MAGAZIN FÜR JOURNAL WRITING, TAGEBUCH & MEMOIR
2/2022
EDITORIAL Liebe Leserin, lieber Leser, als wir uns auf das Thema Beziehungen geeinigt hatten war schnell klar – diese Ausgabe betreuen Birgit und ich, Michaela. Uns verbindet viel, obwohl die eine in Bremen und die andere in Niederösterreich lebt. Gemeinsam wollten wir Aspekte von Beziehung beleuchten und wie Schreiben diese beeinflussen kann. So entstanden Artikel, die über MutterTochter-Beziehung erzählen, über die Beziehung von Führungskräften zu Mitarbeitern und wie schreiben dabei helfen kann, dieses Spannungsverhältnis zu reflektieren. Aber auch Texte über Brieffreundschaften und die Beziehung von Studierenden zu ihren Texten.
Was Birgit und mich angeht: Wir sind beide verheiratet – Birgit ist Mutter, ich bin kinderlos. Doch wir leben beide mit Hund – ich mit mehreren, Birgit mit einem. Und auch diese Beziehung zu unseren Vierbeinern prägt uns, verbindet uns. All die verschiedenen Arten von Beziehungen haben wir während der Arbeit an dieser Ausgabe für uns selbst immer wieder betrachtet und freuen uns von ganzem Herzen. Dank Diana Meier-Soriat haben wir wundervolle Illustrationen und einen schönen Artikel über Selbstliebe. Wohl eine der wichtigsten Beziehungen. Wir wünschen viel Freude und Spaß beim Lesen! Michaela Muschitz und Birgit Schreiber
BIRGIT SCHREIBER
Bücher, so Birgits Fazit, sind wie Kinder. Sie brauchen zum Wachsen und Gedeihen ein ganzes Dorf, liebende Verwandte und Freunde. Gerade bei langen Textprojekten helfen Beziehungen zu anderen Autorinnen, Durststrecken zu meistern. Sie können ein fruchtbarer Nährboden für unsere geistigen Kinder sein, wenn wir Unterschiede wertschätzen und Gemeinsamkeiten zelebrieren.
MICHAELA MUSCHITZ
In einer Zeit, in der die Pandemie viele Beziehungen verändert und auf den Prüfstand stellte, konnten wir unsere vertiefen. Aus einer Lehrer-Schüler-Beziehung wurde eine sich mit all der Unterschiedlichkeit und auch Gemeinsamkeit schätzende Beziehung. Ich weiß nicht mehr, wann und wo wir uns begegnet sind – sicher im writers‘studio. Sofort war da eine große Sympathie und bald ein Gefühl von Nähe und Wertschätzung. Dieser Austausch ohne Konkurrenzgedanken mit dem Bestreben, für beide das Beste zu wollen, prägte unsere Gespräche und E-Mails. Ich behaupte, unsere Bücher wären nicht so weit ohne diese Beziehung und unseren Austausch. Ähnliches erzählt Birgit vom Entstehen ihres Buches Schreiben zur Selbsthilfe, das vor Kurzem in überarbeiteter zweiter Auflage erschienen ist. „Ohne Feedback wäre das Buch nie in dieser Form erschienen“, sagt Birgit, die in unserer Kollegin Johanna Vedral eine Sparringspartnerin für Ideen fand.
BEZIEHUNG ZU FREUNDEN 04 Eine Schreibnische für uns / Ruth Schneidewind 12
Sind das alles Beziehungen in der Schule? / Gundi Haigner BEZIEHUNG ZUR FAMILIE
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Die Wahrheit beginnt zu zweit! / Marie-Lisa Noltenius, Rainer Noltenius
24 Ich schreibe mich selbst neu / Johanna Vedral BEZIEHUNG ZU MIR 34 Wie Worte uns nähren können / Hedda Lenz 40 Selbstliebe im Bullet Journal / Diana Meier-Soriat BEZIEHUNG ZU DIR 48 Wir sind noch lange nicht damit durch / Bernhard Hubacek 56 Wenn die Liebe Hilfe braucht / Antje Randow-Ruddies 64 Sommerworte / Friederike Hermanni 66 FÜR EUCH GELESEN BEZIEHUNG ZUM SCHREIBEN 68 Ein Mensch, der liest oder schreibt ist wunderschön / Vivien Catharina Altenau BEZIEHUNGEN IM BERUF 74 Wie schreibt man Führung? / Susanne Buchberger 84 Gut betreut / Daniela Liebscher 92 Wir schreiben nicht für den Nobelpreis / Ilona Matusch KLASSISCHE JOURNAL-METHODEN 100 Listen: geordnet, unbegrenzt poetisch / Christine Hartmann PORTRAIT 91
Schreibraum Daniela Liebscher
64 Illustratorin dieser Ausgabe: Diana Meier-Soriat 102 VORSCHAU & IMPRESSUM
BEZIEHUNG ZU FREUNDEN
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EINE SCHREIBNISCHE FÜR UNS
EINE
SCHREIB
NISCHE
FÜR UNS
