
8 minute read
BULLEVARD DER HELDEN
COCO CHANEL DIE ERFINDUNG DES „KLEINEN SCHWARZEN“
Serie: MICHAEL KÖHLMEIER erzählt die außergewöhnlichen Geschichten inspirierender Figuren – faktentreu, aber mit literarischer Freiheit. Folge 1: Wie sich ein Mädchen aus dem Waisenhaus zur Modekönigin adelte.
Trotz der gewaltigen Revolution – anderes behauptete, nicht nur als Lügnemanche sagen, gerade deswegen rin dastehen und als eine, die ihren Vater – blieben die Klassenunterschiede und ihre Mutter verleugnete, sie hätte in in Frankreich länger bestehen als Zukunft auch mit mächtigen Feinden zu in manchen anderen europäischen rechnen. Auf den Boulevard wollte und Ländern, vielleicht nicht offziell, dafür konnte sie nicht verzichten. Also wählte sie aber im täglichen gesellschaftlichen Um- die Legende. gang der Menschen miteinander. Noch bis MICHAEL KÖHLMEIER Wenn der Name Coco Chanel fällt, woran in die Mitte des 20. Jahrhunderts genügte Der österreichische denken Sie? An zwei Dinge: zweitens an es nicht, wenn allein Leistung einer ade- Bestsellerautor gilt das Parfum Chanel Nº5 – erstens aber an ligen Herkunft entgegengehalten wurde. als Größe unter den das „kleine Schwarze“. Jede Frau weiß, Jedenfalls nicht, wenn man zur Spitze der Gesellschaft gehören wollte. Gegen den deutschsprachigen Erzählern. Zuletzt erschienen: was gemeint ist. Es gehört zu den größten Erfndungen der Modebranche – la petite Adel, der seine Abstammung bis auf viele „Die Märchen“, robe noire. Dieses schlichte Kleid ist mehr Generationen ausleuchtete, half nur die Verlag Carl Hanser. als ein Stück Stoff, es ist ein Begriff, ein Legende, die um die Vergangenheit den Begriff, der sich von seiner Erfnderin Nebel des Gerüchts hauchte. Auf die Nebelschwaden emanzipiert hat. Ich kann mir denken, es gibt junge ließ sich alles Mögliche projizieren – tatsächlich alles Frauen, die beides kennen, Coco Chanel und das Mögliche. Wer es schaffte, sich zu einer Legende zu Kleid, aber nicht wissen, dass Erstere die Erfnderin stilisieren, der hatte es geschafft, der verkehrte in der von Letzterem ist. In Amerika heißt es little black dress gleichen Liga wie ein Marquis oder eine Marquise. und wird als LBD abgekürzt. Das kleine Schwarze
Gabrielle Chasnel alias Coco Chanel (1883–1971) wurde „die Uniform für alle Frauen mit Geschmack“ hatte das sehr früh begriffen. Sie stammte nicht genannt. Jede Frau, die etwas auf sich hält, so habe aus armen Verhältnissen, nein, aus elenden. Wo ich erst kürzlich gelesen, hat eines in ihrem Schrank sie als Kind lebte, dort wurde gehungert und gefroren. hängen, auch heute. Die Mutter starb, da war sie zwölf. Ihr Vater, ein Hausierer, steckte sie und ihre Schwester ins Waisenhaus. Dort lernte sie nähen. Die Nonnen meinten, dieses Handwerk biete zumindest eine geringe Chance, W enn es Coco Chanel schon nicht gelingen konnte, um ihre Herkunft eine Legende zu spinnen, dann sollte wenigstens ihre größte dass sich ein Mädchen wie sie später wenigstens einen Erfndung legendären Ursprungs sein. Irgendwann geringen Lebensunterhalt verdiente. Später schämte merkte sie ironisch an, bei hundert Interviews werde sich der Mode-Superstar Coco Chanel für ihre Kind- sie neunundneunzigmal gefragt, wie sie auf die Idee heit, lange versuchte sie, ihre Biografe zu verbergen zu dem kleinen Schwarzen gekommen sei. Am Anfang oder zu beschönigen. Aber die Neugierpresse hatte wollte sie sich gebildet geben und sagte, die Lektüre längst alles herausgefunden, und Coco war durch und von Tolstois Anna Karenina habe sie darauf gebracht. durch Realistin, sie wusste, sie würde im Wettstreit Bald merkte sie, das machte sich in der Welt der Mode um die Deutung ihres Lebens gegen die eifrigen und nicht gut. Welche Frau wollte sich schon kleiden wie eifernden Reporter unterliegen; sie würde, wenn sie eine russische Romanfgur aus dem 19. Jahrhundert?
