungsorte unterschiedlichster Grösse und Ausrichtung dem Publikum. Dazu gehören Museen genauso wie Galerien, Ausstellungsräume und Off Spaces. Sie zeigen nicht nur Ausstellungen, sondern bieten ein individuelles, grösstenteils kostenloses Veranstaltungsprogramm und beleben damit die Stadt von Riehen bis zum Dreispitz-Areal.

Beispielsweise führt das Kunstmuseum Basel in Zusammenarbeit mit RadioX Gesprächsrunden mit Persönlichkeiten der Kunstwelt durch, das Schaulager lädt zu exklusiven Führungen ein und der Projektraum «wirdnachgereicht» zeigt eine Fashion Show. Erstmals finden auch Konzerte, Eröffnungen und Vorträge am Abend statt, was bisher aus pandemischen Gründen nicht möglich war. Performances im Fokus.

Ein Highlight dürfte das ebenfalls neugeschaffene «Sharing Movements» werden: Unter diesem Titel werden zwölf ausgewählte Projekte im öffentlichen Raum gezeigt. Sie führen an über 15 Orte in Basel und Agglomeration wie den Proberaum des Sinfonieorchesters, die Schalterhalle des Bahnhofs SBB und zentrale Plätze in der Innenstadt. Die Positionen sind frei zugänglich und stammen von Kunstschaffenden unterschiedlicher Generationen und Hintergründe. Anders als beim Art Parcours während der Art Basel, an den «Sharing Movements» auf den ersten Blick erinnert, liegt der Schwerpunkt jedoch auf Performances und Live-Art-Events, oft sogar mit partizipativem Charakter. So regt Vittorio Santoros 24-Stunden-Performance zum Nachdenken über die Persönlichkeitsentwicklung an, das Kollektiv fffff bringt Interessierten das Fermentieren näher und Sergio Rojas Chaves ruft zum gemeinsamen Spaziergang mit Zimmerpflanzen auf.

«Ziel der Kunsttage Basel ist es, die Vielfalt insbesondere der modernen und zeitgenössischen Kunst in der Region Basel weitum sichtbar und breit erlebbar zu machen», erklärt Nora Lohner, Leiterin der Geschäftsstelle Kunsttage Basel.

Kunsttage Basel: Do 1.9. bis So 4.9., Basel und Agglomeration, www.kunsttagebasel.ch Sabine Knosala Das gross angelegte Projekt «Sakrale Zeiten?» der Basler Künstler:innengesellschaft ist im Austausch mit den Glaubensgemeinschaften der Region entstanden.

Dezember 2020: Corona hat die Schweiz fest im Griff, das Kulturleben pausiert. «Was können wir Kunstschaffenden in dieser schwierigen Zeit beitragen?», fragte sich damals Pascal Joray, Präsident der Basler Künstler:innengesellschaft (BKG) und selbst Künstler. Die Pandemie habe vieles, was bis anhin als klar und eindeutig erschienen war, durcheinandergewirbelt. Gleichzeitig habe ein kollektives Nachdenken über Sinnfragen stattgefunden, erinnert er sich.

Aus dieser Stimmung heraus entstand die Idee für das Kunstprojekt «Sakrale Zeiten? Zeitgenössische Kunst in sakralen Räumen und im städtischen Raum»: Damit will die BKG zu einem Dialog über Spiritualität, Philosophie, Rationalität und universelle Fragen einladen. «An was glauben wir heute noch? Was ist uns wichtig?», fasst Joray zusammen.

Gemeinsamer Prozess, statt produzieren und platzieren.

Das Besondere: Das Projekt ist eine Zusammenarbeit mit diversen Glaubensgemeinschaften der Region Basel. «Wir stiessen bei ihnen auf eine unglaubliche Offenheit und Willkommenskultur», berichtet Joray. In einem zweiten Schritt wurden die BKG-Mitglieder für eine Teilnahme angefragt: «Rund 45 sagten zu, und das obwohl es keine Gage gibt», betont der Präsident. Darauf bildeten sich Arbeitsgruppen mit jeweils einer BKG-Gotte oder einem -Götti, die zwischen Veranstaltungsort und BKGMitgliedern vermittelten. So ergab sich ein Dialog zwischen Kunstschaffenden und Glaubensgemeinschaften und auf beiden Seiten entstand etwas Kreatives. «Das Ziel war nicht, zuerst zu produzieren und dann zu platzieren, sondern gemeinsam einen Prozess zu starten», erklärt Joray, «oder anders gesagt: Der Weg stand im Vordergrund, nicht das Ergebnis.»

Gleichwohl kann sich Letzteres aber sehen lassen: Von September bis Dezember werden an 22 Orten in Basel-Stadt und Baselland eigens dafür geschaffene Kunstwerke gezeigt. Viele Kirchen finden sich darunter, aber auch eine Moschee sowie weltliche Orte wie die Burg Birseck. Vor Ort finden zudem rund 50 Veranstaltungen statt wie Lesungen, Performances, Konzerte, Tanzaufführungen, Diskussionsrunden, Filmvorstellungen oder Predigtreihen.

Ein Beispiel für eine solche Zusammenarbeit ist «Krone der Würde» von Brigitte Lacau respektive «Wir sind alle Königinnen und Könige» von Christian Jaeggi mit der Basler Matthäuskirche: Die Bildhauerin aus Schönenbuch baute mit Menschen am Rande der Gesellschaft Kronen. Wer wollte, wurde vom Arlesheimer Fotograf porträtiert. Die Werke werden in der Kirche und auf dem Platz davor gezeigt. An der Vernissage wird es eine Musikperformance von Edith Habraken geben.