Vier Frauen finden eine eigene Schreibnische, in der sie gemeinsam ein Beziehungsnetz knüpfen. Ausgangspunkt ist die Beziehung zum Schreiben, die sie durch wöchentliches Schreiben vertiefen. Jede Einzelne entwickelt ihre Beziehung zu sich selbst, indem sie sich den anderen gegenüber öffnet, wertschätzendes Feedback erhält und schenkt. Die Vertrautheit in der Gruppe wächst durch den Austausch authentischer Texte und der achtsamen Begegnung auf Augenhöhe. RUTH SCHNEIDEWIND
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pril 2020. Lockdown. Da hat es begonnen. Wir haben uns aus ähnlichen Gründen zu einem online angebotenen Schreibworkshop mit Michaela Muschitz im writers’studio Wien angemeldet. Wir wollten unser eigenes Schreiben weiterentwickeln und in dieser unheimlichen Corona-Zeit Kontakt zu anderen aufnehmen, verordnete Isolation via Internet überwinden. Der Schreibworkshop umfasste fünf Tage, fünf Teilnehmerinnen und war ziemlich intensiv. Wir beschäftigten uns mit Clustering, Freewriting, vor allem aber lernten wir konstruktives Feedback kennen und schätzen: sachlich, freundlich, respektvoll, ehrlich und direkt.
Lasst uns weitermachen! Und dann? Dann ging es weiter. Wir verab-
redeten uns erst lose. Wollen wir uns wieder treffen, weitermachen? Vier von fünf wollten das: Susanne Pohl ist Krimiautorin und Bloggerin (susannepohl.de) aus Kiel. Petra Ruzicka widmet sich dem wissenschaftlichen und therapeutischen Schreiben und ist im niederösterreichischen Waldviertel zu Hause. Claudia Scheidemann wohnt in Marburg, schreibt einen Blog (ichbinviele. de) und coacht Frauen. Ruth Schneidewind lebt in Wien, schreibt vorwiegend Fachbücher, -artikel und Kinderlieder. Jede von uns hat ihre eigene Schreibwelt und stellt unterschiedliche Ansprüche an ihr Schreiben. Begonnen haben unsere Zoom-Treffen, weil wir die Dynamik des Workshops fortsetzen wollten. Bevor sich die Form unserer Zusammenkünfte klärte, einten uns gegenseitige Sympathie und prinzipielles Interesse am Schreiben. Anfangs reflektierten wir die
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BEZIEHUNG ZUR FAMILIE0
Du fragst, was mich wohl am meisten interessiert. Furchtbar viel! Du bist sehr optimistisch, wenn du schreibst, wir würden sicher die nächsten Monate schriftlich kommunizieren. Ich freue mich auch gerne auf die nächsten Jahre, denn ich denke, bei der Anzahl meiner Fragen, wirst du sicher nicht so schnell vorankommen, wie geplant. Marie-Lisa an Rainer am 6.12.2011
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DIE WAHRHEIT BEGINNT ZU ZWEIT
Die Wahrheit
beginnt
zu zweit!
Vater und Tochter über ihren biografischen Briefwechsel MARIE-LISA NOLTENIUS UND RAINER NOLTENIUS
Was geschieht, wenn eine 22jährige Tochter ihren 70jährigen Vater bittet, ihr sein Leben in Briefen zu erzählen? In diesem Artikel führen Marie-Lisa und ihr Vater Rainer Noltenius einen Dialog über ihr Experiment, ganz im Stil ihres biografischen Briefwechsels: 26mal hatten sie einander geschrieben, ab 2011 insgesamt zehn Jahre lang. Rainer: Was hat dich motiviert, mir Fragen zu stellen? Marie-Lisa: Erstens: es ist die pure Neugier: Wir stammen aus einer Familie, in der die Vorfahren immer eine wichtige Rolle gespielt haben. Als Kind zu Besuch bei der Großmutter, habe ich ehrfürchtig auf alte Gemälde gezeigt und euch ausgefragt. Später auf dem Sofa wurden Geschichten über die Ahnen der Familie Noltenius bis ins Jahr 1686 erzählt. Von der hübschen Urahnin, auf die Napoleon ein Auge geworfen hatte, und dem Gymnasialprofessor Gurkendidi mit der gewaltigen Nase. Spannende Anekdoten wurden lebendig. Und daran knüpft sich die zweite Antwort auf deine Frage: Ich möchte die Geschichten meines Vaters aufbewahren. Monologisch, blumenreich einen Wälzer zu schreiben, ist nicht deine Art. Viel spannender erschien mir daher, miteinander in den Dialog zu treten. So entstanden unsere Erzählbriefe. Mein Vater schrieb einen Brief über ein Jahrzehnt, später ein Jahrfünft, darauf folgte ein Fragebrief meinerseits, der an der einen oder anderen Stelle tiefer bohrte oder verschwiegene Themen auf den Tisch brachte.
