DA S M AG A Z I N
METROPOL
REGION
STUTTGART
NR
01
° AUS DER
REGION AUF DEN WELTMARKT
° BESENWIRTE
UND STERNEKÖCHE
° VON PFERDEN
UND STÄRKEN
1 WIRTSCHAFT, FORSCHUNG, KULTUR UND LEBEN IM SÜDWESTEN
IMPRESSUM Metropolregion Stuttgart. Das Magazin Herausgeber: Dr. Ulrich Bausch. Zeitenspiegel Reportageschule Günter Dahl der vhs-Reutlingen GmbH Chefredaktion: Philipp Maußhardt Textchef: Philipp Maußhardt Chef vom Dienst: Mathias Becker, Markus Wanzeck Bildredaktion: Barbara Bylek, Helge Rösch Autoren: Felix Austen, Mathias Becker, Dominik Drutschmann, Agnes Fazekas, Holger Fröhlich, Esther Göbel, Anna Hunger, Anton Hunger, Johan Kornder, Nicola Meier, Anne Meyer, Sara Mously, Lena Müssigmann, Kety Quadrino, Dagny Riegel, Katharina Schönwitz, Julius Schophoff, Markus Wanzeck Fotografen: Thomas Kienzle, Manfred Grohe, Heinz Heiss, Rainer Kwiotek, Uli Reinhardt, Christoph Schmidt, Frank Schultze, Eric Vazzoler, Antonia Zennaro Titelfoto: Thomas Kienzle Illustration: Sepp Buchegger Schlussredaktion: Frank Brunner, Jan Rübel, Erdmann Wingert Lektorat: Jana Vatnika
Foto: Christoph Püschner
DA S M AG A Z I N
Liebe Leserinnen und Leser, wussten Sie, dass Stuttgart die zweitgrößten Mineralwas-
fern, die häufig auf „ingen“ enden. In der kulturelle Viel-
servorkommen Europas hat? (Nur in Budapest gibt es mehr.)
falt aber ebenso gepflegt wird wie manch lokale Tradition.
Dass im Ostalbkreis und im Hohenlohekreis zahlreiche Welt-
Um den Lebensnerv dieser Region zu erspüren, haben sich
marktführer zu Hause sind? Dass das Schwarzwaldstädt-
Absolventen der Zeitenspiegel-Reportageschule Reutlingen
chen Calw für seine vorbildliche Integration von Migranten
auf die Suche nach Geschichten gemacht, die zeigen, dass
ausgezeichnet wurde? Dass Biotechnologie aus Tübingen
wirtschaftlicher Erfolg und ein lebenswertes Umfeld keine
die Krebstherapie entscheidend verändern wird? Oder, dass
Gegensätze sein müssen. Dass sie vielmehr einander bedin-
man hoch oben auf der Schwäbischen Alb eines der außer-
gen. Vielleicht liegt genau darin das Geheimnis des Erfolgs
gewöhnlichsten Theater Deutschlands findet?
der Metropolregion Stuttgart, einer der erfolgreichsten
Die europäische Metropolregion Stuttgart ist für viele Über-
Wachstumsregionen Deutschlands.
raschungen gut. Was daran liegen könnte, dass Weltläufig-
Das Ergebnis der Arbeit der jungen Journalisten halten Sie
keit und Verwurzelung hier keine Gegensätze sind: Viele
in der Hand: das Magazin der Metropolregion Stuttgart.
der rund 5,2 Millionen Menschen zwischen Heilbronn im Norden und Freudenstadt im Süden, zwischen Calw im Wes-
Viel Spaß beim Lesen wünscht
ten und Aalen im Osten, arbeiten für Firmen, die auf dem Weltmarkt führend sind. „Daheim“ fühlen sie sich in einer
Ihr
Welt, die überschaubar scheint, mit ihren Städten und Dör-
Philipp Maußhardt
3
Inhalt S 32 Editorial
S 03
Kleinteiliges
S 06
Impressum
S 02
Wirtschaft Wir können alles. Auch bio Pioniere der Biolandwirtschaft
S 18
Powered by Voith Von der Schwäbischen Alb in die ganze Welt
Fotoessays
S 40
Die Hidden-Champions-League Weltmarktführer aus der Metropolregion
S 42
Frank Schultze Stuttgart leuchtet
S 08
Die Weltverbesserer Eine Erfolgsgeschichte namens Weleda
S 46
Manfred Grohe Gar nicht abgehoben
S 32
Wo der Kunde König ist Shopping in Metzingen
S 74
Eric Vazzoler Der Hingucker
S 66
Die neue Form von Unabhängigkeit Interview mit Autoentwickler Jürgen Schenk
S 79
Von Pferden und Stärken Wirtschaftsfaktor Vierbeiner
S 83
Kein Hügel ohne Weinstock Winzerkultur im Südwesten
S 86
Die Supertrolli-Macher Das Weingut Rux
S 88
Von Löwenstein in die Welt Das Weingut Zipf
S 90
Wissenschaft und Technik
Kultur
Happy End in Ludwigsburg
Die wollen doch nur spielen Das Theater Lindenhof in Mössingen
S 28
Trickfilmstudenten erobern die Studios
S 16
Aus dem Labor auf den Markt
Stuttgart 21 v. Chr.
Biotechnologie in der Metropolregion
Die Baustelle der ICE-Trasse Stuttgart-Ulm wird zum Ausgrabungsort
S 16
S 22
S 48 Der Superrechner
Multikulti in Calw Fachwerkidylle mit internationalem Flair
Das Höchstleistungsrechenzentrum S 52
der Universität Stuttgart
Ein Stern für Stuttgart
Wandel auf leisen Sohlen
Nico Burkhardt lässt Gourmetherzen höher schlagen S 56
Göppingens Weg Richtung E-Mobilität
S 24
S 77
Baden in Schwaben Von Frühschwimmen bis Wellnesstempel: Ein Tag im Wasser
S 60
Service
Die Stadt der Ehrenbürger Nürtinger Bürger engagieren sich für ihre Stadt
S 80
Bürger im Einsatz Drei Ehrenamtliche im Porträt
Die hohe Schule – Bildung und Forschung
S 26
Urmenschen und Fossilien – Museumstipps
S 51
S 82 Von Besen und Sternen – Gastronomische Highlights S 58
So sehen Sieger aus Gold und andere Schätze – Einkaufsparadiese
Von Weißenhofturnier bis TSG Reutlingen: Sport verbindet
S 92
S 76
Foto: Manfred Grohe, Antonia Zennaro, Thomas Kienzle
S 60
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
DIE METROPOLREGION
STUTTGART umfasst die Regionen
6
DA S M AG A Z I N
Sie hat eine Fläche von
15.400 KM² mit
5,2
Die Unternehmen am Standort erwirtschaften mit
2,1
Millionen Arbeitskräften
MILLIONEN
über
194
Einwohnern (Stand 2013)
Es gibt
31
Milliarden Euro
Hochschulen mit
131.000
(Stand 2011)
(Stand WS 2012/2013)
7
Quelle: Verband Region Stuttgart
Studierenden
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
88
DA S M AG A Z I N
Stuttgart leuchtet Fotos: Frank Schultze
Fotoessay _ Der Fotograf Frank Schultze kennt die Welt. Seine Reportagen aus Asien, Afrika, Südamerika und Osteuropa erschienen in Magazinen wie Geo, Stern und Mare. Stuttgart dagegen war Neuland für ihn. Mit frischem Blick spürte der gebürtige Dortmunder viele pittoreske Aspekte der schwäbischen Landeshauptstadt auf, im und um den Kessel herum. Und er genoss sie. Lakonisches Fazit des Mannes aus dem Ruhrpott: „Lässt sich aushalten hier."
Abendstimmung auf der Karlshöhe. Bei Weizenbier und Trollinger wandert der Blick über Weinberge ins Tal, in dem ein heißer Tag verglüht.
99
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
Wunderwelt Wilhelma Für klein und groß bietet der berühmte Tierpark mitten in der Stadt immer wieder Begegnungen der besonderen Art
1010
DA S M AG A Z I N
1111
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
1212
DA S M AG A Z I N
Mythos Mercedes Auf einer Trasse, die sich spiralförmig durch das gesamte Gebäude windet, präsentiert das Museum 160 Wagen aus 125 Jahren Autobau. Treffpunkt Schlossgarten. Vier Kilometer lang dehnt sich die grüne Lunge in der City aus, ein Ort zum Durchatmen und Spielen. Die Arktis lässt grüßen. Eisbären sind eine von vielen Attraktionen der Wilhelma, in der die Tiere in einer natürlichen Felsenlandschaft leben.
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
Melodram in luftiger Höhe Das Openair-Festival auf der Esslinger Burg zieht jeden Sommer Tausende Besucher an. Im Angesicht der Antike. Die Skulpturenterrasse der Staatsgalerie ist ein inspirierender Ort – und das nicht nur für Kunstschüler. Gruppenbild mit Wasserspiel. Rund 600 Jahre alt ist der Schlossgarten im Herzen der Stadt. Beliebter Treffpunkt der Jugend sind seine Brunnen.
DA S M AG A Z I N
1515
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
Happy End in Ludwigsburg Portrait _ Spezialeffekte und Animationen sind aus der Medienwelt nicht mehr wegzudenken. Im Animationsinstitut der Filmakademie Ludwigsburg lernen die Profis von morgen Handwerk und Teamwork – und haben gute Chancen, ihre künftigen Arbeitgeber zu treffen Manchmal sind digitale Effekte eben Handarbeit: Für ihre Instal lation „Deep Dance“ fertigt Anna Katharina Brinkschulte, Studentin
D
am Animationsinstitut, eine hauchdünne Leinwand. Jeder Luftzug lässt die Stoffbahnen wogen und verstärkt so die räumlichen er Kampf tobt. Das Pub-
Effekte der 3-D-Projektion, die sich darauf abspielt. So sind wir
likum grölt, als Wrestler
hautnah dabei, wenn – wie hier – ein Raubfisch von vielen kleinen
„Harald“ sich auf seinen
Tintenfischen durch eine Tiefseewelt gejagt wird.
Gegner stürzt und ihm seine Pranke auf den Kopf
sausen lässt, dass es klatscht. Gewonnen! Nach dem Kampf nimmt der kah-
vielen Gruppenarbeitsräumen hängen,
zählt die Liebe zum Detail, davon er-
le Koloss die Kampfmaske ab und man
will er sich dennoch nicht legen. Lieber
zählen auch die leeren Dosen Energy-
blickt in ein naives Gesicht mit Kullerau-
geht er den Sechsminüter, der zugleich
Drinks neben den Monitoren.
gen. Harald hat ein Hobby: Er liebt Blu-
seine Diplomarbeit ist, nochmal durch
Die Besessenheit zahlt sich aus. 2011
men. Heimlich. Seine Mutter, ein Biest
und korrigiert noch ein wenig Kontrast
ging der Oscar für die besten visuellen
mit spitzer Visage, darf nichts davon
und Farbe der Bilder. Dieses „Colour-
Effekte an Martin Scorseses „Hugo Ca-
erfahren. Sie will, dass er kämpft, nicht
Grading“ ist der letzte Schliff. „Das
bret“, den ehemalige Ludwigsburger im
träumt.
macht den Film runder“, erklärt Moritz
Visual Effects Studio „Pixomondo“ mit-
Moritz Schneider hält den Film an. Der
Schneider. An anderen Computern wird
gestaltet haben. Im gleichen Jahr wurde
30-Jährige, Kapuzenpulli und Schie-
ebenfalls noch gearbeitet. Hier muss
„Der Grüffelo“, der im Studio Soi in Lud-
bermütze, sieht zufrieden aus. „Das
ein Kameraschwenk eingefügt, dort
wigsburg produziert wurde, als „Bester
ist schon ziemlich nah an dem, was ich
eine virtuelle Welt in bläuliches Mond-
animierter Kurzfilm“ für den Oscar no-
wollte“, sagt er. In eine der Hängemat-
licht getaucht werden. Am Animations-
miniert. Und 2012 wurde der Zeichen-
ten, die zwischen den Computern in
institut der Filmakademie Ludwigsburg
trickfilm „Die Prinzessin, der Prinz und
16
DA S M AG A Z I N
dienwelt: Als er anfing, baute man Mo-
die alle Bereiche vom Werbe- über den
delle, filmte sie in Einzelschritten und
Kino- bis zum Kunstfilm bedienen.
animierte die Bilder. Heute lassen sich
„Ich habe mich hier beworben, weil
Figuren wie „Harald“ am Computer ent-
ich Geschichten erzählen wollte“, sagt
werfen und zum Leben erwecken. Der
Moritz Schneider. Die Effekte seien
Raum, Licht, Kamera – alles ist digitale
faszinierend, aber für ihn zähle in ers-
Illusion. „Früher brütete man oft allein
ter Linie die Handlung. Er lässt seinen
über seinem Film, heute ist Teamarbeit
Film weiterlaufen: Harald hält einen
das A und O“, sagt Haegele. Im Abspann
winzigen Setzling in seinen Pranken. Er
von Moritz Schneiders „Harald“ sind 40
will heimlich eine Blume ziehen, doch
Namen zu lesen.
seine Mutter erwischt ihn und will sie
„Es bringt nichts, wenn hier zehn Nerds
ihm wegnehmen. Plötzlich reißt die
sitzen und einzeln vor sich hin arbei-
Pflanze ihr Maul auf, verschlingt die
ten“, sagt Moritz Schneider. Jeder spe-
Mutter und rülpst zufrieden. Happy
zialisiert sich im Laufe seines Studiums,
End, wenn man so will. Und gleich im
etwa auf das Gestalten oder Animieren
doppelten Sinne: Auf der „SIGGRAPH
von Figuren oder auf die visuellen Ef-
2013“ in Kalifornien, einer der wichtigs-
fekte in Filmen mit „echten“ Schauspie-
ten internationalen Fachkonferenzen
lern. Natürlich behält der Regisseur, in
für Computer Graphics, wurde „Harald“
diesem Fall Moritz Schneider, die Fäden
in der Kategorie „Best Student Project
in der Hand. Aber den Weg vom ersten
Runners-Up“ ausgezeichnet. Auch der
Entwurf bis zum fertigen Film gehen
Preis „Best Student Project“ ging an ein
viele Kommilitonen gemeinsam. Frisur,
Team vom Animationsinstitut.
Gesicht, Körperbau, Bewegungen und Handlung müssen vielfach angepasst
Text: Dagny Riegel
werden, bis Optik und Geschehen ein
Fotos: Thomas Kienzle
stimmiges Ganzes ergeben. Ein Kommilitone hat ein virtuelles „Skelett“ konsder Drache mit den grünen Augen“ mit
truiert, um die Bewegungen der Figur
dem Deutschen Kurzfilmpreis ausge-
zu entwickeln. Moritz Schneider hat die
zeichnet. An der Produktion beteiligt
Figur dann „zum Leben erweckt“. Ein
auch hier: Studenten aus Ludwigsburg.
Vorgang, der aus vielen Einzelschritten
Das Animationsinstitut, 2002 als Teil
besteht: „Die Animation selbst macht
Zweimal im Jahr blickt die Welt der
der Filmakademie Baden-Württemberg
nur einen Teil der Arbeit aus“, erklärt er.
Spezialeffekte auf Stuttgart: „Inter-
gegründet, gilt als das beste seiner Art
Oberflächen, Licht, Schatten und Pers-
nationale Konferenz für Animation,
in Deutschland. Rund 80 Studenten des
pektiven aller Figuren und Hintergrün-
Effekte, Games und Transmedia“, kurz
Studienschwerpunktes „Animation“ wer-
de müssen in aufwändigen Rechen-
„FMX“ (www.fmx.de), die Künstler,
den hier zu Spezialisten in Animation,
prozessen
Wissenschaftler, Produzenten und
Visual Effects und digitaler Postproduk-
werden. Arbeit, die kein Computer von
andere Spezialisten aus allen Teilen
tion ausgebildet. Hinzu kommen gut 20
selbst erledigt.
der Welt stets im Frühjahr in Stuttgart
Studenten des Studienschwerpunktes
Neben dem Handwerk bietet das Institut
zusammenbringt. Ebenfalls im Früh-
„Interaktive Medien“. Das Studium dau-
auch ein Netzwerk, da die meisten Do-
jahr lockt das „Internationale Trick-
ert acht Semester, plus drei Monate Ar-
zenten im Hauptberuf im Filmgeschäft
filmfestival“ (www.itfs.de) Macher
beit am Diplom. Ein Weg, der sich lohnt,
arbeiten, etwa für Branchenriesen wie
und Fans der virtuellen Welten in die
will man in der digitalen Kreativbranche
„Pixomondo“ oder „Pixar“. Wobei die
Landeshauptstadt. Eine knappe Woche
schnell vorankommen. „Die Ausbildung
Auftraggeber mittlerweile auch vor der
lang werden Filme präsentiert und
bei uns ist enorm praxisnah“, sagt Pro-
Haustür sitzen: Neben dem „Studio Soi“,
Preise verliehen. Publikumsmagnet
fessor Thomas Haegele, 64. Der Bran-
das bereits 2002 von Absolventen der
des Trickfilmfestivals, das weltweit
chenpionier und Institutsleiter blickt
Filmakademie in Ludwigsburg gegrün-
zu den größten zählt, ist das Openair-
auf eine Laufbahn zurück, die von Au-
det wurde, haben sich in der Region
Kino auf dem Schlossplatz.
todidaktik geprägt war – verlief sie doch
Stuttgart rund zwei Dutzend Anima-
parallel zu den Umwälzungen in der Me-
tions- und Effects-Firmen angesiedelt,
aufeinander
17
abgestimmt
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
Wir können alles. Auch bio Reportage _ Mit grünen Ideen schwarze Zahlen schreiben: Dieser Leitsatz findet in der Metropolregion seit jeher seine Anhänger, ganz unabhängig von der politischen Farbenlehre. Die hiesigen Pioniere der Biolandwirtschaft stehen ihren Tüftlerkollegen in nichts nach. Sie sind innovativ und kreativ, eigensinnig und erfolgreich.