Das 20. Jahrhundert würde das Jahrhundert Amerikas werden. Aus Amerika kam der Jazz, aus Amerika kam das Geld, aus Amerika kam der inbrünstige Glaube, jeder Mensch könne es vom Tellerwäscher zum Millionär schaffen. Diese moderne Interpretation des Werdegangs eines klassischen Genies war inspirierend. Daraus ließ sich eine brauchbare, das Geschäft befügelnde Legende bauen – und nicht nur eine…
Hier nun drei Legenden, wie Coco Chanel auf die Idee mit dem kleinen Schwarzen gekommen war. I m Waisenhaus bekam die kleine Gabrielle von einer der Nonnen zu Weihnachten die Märchen von Charles Perrault geschenkt. Eine der bekanntesten Geschichten in der Sammlung ist Cendrillon ou la Petite Pantoufle de verre. Wir fnden dieses Märchen auch bei den Brüdern Grimm, dort heißt es Aschenputtel. Es ist die rührende Mär von dem armen Mädchen, das von seiner Stiefmutter gedemütigt wird und hinter dem Ofen in der Asche sitzt, während ihre Halbschwestern auf dem glänzenden Ball des Prinzen
tanzen. Sie habe, erzählte Coco, ihrer älteren Schwester und den anderen Mädchen im Waisenhaus dieses Märchen erzählt, immer wieder, und habe es dabei ordentlich ausgeschmückt. Als Aschenputtel endlich in den Palast eingeladen wurde, habe sie kein passendes Kleid gehabt, alles, was sie besaß, waren die Fetzen, die ihr die Stiefmutter hingeworfen hatte, und die waren obendrein schwarz von Ruß und Asche. Da habe das arme Mädchen Nadel und Faden genommen und aus den Fetzen ein Kleid genäht. Für ein Ballkleid mit Schleppe und langen Ärmeln und Rüschen und Fältchen habe der Stoff nicht gereicht, nur ein schlichtes Kleid sei sich ausgegangen – das kleine Schwarze.
Diese Version erzeugte Rührung und speiste den Hunger nach Kitsch, war aber um einen Dreh zu harmlos. Es gab Frauen und Männer, die wollten es so haben, und die sollten es auch so kriegen. Die Harmlosen allerdings gehörten nicht zur ersten Kundschaft, das kleine Schwarze war zwar schlicht, aber es betonte die Erotik, die ein Kleidungsstück ausstrahlen kann, auf eine Art, wie sie den anspruchsvollen Damen bisher nicht vor Augen geführt worden war. Einer Legende, das begriff Coco Chanel instinktiv, muss eine Gegenlegende Kontra bieten, das bringt Dynamik in die Sache, Streit, und Streit ist gut, denn er zwingt dazu, Partei zu ergreifen, und wer Partei ergreift, macht eine Sache zu seiner eigenen Sache und kämpft dafür.
Die zweite Geschichte war nicht harmlos, sie ließ Skandalöses ahnen. Darum hat Coco diese Legende nie selbst erzählt, aber sie hat gezielt Gerüchte gezündet.