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BEZIEHUNG ZU MIR
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DIE BEZIEHUNG ZU MIR SELBST
Die Beziehung zu mir selbst Selbstliebe und Selfcare praktizieren mit dem Bullet Journal
DIANA MEIER-SORIAT
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ir holen uns die ganze Welt auf unsere Smartphones, Computer und Tablets, egal wo wir uns befinden – ob zu Hause, unterwegs oder an unserem Arbeitsplatz. Es gibt unzählige Apps, die uns helfen sollen, unser Leben zu organisieren oder zu optimieren. Die Digitalisierung eröffnet uns einerseits die Welt und hilft uns, Grenzen zu überwinden, andererseits laufen wir Gefahr, uns in dieser Welt zu verlieren. Wir sind permanent beschäftigt, aber irgendwie auch wenig produktiv.
Bullet Journaling und Sketchnotes als visuelle Methoden Die Bullet-Journaling-Methode geht auf den New Yorker Designer Ryder Carrol zurück. Sie ist ein Planungssystem, das fle-
xibel und individualisierbar ist. Bullet Journaling und Sketchnotes sind visuelle Methoden, um wieder ein wenig zurück zu finden in die analoge Welt. Zeichnen und Schreiben helfen dir dabei, handlungsfähig zu bleiben. Der Stift in der Hand ist der Ausleger des Gefühls, die Zeichnung ein unmittelbarer visueller Ausdruck des Zustands, in dem die Person aktuell befindet. Kein Gekritzel ist zu banal, um nicht einer Betrachtung wert zu sein. Jede Spur zählt. Beim Bullet Journaling geht es nicht nur darum, Termine, To-Dos und Aufgaben zu verwalten. Neben Zeichnen und Symbole verwenden wird auch die Fähigkeit gefördert, sich mitzuteilen und sich mit sich selbst auseinanderzusetzen – in Form von Text, Zeichnungen oder einer Kombination daraus.
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BEZIEHUNG ZU DIR
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WENN DIE LIEBE HILFE BRAUCHT
Liebe
Wenn die
Hilfe braucht ANTJE RANDOW-RUDDIES
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önnen Stift und Papier eine Beziehung retten? Ist es möglich, durch das Schreiben von Worten, sich wieder einander näher zu kommen? Kann der schriftliche Ausdruck von Gefühlen die Liebe von neuem erwecken? Ist das Schreiben ein Mittel der Wahl, wenn die Liebe Hilfe braucht? Alle Fragen kann ich uneingeschränkt mit „Ja“ beantworten. Seit vielen Jahren verwende ich die Methoden des kreativen Schreibens in meiner therapeutischen Praxis. Sowohl mit Einzelklienten als auch in der Zusammenarbeit mit Paaren. Und ich mache gute Erfahrungen. Und viel wichtiger ist: Die Paare machen gute Erfahrungen. Jeder für sich und beide miteinander. Was ist so bereichernd an dieser Art des Ausdrucks von Gedanken und Gefühlen, wenn es um die Liebe geht? Was macht den
Unterschied zum gesprochenen Wort aus? Zunächst einmal ist das Papier geduldig. Wesentlich geduldiger als die Frau oder der Mann mit der oder dem man gerade in einer Krise oder einem Konflikt steckt. Das Papier unterbricht nicht. Es widerspricht nicht. Es läuft nicht davon und es greift nicht an. Es ist nicht beleidigt oder verletzt. Es schreit und weint nicht. Es geht weder in den Rückzug noch in den Angriff. Es ist einfach nur da. Freundlich. Zugewandt. Bereit alles aufzunehmen. Mit einem so angenehmen Gleichmut. Es verzieht niemals das Gesicht, wenn ein Wort zu hart oder etwa unzutreffend gewählt wurde. Ein Blatt Papier nimmt uns alle einfach an, so wie wir sind. Und somit können Verletzungen, Kränkungen, Wut, Angst, Traurigkeit, Eifersucht, Neid und vieles mehr, endlich einmal voll-
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BEZIEHUNG ZUR FAMILIE
Ein Mensch, der liest oder schreibt ist wunderschön
SchreibRÄUME-Redakteurin Michaela Muschitz hat die Autorin Vivien Catharina Altenau zu ihrem Buch Sturmwolkenblau interviewt und mir ihr über ihre Beziehung zum Schreiben gesprochen.