D
er Tag, an dem Germann sein Leben lassen
am Fuß der Schwäbischen Alb, widersetzt sich in Deutsch-
muss, ist wolkenverhangen. An seinem letz-
land wohl am radikalsten dem Effizienzgebot der modernen
ten Vormittag steht er inmitten seiner Herde
Tierhaltung. Die rund 270 Rinder bekommen nur Gras und
und ahnt nichts von dem nahen Ende. Kein
Heu zu fressen. Auf über 80 Hektar Weideland lebt die Her-
Tiertransport. Keine Schlachthalle. Alles wie
de im Familienverbund. Das, so Maier, gibt‘s in ganz Mittel-
immer. Alles gut.
europa kein zweites Mal.
In ein paar Stunden wird Bauer Ernst Hermann Maier zu Ger-
Biostandards findet Maier gut – aber, für ihn persönlich, nicht
mann auf die Weide kommen, wie schon oft. Wenn er auf
gut genug. Seine Kühe und Bullen sollen es so richtig schön
den Bullen zugeht, 350 Kilogramm, knapp eineinhalb Jahre,
haben! Dazu gehört für ihn neben einem artgerechten Leben
Rinderpassnummer DE 08 930 15986, wird er einen längli-
auch ein würdevoller Tod. Die Rinder werden sanft aus dem
chen Gegenstand in den Händen halten, der keine Heugabel
Leben geholt: mit einem lautlosen Betäubungsschuss auf der
ist. Neun Millimeter, schallgedämpft. Germann wird inter-
Weide, aus dem sie nicht wieder erwachen. Geschlachtet wer-
essiert, dabei gelassen schauen, was passiert. Und wenn es
den die Rinder vor Ort. So bleiben ihnen Tiertransport und
passiert, wird es auch schon vorbei sein.
Todesstress erspart. Das wiederum kommt der Fleischquali-
Für Landwirt Maier, Germanns Besitzer, ist das die Hauptsa-
tät zugute, ist der Landwirt überzeugt.
che: dass seine Tiere so wenig wie möglich leiden. Deshalb
Dass alles so kam, wie es kam, lag an Axel. 1986 war das.
ist er schon öfter mit den Behörden aneinandergeraten.
Der Bulle wollte partout nicht in den Schlachthoftransporter
Denn der Uria-Hof der Familie Maier in Balingen-Ostdorf,
steigen. Drei Mann, zwei Stunden – vergebens. Später starb
18
DA S M AG A Z I N
mit der grün-roten Landesregierung Baden-Württembergs, Rinderflüsterer nennen
dass kürzlich sogar die britische „Times“ ihren Europa-Kor-
sie Ernst Hermann Maier.
respondenten auf ihn ansetzte. Anlass der Auseinanderset-
Doch wenn es um seine
zung ist Maiers Weigerung, seine Rinder mit gelben Plastik
Prinzipien geht, kann der
ohrmarken zu kennzeichnen – nach Ansicht der Politiker ist
Landwirt laut werden.
er per EU-Gesetz dazu verpflichtet. Gut gemeint, findet Maier. Doch er ist überzeugt, eine bessere Lösung gefunden zu haben: Ein Transponderstäbchen, etwa ein Zentimeter lang, wird jedem Kalb direkt nach der Geburt unter die Haut injiziert, links neben dem Schwanz ansatz. Die darauf gespeicherten Informationen lassen sich aus ein paar Zentimetern Entfernung mit einem Funklesegerät abrufen. Germann, der Bulle, bleibt Germann, so lange er lebt. Zu einer bloßen Nummer, DE 08 930 15986, soll er erst posthum werden. Tierfreundlicher, zuverlässiger, zeitgemäßer sei das, sagt Maier: „Ich finde es verwerflich, Rinder mit Nummern zu markieren. Tiere sind keine Autos.“ Er weiß sich mit Worten zu wehren. Hin und wieder leiht er sich dafür auch einmal einen starken Satz, etwa von Gandhi. Der hat einst gesagt: „Die Größe und den moralischen Fortschritt einer Nation kann man daran ermessen, wie sie die Tiere behandelt.“ In der Metropolregion hat Maier viele Sympathisanten. Und eine Reihe von Mitstreitern, die, in Gandhis Sinn, auf ihre je eigene Weise zur Größe der Region beitragen. Von besonderer Größe ist dabei der Hohenlohekreis, im Nordosten der Metropolregion. Nicht zufällig ist hier – gleich nach München – die zweitgrößte deutsche Ortsgruppe der Organisation Slow Food beheimatet, die sich für genussvolles, bewusstes, regionales Essen einsetzt.
der Bulle auf der Weide. Und Bauer Maier nahm sich an dessen Starrsinnigkeit ein Beispiel. Um eine Genehmigung für das Schießen der Rinder zu erhalten, kämpfte er 13 Jahre lang mit den Behörden. Es trieb ihn fast in den Ruin. Im Jahr
F
ür Gastronomiekritiker Wolfram Siebeck ist Hohenlohe das „kulinarische Biotop“ Deutschlands. Die Betonung liegt dabei auf Bio. Denn nirgendwo ist die Dichte an Biobetrieben höher als auf diesem fruchtbaren Flecken Erde. Biobauernhöfe, Biowein-
güter, Biokäsereien und -metzgereien allerorten. Eine BioSauerstoff-Sauna in Niedernhall, die anthroposophische
2000 stand der Uria-Hof vor der Insolvenz. Ein Leserbrief
Gärtnerei Amlishagen in Gerabronn, ein Start-Up namens
in einer Zeitung, der zu Solidaritätsspenden aufrief, brach-
„bio biss“, das mit mobiler und ökologisch korrekter Gastro-
te die Wende: Innerhalb von zwei Wochen kamen hundert
nomie deutschlandweit Besucher von Großveranstaltungen
Sympathisanten und gaben Geld. „Ein Schrotthändler legte
verköstigt: Was anderswo als alternativ gilt, ist hier bereits
eine prall gefüllte Ledertasche auf den Tisch“, erinnert sich
zum Normalfall herangediehen.
der 71-Jährige. „30.000 Mark. Einfach so.“ Er nennt es „das
Das hat sich herumgesprochen, bis weit über die Grenzen
Wunder von Uria“.
der Metropolregion hinaus. So richtete vor einiger Zeit der
„Wir müssen alles tun, damit aus unserem Planeten keine
britische Thronfolger Prinz Charles eine Grußbotschaft an
Hölle wird“, sagt Maier. „Und Schlachthöfe sind die Hölle.“
die Hohenloher: „Meine Damen und Herren“, so sprach der
Manche nennen ihn ob seiner Tierliebe „Rinderflüsterer“.
passionierte Ökobauer und Slow-Food-Botschafter feierlich
Doch das ist weichgezeichnet. Ein Flüsterer ist er nicht. Er
auf Deutsch, „Ihr Einsatz für natürliche, gesunde Lebens-
kann aufbrausend sein, sich Satz für Satz ärger in Rage reden
mittel in Verbindung mit der Kunst der Zubereitung macht
über pedantische Bürohengste, die ihm das Leben schwer
Sie zu einem Vorbild nicht nur für andere Europäer, sondern
machen. Seit einigen Monaten beharkt er sich so verbissen
auch für die übrige Welt.“
19
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
Hohenlohe, ist er überzeugt, hat von der ökologischen Rückbesinnung ökonomisch enorm profitiert. Es wurde, auch in dieser Hinsicht, eine blühende Landschaft. Von vielen Seiten wird die Region Hohenlohe seit Jahren gepriesen, für ihre inneren Werte ebenso wie für ihre äußeren Reize. Geo Saison sieht in ihr einen „Landstrich, dem ein oberflächlicher Betrachter einen fast übertriebenen Liebreiz vorwerfen könnte“. „Für alle, die gern gut essen“, schwärmt Merian, „wird eine Reise durch Hohenlohe zu einer Schatzsuche." Das Magazin Feinschmecker mutmaßt gar, der Herrgott habe alles gesegnet, „was auf diesem Stück Erde wuchs“.
Albauftrieb: Zweimal im Jahr bebt die Erde, wenn Willi Wolf seine Wasserbüffel auf die Sommerweide und zurück treibt.
E
inen etwas irdischeren Blick hat Slow Food-Botschafter Bernulf Schlauch auf seine Heimatregion: „Ein dreifach Hoch auf die Kleinbauern!“, schrieb er im Mai 2013 im stern. „Sie wehren sich hier gegen die
Gleichmacherei der Agrarindustrie und halten mit unver-
Dieses Lob schmeckte den bekennenden Genussmenschen
fälschten Produkten dagegen.“ Der Bruder des früheren
natürlich bestens, unter ihnen Rudolf Bühler. „In den 60er
Grünen-Fraktionsvorsitzenden Rezzo Schlauch produziert
Jahren galt unsere Gegend als das Sibirien Württembergs“,
hier Holundersekt – „im Ein-Mann-Betrieb“, wie er mit eini-
erinnert sich der glatzköpfige Landwirt. Die Jugendlichen
gem Selbstbewusstsein sagt.
wanderten ab, der Arbeit hinterher. 1988 gründete er mit
Droben auf der Schwäbischen Alb, im Süden der Metropol-
einigen Kollegen die "Bäuerliche Erzeugergemeinschaft
region, gibt es einen weiteren Ein-Mann-Biobetrieb, der sich
Schwäbisch Hall", die sich der regionalen landwirtschaftli-
alles andere als zurückhaltend gibt. Zweimal im Jahr lässt
chen Entwicklung verpflichtete. Nach dem Studium war er
er sogar die Erde beben. Heute ist es wieder so weit. Lässig
sechs Jahre als Entwicklungshelfer in Asien und Afrika un-
eine Reval unter dem Schnauzer eingeklemmt, reitet Willi
terwegs, erzählt Bühler. „Diese Erfahrung konnte ich für die
Wolf auf seiner hellen Appaloosa-Stute zum Stalltor. Dort
Entwicklung vor der eigenen Haustür nutzen.“
angekommen, stößt er einen grollenden Schrei aus: „Hooo-
Über die Erzeugergemeinschaft sagt Bühler: „Wir sind eine
hooohooo!“ Er trägt den schlappigen Stetson, als sei dieser
bäuerliche Selbsthilfeorganisation im besten Sinne. Bei uns
mit seinem Kopf verwachsen – es ist keine bloße Wild-West-
zählt solidarisches, ökologisches Wirtschaften – nicht Ge-
Verkleidung: Wolf züchtet tatsächlich Westernpferde. Die
winnmaximierung.“ Zudem liegt dem Verband das Bewahren
braucht der 58-Jährige für sein Kerngeschäft, die Wasserbüf-
bedrohter Obstsorten und Tierrassen am Herzen – etwa des
fel. Riesengestalten sind das, mit Hintern wie Waschmaschi-
Schwäbisch-Hällischen Landschweins, das Anfang der 80er
nen und sichelförmig aufragenden Hörnern – extravagante
Jahre schon so gut wie ausgestorben war. Mit viel Herzblut
Exoten, die man eher in Indien oder Afrika erwarten würde
und einer ausgeklügelten Zucht- und Marketingstrategie gelang Bühler die Wiederbelebung des schwäbischen Patienten. Von da an ging es für Bühler und seine Mitstreiter im
„Heyhey!“ und „Houhou!“ rufen die
Schweinsgalopp weiter. Die Erzeugergemeinschaft wuchs
Alb-Cowboys. Und: „Holla die Waldfee!“
und wuchs, heute hat sie rund 400 Mitgliedsbetriebe. Seit 1997 gibt es sogar ein eigenes Biolabel: Ecoland. Auch diesen Verband hat Bühler mitbegründet. Und dafür gesorgt, dass er wächst und gedeiht: „Wir wollten für unsere Würstle nicht nur Fleisch und Speck in Bioqualität erzeugen, sondern auch die Gewürze.“ So kam es, dass neben den 40 EcolandBetrieben im Hohenloher Stammland nun auch Betriebe in Serbien nach den Vorgaben des Verbandes wirtschaften (sie liefern Paprika und andere Balkangewürze) und Hunderte von Kleinbauern in Südindien (sie sind zuständig für die „tropischen Gewürze“). „Für uns ist Bio mehr als eine Mode“, sagt Bühler. „Es zeigt sich, dass diese Art Landwirtschaft die zukunftsfähigste ist.“
20
DA S M AG A Z I N
„Die zwei Tage im Jahr sind mein Glück“, sagt Wolf und meint den Auf- und den Abtrieb seiner Büffelherde. „Darauf freu ich mich wie ein Kind.“ Er wirkt vollkommen gelassen – was einigermaßen verwundert angesichts des Spektakels, das nun beginnt. 290 Tiere haben sie gestern gezählt. Etwa die Hälfte der Kühe samt ihren Einjährigen soll heute nach Meidenstetten getrieben werden. „Die Büffel sind im Prinzip ruhiger als konventionelle Rinder“, sagt Wolf. „Die haben keine Hektik. Aber sie sind unheimlich stur. Wenn sie wo hinwollen, kracht es halt.“ Eine ausgewachsene Büffelkuh bringt 600 bis 700 Kilo auf die Waage – ein halber PKW. Den Stall für den Winter musste er gleich in den ersten Tagen ein paar Mal reparieren. Rudolf Bühler rettete das Schwäbisch-Hällische
Das Vibrieren hebt an zu einem Donnergrollen, als die Büffel
Landschwein - es wurde zum Maskottchen der Bioregion.
in Fahrt kommen. Dunkle Muskelberge rollen mehr ins Tal als dass sie laufen. Eine Kuh überschlägt sich, schlittert ein paar Meter auf dem Rücken über die sumpfige Böschung, bis
als auf der Alb. Nach einem langen Winter dürfen die Tiere
sie sich wieder fängt und auf die Beine kommt. Mit kehligem
heute endlich wieder auf die Weide. Als die massigen Leiber
„Heyhey“ und „Houhou“, „Hoppah“ dirigieren eine Handvoll
sich wie eine ebenholzfarbene Flutwelle durchs Tor drücken,
Reiter in langen, geschlitzten Mänteln die Kühe und Kälber.
klappern die Planken des Stalls, der Boden vibriert.
Man wähnte sich in einem Western, entwischte nicht dem
Wasserbüffel auf der kargen, trockenen Alb? Es begann vor
größten Cowboy mit dem längsten Ledermantel und dem
acht Jahren, als Willi Wolf merkte, dass er seinen Hof so nicht
eindrucksvollsten Schnauzer, als er sich und sein Pferd ge-
mehr halten kann: Der Preis für Rindfleisch war in den Keller
rade noch aus dem Weg schafft, ein eher uncooles „Holla
gefallen. Die Zucht, die Wolf sich vorstellte, naturgerechte
die Waldfee!“.
Haltung, die Rinder im Sommer draußen auf der Alb, im Win-
Die Reiter nicken sich zu und steigen in Zeitlupe aus den Bü-
ter im offenen Stall, konnte er sich nicht mehr leisten. Bio
geln. Sie sind schließlich Cowboys. Der Job ist getan. Jetzt
allein reichte als Nachfragekriterium nicht mehr. Er suchte
wartet nur noch das Reiterstüble mit dem Kuchenbuffet.
nach einem Alleinstellungsmerkmal.
„Ich lebe meinen Traum und wer kann das schon von sich
Als 2005 die ersten 36 Büffel auf der Alb standen, haben die
sagen?“ Willi Wolf nimmt sich ein Stück Käsesahne und geht
Bauern in der Umgebung Willi Wolf den Vogel gezeigt: „Jetzt
mit krummen Schenkeln zum Tisch zurück. Als ob ihm das
spinnt er völlig!“ Wolf hingegen findet das ganze gar nicht
Pferd noch zwischen den Beinen klemmte.
seltsam, sagt er. Immerhin habe es hier doch vor 300.000
Auch Rinderrebell Ernst Hermann Maier, der seine Tiere,
Jahren schon einmal Büffel gegeben. Bei Steinheim an der
weil sie ihm am Herz liegen, selbst aus dem Leben holt, hat
Murr wurden ihre Überreste gefunden.
seinen Traum verwirklicht, gegen alle Widerstände. Er steht
Tatsächlich stammen seine Wasserbüffel weder aus Indien,
auf dem Hügel neben der Uria-Fütterungshalle, es ist sein
noch aus Afrika, sondern aus Rumänien. Sie können fast ein
Feldherrenhügel. „Die Leute werden schon irgendwann
halbes Jahrhundert alt werden – wenn man sie lässt. Drei
merken, dass wir keine Verrückten sind“, sagt Maier. Dann
Kälber mit 150 Kilo bringt er jede Woche zu seinem Kom-
steigt er in die Führerkabine seines Teleskopladers, spießt
pagnon Ludwig Failenschmid in St. Johann-Gächingen. Der
mit der Riesengabel einen Heuballen auf, fährt ihn in die
Metzger verarbeitet das Fleisch zu luftgetrocknetem Schin-
Halle. Die versammelten Viecher weichen lautlos zu beiden
ken oder „Albbüffelgöschle“, Maultaschen, und kredenzt in
Seiten. Dann geht auch Maier zum Mittagessen.
seinem Landgasthof Wolfs Leibspeise: Büffelbraten im Heu-
Nachmittags geht er ein letztes Mal zu Germann auf die
bett gegart. Alles Bio.