Im Waisenhaus des Klosters Obazine erlernte Gabrielle das Handwerk der Näherin. Dazu angeleitet wurde sie von einer jungen Nonne, die unterschied sich von den anderen Schwestern durch ihre Schönheit und Sanftmut. Diese Frau – die in den Gerüchten einmal Michelle, dann Manon, dann Louise hieß – verliebte sich in Gabrielle und zog sie allen anderen Mädchen vor. Auch Gabrielle verliebte sich, aber ihre Gefühle waren andere als die der jungen Ordensfrau, sie genoss das Lob, sie genoss, wenn ihr über die Haare gestrichen wurde, sie genoss es, wenn sie Süßigkeiten geschenkt bekam. Michelle aber – nennen wir sie so – begehrte die erst Vierzehnjährige, und ihre Leidenschaft war umso heftiger und schmerzlicher, als sie diese Regungen bis dahin nicht in sich gespürt hatte. Sie war als Kind ins Kloster gesteckt worden, weil sich ihre Eltern getrennt und die Ehebrüche, die sie begangen hatten, wiedergutmachen wollten, indem sie ihre Tochter dem Himmel schenkten. Mit sechzehn war sie geweiht worden, nun war sie zwanzig. Wenn in ihrem bisherigen Leben von Liebe gesprochen worden war, dann von der Liebe zum Herrn Jesus Christ. Aber den gab es nicht. Oder gab es nicht mehr. Oder hatte es nie gegeben. Man konnte ihn nicht berühren, und wenn man ihn berührte, berührte man den kalten Stein einer Statue. Wie konnte sich ein Mensch, der alle Sinne beisammenhatte, in die Figur einer bloßen Erzählung verlieben? Als die junge Nonne Gabrielle begegnete, fiel alle Jenseitigkeit von ihr ab; alle Sehnsucht nach dem Gottessohn kam ihr lächerlich vor, wenn sie das ebenso zarte wie herbe Gesicht des Mädchens sah. Sie wollte nicht mehr Nonne sein. Sie wollte Liebe, richtige Liebe. Als die beiden eines Tages allein waren – so die Legende –, habe Michelle ihre Tracht ausgezogen und sie von sich geworfen. Im Unterrock sei sie vor Gabrielle gestanden – und dieser Unterrock war klein und schwarz.
Coco, dies beschworen ihre Freunde, habe nichts weiter zu dieser Legende beigetragen, als dass sie in einem der vielen Interviews sagte, das kleine Schwarze erinnere sie an eine Frau im Unterrock, die sie irgendwann als Kind im katholischen Waisenhaus gesehen habe. Die hundert Münder des Gerüchts machten daraus die Geschichte einer verzweifelten Liebe. Gut fürs Geschäft. Dementiert hat Coco Chanel die Erzählung übrigens nie, bestätigt aber auch nicht. Die dritte Legende bildet eine Synthese von erster und zweiter. Sie ist harmlos und fromm, zugleich aber auch lasziv, in prüden Kreisen wurde sie sogar als gotteslästerlich verurteilt.
Es heißt: In der Karwoche seien die Zöglinge des Waisenhauses angewiesen worden, die Verhüllungstücher für die Kirche zu nähen. Es ist ja bis heute üblich, dass am Karfreitag und am Karsamstag die Kreuze und die Bilder um den Altar verhängt werden – und zwar mit violettem Stoff. Aus Versehen sei eine überzählige Bahn schwarz geliefert worden. Die habe Gabrielle versteckt. Sie war damals ein pubertierendes Mädchen, neugierig auf Abenteuer, sie habe sich gemeinsam mit anderen aus dem Waisenhaus heimlich mit Buben aus der Umgebung getroffen. Man habe sich im Dorf zu einem Ostertanzabend verabredet. Alle anderen hatten sogenannte gute Kleidung, nämlich solche, die man am Sonntag anzog. Gabrielle war die Ärmste der Armen, sie besaß nur eine Garnitur, und die war schäbig. Um sich für den Tanz schön zu machen, habe sie sich aus dem überschüssigen Stoff ein Kleid genäht. Und weil erstens nur wenig Stoff übrig war, zweitens sie noch nicht gut genug nähen konnte, sie also auf jeglichen Zierrat verzichten musste, sei eben nur ein knappes, schlichtes Kleid daraus geworden – das kleine Schwarze.
Wie auch immer die Wahrheit lauten mag: Das kleine Schwarze wurde zur Legende. Und dieses hübsche Ding hat sich nicht nur von seiner Erfnderin emanzipiert, sondern auch von den Geschichten und Gerüchten, die sich um seine Entstehung ranken – wie die Rosen um das Schloss von Dornröschen, einer fernen Verwandten von Aschenputtel.
Zu einer Legende, das begriff Coco Chanel, muss es eine Gegenlegende geben.
Energetic by nature. Your Energy Bikes.
fazua.com