Michaela: Im Prolog deines Buches Sturmwolkenblau gibt es die Stelle „denn nur das Schreiben ist heilsam“. Inwieweit war das Schreiben dieses Buches für dich heilsam und welche Erkenntnisse hast du für dich aus diesem Buch gewonnen?
Vivien: Schreiben bedeutet, sich hinzusetzen und sich für eine gewisse Zeit mit den eigenen Gedanken zu beschäftigen. Und in dem Moment, in dem das erste Wort geschrieben ist, eröffnet sich ein Möglichkeitsraum. Für mich ist das wie ein intensives Gespräch: Wir alle kennen es doch, wie befreiend es sein kann, einfach mal zu erzählen, sich den Ballast von der Seele zu quatschen oder auch schöne Dinge zu rekapitulieren, sodass der Glücksaugenblick für
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ebendiese Zeit zurückkehrt. Hinzu kommt, dass sich meine Geschichte zwar an meinen Lebenserlebnissen entlang schlängelt, jedoch keine Autobiografie, sondern eine Fiktion ist. Und genau das macht für mich das Heilsame und Schöne des Schreibens aus, die Freiheit zu haben, über die Literatur alles Erzählte so nah oder so weit wegzurücken, wie ich möchte, zu gestalten und mich neu auszuprobieren. Du hast in dem Buch also autobiografische Elemente fiktionalisiert?
Ja ich habe sie gestärkt oder abgeschwächt, je nachdem, was mir gerade wichtig war. Erinnerungen machen etwas mit uns. Sie wandeln sich mit der Zeit, je nachdem worauf
EIN MENSCH, DER LIEST ODER SCHREIBT IST WUNDERSCHÖN
wir uns fokussieren: So kann ich Kleinigkeiten ganz groß werden lassen und Fakten aussparen. So entsteht für den Lesenden eine andere Realität, keine Unwahrheit. Inwieweit hast du das Gefühl, dass sich für dich Erinnerungsstücke im Nachhinein verändert haben, weil du darüber geschrieben hast?
muss. Selbstsein und sich in allen Facetten gesehen fühlen, das ist für mich das Prinzip von Zuhause. Inwieweit hast du auch gerade bei diesem Buch für dich experimentiert? Indem du deine Autobiografie fiktionalisiert hast, gibt es mehrere Versionen dieses Buches oder mehrere Möglichkeiten wie der Handlungsstrang hätte weitergehen können.
Das weiße Blatt Papier befragt mich und mein Stift antwortet, so fühlt es sich an, wenn ich mich hinsetze, um zu schrei- Ich habe immer wieder Fetzen geschrieben. Und trotzdem ist da dieser – nennen ben, als mir noch überhaupt nicht klar war, wir es Flow – als ob die Gedanken fliedass sich daraus ein Buch ßend in den Text wandern. „Woran entspinnen würde. möchte ich mich erinnern?“, diese Es waren GeEntscheidung wird mir abgedanken, Punknommen, da ich einfach bete, zwischen DAS WEISSE BLATT obachten kann, was passiert denen eine Verbindung und mich schon oft selbst PAPIER BEFRAGT geschafüberrascht habe. Mit diesem, vielleicht neuen, Fokus f e n w e rMICH UND MEIN STIFT ändert sich natürlich nicht den musste, ANTWORTET mein Werdegang, aber die wenn daraus Bewertung der Geschehnisse. eine verständUnd genau das macht einen rieliche Handlung sigen Unterschied. entstehen soll. Natürlich war ich Im Buch kommt immer wieder die Überschrift absolut frei, diese auf zig Schreib mich nach Hause vor. Inwieweit be- verschiedene Weisen zu gestalten. Dennoch schreibt das deine Beziehung zum Schreiben? bin ich mir sicher, dass es keinen anderen Wie wichtig ist schreiben für dich als Zuhause Weg für mich gegeben hätte. Im Moment und Heimat? des Schreibens schien mir einfach alles total klar. Ich bin natürlich noch ein paar Mal in Die Frage nach einem Zuhause war für die Überarbeitung gegangen, um zu überlemich immer ein großes Thema. Ich glau- gen: Ist das alles für einen Außenstehenden be zuerst habe ich Geborgenheit im Lesen nachvollziehbar oder muss ich noch Details gefunden. Aber erst im Schreiben, fand erwähnen, die von mir als Selbstverständich einen Zufluchtsort, der auch ein Mög- lichkeit übersehen wurden. lichkeitsraum ist. Hier ruhe ich in mir und gleichzeitig bin ich überall – habe die totale Du hast ja auch als Buchhändlerin gearbeitet? Gestaltungshoheit. Mein Text ist ein Ort, den mir niemand wegnehmen kann und Ja, ich hatte nach meinem Uniabschluss das wo ich vollkommen ich sein darf, kann und Bedürfnis, Literatur noch einmal von einer
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