Bereits jetzt sollte man sich den 22. und 23. Oktober rot im Kalender anstreichen: Am sogenannten Trialog-Wochenende werden an Gratisführungen ausgewählte Projekte aus drei Perspektiven besprochen – von je einer Vertretung der Schweizerischen St. Lukasgesellschaft für Kunst und Kirche, der jeweiligen Religionsgemeinschaft sowie der Künstlerin oder des Künstlers selbst. Abgerundet wird «Sakrale Zeiten?» durch eine Wanderausstellung, die öffentliche Orte wie den Basler Barfüsserplatz bespielt.

Basler Künstler:innengesellschaft, «Sakrale Zeiten?»: Do 8.9. bis So 11.12., 22 Orte in BS und BL, www.basler-kuenstlergesellschaft.ch → S. 32 Ausserdem: Formforum Ateliertage: Fr 30.9. bis Sa 1.10., schweizweit, www.formforum.ch

Vom Sterben eines Riesen

Iris Kretzschmar In der Kunsthalle Palazzo zeigt Sonja Feldmeier einen durch Erlebnisse in Indien inspirierten Werkkomplex.

Bäume sind seit Urzeiten mit den Menschen verbunden –auch im Sterben. «The Peepul Tree» heisst der mehrfach preisgekrönte, 20-minütige Film von Sonja Feldmeier, der das Fällen eines uralten, heiligen Baumes an einer belebten Strasse in Haridwar zeigt. Rund um das Geschehen ist ein mehrteiliges, intermediales Kunstwerk gewachsen, das im Palazzo Liestal erstmals in seiner Gesamtheit zu erleben ist.

Ein Jahr lang lebte die Künstlerin in Indien und stiess mehr zufällig auf das Ereignis. Sie filmte 72 Stunden lang: fasziniert, fragend und mitfühlend. Wegen der Sprachbarriere ist Kommunikation nur über Blicke und Gesten möglich –um so stärker ist die verinnerlichte Erfahrung.

Menschenbaum.

Mit dem Gesicht eines Jungen beginnt der Film, streift über die schrundige Borke des Riesen, blendet schäbige Schuhe ein, einfachste Werkzeuge wie Säge und Axt – alles fliesst ohne Worte, hinterfangen von einer feinen Soundkulisse, im Wechsel von instrumentalen Klängen und Strassenlärm der vorbeifahrenden Tuk-Tuks und Motorräder. Über mehrere Tage hinweg zerlegen die sieben kühnen Baumfäller den 400-jährigen Giganten in einzelne Teile. Alle Akteure lernt man kennen, bewundert sie, wie sie mit blossen Füssen unermessliche Höhen erklimmen, mit einem Lächeln die mächtigen Äste abtrennen und auf die Strasse donnern lassen. Alles wirkt locker, unangestrengt, dazwischen wird Tee getrunken, geraucht, geplaudert und immer wieder der Blickkontakt zur Künstlerin gesucht. Über die Kameraführung baut sich eine Beziehung auf – zum Baum und zu den Menschen. Traurig der Moment als nur noch der verstümmelte Stamm steht. Warum kann dieser ehrwürdige Alte nicht bleiben? Im Abspann erfährt man mehr.

Dem Film sind weitere Werke entwachsen, die auf dem synästhetischen Erleben der Künstlerin beruhen. Grosse Schlüssel aus Holz hängen an Haken an den Wänden, rätselhafte Gipse liegen auf gekachelten Sockeln und leuchtend farbige Bilder sprechen von den beteiligten Arbeitern. Aus einem Innenbild der Künstlerin sind mit Hilfe des Sounddesigners Vojislav Anicic, musikalische Soundporträts entstanden, die in den Film eingewoben wurden. Daraus entstanden Gipsskulpturen, die wiederum als Zwischenstufe für eine farbige Visualisierung dienten. Der Werkkomplex von Sonja Feldmeier ist ein Geflecht aus visualisierten Gedanken, Beziehungen und Klängen. Sogar die Sitze sind Skulpturen, die in ihren Ausmassen dem Grundriss eines Baumsegments entsprechen. In diesem Kosmos hängt alles zusammen, hervorgegangen aus einer mehrstufigen, schöpferischen Transformation, die sich über viele Jahre erstreckt. Vielleicht wird hier bewusst, dass sich alles gegenseitig bedingt und voneinander abhängt.

Sonja Feldmeier: Do 1.9. (Vern.18 h) bis So 30. 10., Kunsthalle Palazzo, Liestal, www.palazzo.ch Das reiche Schaffen von Werner von Mutzenbecher wird mit zwei Ausstellungen gewürdigt – im Kunsthaus Baselland und in der Galerie Gisèle Linder.

Der Künstler, quasi ein Doyen der Basler Szene, ist nicht nur für sein spannendes Œuvre bekannt, sondern auch als reger Ausstellungsbesucher, kritischer Diskussionspartner und ausgewiesener Kenner des Kunstgeschehens. Neben seiner Ausstellungstätigkeit lehrte Werner von Mutzenbecher an der Schule für Gestaltung, leitete die Malfachklasse und war eine Zeit lang Konservator ad interim an der Kunsthalle Basel. Seine ikonischen, oft auch provokanten Bildwerke sind in vielen öffentlichen Gebäuden und in der Stadt anzutreffen, unter anderem im Strafgericht, im Anatomischen Institut oder in der Theaterunterführung.

Nach einer expressiven Frühphase, aus der auch die gestisch gemalten «Totenzimmer» in Muttenz stammen, entwickelte er eine klare, reduzierte Bildsprache. Auch wenn die Werke äusserst präzis und spartanisch erscheinen mögen, basieren sie auf Emotion und Intuition, gehen oft auf aktuelles Geschehen zurück wie beispielsweise die «Coronabilder» von 2020. Der Künstler schöpft seine Moti-

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