Weide. Germann bleibt Germann bis zum Ende. Erst wenn
S
der Schuss gefallen, wenn das Tier ausgeblutet ist, vollzieht inn macht die Schlachtung der Tiere wirtschaftlich
sich die Metamorphose. DE 08 930 15986 wird zerlegt, wei-
nur, wenn alles verwertet werden kann. Restlos.
terverarbeitet, eingeschweißt, verkauft – bestes Biofleisch,
Sogar das Leder wird gegerbt und zu Jacken, Porte-
von Balingen bis Stuttgart erhältlich in handelsüblichen
monnaies oder Schlüsselmäppchen verarbeitet.
Portionen.
Und: Die Albbüffel locken Touristen in seine wildromantischen Ferienblockhäuser. „Inzwischen“, sagt Willi Wolf,
Text: Agnes Fazekas und Markus Wanzeck
„läuft es richtig gut.“
Fotos: Katharina Alt, Rainer Kwiotek, Jan Riephoff
21
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
Aus dem Labor auf den Markt Feature _ Ob Genanalyse, Knorpelzellimplantate oder künstliche Netzhaut: Die Metropolregion erlebt einen Biotech-Boom. Das Geheimnis des Erfolgs: Universitäten und klassische Mittelständler bilden einen fruchtbaren Boden für junge Start-ups.
S
askia Biskup kann ihr Büro in
tischen Ursachen von Krankheiten.
können. „Wir suchen die Nadel im
Tübingen mit Urkunden tape-
2004 entdeckte sie als erste Verän-
Heuhaufen“, sagt Saskia Biskup. Sie zu
zieren. „Innovationspreis der
derungen im LRRK2-Gen, das die
finden, ist von unschätzbarem Wert:
BioRegionen 2011“, „Deutscher
häufigste bekannte Ursache für das
„Es gibt Fälle von Krebspatienten, die
Gründerpreis 2011“, „Entrepeneur des
Parkinson-Syndrom ist. 2010 dann der
jahrelang falsch behandelt wurden“,
Jahres 2013“ und 2014 die Krönung: Der
Durchbruch: Sie entwickelte ein Gen-
so Biskup. „Mit unseren Analysen ge-
Präsident der Europäischen Kommission
analyseverfahren, das verrät, welche
hören solche Fehler der Vergangen-
Manuel Barroso überreichte ihr den
DNA-Bausteine für Krankheiten wie
heit an.“
mit 100.000 Euro dotierten „EU-Inno-
Augen- und Hautkrankheiten, neuro-
2010 gründete Saskia Biskup gemein-
vationspreis“. „Das ist ein Riesenschritt,
degenerative Erkrankungen, Epilep-
sam mit ihrem Mann Dirk, einem pro-
auch EU-weit wahrgenommen zu wer-
sie oder sogar Krebs verantwortlich
movierten Betriebswirtschaftler, die
den“, sagt die 42- jährige Humangeneti-
sind. „Hochdurchsatz-Sequenzierung“
Firma CeGat. Unterstützt wurden sie
kerin. „Wir sind sehr dankbar für diese
nennt sich die Methode, die unter drei
dabei von der BioRegio STERN Ma-
Auszeichnung.“
Milliarden Bausteinen des menschli-
nagement GmbH. Die interkommuna-
Die Ärztin und Forscherin beschäftigt
chen Genoms jene identifiziert, deren
le Wirtschaftsförderungsgesellschaft
sich seit vielen Jahren mit den gene-
Mutationen
mit Sitz in Stuttgart fördert Medizin-
Krankheiten
auslösen
technik- und Biotech-Unternehmen, hilft ihnen mit Businessplan und Pressearbeit oder vermittelt ein Netzwerk von Partnerfirmen. Fast 500 LifeScience-Unternehmen zählt die Gesellschaft in der Metropolregion. Den Boom der Branche erklärt sich Dr. Klaus
Eichenberg,
Geschäftsführer
von BioRegio STERN, mit den Synergien, die zwischen den jungen Startups und traditionsreichen Ingenieursfirmen möglich sind. „Sie profitieren voneinander“, sagt er und nennt als
Preisgekrönt: Das Analyseverfahren, das Saskia und Dirk Biskup anbieten, identifiziert die Ursachen schwerer Krankheiten.
22
DA S M AG A Z I N
Neubau in Tübingen: CeGaT wächst
rund 60 Unternehmen aus der Bio-,
bäude von CeGat in Tübingen einge-
so schnell, dass ein neuer Firmensitz
Nano-, Medizin- und der Informati-
weiht. Die Firma ist auf 70 Mitarbei-
gebaut werden musste.
onstechnologie angesiedelt. Keimzel-
ter gewachsen, die bisherigen Büros
le des Booms ist das Naturwissen-
und Labore reichen längst nicht mehr
schaftliche und Medizinische Institut
aus. Rund 4.000 Patientinnen und Pa-
der Universität Tübingen (NMI), das
tienten haben ihre Gene bislang bei
Beispiel die Kooperation zwischen
mit rund 170 Molekular- und Zellbiolo-
CeGat analysieren lassen. Es wären si-
der Contexo GmbH, einem Hersteller
gen, Biochemikern, Physikern, Ingeni-
cher mehr, wenn die Gesundheitskas-
automatisierter Produktionsanlagen
euren und Technikern weltweit einen
sen die Kosten übernehmen würden.
und der Curetis AG, einem jungen
Spitzenplatz in seiner Disziplin hält.
Wann es soweit ist, weiß niemand,
Biotech-Unternehmen. „Früher baute
Seine Entwicklungen wie Knorpelge-
aber Saskia und Dirk Biskup sind sich
Contexo Anlagen, die Kugelschreiber
webe für Kniegelenke und Bandschei-
sicher, dass es nicht mehr lange dau-
produzieren, heute bauen sie für Cu-
ben oder eine künstliche Netzhaut,
ern wird. Derweil wollen sie die Sache
retis Anlagen, die Mini-Diagnostikla-
mit der Blinde, deren Sehnerv intakt
aber auch selbst in die Hand nehmen
bore herstellen.“
ist, teilweise wieder sehen können,
– und ziehen die Gründung einer Stif-
haben zu einer Reihe von Ausgrün-
tung in Betracht. „Für Menschen, die
in weiteres Kapitel der Erfolgs-
dungen geführt, die jetzt rund um
sich die Diagnostik nicht leisten kön-
geschichte wird im Technolo-
das NMI angesiedelt sind. Neuestes
nen.“ Neben der Chance, Menschen
giepark
Tübingen-Reutlingen
Projekt der Forscher am NMI: Neuro-
zu helfen, sind Saskia Biskup die Ur-
geschrieben. Hier ist in den
chips, die defekte Nervenverbindun-
kunden ziemlich egal.
E
vergangenen zehn Jahren Deutsch-
gen überbrücken sollen.
lands größtes Gründerzentrum für
Saskia und Dirk Biskups größte Bau-
Biotechnologie entstanden. Auf mehr
stelle ist derweil abgeschlossen: Im
Text: Mathias Becker
als 20.000 Quadratmetern haben sich
Juli 2014 wurde das neue Firmenge-
Fotos: CeGaT
23
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
Der Superrechner Feature _ Im Höchstleistungsrechenzentrum von Stuttgart steht einer der leistungsfähigsten Rechner der Welt. Von Crashtest bis Klimasimulation: „Hermit“ hilft Forschern, Szenarien zu errechnen – und die richtigen Entscheidungen zu fällen.
U
we Wössner hebt die virtuel-
Höchstleistungsrechenzentrum Stutt-
le Limousine per Fernbedie-
gart (HLRS) und seine Kollegen den
Mensch und Maschine: Professor
nung über seinen Kopf und
dunklen Kellerraum, in dem Computer-
Michael Resch steht, umgeben
betrachtet den Unterboden.
simulationen zum Leben erweckt wer-
von Schrankwänden voller Hardware,
Von der Kühlerhaube bis zum Heck ver-
den. Hier drehen und wenden Wössner
im Serverraum des HLRS
laufen schmale gelbe Stränge. Sie ma-
und sein Team 3-D-Projektionen von
chen die Luftströme sichtbar, die wäh-
Autos auf der Suche nach aerodyna-
rend der Fahrt entstehen. Wössners
mischen Schwachstellen. Oder kurven
Aufmerksamkeit gilt den Radkästen, in
mit einem Fahrsimulator durch Com-
Leben retten kann, etwa, wenn die
denen die Stränge wie wild durcheinan-
puter-Städte, um Fahrzeugasistenten
3-D-Simulation
derwirbeln: „Das erhöht den Luftwider-
der Zukunft wie Brems- und Ausweich-
Blutkreislaufs zeigt, welche Folgen
stand beim Fahren“, sagt er. „Wir wollen
automatiken zu testen.
Gefäßverengungen haben, und wo
wissen, wie man das vermeiden kann.“
Von Automobil- bis Energiewirtschaft,
ein Infarkt droht. Was 2006 als For-
Dann setzt er die 3-D-Brille ab und legt
von Klimaforschung bis Medizin: Im-
schungsprojekt am HLRS gestartet
die Fernbedienung beiseite. Der Wagen
mer öfter nutzen Wirtschaft und Wis-
ist, wird heute regelmäßig in der The-
bleibt in der Luft hängen.
senschaft Simulationen, um komple-
rapie eingesetzt. Allgemein gilt: In
Willkommen in der „Cave“, der „Höh-
xe Prozesse detailgetreu darzustellen
den vergangenen Jahren stiegen die
le“: So nennen Uwe Wössner, Leiter
und mögliche Entwicklungsszenari-
Anforderungen an Simulationen – und
der Abteilung für Visualisierungen am
en zu errechnen. Rechenkunst, die
mit ihnen die Kapazität der Rechner.
eines
individuellen
Kürzlich wurde das neueste Modell des Computers „Hermit“ am HLRS installiert. Auf 700 hochgesicherten Quadratmetern summen und blinken seither Kästen, groß wie Familienkühlschränke. Gemeinsam bilden sie einen Superrechner, der vier Petaflops, also vier Trillionen Rechenoperationen pro Sekunde, ausführen kann. Er gehört zu den 15 leistungsfähigsten Computern der Welt. Der Leiter des HLRS, Professor Michael Resch, hat sein Büro ein Stockwerk über dem Riesenrechner. Auf seinem Schreibtisch surrt ein Ventilator, der einst dazu diente, einen PC zu belüften. Jetzt hilft er dem 50-jährigen Crash-Tests am Bildschirm: Alexander Frederic Walser
Mathematiker, einen kühlen Kopf zu
vom ASCS nutzt die Leistung des HLRS.
bewahren.
24
Zahlreiche
Forschungs-
DA S M AG A Z I N
projekte wollen koordiniert werden,
um Simulationen für die Produktent-
die Anlage bei vollem Betrieb zu ins-
daneben fliegt Resch um die Welt
wicklung nutzbar zu machen. „In der
pizieren. Also spaziert der durch die
und hält Vorträge oder berät Unter-
Automobilbranche etwa wurden viele
Lüftung in den Kessel, schwebt über
nehmen. Während die Statistik stets
reale Crash-Tests mittlerweile durch
einem Pool voller roter Bälle, die das
in die Vergangenheit schaut, richten
virtuelle Tests ersetzt“, sagt ASCS-Ge-
Feuer darstellen und folgt dem Dampf
Simulationen den Blick gen Zukunft.
schäftsführer Alexander Frederic Wal-
Richtung Turbine. Was nach einem
Das macht sie für viele Forschungsfel-
ser. Von der Beschaffenheit einzelner
fantastischen
der unersetzlich.
Bauteile bis hin zur Konstruktion des
sieht, ist Wissenschaft pur, diesmal im
A
Computerspiel
aus-
gesamten Autos: Das Verhalten ver-
Auftrag eines Energiekonzerns. Ziel
uf dem Campus Vaihingen
schiedener Fahrzeugvarianten beim
des Projekts: die Anlage zu optimie-
der
Stuttgart
Aufprall kann detailgetreu simuliert
ren. „Technischer Fortschritt dieser
selbst dagegen ist der Weg
Universität
werden. „Wer Knautschzonen testen
Art ist dringend geboten“, sagt HLRS-
zwischen Forschung und An-
will, muss heute nicht mehr reihenwei-
Leiter Michael Resch. „Simulationen
wendung denkbar kurz: Im Gebäude
se Autos gegen die Wand fahren.“
helfen uns, ihn zu beschleunigen.“
neben dem HLRS sitzt das Automoti-
Uwe Wössner geht derweil durchs
ve Simulation Center Stuttgart (ASCS).
Feuer. Gemeinsam mit seinen Kolle-
Unter dem Dach des Instituts haben
gen hat er eine 3-D-Simulation eines
sich 24 Unternehmen und Forschungs-
Heizkraftwerks visualisiert. Die Pro-
Text: Mathias Becker
einrichtungen zusammengeschlossen,
jektion in der „Cave“ erlaubt ihm jetzt,
Fotos: Christoph Püschner
Sie ist nicht ganz so sportlich, wie das Modell aus den "Matrix"-Filmen. Doch auch die 3D-Brille, die Uwe Wössner in der „Cave“ des Höchstleistungs rechenzentrums trägt, öffnet das Tor in eine virtuelle Welt.
25
Dreimal Architektur: Studieren in Stuttgart
Foto: Martin Lutz
Die hohe Schule
Die Weißenhofsiedlung, die 1927 am pure Provokation: keine Ziegeldächer, keine Giebel, keine Fensterkreuze! Stattdessen weiße Kuben, die eher an Industrie- als an Wohngebäude
Vom Nordschwarzwald in die weite Welt: Hochschule Pforzheim
nach dem Abschluss sind glänzend: „In jedem Automobilkonzern der Welt finden Sie Designer aus Pforzheim“, betont Sabine Laartz, Sprecherin der Hochschule. Auch für die Zukunft ist
erinnerten. Manche Stuttgarter reagierten geschockt, andere begeis-
Seit fast 250 Jahren wird in Pforzheim
man gerüstet – mit innovativen Stu-
tert: Ein architektonischer Diskurs
Schmuck hergestellt und noch immer
diengängen sowie einem Fokus auf
war geboren, der die Stadt noch im-
gehört die Stadt zu den wichtigsten
Nachhaltigkeit und Wirtschaftsethik
mer prägt. Heute bieten drei Hoch-
Schmuck- und Uhrenlieferanten bun-
quer durch alle Fakultäten.
schulen Architekturstudiengänge an:
desweit. Mit der Zeit kamen Elektro-
Die praxisbezogene Hochschule für
nik- und Elektrotechnikbetriebe und
Technik, die Universität Stuttgart, mit
führende Versandhäuser dazu. Die
dem Schwerpunkt Städtebau, und die
passenden Fachhochschulen – eine
Staatliche Akademie der Bildenden
für Gestaltung und eine für Wirtschaft
Künste, die kaum besser gelegen sein
– wurden 1992 zusammengelegt und
könnte: direkt in der Weißenhofsied-
eine Fakultät für Technik angeglie-
lung. Eines haben alle drei gemein-
dert. Besonders stolz ist man am
sam: Im renommierten CHE-Hoch-
Nordschwarzwald auf die guten Kon-
schulranking, das Studiengänge in
takte zur Wirtschaft: Die meisten Ba-
Deutschland bewertet, rangieren sie
chelorarbeiten werden in Unterneh-
auf Spitzenplätzen.
men geschrieben, die Jobaussichten
26
Foto: Ulrike Kumm / Hochschule Pforzheim
Stuttgarter Killesberg entstand, war
International vernetzt: Hochschule Reutlingen
In acht Semestern zum Imam: Islamische Theologie in Tübingen
senen eine Vielzahl von Zugängen zu
es auf den ersten Blick: Mit der 1855
Rund vier Millionen Muslime leben in
den – und zugleich Interessen und
gegründeten Webschule hat diese Ins-
Deutschland. Für viele von ihnen sind
Talente entdecken. Sechs Werkstatt-
titution noch so viel gemeinsam wie ein
die Moscheen zwischen Ostsee und Al-
bereiche, die sogenannten „Talent-
Strickjanker mit einem Windbreaker.
penrand nicht nur Gebetsräume, son-
schmieden“,
An High-Tech-Webstühlen und Digital-
dern auch Treffpunkte und Beratungs-
eigene Stärken zu entwickeln, aber
druckmaschinen im Industrieformat
stätten. Entsprechend groß sind die
auch Schwächen auszugleichen. Zu-
arbeiten nicht nur angehende Desig-
Herausforderungen
muslimische
dem verfügt die Experimenta über ein
ner und Textiltechniker, auch künftige
Geistliche, die nicht nur ihre Gemein-
Schülerforschungszentrum, in dessen
Manager lernen hier die Materialien
den betreuen, sondern im Idealfall
fünf Laboren sich Schulklassen, auch
kennen, mit denen sie es später zu
auch Brücken zur nicht-muslimischen
über längere Zeiträume, naturwis-
tun haben. Vernetzung bedeutet alles
Nachbarschaft bauen. Es gäbe viele
senschaftlich-technischen Versuchen
an dieser Fakultät, auch international.
Gründe, Imame in Deutschland aus-
widmen.
