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All-Tag auf der Erde
Seit ihrer Jugend träumt Eleonore Poli davon, ins All zu fliegen. Als analoge Astronautin trainiert die 28-jährige Lausannerin in simulierten Missionen, Körper und Geist von der Erde abzuheben.
Eleonore Poli treibt auf einem See zwischen Eisblöcken. Schwerelos, fast wie im Weltraum. Sie trägt einen Ganzkörperanzug, nur ihr Gesicht ist unbedeckt. In den französischen Alpen zählen im Februar 2020: Fokus, Vorsicht, Zusammenhalt. Sie übt Eistauchen. Übersteht Schneestürme. Baut für das Nachtlager ein Iglu. Die extremen Bedingungen sollen sie auf noch extremere vorbereiten. Auf den Weltraum, wo es keinen Sauerstoff gibt und Temperaturen von minus 270 Grad herrschen.
«Ich habe es geliebt! Alle Sinne sind geschärft, wenn es um das Überleben geht», sagt Eleonore Poli, 28, vier Jahre später in ihrem Wohnzimmer in Lausanne. Nach einer Knie-OP muss sie die Beine hochlagern. Zu Hause festzusitzen ist für sie eine Qual. Ihre Tage sind sonst voll mit Materialforschung, Ironman-Trainingseinheiten und analogen Mond- und Marsmissionen, auf denen sie künftige Weltraumeinsätze für die Wissenschaft simuliert. Die fehlende Bewegung kompensiert sie mit ungebremstem Erzählen, besticht mit entwaffnender Ehrlichkeit und erfrischendem Humor.
Willst du Astronautin werden?
Es begann mit einem Job-Inserat der EPF Lausanne auf Facebook: «Willst du Astronautin werden?» Eleonore, damals Doktorandin für Materialforschung in Cambridge, schickt sofort ihre Bewerbung ab. Dann erfährt sie: Zum Mond geht es noch nicht. «Asclepios I» ist eine simulierte Mission für Studierende. Doch wie bei echten Missionen sind kognitive Fähigkeiten, Ausdauer und Resilienz gefordert. Ein Psychologe fragt sie im Bewerbungsgespräch: Was war Ihr gefährlichstes Erlebnis? Wie haben Sie reagiert?
Eleonore erzählt von einem Tag am Vierwaldstättersee, sie war 21 und musste mit ihrem damaligen GleitschirmLehrer notlanden. Sie blieb ruhig, überlegte sogar, ihre Eltern zum Abschied anzurufen. Bei der Notlandung verfingen sie sich in einem Telefonmast, stürzten nur wenige Meter ab. Ein Selfe-Stick an der Ausrüstung hielt den Sturz fest: Auf dem Bild lacht sich Poli kaputt. Ihr lakonischer Kommentar: «Mit Humor überlebt man. Wer panisch wird, ist nicht handlungsfähig.»
Diese Resilienz und ihr nüchterner Pragmatismus überzeugen auch Claude Nicollier. Der erste und bisher einzige Schweizer, der ins All fog. Das Team ernennt Poli zur Kommandantin der «Asclepios I»Mission, deren Teilnehmende nach dem Basistraining in den französischen Alpen, diversen Kursen in Kommunikation und mentaler Gesundheit sowie überstandener CovidPandemie in die simulierte Raumfahrt eintreten.
Im Juli 2021 ziehen sechs analoge Astronautinnen und Astronauten für neun Tage ins Nagra-Felslabor im Grimselgebiet. Das Ziel: Missionen auf dem Mond simulieren, um die künftige Erkundung des Weltraums zu ermöglichen. Das Labor liegt 450 Meter unter der Erde, mit Tunneln auf mehreren Ebenen und einer Temperatur von 13 Grad Celsius. Kein Tageslicht, keine Frischluftzufuhr. Es gibt eine Küche und eine Nische für Sporttraining. Es gibt Stockbetten und chemische Toiletten, zur Körperhygiene liegen Trockenshampoo und Feuchttücher bereit.
Simulation unter dem Grimsel
Der Tagesplan entspricht jenem bei einer Raumfahrt. Tagwache um halb sieben, zuerst müssen alle einen Fragebogen zum psychischen Wohlbefinden ausfüllen. Frühstück um sieben. Die veganen Rezepte stammen von einer Ernährungswissenschaftlerin, die Zutaten aus der Konserve. Nach zehn Minuten Frühstück gibt das Mission Control Center, das in einem nahe gelegenen Ort stationiert ist, per Funk den Arbeitsplan durch. Meist stehen chemische Experimente an, die Crew filtert etwa Salze aus simuliertem Marsboden und misst deren pHWerte. Sie muss alles protokollieren, das Mission Control Center per Funk über jeden Schritt informieren.