Wer in Reutlingen studiert, absolviert
zubilden, befand das Bundesbildungs-
meist noch einen Studiengang an einer
ministerium und förderte den Aufbau
der 30 Partneruniversitäten von Lett-
von Islam-Studiengängen. Neben Uni-
land bis Australien, von den USA bis
versitäten wie Münster und Osna-
Indonesien. Solche Auslandssemester
brück machte auch die Uni Tübingen
dienen der Arbeit in internationalen
zum Wintersemester 2012/2013 den
Teams, die in der globalisierten Textil-
Anfang und richtete achtsemestrige
industrie längst zum Standard gehört.
Studiengänge für Islamische Theologie
Als neue Errungenschaft der Reutlin-
samt Recht, Glaubenslehre und Kultur
ger gilt der Studiengang International
des Islam ein. Der Bachelorabschluss,
Fashion Retail, bei dem in Deutsch und
befähigt dazu, den Beruf eines Imams
Englisch unterrichtet wird.
auszuüben, und bereitet dazu künftige
Im Maschinenraum der Reutlinger Fakultät für Textil und Design spürt man
an
Religionslehrer, Manager oder Sozialarbeiter auf ihren Beruf vor. Zum Wintersemester 2014/2015 soll ein Master
Foto: Karl Scheuring
studiengang folgen.
Auch an der European Business School (ESB) wird Internationalität groß ge-
Für Forscher von morgen: Die Experimenta in Heilbronn
schrieben – seit mehr als 40 Jahren.
Wie funktioniert eigentlich ein E-
1971
Außenwirt-
Werk? Und was passiert genau, wenn
schaft“ an der Hochschule Reutlin-
wir mit einem anderen Menschen
gen gegründet, bot die Schule schon
kommunizieren? Diesen und vielen
damals
internationale
weiteren Fragen widmet sich die Lern-
Abschlüsse an. Heute ist die ESB mit
und Erlebniswelt „Experimenta“ in
2.400 Studierenden eine der größten
Heilbronn. Das mit 6.500 Quadratme-
betriebswirtschaftlichen
Fakultäten
tern Fläche größte Science Center sei-
in Deutschland und belegt regelmäßig
ner Art im süddeutschen Raum bietet
Spitzenplätze in Hochschulrankings.
Kindern, Jugendlichen und Erwach-
als
„Fachbereich
integrierte
27
natur wissenschaf tlich-technischen Zusammenhängen. In vier Themenwelten mit rund 150 interaktiven Exponaten können Besucher komplexe Zusammenhänge spielerisch ergrün-
bieten
Möglichkeiten,
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
Die wollen doch nur spielen Reportage _ Heimattheater und Avantgarde: Das Theater Lindenhof lockt seit über drei Jahrzehnten Publikum auf die Schwäbische Alb.
M
össingen probt den Auf-
auf und ab. „Sich hinstellen heißt, ei-
stand. Alte Männer sind in
nen Standpunkt einnehmen!“, ruft der
die Aula des Quenstedt-
Regisseur, bleibt abrupt stehen und
Gymnasiums gekommen,
reckt stolz die Brust. „So! Dann dreht
Schülerinnen und sehr viele Frauen
ihr euch frontal zum Publikum und
mit praktischen Kurzhaarfrisuren. Drei
sagt: ‚Typisch Mössingen!‘ Und rums.“
Dutzend
bunten
Noch rumst es aber anders als gedacht:
T-Shirts und Jogginghosen. Es ist ein
Manch einer dreht sich rechts, manch
historischer Moment in Turnschuhen.
anderer links herum. Einem älteren
„Liebes Mössingen, das Spiel beginnt
Herrn will die zackige Drehung nicht
jetzt!“, ruft der Regisseur und die Mös-
recht gelingen. Er braucht stets zwei
singer nehmen auf der Bühne ihre Po-
Sekunden länger als die anderen. Gut
sitionen ein.
zwei Monate noch bis zur Premiere.
Philipp Becker, 33, mit lässig gewickel-
Dann muss die Choreographie sitzen.
tem Wollschal, schreitet vor der Bühne
Es ist ein Experiment, was das Linden-
Laiendarsteller
in
28
DA S M AG A Z I N
Willkommen im verwegensten Theater Deutschlands: Der Lindenhof im Winter.
29
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
hof-Theater in Mössingen am Fuß der
Zopf“, sagt Philipp Becker. „Wir arbei-
eine klassische Schauspielausbildung,
Alb auf die Bühne bringt, mal wieder:
ten an acht oder neun Strängen und
aber uns einte die Sehnsucht nach dem
Mehr
Laiendarsteller,
zum Schluss fügt sich alles zusam-
Theater“, so Hurm. Leidenschaft und
neun professionelle Spieler, dazu ein
als
men. Hoffentlich!“ Über Monate hin-
Wagemut sind das, was zählt. Kom-
Tanzensemble und ein fünfzigköpfi-
weg investieren die Laienspieler ihre
petenz kommt mit der Zeit ganz von
ges Orchester der örtlichen Jugend-
Freizeit in das Theater, verlängern ihre
selbst. Mit dieser Punk-Attitüde legten
musikschule. Gemeinsam wollen sie
Arbeits- oder Schultage noch um eini-
Hurm und seine Mitstreiter – darunter
ein historisches Ereignis wiederaufle-
ge Probenstunden, um schließlich von
Berthold Biesinger, Uwe Zellmer und
ben lassen: Am 31. Januar 1933, dem
Mai bis Ende September Vorstellungen
Stefan Hallmayer, die bis heute am Lin-
Tag der Machtergreifung Hitlers, leg-
zu geben. Alles, ohne einen Cent dafür
denhof-Theater sind, los.
ten die Arbeiter der Textilindustrie
zu bekommen. Was ist das für ein The-
Und mussten die Kunst dann doch
in Mössingen ihre Arbeit nieder, um
ater, für das sich beinahe zweihundert
zunächst noch warten lassen, denn
dem verabscheuten Nazi-Regime Wi-
Menschen ins Zeug legen?
erstmal galt es, Gasthaus und Scheu-
derstand zu leisten. Nicht wenige lan-
Der Weg zum Stammsitz der Thea-
ne
deten im Gefängnis. 80 Jahre später
tertruppe führt von Mössingen aus
gen einzuholen. „Wir haben fast nur
bringt das Lindenhof-Theater die Ge-
Hunderte Höhenmeter hinauf durch
gebaut und vielleicht 20 Vorstellun-
schichte auf die Bühne, aufgeführt in
eine
Stra-
gen im Jahr gegeben“, sagt Hurm.
einem leer stehenden Fabrikgebäude
ße krümmt sich zu immer engeren
„Im Dorf hieß es: Nach einem Jahr
der früheren Textilfirma Pausa, deren
Serpentinen, bis endlich, hoch dro-
sind die eh wieder verschwunden.“
Arbeiter damals ebenfalls streikten.
ben auf der Schwäbischen Alb, die
Aber die Lindenhöfler erwiesen sich
900-Seelen-Gemeinde
als
M
hundert
achtverhältnisse
karge
Landschaft.
Die
Melchingen
umzubauen
Dickköpfe,
und
die
Genehmigun-
zeigen
wollten,
infrage
vor einem liegt. Verwegen wirkt sie
dass auch sie „hinstehen“ können.
stellen, für seine Über-
auf den ersten Blick nicht. Eher ver-
Unten in der Kneipe steigt bereits der
zeugungen auf die Stra-
schlafen, eingebettet von Feldern.
Geräuschpegel. Hurm verabschiedet
ße gehen – das ist auch
Doch die Landwirtschaft ist für die
sich eilig hinter die Bühne. Von der
in unserer heutigen Lebenswelt von
meisten Melchinger nunmehr Ne-
ganzen Alb sind sie gekommen, auch
Bedeutung“, sagt Regisseur Philipp
bensache. Der Kulturbetrieb dagegen
aus Tübingen, Reutlingen, Stuttgart.
Becker. Typisch Lindenhof: Der Ge-
brummt. Direkt an der Hauptstraße:
Nun warten sie bei Trollinger und Piz-
neralstreik wird nicht im Stammsitz
eine Scheune, durch deren Tor mehr-
za Hawaii auf den Lindenhof-Dauer-
des Theaters in Melchingen auf der
stimmiger Gesang dringt. Probe für
brenner. Ein Plakat im Treppenhaus
Schwäbischen Alb aufgeführt, son-
den Robert-Gernhardt-Abend. Auch
kündigt
dern in Mössingen, dem Schauplatz
nebenan, im alten Gasthaus Linde,
Theaterabend an: Zum mindestens
des Ereignisses. Die „Lindenhöfler“
wird Theater gemacht.
1.400sten Mal – ganz genau hat nie-
folgen den Geschichten, die sie spie-
Im ehemaligen Tanzsaal, wo das Dorf
mand mitgezählt – in 30 Jahren betrei-
lend nachempfinden, in die Region.
sich einst im Walzer wiegte, sitzt Bern-
ben Bernhard Hurm und Uwe Zellmer
Sie
Heimatgeschichte,
hard Hurm, 57. An seiner rechten Hand
heute Schwabenkunde mit dem Stück
aber nicht verklärend. Nicht selten er-
blitzen drei markante Ringe. Zwischen
„Kenner
zählen sie Geschichten von Außensei-
den Fingern verglüht eine Zigarette
das der Stuttgarter Schriftsteller und
tern, Ausgestoßenen und Menschen
nach der anderen. Der Intendant muss
Mundartdichter Thaddäus Troll für
am Rande der Gesellschaft. Geschich-
sich auf seinen Auftritt vorbereiten,
sie geschrieben hat. Ein Stück schwä-
ten, die in der so genannten „Provinz“
doch zuvor will er erzählen, wie alles
bische Selbstanalyse, gespickt mit ver-
mindestens ebenso zu finden sind wie
begann, Ende der 70er Jahre, mit einer
trackten Feinheiten der Mundart. Ein
in den großen Städten. Immer erzäh-
Schülertheater-Gruppe in Reutlingen:
Heimspiel.
len sie mit Bezug zum Hier und Heute.
Sie machten sozialkritisches Theater
Auf diese Weise hat sich das kleine,
in Brecht‘scher Lehrstückmanier und
eigensinnige
über
träumten davon, von der Schauspiele-
die Jahre die Aura des Außergewöhn-
rei leben zu können. Als sie hörten, im
lichen in der Theaterszene erspielt,
zwanzig Kilometer entfernten Melchin-
den Ruf des – so das Magazin „Der
gen seien Gasthaus und Scheune zu
Spiegel“ – „verwegensten freien The-
verkaufen, borgten sie sich Geld von
ten sie einmal ein Stück über Friedrich
aters Deutschlands“.
Freunden und Verwandten. Und griffen
Hölderlin, der die letzten Jahre seines
„Wir flechten hier an einem großen
zu, einfach so. „Keiner von uns hatte
Lebens im berüchtigten Dichterturm
erforschen
Schauspielhaus
30
P
Europas
trinken
meistgespielten
Württemberger“,
ublikumserfolge
erzielt
der
Lindenhof aber auch jenseits der Klischee-Requisiten Trollinger und Kehrwoche. Beim
Tübinger Sommertheater inszenier-
DA S M AG A Z I N
Oben links Auch beim 1.400sten Mal noch ausverkauft: Das Publikum wartet auf Einlass zu "Kenner trinken Württemberger". Unten links Kann hinstehen: Co-Intendant Stefan Hallmayer.
Rechts Schwäbische Selbst-
analyse: Szene aus "Kenner trinken Württemberger" (zu sehen sind Uwe Zellmer (li.) und Bernhard Hurm).
am Neckar verbrachte. Die Lindenhöf-
schaft, die schließlich von Hölderlin
wichtiger ist: Der brave Bürger en-
ler machten den Originalschauplatz
heimgesucht wurde, der wie ein Ver-
gagiert sich für die „Spinnerten“ von
zwischen Dichterturm und Burse zur
rückter über die Tafel rannte. „Da ist
früher. Es ist zusammengewachsen,
Bühne und den Neckar gleich mit.
die hohe Literatur ins Leben hinunter
was – so dachten anfangs viele – nicht
Hölderlin setzten sie auf ein im Fluss-
gekommen“, sagt Hurm.
zusammengehört.
lauf vertäutes Floß und ließen ihn
Während die Anwohner in Tübingen
In Mössingen geht es auf neun Uhr
schlussendlich in Flammen aufgehen
und anderswo früher noch befürch-
zu, die Probe wäre eigentlich längst zu
– ein Bild, das sich in das kollektive
teten, die Lindenhöfler würden ihnen
Ende. Doch die Laiendarsteller wollen
Gedächtnis der Tübinger einbrannte.
mit ihren neuen Aufführungsmoden
weitermachen. Der Regisseur gibt nach.
Einmal ging der Lindenhof noch ein
die Vorgärten zertrampeln, ist das
Noch einmal ruft er: „Typisch Mössin-
Stück weiter und machte das Pub-
Theater heute hochdekoriert und ge-
gen!“ – und rums!, drehen die streiken-
likum zum Teil der Inszenierung: In
nießt als einziges „Regionaltheater“
den Arbeiter sich zum Publikum. Dies-
„Hölderlin – Ein Abendspaziergang“
bundesweit eine Sonderstellung: Für
mal waren alle schnell genug, auch der
liefen die Zuschauer durch das auf
jeden Euro, mit dem der Lindenhof
ältere Herr, der anfangs immer einen
der Neckarinsel angelegte „Toten-
kommunal gefördert wird, legt das
Schritt zu spät war. Es fügt sich zusam-
reich“, um anschließend an einer für
Land das Doppelte drauf. Zusammen
men, was zusammen gehört.
200 Menschen gedeckten Tafel Platz
mit den Eigeneinnahmen ergibt sich
zu nehmen. Bei Brot und Wein wurde
so ein Jahresetat von immerhin 1,5
Text: Anne Meyer
das Publikum zur Beerdigungsgesell-
Millionen Euro. Und was noch viel
Fotos: Antonia Zennaro
31
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
32
DA S M AG A Z I N
Gar nicht abgehoben Fotoessay _ Seit einem halben Jahrhundert betrachtet er die Erde von oben. Besuch beim Luftbildfotografen Manfred Grohe.
Der Zollernalbkreis im Rampenlicht: Im Januar 2003 fing Manfred Grohe ein, wie die Sonne 端ber schneebedeckten Feldern durch die Wolken bricht.
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
34
DA S M AG A Z I N
Hervorragendes Zeugnis der Neugotik: Die Burg Hohenzollern, Stammsitz des F端rstengeschlechts der Hohenzollern, thront seit rund 150 Jahren auf dem Zollerberg. Unten liegt der Zollernalbkreis im Nebelmeer.
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
anfred Grohe blickt durchs Esszimmerfenster in den Himmel über Kirchentellinsfurt.
Es
schneit.
„Kein
gutes Flugwetter“, sagt er und schüttelt den Kopf. Vor neun Tagen ist er zuletzt geflogen. Wenn jetzt nur ein kleines blaues Loch den grauen Februarhimmel aufreißen könnte, dann würde er seine Freunde aus dem Flugverein anrufen, um mit ihnen durch diese Öffnung über die Wolken aufzusteigen. „Das ist schon ein bisschen wie Rauschgift. Wenn man lange nicht oben war, und dann hebt man ab, und alles stimmt, die Luft, das Licht – oh, das ist ein wunderbares Gefühl!“ Manfred Grohe, 75, ein leiser, feingliedriger Mann mit silbernem Haar, hat mehr Stunden im Cockpit verbracht als mancher Pilot. Seit über einem halben Jahrhundert fotografiert er die Erde von oben, Felder und Fabriken, Flüsse und Straßen. Landschaften wie abstrakte Gemälde, Stadtszenen wie aus den vor Eindrücken beinahe berstenden Bilderbüchern von Ali Mitgutsch: Man kann sich kaum sattsehen an dem Gewimmel beschäftigter Menschen. Überall erschienen seine Bilder, vom Schwäbischen Tagblatt, seinem ersten Abnehmer, bis zum Stern, jahrelang sein größter Auftraggeber. Und noch heute, da er längst ausgesorgt hat, geht er jeden Morgen die Treppe hinauf in das Zimmer seiner längst ausgeflogenen
36
DA S M AG A Z I N
Ein Land wie sanfter Wellen gang: Vorn sticht der Stuttgarter Fernsehturm ins Bild, dahinter funkelt der Neckar, erheben sich Schwäbische Alb und schließlich die Alpen. Manfred Grohe hat ein gutes Stück Kontinent auf einem einzigen Foto festgehalten.
Kinder, fährt seinen Computer hoch und guckt auf www.flugwetter.de, ob es ein guter Tag wird, um in die Lüfte zu steigen. Ist die Maschine dann oben, übernimmt er das Ruder – und übergibt es dem Piloten erst wieder, wenn er sein Motiv gefunden hat. Die meisten seiner Pilotenfreunde fliegen Tiefdecker, mit Flügeln unterhalb der Fenster; bei denen muss der Pilot, wenn es ernst wird, das Flugzeug schräg stellen, die Flügel fast senkrecht. Mit der Seelenruhe von 50 Flugjahren hält Grohe dann seine Kamera aus dem Fenster, die pfeifende Luke mit einem Stück Holz offen gehalten, den eisigen Flugwind zwischen den Fingern. Mehr als 100.000 Luftbilder hat er auf diese Art geschossen. Die schönsten von ihnen füllen 20 dicke Fotobände, darunter Hommagen an seine Heimat wie „Flug über die Region Stuttgart“ oder „Flug über Donau und Schwäbische Alb“. Das Heimatmuseum Reutlingen widmete ihm 2013 eine Ausstellung. Drei Jahre lang habe er sich dagegen gewehrt, sagt Grohe, er möge den Rummel nicht, und überhaupt, es gebe viel bessere Luftbildfotografen als ihn. Schließlich aber habe er dem Drängen des Museums nachgegeben. Wer hört, wie er das erzählt, in seiner stillen, zurückhaltenden Art, nimmt ihm ab, dass er nicht kokettiert. In seinem Haus in Kirchentellinsfurt, auf einem Berg unweit von Reutlingen, ist es mit der Bescheidenheit allerdings vorbei. Im Flur prangt ein Fotodruck, der die ganze Wand einnimmt, vier Meter breit, zwei Meter hoch: eine Wolkendecke, nur in der Mitte durchbrochen durch die Burg Hohenzollern.
Im
Wohnzimmer,
kaum kleiner: die Hochhäuser von São Paolo, aufgenommen aus einem Hubschrauber. Grohe hat die halbe Welt fotografiert, nicht nur Luftbilder gemacht, auch Reportagen, Dokumentationen, Portraits, in Australien und der Antarktis, in Nordkorea und New York, Sibirien
37
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
und Samoa. Angefangen hat alles in
„Ich geh da nicht mehr hin, und wenn
Mössingen, südlich von Tübingen, im
du mich totschlägst.“ Mit 16 begann er
elterlichen Wohnzimmer, kurz nach
seine Lehre in einem Reutlinger Foto-
dem Krieg.
laden, lernte erst zwei Jahre Fotolabo-
M
rant, dann ein Jahr Fotograf. ein Vater war leidenschaft-
Die alten Zeiten, von denen Grohe in
licher
Amateurfotograf“,
seinem Esszimmer erzählt – vor ein
erzählt er. „Sonntags hat
paar Jahren lagen sie noch einmal vor
er eine rote Birne in die
ihm auf dem Tisch: 40 Kameras und
Wohnzimmerlampe gedreht und Fo-
Objektive, analog, nostalgisch, nutz-
tos auf dem Esstisch entwickelt, nicht
los. Ein Käufer kam, seine Frau nahm
ganz zur Freude meiner Mutter. Wir
das Geld entgegen. „Und ich stand in
hatten kein fließendes Wasser, muss-
der Ecke und hab geweint.“ Keine ein-
ten es mit Eimern holen. Aber als die
zige Kamera hat er behalten. Er sah
Bilder raus kamen, aus dem Rot, das
es ein: Die Digitalfotografie hatte ge-
fand ich als Junge faszinierend.“
siegt. Die Nachteile des Analogen fül-
Zur Konfirmation bekam er seine
len ein halbes Dutzend seiner Keller-
erste Kamera, Agfa Rollfilm 6x6, eine
räume: Negative und Dias, wohin man
kleine schwarze Box für neun Mark. Er
sieht. Regale, Schränke, Schubladen
ging auf den Flugplatz am Farrenberg
voller beschrifteter Kartons.
und fotografierte einen startenden
Unter dem Treppenaufgang liegt ein
Segelflieger, am Schleppzug hängend,
Stapel Zeitschriften, aus dem Grohe-
fast senkrecht in der Luft, dahinter die
schen Privatarchiv zusammengeklaubt
Wolken. Es war sein erstes Foto – und
für die Reutlinger Ausstellung. Oben-
er gewann damit den Wettbewerb des
auf ein alter Stern, fast doppelt so dick
Mössinger
Ausrüstung
wie heute. Darunter das amerikani-
und Material im Wert von 50 Mark.
sche Magazin LIFE, damals das Non-
„Ich bin dann jeden Sonntag auf dem
plusultra der Fotojournalisten. „1983
Farrenberg herumgeschlichen, bis ir-
– Pictures of the year“ steht auf dem
gendwann ein Fluglehrer gefragt hat:
Heft. Grohe schlägt es auf und zeigt
‚Willst du mal mitfliegen?‘“ So machte
eine Doppelseite: das Luftbild einer
er sein erstes Luftbild, Mössingen von
Menschenkette auf der Schwäbischen
oben. Er hat es vergrößert, gerahmt
Alb, aufgenommen am 22. Oktober
und an die Läden des Ortes verkauft.
1983. Sie reichte von Stuttgart bis Neu-
Ein gutes Geschäft.
Ulm, über hundert Kilometer, 200.000
Trotzdem wollte Grohes Vater nicht,
Demonstranten, Hand in Hand für den
dass der Junge Fotograf wird; zu oft
Frieden und gegen die Stationierung
hatte er gesehen, wie die mit ihren Ka-
amerikanischer Atomraketen in der
meras auf der Neckarbrücke standen
Bundesrepublik.
Fotoladens:
und den Passanten Visitenkarten in die Hand drückten, in der Hoffnung, mal ein Bild zu verkaufen. Sein Junge sollte Feinmechaniker werden. Er begann seine Lehre bei einem Tübinger Medizingerätebauer. „Das war ein Scheißla-
M
indestens 40 Maschinen mit Fotografen seien damals unterwegs gewesen, erzählt Grohe. „Ich hab
dem Piloten immer Kommandos ge-
den!“, sagt er heute. Zur Übung musste
geben: Rechts, in Sicht! Links! Gera-
er Würfel aus krummen Eisen schleifen
deaus, in Sicht! Aus allen Richtungen
– „völliger Unsinn“. Schon am zweiten
kamen die Flugzeuge.“ Eines ist nach
Tag setzte es eine Ohrfeige. „Weil ich
einem Zusammenstoß abgestürzt, es
dem Meister ein bisschen Säure an die
gab Tote. Am nächsten Morgen soll-
Hand gespritzt habe.“ Acht Tage hielt
ten alle Fotografen ihre Abzüge zum
Menschenkette: Demo gegen
er es aus, dann sagte er zum Vater:
Stuttgarter Flughafen bringen, von
US-Atomraketen in Deutschland
38
DA S M AG A Z I N
dort wurden sie nach Hamburg geflogen, zum Stern. „Gedruckt haben sie am Ende nur meins. Das war was! Damals war ich ja noch jung und stolz.“ Der Stern verkaufte es weiter an LIFE, Grohe kassierte 5.000 Dollar – so viel verdiente manch freier Pressefotograf in einem halben Jahr.
F
otografieren,
die
väterliche
Befürchtung war widerlegt, ist nicht immer brotlose Kunst. Doch es ist nicht das Geld,
das Manfred Grohe zufrieden macht. Die Gemütsruhe, die er ausstrahlt, diese unbeirrbare Gelassenheit – es scheint, als habe sich die Stille über den Wolken auf sein Wesen übertragen. Wer gewohnt ist, die Welt von oben zu betrachten, erlangt offenbar eine erhebende Distanz zu den Dingen. Einmal sagt er: „Wenn man über eine Stadt wie Stuttgart fliegt, und unten demonstrieren zigtausend Leute – dann wirkt das wie ein Ameisenhau-
Weinberge und die Grabkapelle Rotenberg bei Untertürkheim im Herbstlicht.
fen. Es berührt einen kaum.“ Manchmal fragt er sich, wie es wäre, noch höher hinauf zu steigen, empor ins All, und den blauen Planeten aus einem Raumschiff zu fotografieren. Private Flüge ins All gibt es heute schon ab 80.000 Euro. Doch die fliegen nur in eine Höhe von 100 Kilometern – viel zu niedrig, um die Erde als Ganzes aufs Bild zu bekommen. Und so wird Manfred Grohe sich die Erfüllung dieses letzten Traums wohl sparen. Seine fünf Enkel, sagt er, wird es einmal freuen. Text: Julius Schophoff Fotos: Manfred Grohe
Geschäftig im Grünen: Das Neckartal mit Mercedes-Benz-Arena, Mercedes-Werk und Neckarhafen.
39
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
Powered by Voith Reportage _ Kaum jemand kennt den Technologiekonzern Voith. Dabei beschäftigt er rund 42.000 Menschen in mehr als 50 Ländern. Zu Besuch beim heimlichen Weltmarktführer auf der schwäbischen Ostalb.
F
ährt man mit dem Auto nach Hei-
wird – Antriebstechnik, Hydrauliksyste-
Hemd ist nach seinem Abschluss von
denheim, weisen Straßenschil-
me, Industriedienstleistungen, Papier-
Bremen nach Heidenheim gezogen.
der zu Voith. Als wäre die Firma
maschinen und Wasserkraft – erleich-
Zwei Jahre ist das jetzt her und mittler-
ein Stadtteil. Reist man mit dem
tert zwar den Alltag vieler Menschen
weile hat er sich eingelebt. Dass man
Zug an, kann man direkt am Voith-
überall auf der Welt, bleibt aber meist
alles zu Fuß erledigen könne: ein gro-
Werk aussteigen. Es hat eine eigene
inkognito: Alle 3.000 Züge der Londo-
ßer Vorteil. Abends in eine gemütliche
Haltestelle. Wer Heidenheim besucht,
ner U-Bahn fahren mit Kupplungen
Wirtschaft: kein Problem in Heiden-
kommt um Voith nicht herum. Selbst
von Voith. Ebenso der Eurostar-Hoch-
heim. Und fürs Wochenende biete die
wer dem 50.000-Einwohner-Städtchen
geschwindigkeitszug zwischen Brüssel,
Schwäbische Alb viele Freizeitmöglich-
den Rücken kehrt, begegnet dem Na-
Paris und London. Wasserkraftwerke
keiten. „Wenn ich doch mal in die Groß-
men. Auf dem Weg hinauf zum pitto-
in Deutschland, Indien, China und vie-
stadt will, ist Ulm ja gleich um die Ecke,
resken Schloss, das seit dem Mittelal-
len anderen Ländern sind powered
und Stuttgart oder München sind auch
ter auf dem Hellensteinfelsen thront:
by Voith. Sie erzeugen ein Viertel der
nicht aus der Welt.“ Und dann ist da
ein Wegweiser zur „Voith-Arena“, dem
weltweit aus Wasserkraft gewonne-
natürlich noch der Job, der Abwechs-
Heimstadion des 1. FC Heidenheim,
nen Energie. Der Mittelständler aus
lung bietet. Noske arbeitet im Bereich
Drittligameister 2014 und ab der kom-
Heidenheim hält vielerorts die Welt in
Turbinen und Generatoren – ein Herz-
menden Saison erstmals in der 2. Bun-
Bewegung – und lockt Mitarbeiter von
stück des Unternehmens. „Wenn ein
desliga. Ein Verein mit Zug nach oben.
nah und fern in die Stadt im Ostalbkreis
Kunde ein Wasserkraftwerk plant“,
Der Technologiekonzern Voith hinge-
nahe der Grenze zu Bayern.
sagt er, „erarbeiten wir zusammen mit
gen ist längst oben angekommen. Welt-
„Das war schon eine Umstellung für
dem Vertrieb ein Turbinenangebot für
marktführer. Auch wenn das außerhalb
mich“, sagt Philip Noske. „Aber allzu
ihn.“ Ein Alltag voller internationaler
von Heidenheim kaum jemand weiß.
schwer war sie nicht.“ Der 29-jährige
Projekte.
Denn woran in Heidenheim getüftelt
Ingenieur in Chino-Hose und legerem
M
it 4.500 Mitarbeitern vor Ort ist das Unternehmen der
größte
Heidenheims,
Arbeitgeber fast
jeder
zehnte Einwohner ist Voith-Mitarbeiter. Firmengebäude und Werkshallen finden sich an allen Ecken und Enden der Stadt. „Halb Heidenheim ist Voith“, bringt es eine auf den Punkt, die es wissen muss: Elfriede Rentschler, 77 Jahre, Taxifahrerin seit fast einem halben Jahrhundert vor Ort. Einer ihrer beiden
Ein Hoch auf Heidenheim: Auf der schwäbischen Ostalb hat der Konzern Voith seine Wurzeln. Fast jeder zehnte Einwohner der Stadt arbeitet für das Unternehmen.
40
DA S M AG A Z I N
Internationale Karriere: Der Ingenieur Philip Noske lebt in Heidenheim, plant aber Projekte in der ganzen Welt.
Wagen fährt meist für Voith: um Mitarbeiter zu den Flughäfen nach Stuttgart, München oder Frankfurt zu bringen. Was wäre Heidenheim ohne Voith? „Beides gehört einfach zusammen“, sagt sie. Jeder kenne hier jemanden, der bei Voith schafft. Früher habe es bei der Bank schon gereicht zu sagen, dass man bei Voith arbeite. „Dann bekam man ohne Probleme einen Kredit.“
und Ästen macht einen starken Baum.“
besten Sinne bodenständig sind“ sagt
Begonnen hatte alles mit einer klei-
Und die Wurzeln? „In Heidenheim liegt
Ralf Schönsee, Personalleiter bei Voith.
nen Schlosserei, die Maschinen warte-
die Seele von Voith“, sagt Lienhard.
Während Arbeitnehmer woanders oft
te. Friedrich Voith übernahm 1867 die Firma mit ihren 30 Mitarbeitern von seinem Vater. Der Ingenieur baute das Unternehmen um, konstruierte Ma-
D
nur wenige Jahre bleiben, sei es bei afür, dass in der Metropolre-
Voith das erklärte Ziel, Mitarbeiter ans
gion so viele mittelständische
Unternehmen zu binden. „Wir bieten
Weltfirmen wurzeln, gibt es
abwechslungsreiche Aufgaben, dazu
verschiedene Gründe. „Einer
viele Entwicklungsmöglichkeiten – und
ist, dass die Natur die Region mit eher
zwar innerhalb des Konzerns. Wer bei
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts tra-
knappen Ressourcen ausgestattet hat.
Voith seine Karriere beginnt, soll auch
fen die ersten Großaufträge aus dem
Das macht traditionell schon mal er-
bei Voith in Rente gehen.“
Ausland ein. Als Friedrich Voith 1913
finderisch“, sagt Hermann Simon. Der
Dabei spielt der Stand- und Wohnort
starb, war aus der Schlosserei eine
Wirtschaftsexperte prägte den Begriff
Heidenheim eine entscheidende Rol-
weltweit gefragte Maschinenfabrik ge-
der „Hidden Champions“ und beschrieb
le: „Das Gesamtpaket aus Arbeitsplatz
worden. Die Mitarbeiterzahl hatte sich
ihre Erfolgsstrategien in mehreren Bü-
und Wohnort ist so viel wert, dass
auf 3.000 verhundertfacht.
chern. „Zudem hilft die Mentalität des
viele junge Kollegen dafür auf ein Le-
Nach dem Zweiten Weltkrieg ließen
‚schaffe, schaffe, Häusle baue‘ , dass
ben in der Großstadt verzichten“, sagt
Wirtschaftswunder und Globalisierung
kleine Unternehmen zu Weltmarkt-
Ralf Schönsee. Manch einer pendelt
den Betrieb zum Weltkonzern und In-
führern heranwachsen.“ Gerade an
zunächst dennoch in die Großstädte,
novationsführer heranwachsen. Heute
kleineren Standorten zeige sich oft ein
zumindest am Wochenende. „Spätes-
arbeiten mehr als 42.000 Mitarbeiter
Phänomen, das Simon „unternehmeri-
tens wenn Kinder kommen, finden die
in mehr als 50 Ländern für das Unter-
sche Ansteckungseffekte“ nennt: „Einer
meisten Mitarbeiter eine kleinere Stadt
nehmen. Im Geschäftsjahr 2012/2013
macht sich selbstständig – und andere
ohnehin wunderbar.“
lag der Umsatz bei 5,7 Milliarden Euro.
folgen.“ So lasse sich erklären, warum
„Die Unternehmenskultur gefällt mir “,
Jahr für Jahr meldet Voith 400 Patente
sich im Osten Baden-Württembergs
sagt der Ingenieur Philip Noske. Keinen
an – und gehört damit zu den Top 20 in
auf relativ kleinem Raum eine Reihe
Gedanken verschwendet er daran, den
Deutschland. „Man muss sich Heiden-
von Weltmarktführern drängen.
Job alle paar Jahre zu wechseln, nein,
heim wie einen Baumstamm vorstel-
Auch das langfristige Denken in den
das wäre nichts für ihn. Aber bei Voith
len“, sagt Hubert Lienhard, Vorsitzen-
oft über Generationen gewachsenen
bis zur Rente bleiben, sagt er, das kön-
der der Voith-Geschäftsführung. „Die
Familienunternehmen spielt dabei eine
ne er sich gut vorstellen.
vielen Äste, die aus dem Stamm ge-
Rolle. Was Voith und seinesgleichen bis
wachsen sind, sind die Auslandsgesell-
heute von börsennotierten Großkon-
Text: Nicola Meier
schaften. Erst die Einheit aus Stamm
zernen unterscheidet, ist, „dass wir im
Fotos: Rainer Kwiotek
schinen für die Papierverarbeitung und Wasserturbinen zur Stromgewinnung.