Während der Mission trainiert Poli wie gewohnt täglich. Im Tunnel gibt es ein Rudergerät, Gewichte, Springseile. Muskel und Ausdauertraining sind existenziell für angehende Astronauten. Existenziell deshalb, weil der Mensch im Weltraum aufgrund der fehlenden Schwerkraft Muskelmasse abbaut. Die Astronautinnen verlassen ihre unterirdische Basis in diesen neun Tagen nur zwei Mal, in schweren Raumanzügen, um das Gelände unter Anweisungen über Funk zu erkunden.
Die Arbeitstage sind 14 Stunden lang, auch das entspricht den tatsächlichen Bedingungen einer Raumfahrt. Als Kommandantin hat Eleonore Poli allerdings noch zusätzliche Aufgaben. Sie muss Abläufe optimieren, Fehler eruieren, den Zusammenhalt des Teams stärken, motivieren. Das alles begeistert sie. Sie ist überzeugt, mit «Asclepios I» den ersten Schritt für ihren Weg ins All zu machen.
Ein Kind greift nach den Sternen
Eleonore Poli wird 1995 in Lausanne geboren, verbringt ihre Kindheit in Yverdon und Lausanne. Mit acht zeichnet sie einen Roboter. Er soll die Menschen vor dem Verdursten bewahren. Es ist der Jahrhundertsommer 2003, mit Hitzetoten in der Schweiz. Als Teenagerin besucht Eleonore Poli regelmässig Flugshows. Träumt davon, Militärpilotin und auch Flugzeugingenieurin zu werden. Ihre Maturaarbeit ist eine Bauanleitung für Flugzeuge, die sie dann in Lederjacke mit Fellkragen und Flugmütze präsentiert. Während ihres Studiums der Materialwissenschaften an der EPF Lausanne besucht sie jeden Vortrag über das Fliegen, die Astronomie und die Raumfahrt.
Besonders prägt sie ein Vortrag von Marc Toussaint, Ingenieur für Raketen bei der Europäischen Weltraumorganisation (ESA). In einem abgedunkelten Hörsaal projiziert Toussaint eine startende Rakete auf die Leinwand, während aus den Lautsprechern ein ohrenbetäubender Knall dröhnt. «Es war, als stünden wir neben der Rakete! In meinem Bauch kribbelte es. Mir war klar: Ich will ins All fliegen!»
Als sie mit dem Bachelorabschluss kämpft, liest sie «Endurance», die Biografie des amerikanischen Astronauten Scott Kelly, der mehrmaligem Scheitern zum Trotz doch noch ein erfolgreicher Astronaut wird. Das treibt Poli an, ihren Traum als Astronautin zu verfolgen, mit dem Leitgedanken: «Wer nie scheitert, wagt auch nicht, nach Unmöglichem wie einer Raumfahrt zu streben.»
Mit dieser Einstellung setzt Poli ihr Studium in Materialwissenschaften an der ZHAW fort, bewirbt sich nach ihrem Abschluss 2017 – «nur aus Jux» – für ein Masterprogramm in Cambridge. Eleonore wird tatsächlich angenommen und bekommt noch dazu eine bezahlte Doktoratsstelle angeboten. Cambridge taugt Eleonore Poli, denn hier fällt sie nicht mehr so auf. Hier gilt sie nicht als Nerd, weil sie sich mit Raumfahrt befasst oder für den Ironman trainiert. «In Cambridge findet man Leute, die um vier in der Früh joggen, um sechs im Labor arbeiten und sich am Mittag betrinken – ohne als seltsam zu gelten.»
Die Materialwissenschaft begeistert Poli genauso wie die Raumfahrt. Für sie gehört der Forschergeist zum Berufsbild der Astronautin. Materialien im Weltraum zu untersuchen «ist die Verschmelzung meiner zwei Professionen». Man kann gar von Berufungen sprechen.