41
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
Die HiddenChampionsFischer Branche
Befestigungstechnik
Paradeprodukt
Spreizdübel
Gründungsjahr Umsatz
1948 614 Mio. Euro
Mitarbeiterzahl
3.900
League
Alle schlagen auf Fischer ein und die Firma freut‘s. Zehn Millionen graue Kunststoffröhrchen, die legendären Fischer-Dübel, werden pro Tag allein im Werk WaldachtalTumlingen produziert. Unzählige von ihnen werden von Hand- und Heimwerkern in die Wände der Welt getrieben, halten Bilder und Spiegel in der Höhe und wuchtige Wohnzimmerschrankwände in der Vertikalen. Der Dübel ist der unangefochtene Star der Firma, natürlich. Doch er ist nur eine von zahllosen Erfindungen von Artur Fischer. Als der 1948 aus der Kriegsgefangenschaft zurückkam, gründete er einen kleinen Betrieb in Hörschweiler. Zunächst stellte er Webstuhlschalter her und Feueranzünder. Schon nach einem Jahr meldete er sein erstes Patent an, ein Foto-Blitzlichtgerät. In den 50er Jahren schließlich kamen die Dübel hinzu, damals noch kleine Blechhülsen mit
Foto: Kuball / Fischer
Hanffüllung. Bis heute meldete Artur Fischer über tausend
Porträt _ In den Schlagzeilen findet man diese
Schutzrechte an, er gilt als einer der erfolgreichsten Erfin-
Firmen eher selten, in den Stellenanzeigen dafür
der Deutschlands. Viele Ideen seien ihm morgens unter der
umso öfter: Die Metropolregion Stuttgart ist Stammsitz
Dusche eingefallen, verriet der Tüftler einmal.
vieler heimlicher Weltmarktführer – Mittelständler
Inzwischen leitet sein Sohn Klaus Fischer die Firma. Er
mit Millionenumsatz, deren Namen oft nur
stellte das Unternehmen, das beim Generationenwech-
branchenintern bekannt sind. Sie entwickeln,
sel stark vom deutschen Markt und von Kunststoffdübeln
verkaufen, wachsen und halten den Jobmotor
abhängig war, auf breitere Beine. Fischer junior stieg ins
geräuschlos am Laufen.
42
DA S M AG A Z I N
Autozulieferergeschäft ein – es wurde die zweitwichtigste
bringen wir Musik dazu, lassen Wind aufkommen und können
Unternehmenssparte. Artur Fischer, inzwischen 93 Jah-
sogar Gerüche anbieten", sagt Lothar Bopp.
re alt, ist stolz auf seinen Sohn: "Ihm ist es gelungen, die
Seine Shows sollen die Menschen berühren, so wie auch er
Modernisierung und die Internationalisierung der Firma
durch seine Arbeit schon bewegende Momente erlebte: Zum
voranzutreiben.“ Inzwischen führt Fischer 43 Landesgesell-
40. Geburtstag der DDR installierte Lothar Bopp eine Laser-
schaften in 31 Ländern, zehn Produktionsstandorte gibt es
show im Palast der Republik, extra für Michail Gorbatschow.
weltweit.
„Draußen skandierten die Menschen ‚Wir sind das Volk’. Geschichte hautnah – das war einmalig.“ Der Markt für Lasertechnik mag überschaubar sein. Doch die Bühne dafür ist die ganze Welt.
Lobo electronic Branche
Dienstleister für Multimedia und Lasershows
Paradeprodukt Gründungsjahr Umsatz Mitarbeiterzahl
Laserprojektoren 1982 8 Mio. Euro 30
Groz-Beckert Paradeprodukt Gründungsjahr Umsatz
Die Firma Lobo electronic setzt andere in Szene – dabei
Mitarbeiterzahl
Feinwerkzeuge Maschinennadeln 1852 539 Mio. Euro 8.000
braucht sie selbst sich auch nicht verstecken, als weltweit erfolgreichster Installateur für Lasertechnik. Lobo realisiert Lichtshows von Quebec bis Turkmenistan, von Iran bis Jorda-
Was führt ein Unternehmen zum Erfolg? Tradition? In-
nien, von Jakarta bis Changzhou – alles von Aalen aus, 66.000
novation? Diversifikation? Bei Groz-Beckert jedenfalls ist
Einwohner, Ostalbkreis. Gerade einmal 30 Angestellte hat die
soziales Engagement Teil des Erfolges, der Einsatz für die
Firma, trotzdem räumt sie eine Auszeichnung nach der ande-
Mitarbeiter und das Streben nach einem guten Betriebskli-
ren ab – allein 139 Mal den ILDA Award, den Oscar der Bran-
ma. Der Weltmarktführer für Maschinennadeln und Fein-
che. Mehr als jedes andere Unternehmen weltweit. 2011 wur-
werkzeug mit Stammsitz in Albstadt-Ebingen ist der größte
de Lobo-Gründer Lothar Bopp vom Lasershow-Weltverband
Arbeitgeber im Zollernalbkreis. 1852 öffnete Theodor Groz
ILDA gar für sein Lebenswerk ausgezeichnet – mit 48 Jahren.
ein Geschäft für Modeaccessoires mit angeschlossener
Bopp hatte seine Firma noch während des Studiums gegrün-
Nadlerwerkstatt. Daraus wuchs das Multimillionen-Unter-
det. In den 90er Jahren überlegte er, mit Lobo nach Stuttgart
nehmen.
umzuziehen. Doch Aalen war attraktiver: Neben der etablier-
Bis heute ist es in Familienbesitz, traditionelle Werte wie
ten Infrastruktur profitiert das Unternehmen besonders von
Beständigkeit und Verantwortung haben den jahrzehnte-
der Nähe zum Optik-Spezialisten Zeiss und dessen 10-Kilome-
langen Aufstieg überdauert. Schon 1888 gründete Theodor
ter-Laser-Teststrecke. Es gibt exzellent ausgebildete Fachkräf-
Groz eine firmeneigene Krankenkasse für seine Mitarbei-
te in der Region. Und neue Entwicklungen passieren direkt
ter. Heute, 125 Jahre später, entsteht in Albstadt ein Sozi-
vor der Firmentür: „Früher hatten wir nur den Laser, heute
alzentrum für die Angestellten und ihre Familien. Neben
43
Foto: LOBO Laser- und Multimediasysteme, Aalen (www.lobo.de), Bjoern Franke / Groz-Beckert
Branche
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
e iner Kindertagesstätte und einer Grundschule verfügt das
technik. Ganze 9 Prozent des Umsatzes investiert er in die
Zentrum auch über einen Gesundheitsbereich mit Fitness-
Entwicklung. Die Forschung sei der Weg, um den Heraus-
center, Physio-Bereich und Arztpraxis. „Eine verbesserte
forderungen von morgen schon heute zu begegnen, sagt
Vereinbarkeit von Familie und Beruf – für Frauen und für
Vorstandsvorsitzender Eberhard Veit. „Beschäftigen Sie
Männer“, das wünscht sich Thomas Lindner, Vorsitzender
sich mit der Zukunft“, rät er Unternehmern. Schließlich
der Geschäftsführung. Und freut sich, dass Groz-Beckert
seien die Rohstoffe für den Erfolg eines Unternehmens vor
hier schon so gut aufgestellt ist. „Denn natürlich möchten
allem Bildung und Wissen. Und die Freiräume, die ein Un-
wir auch im härter werdenden Wettbewerb um qualifizier-
ternehmen seinen Mitarbeitern biete. „Innovationen ent-
tes Personal die Nase vorn haben.“
stehen selten, wenn Entwickler schwitzen.“
Festo Branche
Steuerungs- und Automatisierungstechnik
Paradeprodukt Gründungsjahr Umsatz Mitarbeiterzahl
SmartBird 1925 2,24 Mrd. Euro 16.000
Schwörer Haus Branche Paradeprodukt Gründungsjahr Umsatz Mitarbeiterzahl
Hausbau Fertighäuser 1950 230 Mio. Euro 1.850
„Schaffe, schaffe, Häusle baue“ – wo, wenn nicht in Baden-
Foto: Festo, Schwörer Haus
Württemberg? Bei der Firma Schwörer geht das sogar in Wenn man hoch hinaus will, kann man es mit Fliegen ver-
Rekordzeit. Den Aufbau eines Hauses schaffen die Monteu-
suchen. Oder mit bahnbrechenden Erfindungen. Oder mit
re in nur ein bis zwei Tagen. 36.000 Fertighäuser hat das
großem wirtschaftlichem Erfolg. Oder man verbindet alles
Unternehmen schon gebaut, jede Woche 15 neue – auch im
– und baut, wie Festo, einen flugfähigen Roboter. Die Firma
europäischen Ausland.
mit Sitz in Esslingen entschlüsselte das Geheimnis des Vo-
Obwohl der Fertighaushersteller inzwischen ein Gro-
gelflugs, ihr „SmartBird“ aus Karbonfaser schlägt mit den
ßer der Branche ist, bleibt er im kleinen Hohenstein-
Flügeln wie eine echte Silbermöwe. Beeindruckend anzuse-
Oberstetten zu Hause. Das Werk auf der Schwäbischen
hen ist das. Und ungemein lehrreich: Es hilft den Ingenieu-
Alb besteht seit 1956, noch heute ist es der Hauptsitz.
ren dabei, neue strömungsoptimierte und energieeffizien-
Die Nähe zum Werkstoff Holz ist wichtig für die Produk-
te Komponenten zu entwickeln.
tion. Und als Familienunternehmen bleibt Schwörer der
Forschungsvorreiter zu sein hat eine lange Tradition bei
Region treu.
Festo. Gegründet wurde die Firma schon 1925. Früh nutzte
Johannes Schwörer, der Neffe von Firmengründer Hans,
sie Druckluft als Technologie, später gab sie durch Festo
führt das Werk seines Großvaters als Firmenchef weiter,
Didactic ihre Erkenntnisse als Lehrmittel weiter. Heute ist
etwa indem er Nachwuchs selbst ausbildet. Derzeit lernen
der Konzern Innovationsführer in der Automatisierungs-
über 80 junge Männer und Frauen 16 verschiedene Beru-
44
DA S M AG A Z I N
fe, Übernahme in Aussicht. „Eigene Leute“, sagt Johannes
die Wege der Brüder. Günther blieb bei Ziehl-Abegg. Heinz
Schwörer, „sind das Kapital der Firma: Manche arbeiten
gründete mit seinem Kollegen Gerhard Sturm EBM. Heute
schon in der vierten Generation bei uns“. Vorsprung durch
sieht Ziehl-Abegg-Chef Peter Fenkl die Konkurrenz vor der
Tradition – Schwörer ist nicht der einzige Mittelständler der
Haustür sportlich: „Wettbewerb belebt das Geschäft.“
Metropolregion, bei dem Vergangenheit und Zukunft eine
Ein Geschäft, das andernorts so vielleicht nicht möglich
ziemlich produktive Symbiose eingehen.
wäre: Hohenlohe ist die Heimat der Branchenriesen. In keinem anderen Landkreis der Republik gibt es, gemessen an der Einwohnerzahl, so viele Weltmarktführer wie hier. Nicht alle sind so bekannt wie das Schraubenimperium Würth, aber deshalb nicht weniger wichtig. Das Verpackungsunternehmen Huber etwa, der Kunststofftechniker Hornschuh
EBM Papst & Ziehl-Abegg Branche
oder der Ventilbauer Gemü: Gemeinsam mit vielen weiteren kleinen und mittelständischen Unternehmen schaffen sie ein Klima, in dem Erfindergeist und Unternehmersinn
Elektromotoren, Luft- und Klimatechnik
gedeihen.
Paradeprodukt
Ventilatoren
Gründungsjahr
1963 / 1910
Innovationskraft und Leistungsfähigkeit fände er beson-
1.349 Mio. (2012/2013) und 371 Mio. Euro (2012)
ders hier, sagt Peter Fenkl. Bei EBM kommen 40 Prozent
Umsatz
Mitarbeiterzahl
der verbauten Komponenten von Zulieferern aus dem
10.564 und 3.100 (2011)
Hohenlohekreis. „Wir glauben an Deutschland als Produktionsstandort“, so Fenkl. Sich international als Innovationsführer zu etablieren, sei trotzdem nicht einfach. Die Firmennamen sind branchenintern bekannt, darüber hinaus kaum. „Wir heimlichen Weltmarktführer müssen uns anstrengen, um auch künftig als Technologieführer wahrgenommen zu werden.“ Text: Mathias Becker
Diese zwei Unternehmen machen eine Menge Wind und doch kennt sie kaum jemand: EBM Papst und Ziehl-Abegg, Foto: EBM Papst, Ziehl-Abegg
Weltmarktführer im Bereich Industriemotoren und -ventilatoren, haben ihren Sitz im Hohenlohekreis westlich von Heilbronn. Die Nähe ist kein Zufall: Nach der Rückkehr aus dem Zweiten Weltkrieg verschlug es die Brüder Heinz und Günther Ziehl nach Künzelsau, wo sie das Unternehmen ihres Vaters wieder aufbauten. In den 60er Jahren trennten sich
45
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
Die Weltverbesserer Portrait _ Seit bald einem Jahrhundert produziert Weleda anthroposophische Medizin und Naturkosmetik. In Schwäbisch Gmünd ist ein heimlicher Weltmarktführer der anderen Art herangewachsen.
Alt, aber gut anzuschauen: Ausrangiertes Destillationsgerät am Eingang des Kräutergartens.
46
DA S M AG A Z I N
Mitarbeiter der Weleda-Naturkosmetikproduktion vor einer Homogenisierungsanlage.
R
hythmisch ratternde Laufbän-
schließlich auf wirtschaftliche Ge-
der Erde ernten. Doch vieles wächst
der, die Rosmarin-Shampoo
sichtspunkte
beschränkten Unter-
fast vor dem Firmentor. Vier Kilome-
in
nehmertum verpflichtet. Ökologische
ter hügelaufwärts sind es zum unter-
Verantwortung,
nehmenseigenen Heilpflanzengarten.
türkisblaue
Packungen
bugsieren. Hydraulikzischen-
Nachhaltigkeit,
Fa-
de Roboterarme, die mit Sanddorn-
milienfreundlichkeit gehören ebenso
Hier
Handcreme hantieren. Über allem:
zu den Firmenzielen. „Berufstätige
Blumen wie der Eisenhut oder der
warme, mit Pfefferminz- und Blut-
Eltern haben oft das Gefühl, sowohl
Bittersüße Nachtschatten, ehe sie,
orangenaroma
behangene
Job als auch Kinder zu vernachlässi-
tausendfach verdünnt, Husten oder
Luft. Die Naturkosmetikproduktion
gen“, sagt Isabella Heidinger, Leiterin
Gliederschmerzen lindern. Alles eine
läuft vollautomatisch, computerdiri-
des
Frage der Dosierung.
giert – zumindest in dieser Hinsicht
Also gibt es einen firmeneigenen Wal-
Der Garten wurde zur weltweiten Be-
ist Weleda ein typischer Vertreter
dorfkindergarten. Und sehr flexible
rühmtheit – 20.000 Besucher im Jahr
der
Weltmarktführer.
Arbeitszeiten, etwa 150 verschiede-
sind normal. 2014, mit der Landes-
Und doch ist mit „der Weleda“, wie
ne Zeitmodelle laufen parallel: „Weil
gartenschau in der Stadt, durchstreif-
viele Mitarbeiter sagen, eine Firma
Menschen ihr Bestes geben, wenn es
ten sogar noch mehr Menschen die
der anderen Art herangewachsen.
ihnen gut geht.“
Anlage.
Mitbegründet
der
Offenbar eine erfolgreiche Firmenphi-
Direkt neben dem Garten wurde ein Er-
Anthroposophie Rudolf Steiner, der
losophie: Mit 320 Millionen Euro Um-
lebnisgelände für Heilpflanzen und bio-
1919 in Stuttgart die erste Waldorf-
satz und 1.900 Mitarbeitern in mehr als
dynamischen Landbau angelegt. Da-
schule aufgebaut hatte, entstanden
50 Ländern wurde Weleda zum weltweit
mit nicht Hunderttausende durch die
1921 in Schwäbisch Gmünd und im
führenden Hersteller hochwertiger Na-
Heilpflanzenbeete stapfen. Denn eines
schweizerischen Arlesheim die zwei
turkosmetik und anthroposophischer
wissen sie bei Weleda genau: Auch im
Weleda-Vorgängerbetriebe: ein phar-
Medizin. Die Zahl der Initiativbewer-
Grunde Gutes kann schädlich werden.
mazeutisches Labor und eine Arznei-
bungen, die alljährlich eingehen, liegt
Kommt immer auf die Dosis an.
mittelfabrikation.
im vierstelligen Bereich.
Von Anfang an hatte sich Weleda
Die Zutaten der Kosmetika und Medi-
Text: Markus Wanzeck
einem
kamente lässt Weleda in allen Ecken
Fotos: Frank Schultze
schwer
heimlichen
vom
Vordenker
ganzheitlichen,
nicht
aus-
Kompetenzzentrums
47
Personal.
gedeihen
bildschöne,
giftige
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
Stuttgart
21 v. Chr.
Bericht _ Noch nie stand Archäologen auf der Schwäbischen Alb eine größere Fläche für ihre Spurensuche zur Verfügung. Bei Grabungen entlang der ICE-Trasse zwischen Stuttgart und Ulm stießen sie auf überraschend viele Funde.
48
NR. 01
D
onnerwetter!“, entfährt es
zwischen Stuttgart und Ulm, rund 500
Dr. Michael Wagschal, als
Meter südlich der A8 zwischen Aichel-
die Baggerschaufel die Ver-
berg und der Zähringerstadt Weil-
gangenheit aus dem grauen
heim an der Teck. Doch nachdem nun
Lehmboden und einem Jahrhunderte
Ziegel für Ziegel die Vergangenheit
währenden Dornröschenschlaf reißt.
ausgebuddelt wird, muss die Zukunft
Er hält einen rostfarbenen Leistenzie-
warten, müssen Wagschal und sein
gel in der Hand. Flache Form, zwei pa-
Team, Archäologen des Stuttgarter
rallel verlaufende Kanten: „Das ist ein
Landesamts für Denkmalpflege, die
römischer Ziegel.“ Die hiesige Römer-
Fundstelle am Fuß der Schwäbischen
zeit begann 15 v. Chr., als Kaiser Au-
Alb wie Spürhunde nach archäologi-
gustus‘ Truppen erstmals große Teile
schen Raritäten absuchen.
des
Die
heutigen
Baden-Württemberg
60
Kilometer
lange
ICE-Neu-
besetzten. Sie endete 260 n. Chr., als
baustrecke, die sich an die Autobahn
die Alemannen den römischen Limes
Richtung München schmiegt, soll zu-
durchbrachen. An einem Herbsttag
sammen mit dem Bahnhofsprojekt
im Oktober 2012 kommen Überreste
Stuttgart 21 die Fahrtzeit zwischen Ulm
dieser Ära wieder zum Vorschein.
und Stuttgart ab 2020 fast halbieren.
Der Archäologe stoppt den Baggerfah-
Von 54 auf 28 Minuten. Dafür wird auf
Auf seine Spürnase ist Verlass:
rer, der eigentlich einer ganz anderen
einer Fläche von rund 500 Hektar der
Der Archäologe Dr. Michael Wagschal
Arbeit nachgeht. Er soll Wasserleitun-
Boden ausgehoben. „Das ist eine ein-
entdeckte die römischen Ziegelöfen.
gen verlegen für die neue ICE-Trasse
malige Chance für uns Archäologen“,
"Eine Rarität.“
sagt Dr. Andrea Neth, Referentin für Trassenprojekte im Stuttgarter Landesamt für Denkmalpflege. „Noch nie stand auf der Schwäbischen Alb eine größere Fläche zur archäologischen Untersuchung zur Verfügung.“ Seit April 2010 werden die möglichen Fundstellen systematisch untersucht. Für Archäologen ein Glücksfall, denn Grabungen
über
lange
Distanzen
hinweg ermöglichen einen seltenen Querschnitt durch die Landschaft, der sie das Besiedlungsmuster besser verstehen lässt. Wie beim umstrittenen Bau der 80 Kilometer langen NATOPipeline 2006. Diese pumpt Treibstoff für militärische Zwecke sowie Kerosin für deutsche Zivilflughäfen quer über „Wir haben die Chance, über eine lange Strecke zu suchen.“ Ein Glücksfall für Dr. Andrea Neth vom Landesdenkmalamt.
49
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
den Ostalbkreis zwischen dem baden-
Team alles stehen und liegen. Sie be-
ten auf, mit einem Sandsteinrelief
württembergischen Aalen und dem
gannen im klebrigen Lehmboden zu
der Glücksgöttin Fortuna. Im Ulmer
bayrischen Leipheim. Allein im 29 Ki-
wühlen – und wurden schnell fündig.
Stadtteil Lehr fanden sie Hausgrund-
lometer langen baden-württembergi-
Keinen Gutshof, sondern drei römische
risse aus der Rössener Kultur, mittlere
schen Bauabschnitt fand man damals
Brennöfen haben sie in den leicht ab-
Jungsteinzeit, 4500-4300 vor unserer
über 30 archäologische Fundstellen;
schüssigen Wiesen- und Stoppelfeldern
Zeitrechnung. Sie hat ihren Namen
lediglich drei davon waren den Ar-
freigelegt, einer davon ist sehr gut er-
von dem Gräberfeld in Rössen bei
chäologen zuvor bekannt.
halten. Eine Rarität. Denn es handelt
Leuna, Sachsen-Anhalt. In der Region
sich um eine kleine private Ziegelbren-
Ulm hatte man sie bislang nicht ver-
s ist Dezember geworden und
nerei, die die nähere Umgebung ver-
mutet.
sehr kalt, als Michael Wagschal
sorgte. Ein mittelständisches schwäbi-
in Thermostiefeln um den Aus-
sches Unternehmen, sozusagen.
grabungsort stapft. Auf dem
„Insgesamt kennen wir in Baden-
Areal liegt Schnee, doch im Boden ist
Württemberg 40 Ziegeleien aus der
der Winter noch nicht angekommen.
Römerzeit“, erklärt Wagschal. Die
Die tonige Erde klebt wie zäher Kara-
meisten Brennöfen aber waren Groß-
mell unter seinen Schuhsohlen. Der
betriebe, die zu Militärlagern oder
bedeckt, was der Erdboden gerade
Grabungsleiter nimmt den fünf Kilo-
Gutshöfen gehörten. Kleinöfen wie
freigegeben hat, ließ Michael Wag-
meter langen Abschnitt von Weilheim
den in Aichelberg gebe es landesweit
schal über der Grabungsstelle der
bis nach Wendlingen unter die Lupe.
gerade einmal eine Handvoll. „Ein
römischen Ziegelöfen ein beheiztes
Stichprobenartig, man weiß ja nie; vor
überraschender Fund“, sagt Wag-
Zelt errichten. Deutlich heben sich
allem aber mithilfe seiner archäologi-
schal. Nur sehr selten einmal wird ein
orangerote Brandverfärbungen vom
schen Spürnase. Die Donnerwetter-
intakter Ofenkomplex freigelegt. Da
grauen Tonboden ab. Einer von Wag-
Stelle, zum Beispiel: „Die Lage schreit
die Öfen aus Ziegeln und Ziegelres-
schals Mitarbeitern kniet auf dem
geradezu nach einem römischen Guts-
ten gebaut wurden, begannen sie bei
schlammigen Boden und verrichtet
hof“, sagt er mit Blick auf das flache
der hohen Betriebstemperatur von
Sisyphusarbeit:
Tal, das von sanften Hügeln umgrenzt
1.000 Grad schnell zu bröckeln. An-
hammer befreit er den Ziegelofen
ist und dem 472 Meter aufragenden
hand von Porzellanscherben lassen
von überschüssigem Lehm. Jedes
Aichelberg. Bereits im Mai 2012 waren
sich die drei Öfen, die nun den ICEs
Fundstück wird vermessen, fotogra-
dort drei Scherben aus der Römerzeit
im Weg stehen, auf etwa 250 n. Chr.
fiert und dokumentiert. Erst danach
aufgetaucht.
datieren: die spätrömische Phase der
macht Wagschal sich mit Hammer
„Der Bedarf an Ziegeln im Römischen
Metropolregion.
und Meißel an die Ziegelöfen, um
E
D
ie Zeit drängt. Die Schnellzugverbindung
zwischen
Stuttgart und Ulm soll so wenig Verspätung wie mög-
lich haben. Damit nicht der Schnee
Mit
einem
Spitz-
ideal: „Man braucht für eine Ziegelei
A
Archäologen reiche Beute. Erstaunlich
Der Rest verschwindet wieder unter
Ton, Holz und Wasser“, sagt er. Alles
seien die Vielzahl und die Bandbreite
die
war hier reichlich vorhanden. Noch
der Funde, berichtet Wagschals Kolle-
voll, aber keine architektonischen
heute fließt nahe der Grabungsstelle
ge Dr. Martin Thoma, der hier die Aus-
Highlights“, ordnet Wagschal diese
der „Ziegelbach“.
grabungen leitet. Das Forscherteam
Funde ein.
Als der rostfarbene Leistenziegel das
stieß
aus
Einige Wochen später rollen Bagger an:
Licht der neuen Welt erblickte, war der
mindestens
Kulturepochen,
Das Areal wird wieder zugeschüttet,
51-jährige Archäologe aus Bremen offi-
von der frühen Jungsteinzeit (5600 v.
Containerlager für den Bau der ICE-
ziell noch an einer anderen Ausgrabung
Chr.), als die Menschen sesshaft wur-
Trasse werden errichtet. Auch knapp
entlang der Neubaustrecke zugange.
den, bis zur Römerzeit. Handgemach-
zwei Jahrtausende nach den Römern
Dort hatte Eisenschlacke aus dem 11.
te Keramik, seltene Pfostenbauten:
ist die Senke am Fuß des Aichelbergs
Jahrhundert eine gewerbliche Gewin-
Entlang der gesamten Trasse fanden
ein heiß begehrter Standort.
nung des Metalls vermuten lassen. Als
sie Spuren spätkeltischer Siedlungen
Wagschal jedoch die römischen Ziegel
(150-50 v. Chr.). Auch Überreste eines
Text: Kety Quadrino
fand, ließen er und sein sechsköpfiges
Heiligtums aus der Römerzeit tauch-
Fotos: Christoph Schmidt
Reich war immens“, erzählt Wagschal. Den Ton benötigten die Römer als Grundbaumaterial
für
Dachziegel
oder für Fußboden- und Wandheizungen. Die Stelle am Aichelberg war
ihr Innenleben zu erkunden. Zuletzt uch auf dem 30 Kilometer
werden einzelne Teile gewaschen,
langen Abschnitt der ICE-
registriert, gelagert – bis vielleicht
Trasse
Hohen-
eines Tages ein Archäologe seine Ab-
stadt und Ulm machten die
schlussarbeit den Funden widmet.
auf
zwischen
Siedlungszeugnisse sieben
50
Erde.
„Wissenschaftlich
wert-
DA S M AG A Z I N
Mit dem Speer auf die Jagd Interview _ Im 2013 eröffneten Archäopark an der Vogelherdhöhle können Besucher den Alltag der Steinzeitmenschen erleben. Ein Gespräch mit der wissenschaftlichen Beraterin Ewa Dutkiewicz.
ZEUGEN DER EVOLUTION
selbst mit einem Speer „auf die Jagd gehen“ oder das Feuermachen ohne moderne Hilfsmittel üben. Toll ist, dass wir mit der Vogelherdhöhle den Originalschauplatz haben. Welche Rolle spielt dabei die
Das Urweltmuseum Hauff ist Deutsch-
Bereits 1931 grub Gustav Riek, der
lands größtes privates Naturkunde-
später Professor an der Universität
museum und weltbekannt für seine
Tübingen wurde, den Vogelherd kom-
aufwändig präparierten Fossilien aus
plett aus und fand die ersten Elfen-
dem Schwarzen Jura vor 180 Millio-
beinfiguren. Spätere Nachgrabungen
nen Jahren. Ausgestellt sind Verstei-
von Professor Conard erbrachten
nerungen, die in den vergangenen 200
weitere spektakuläre Funde. Nicholas
Jahren in den Schieferbrüchen rund
Frau Dutkiewicz, was macht gerade
Conard und ich werden den Archäo-
um
die Vogelherdhöhle als Standort
park wissenschaftlich begleiten – also
Ichthyo- und Plesiosaurier, Krokodil-
für den Archäopark so attraktiv?
etwa darauf achten, dass die Informa-
und Flugsaurier, Fische und marine
Die Vogelherdhöhle zählt weltweit
tionstafeln zur Eiszeit oder der Film
Kopffüßer. Prunkstück ist die mit
zu den bedeutendsten Fundstellen
über die geologische Geschichte des
18 x 6 Metern weltgrößte versteinerte
des Steinzeitalters. Über 100.000
Lonetals fachlich abgesichert sind.
Seelilienkolonie.
Foto: Thomas Kienzle
Universität Tübingen?
Jahre lang bot sie unseren Vorfahren
Holzmaden
begegnet
man
gefunden
Im
wurden:
Museumspark
zwischen
urweltli-
Behausung und Zuflucht. 2006 wurde
Text: Kety Quadrino
chen Schachtelhalmen, Ginkgo- und
dort unter Leitung des Tübinger Ar-
Fotos: Thomas Kienzle
Mammutbäumen
chäologen Nicholas Conard ein etwa
wissenschaftlich
fundierten, lebensgroßen Dinosauri-
40.000 Jahre altes Mammut gefunden,
ernachbildungen. Kleine und große
das als erstes vollständig erhaltenes
ZUR PERSON:
Forscher können auf eigene Faust in
figürliches Kunstwerk der Menschheit
Ewa Dutkiewicz, 34, ist Doktorandin
den Schieferbrüchen auf Fossilien
weltweit Schlagzeilen machte.
für Ältere Urgeschichte und Quartär
suche gehen.
ökologie an der Universität Tübingen Archäopark – das klingt nach mehr
und wissenschaftliche Mitarbeiterin
als Ausstellungsvitrinen.
am Archäopark Vogelherd.
Ja. Man könnte sagen, es ist ein Erleb-
Urweltmuseum Hauff Aichelberger Straße 90 73271 Holzmaden
niszentrum für Urgeschichte. Neben
Archäopark Vogelherd
einem Auditorium gibt es auch ein
Im Städtle 26
6,5 Hektar großes Gelände mit einem
89168 Niederstotzingen
Rundweg durch fünf Themenorte, an
Tel. 0 73 25 / 102 33
denen der Alltag in der Eiszeit erlebbar
info@archaeopark-vogelherd.de
gemacht wird. Dabei kann der Besucher
www.archaeopark-vogelherd.de
Tel. 070 23 / 28 73 www.urweltmuseum.de
51
Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag, 9 – 17 Uhr
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
Multikulti in Calw Portrait _ Calw, das ist eine Fachwerkidylle zwischen dem Flüsschen Nagold und den Hängen des Nordschwarzwalds. Doch der Schein der Abgeschiedenheit trügt. Die Stadt ist international, multikulturell, weltoffen – Hermann Hesse würde seine Heimatstadt kaum wiedererkennen.
Gestern Rumänien, heute Calw: Eva Klinga Szazs genießt die neuen Freiheiten.
52
DA S M AG A Z I N
A
m Ende gibt es Schwarzwäl-
teilt sie sich mit ihrem Partner eine
der
Alkohol-
Zwei-Zimmer-Wohnung. „Ich würde
frei, damit auch die Musli-
nicht sagen, jetzt bin ich die Chefin“,
me zugreifen können. Auch
sagt sie, und sagt es dann doch, nur
Kirschtorte.
Brezeln, Salate. Viele Salate. Jeder
anders: „Aber ich regele alles.“
der zwei Dutzend Frauen und Män-
Auch Konstantinos Panagiotakopou-
ner, die aus Venezuela und Portu-
los, 38, kann seiner Umsiedelung in
gal, aus Kanada und der Türkei nach
den Schwarzwald viel abgewinnen.
Calw gezogen sind, hat etwas fürs
Er zog im Juni 2012 aus der griechi-
Abschlussbüffet mitgebracht. Anas-
schen Hafenstadt Patras (gut 200.000
tasia
Einwohner) in die Calwer Gemein-
tragte
Kemmler, der
Integrationsbeauf-
Volkshochschule,
steht
de Oberreichenbach (gut 2.000 Ein-
am Längsende des Buffets, wünscht
wohner). Und noch immer kann er
erst einmal guten Appetit, dann viel
es kaum glauben: „Hier grüßen die
Glück, zum Abschied schließlich ruft
Leute einander alle. Guten Morgen!
sie eine Warnung aus: „Vergesst am
Grüß Gott! So geht das den ganzen
Samstag bloß nicht eure Ausweise!“
Tag.“ Er fühlte sich willkommen, hat
Drei Tage sind es noch bis zur Ab-
schnell Wurzeln geschlagen. Grie-
schlussprüfung am Samstag. Drei
chenland? „Ganz schön“, sagt er,
Tage nur noch, nach neun Monaten,
„aber nur für zwei Wochen Urlaub.“
"Hermann Hesse ist unser stärkster
beladen mit 90 Unterrichtsstunden
Beide zog es ihrer Partner wegen nach
Botschafter", sagt Calws Kulturamts
Deutschbüffeln.
Calw. Auch Anastasia Kemmler, die
leiter Hans Martin Dittus. Und fügt
Für Eva Klinga Szazs ist die Abschluss-
VHS-Frau mit den Wünschen und War-
hinzu: "Aber manchmal zieht Fußball
prüfung nur eine Zwischenprüfung.
nungen, war 1996 aus der russischen
einfach besser."
Direkt im Anschluss wird die 28-jähri-
Millionenstadt Jekaterinburg für ihren
ge Rumänin den Aufbaukurs belegen.
Mann nach Deutschland gekommen.
Als sie vor zwei Jahren nach Calw kam,
Kommen, um zu bleiben: Das hat in
war das ein Kulturschock, sagt sie.
Calw Tradition. Der Bau der Würt-
Aber ein wohliger. In Rumänien lebte
tembergischen Schwarzwaldbahn, die
sie, der Tradition gemäß, mit Eltern
1872 Calw und Stuttgart verband, war
und Bruder unter einem Dach. Nun
nur möglich durch die Mithilfe zahl-
reicher italienischer Arbeiter. Viele blieben. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen Hunderte Flüchtlinge aus Ostund Südosteuropa. In den 60er Jahren folgten Gastarbeiter aus Spanien, Jugoslawien, der Türkei. Viele blieben. Nach dem Zusammenbruch der Sowjet union zogen zahlreiche Spätaussiedler zu. Heute kommen viele der Zuzügler aus Staaten der EU – wie eben Griechenland oder Rumänien. In der Stadt haben 17 Prozent der Bürger keinen deutschen Pass. In BadenWürttemberg liegt der Anteil bei zehn, deutschlandweit
bei
acht
Prozent.
Anlässlich des 60. Geburtstages des Gestern Russland, heute Calw: Anastasia Kemmler hilft
Landes
anderen Neu-Calwern, sprachlich und kulturell anzukommen.
Calw 2012 als „Ort der Integration“
53
Baden-Württemberg
wurde
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
raditionen. „Die Lehren des alten Indien und der alten Chinesen“, schrieb Hesse in einem seiner zigtausend Briefe, „haben eben so viel Einfluss auf mich gehabt wie das pietistisch gefärbte Christentum des Elternhauses.“ Der weltbekannte Wortmagier Hesse wiederum hat in den letzten Jahrzehnten immer mehr Einfluss auf die Stadt seines Elternhauses genommen. Touristen kommen nach Calw, hier finden internationale HesseKonferenzen statt. Hans Martin Dittus, Calwer Kulturamtsleiter, sagt: „Er ist unser stärkster Botschafter.“ Darum tragen alle Stadtangestellten Hesse mit sich, täglich, überall. Auf Gestern Griechenland, heute Calw: Konstantinos Panagiotakopoulos freut sich
ihren Visitenkarten steht „Calw – Die
über die Freundlichkeit des Schwarzwaldstädtchens.