Derzeit forscht Poli in Neuchâtel am Centre Suisse d’Électronique et de Microtechnique (CSEM) im Bereich 3D-Druck von Metallen. Ihre freien Minuten sind durchgetaktet mit Sport- und Analog-Missionen. Sie unterrichtet, berät und organisiert. Seit ihrer ersten Mission «Asclepios I» hat sich Poli ein grosses Netzwerk aufgebaut, gründete 2022 auch ihre Organisation CHASM, sodass sich analoge Missionen weltweit bei Konferenzen vernetzen und Wissen austauschen können.
Mond oder Mars?
Demnächst bricht Eleonore Poli zu einer simulierten Mars-Mission in Armenien auf. Dort werden sie und ihr Team dafür sorgen, dass die 45 Kilogramm schweren Raumanzüge der Analog-Astronauten technisch einwandfrei funktionieren. Sie werden laufend Daten wie Herzfrequenz, Körpertemperatur oder Sauerstofgehalt der Astronauten über technische Verbindungen kontrollieren, um ihre Sicherheit zu gewährleisten und bei Notfällen einzugreifen.
In Eleonore Polis Wohnzimmer hängt ein Poster vom Mars in rötlicher Farbe, daneben eines vom Mond in blaugrünen Tönen. Wie steht sie zu den beiden? «Ich muss nicht die erste Frau auf dem Mars sein», sagt sie, und das aus gutem Grund. Ein Flug zum Mars dauere mit heutiger Technik rund neun Monate, die Wahrscheinlichkeit, unterwegs zu sterben, sei relativ gross. Es brauche noch mehr Forschung mit Robotern, noch mehr Daten, bevor man zum Mars fliegen könne, ist Poli überzeugt. Für sie ergibt eine Marsmission erst dann Sinn, wenn man überhaupt weiss, was man dort erforschen will: «Beim Mars sind wir noch nicht so weit.»
Dementsprechend skeptisch betrachtet sie Elon Musks Vision, dass in rund 25 Jahren bereits Millionen Menschen auf dem Mars leben könnten. «Das ist wissenschaftlich nicht durchdacht», meint Poli. «Bei der Raumfahrt geht es nicht um Adrenalin.» Wer einen Adrenalin-Kick brauche, gehe besser Bungeespringen.
Doch schätzt sie an SpaceX-Chef Musk, dass sich durch seine mitunter etwas grössenwahnsinnigen Vorstellungen die Forschung rund um den Mars deutlich verstärkt hat. Teil dieser Erkundung sind ebenfalls Simulationen, wie Poli sie trainiert – und die letztlich die Voraussetzungen schaffen, um eines Tages tatsächlich zum Mars reisen zu können: «Analoge Missionen sind Übungen im Scheitern. Wir müssen auf der Erde scheitern, um im Weltraum zu bestehen.»
Zum Mond will Poli jedoch auf jeden Fall einmal fliegen. «Die Reise dauert nur ein paar Tage, das Terrain ist erforscht.» Das sagt sie mit einer Nonchalance, als sei es eine Zugfahrt in ein Nachbarland. Doch die Auswahlverfahren der NASA oder der ESA sind hart. «Es ist, als rekrutierten sie Agenten», sagt Poli. Nur wenige unter zehntausenden Bewerbern werden Teil des Astronautenkorps – und dann vielleicht irgendwann mit einer Mission beauftragt. Entscheidend dafür ist auch, wie aktiv sich das Land, dessen Staatsbürgerschaft man innehält, in der Raumfahrt engagiert. «Die Schweiz tut das nicht – noch nicht.» Grössere Chancen, die erste Schweizerin im Weltraum zu werden, sieht sie deshalb mit einem privaten Raumfahrtunternehmen.
Aktuell bereitet Eleonore Poli sich auf eine Expedition in der Arktis vor. Mit dem französischen Polarforscher Alban Michon arbeitet sie an dem Habitat «Biodysseus». Sechs Monate wollen sie auf dieser Forschungsstation unter dem arktischen Eis verbringen, die Zersetzung von Flora und Fauna angesichts der Klimakrise untersuchen. Noch stecken sie in der Planung, beantragen Fördergelder, stellen ein Team zusammen. «Biodysseus» vereint, was Eleonore Poli ausmacht: Naturwissenschaft, Forschung unter extremen Bedingungen, simulierte Raumfahrt, körperliche Ausdauer, Resilienz und Teamarbeit. Es sind genau diese Grenzerfahrungen, die Eleonore Poli beflügeln – und eines Tages vielleicht in den Weltraum tragen.
Eleonore Poli auf Instagram: @hepoli