Hermann-Hesse-Stadt“. Natürlich“, sagt Dittus, der neben dem Kulturamt auch die Internationale Her-
ausgezeichnet. Die Initiative „Vielfalt
Stadt eine Protestnote mit 5.000 Un-
gefällt!“ des Ministeriums für Integra-
terschriften – für einen Einfaltshort,
tion und der Baden-Württemberg-Stif-
zeigte sich, ist an solch einem Vielfalts-
tung fördert einen Integrationskurs der
ort kein Platz.
ortsansässigen VHS, der Neu-Calwern
Prominentester Unterzeichner der Lis-
wie Eva Klinga Szazs und Konstanti-
te war Udo Lindenberg. Der Udo, wie
nos Panagiotakopoulos die Ämter- und
der Erich ihn nennt. Pfarrer Hartmann
Joblandschaft, die Bürokratie- und Be-
ist seitdem mit ihm per Du. Der Rock-
werbungsgepflogenheiten ihrer neuen
musiker ist dem Schwarzwaldstädt-
Heimat näher bringt.
chen
S
durch
dessen
berühmtesten
Sohn, Hermann Hesse, verbunden. Er chon 2009 war Calw von der
bezeichnet sich als „Hesses Zauber-
Bundesregierung als „Ort der
lehrling“ und sagt, selbst ganz verzau-
Vielfalt“
wor-
bert: „Bei meinem ersten Besuch in
den. Für die vorbildliche Inte-
seiner Geburtsstadt Calw lag Magie in
ausgezeichnet
gration von Migranten. Für das multi-
der Luft.“
kulturelle Vereinsleben. Auch für das
2006 gründete er hier die Udo Lin-
bürgerschaftliche
Die
denberg Stiftung, die kulturpolitische,
rechtsradikale NPD wollte im alten
humanitäre und soziale Zwecke ver-
Bahnhof eine Geschäftsstelle eröff-
folgt – im Geist des „großen Meisters
nen. Als der Calwer Pfarrer Erich Hart-
Hermann Hesse“. Der 1877 geborene
mann davon erfuhr, wandte er sich
Schriftsteller, Poet, Pazifist, Weltbür-
an Gott – und die Welt: Parteien, Ge-
ger und rastlose Reisende gilt mit einer
werkschaften, Vereine. Binnen Tagen
Gesamtauflage von rund 150 Millionen
trommelten er und seine Mitstreiter
Büchern in 60 Sprachen als meistgele-
unter dem Schlagwort „Calw ist bunt“
sener deutschsprachiger Autor des 20.
ein Bündnis zusammen, organisierten
Jahrhunderts. Sein Werk beruht auf
eine Demonstration, übergaben der
abend- wie morgenländischen Denkt-
Engagement:
54
DA S M AG A Z I N
mann-Hesse-Gesellschaft leitet, „kann
Lebens auf der Straße ab“, sagt Dit-
Auch das badisch-gambische Paar hat
man den Leuten nicht immer nur mit
tus. Früher war das auch in deutschen
sich in Calw gut eingelebt, wie viele
Hesse kommen. Fußball zieht manch-
Städten so. Und Calw ist, was die Archi-
andere. „Anfangs hat mich das enge
mal einfach besser.“ In Calw geht es
tektur angeht, noch immer wie früher.
Tal etwas bedrückt“, erinnert sich
nicht nur in den Kulturhochburgen,
„Deshalb fühlen sich viele Einwanderer
Boschert-Saho. „Was mich aber hier
sondern auch auf dem flachen Rasen
in den Gassen unserer Kernstadt wohl“,
gehalten hat, war die Internationalität
weltgewandt zu. In dem kleinen Städt-
so Dittus, „und erfüllen sie mit Leben.“
der Stadt. Die fremdartigen Sprach-
chen kicken ein kroatischer Fußballclub
Am Rand der Altstadt befindet sich
klänge haben den Gassen ihre Enge
(NK Zrinksi) und der Türkische SV. Und
ein Ort besonders großer Vielfalt: 270
genommen.“
ohne Spielgemeinschaft mit dem AS
Schüler aus 20 Nationen besuchen die
Tricolore (italienisch) würde der altehr-
Badstraßenschule. Klasse 2b: Ali, Bao
würdige FV Calw, der 1912 gegründet
Tram, Chiara, Damian, Ela E., Ela O.,
wurde, über ein Jahrhundert später gar
Hasan, Jannik, Julie, Linda, Madeline,
keine Mannschaft mehr zusammenbe-
Maida, Melek, Özlem, Philipp, Rosario,
kommen.
Salvatore, Shira-Lee, Sipan, Tahir. Je-
Auch die Altstadt von Calw sähe ganz
des zweite Kind des Grundschulzweigs
entstammte, man kann es heute so
schön alt aus, hätten nicht inzwischen
hat einen Migrationshintergrund. Im
sagen, einer Multikulti-Familie. Sein
40 Prozent der dort Ansässigen eine
Hauptschulzweig sind es über 80 Pro-
Vater kam aus dem russischen Zaren-
nichtdeutsche, zumeist südeuropäi-
zent. Statt des üblichen Gottesdiens-
reich. Seine Mutter wurde in Indien
sche Nationalität. „In den südlichen
tes feiern sie hier am Schuljahresende
geboren, als Tochter des bekannten
Ländern spielt sich ja ein Großteil des
auch mal eine christlich-muslimische
Indologen Hermann Gundert. Noch
Feier, mit Pfarrer und Imam.
vor dem Ersten Weltkrieg unternahm
Vor vier Jahren wurde ein Deutsch-
Hesse eine ausgedehnte Reise nach
kurs für Eltern der Schüler eingeführt.
Süd- und Südostasien. Danach ver-
„Wenn deren Sprachkenntnisse bes-
brachte er, der mit der nationalisti-
ser werden, tut das auch der Leistung
schen Gesinnung vieler deutscher
der Kinder gut“, sagt Margot Boschert-
Zeitgenossen haderte, die längste Zeit
Saho, die stellvertretende Schulleite-
seines Lebens in der Schweiz, im Dorf
rin. Viele der Stunden gibt Boschert-
Montagnola am Luganer See.
Saho selbst. Mit jeder Deutschstunde,
Seiner Heimatstadt blieb er, auch li-
erklärt sie, verfliege die Scheu, mit
terarisch, zeitlebens verbunden. Ein
den Lehrern in Kontakt zu treten, ein
bekannter, in Calw besonders gern
bisschen mehr. Auch weil die Stunden
gelesener Satz Hesses lautet: „Die
in der Schule stattfinden – die Päda-
schönste Stadt von allen aber, die
gogin will die Eltern integrieren, in je-
ich kenne, ist Calw an der Nagold, ein
der Hinsicht.
kleines, altes, schwäbisches Schwarz-
Boschert-Saho ist selbst eine Zuge-
waldstädtchen.“ Er wäre entzückt zu
reiste, 1989 kam sie aus dem badi-
sehen, welch ein multikulturelles Met-
schen
ropölchen inzwischen aus diesem ge-
Offenburg
ins
württember-
gische Calw. Einen noch weiteren
H
ermann
Hesse
als
die
Achtzehnjähriger
hin-
ter sich gelassen. Ihm war
die weite Welt in die Wiege gelegt: Er
diehen ist.
Weg, kulturell, auf jeden Fall geographisch, legte ihr Ehemann zurück.
Text: Markus Wanzeck
Er stammt aus Gambia in Westafrika.
Fotos: Eric Vazzoler
Tradition und Weltoffenheit plus Schwarzwald panorama: Mehr als ein Drittel der Altstadteinwohner Calws haben eine nichtdeutsche Nationalität.
55
hatte
Enge des Nagoldtals einst
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
Ein Stern für Stuttgart Reportage _ Aufs Detail kommt es an: Nico Burkhardt, 30, leitet die Küche im „Olivo“ des Steigenberger Graf Zeppelin. Besuch beim jüngsten Sternekoch Stuttgarts. Halb Küche, halb Labor: Nico Burkhardt hält seine Ideen zunächst auf einem Skizzenblock fest. Dann experimentiert er mit Farben, Formen und Texturen.
B
ehutsam senkt er die Pinzet-
Es werden nicht viele Worte gemacht
te über den Teller und steckt
in der Küche des „Olivo“ des Steigen-
eine hauchdünne Pilzscheibe
berger Graf Zeppelin. Schon gar nicht,
in einen kreisrunden Klecks
kurz bevor die ersten Zettel mit Be-
Pilzcreme. Es folgen eingelegte Pilze,
stellungen der Gäste hereinflattern.
Kresse und Geleewürfelchen: In einer
Ist auch nicht nötig, denn jeder Hand-
Miniaturlandschaft würde das, was
griff und Ablauf ist zigmal erprobt.
Nico Burkhardt arrangiert, glatt als
Gemüse blanchieren und kunstvoll
Zauberwald durchgehen. Auf seiner
schneiden. Soßen in allen Tönungen
Speisekarte heißt es „Pilzgarten“. Die
und
essbare Skulptur ist kaum fertig, als das
chen, Schäume steif schlagen, Cremes
Wandtelefon klingelt. Nico Burkhardt,
anrühren. Und schließlich Vorspeisen,
die Haare streng zurückgekämmt, in
Hauptgerichte und Desserts anrichten:
blütenweißer Kochjacke, wischt sich
Gerichte, so schön, dass man sie nur
die Hände ab und greift zum Hörer.
anschauen möchte, würden sie nicht
Ein paar knappe Sätze später hat er
so überraschend aromatisch schme-
eine Kiste „Rock Chives“ bestellt. Der
cken. „Jedes Detail muss stimmen“,
asiatische Schnittlauch dient als Deko
sagt Burkhardt und blickt durch die
für seine delikaten Skulpturen. Nur bei
Glastür des Ofens, in dem bei schwa-
Das Steigenberger Graf Zeppelin am
wenigen Lieferanten ist er zu haben.
cher Hitze hauchdünne dunkelrote
Stuttgarter Hauptbahnhof.
Burkhardt sagt danke und legt auf.
Quadrate trocknen: Rote-Beete-Papier.
56
Geschmacksrichtungen
einko-
DA S M AG A Z I N
der Küche des „Atoll Ocean Resort“ auf
board bergab. Action muss sein, das
Helgoland. Später lernte er bei Heinz
Extreme. „Dabei kann ich abschalten.“
Winkler in Aschau am Chiemsee die ku-
Mittag im Olivo. Am Tresen klebt ein
linarischen Feinheiten der Haute Cui-
Dutzend Bestellzettel. Von Rehrücken
sine kennen. Kochte in so berühmten
an Rote Beete bis Steinbutt mit Erd-
Häusern wie dem Adlon in Berlin und
nuss: Burkhardt und seine Kollegen ga-
dem „Mar a Lago“ in Palm Beach, um
ren Filets im Wasserbad. Gestalten Ge-
danach fünf Jahre lang als Sous Chef
richte, die an bunte Kompositionen des
im Gourmetrestaurant „Seven Seas“
Malers Kandinsky erinnern. Burkhardt
in Hamburg zu arbeiten: ein Restau-
selbst wirft auf jeden Teller noch einen
rant mit einem Michelin-Stern und 17
kritischen Blick, bevor das Gericht die
Gault-Millau-Punkten. Der Wunsch, ei-
Küche verlässt. Den Stern zu ergattern,
nen eigenen Stern zu gewinnen, treibe
war das Eine, jetzt geht es darum, ihn
ihn an, alles noch besser zu machen,
zu behalten. „Ich bin eben ein schlech-
sagte er damals in einem Interview.
ter Verlierer“, bekennt er. Das sei ihm
F
spätestens klargeworden, als ihn seine ranzösische Küche mit inter-
Freundin zum Menschärgeredichnicht
nationalen
so
verleitete. Nach ein paar Partien hatte
charakterisieren Experten die
er keine Lust mehr. „Ich habe mich zu
Kreationen des Sternekochs,
sehr aufgeregt.“ Einer wie er behält die
der schon mal Gänseleber mit Him-
Abläufe lieber selbst in der Hand. Wür-
beeren und Hummer mit Kakao kom-
feln ist nichts für ihn.
Einflüssen“
–
biniert. Privat mag Burkhardt es lieber bodenständig: In Berlin macht er gern
Text: Mathias Becker
beim Traditionsimbiss Konnopke Sta-
Fotos: Heinz Heiss
tion: „Meiner Meinung nach die beste Currywurst der Stadt.“ An der neuen Heimat im Südwesten schätzt er die regionale Küche – von Maultaschen bis Gaisburger Marsch. Sein Favorit: gutbürgerlicher Zwiebelrostbraten, den
GOU R MET KO CHKU RS
Im Juni 2011, erst 27 Jahre alt, über-
man hier in einer der zahlreichen Gast-
M I T N ICO BU R K H A R DT
nahm er die Leitung des Restaurants im
stätten essen kann.
Fünf-Sterne-Hotel gegenüber des Stutt-
Die freien Stunden zu genießen, ist
Lernen Sie Stuttgarts jüngsten
garter Hauptbahnhofs. Es war seine
überhaupt so ein Thema. „Gar nicht so
Sternekoch bei einem Kochkurs
große Chance: Das „Olivo“ war bereits
einfach“, gibt er zu. Ein Stadtbummel
kennen. Während Sie gemeinsam ein
mit einem Michelin-Stern ausgezeich-
führe ihn jedes Mal schnell in berufliche
Vier-Gang-Menü bereiten, weiht Sie
net. Würde es die Auszeichnung unter
Bahnen – zum Beispiel in die Stuttgarter
Nico Burkh ardt in die Feinheiten der
seiner Leitung erneut erhalten, wäre
Markthalle, wo so viele exquisite De-
Gourmetküche ein. Der Kurs kostet
das sein Entrée in die Königsklasse. Ein
likatessen zu begutachten sind. Oder
225 Euro pro Person inklusive Aperi-
halbes Jahr später war es soweit: der ei-
er würde einen Bastelladen ansteuern,
tif, Rezeptmappe, Kochschürze, Menü,
gene Stern im eigenen Restaurant. „Das
auf der Suche nach ausgefallenen Ser-
Wein, Mineralwasser und Häppchen.
war schon lange mein Traum!“
vierideen. Selbst im Baumarkt wird er
Zum anschließenden Menü darf Sie
Nico Burkhardt wuchs in Ostberlin auf.
fündig: Digitale Thermometer helfen
zum Preis von 125 Euro eine Person
Es wurde immer gern und gut gekocht
ihm, ein Wasserbad konstant auf 70
begleiten.
in der Familie, sagt er: Königsberger
Grad zu halten. Nicht selten zieht er
Nächster Termin: 22. März 2015 von
Klopse, Rinderrouladen mit Rotkohl. Er
mit einem Zahnspachtel eine Creme
11 bis 17 Uhr im Steigenberger Hotel
half früh mit, lernte schnell dazu und
zur Grundierung auf die Teller. Wenn
Graf Zeppelin, Arnulf-Klett-Platz 7
trat mit 16 eine Kochlehre im Berliner
er auf andere Gedanken kommen will,
in Stuttgart. Reservierungen unter
Restaurant Dressler an. Es war der Be-
hängt er sich als Kitesurfer in den Wind,
07 11 / 20 48-277.
ginn einer rasanten Karriere. Schon
strampelt auf dem Mountainbike berg-
mit nicht mal 20 wurde er Sous Chef in
auf oder schwingt sich auf dem Snow-
57
Von Besen und Sternen: Kulinarische Highlights der Region
Gasthof mit Tradition Gasthof Zum Ochsen, ehemalige Herberge der Herren von Stetten: Einen komplizierten Wirtshausnamen sucht man im Remstal vergeblich. Einst kehrten die Dienstmänner der Grafen von Württemberg im Ochsen ein, heute reisen Gäste von weither für einen Tel-
Das Sternedorf
ler Kutteln an: Einst als Arme-LeuteEssen verpönt, gilt Rinderpansen heu-
Auf den ersten Blick könnte man mei-
Traube Tonbach
te – fein geschnitten, geschmort, sauer
nen, Baiersbronn sei eine Schwarz-
Tonbachstraße 237
abgeschmeckt und mit Bratkartoffeln
waldgemeinde wie zig andere. Würden
72270 Baiersbronn-Tonbach
serviert – als Delikatesse, die jeder
dort nicht so verdächtig viele schwarze
www.traube-tonbach.de
probiert haben sollte, der die Küche
Limousinen aus Hamburg, München,
im Südwesten kennenlernen will. Am
Zürich oder Straßburg herumkurven.
besten in einem Traditionshaus wie
Gourmets aus der halben Welt pilgern
Hotel Bareiss
diesem. Seit mehr als 300 Jahren steht
in das ehemalige Holzfällerdorf, ange-
Gärtenbühlweg 14
der barocke Gasthof in Stetten, seit
lockt von insgesamt acht Michelin-Ster-
72270 Baiersbronn-Mitteltal
1905 – in dritter Generation – führt die
nen: Harald Wohlfahrt (3 Sterne, Traube
www.bareiss.com
Wirtsfamilie Schlegel das Restaurant
Tonbach), Claus-Peter Lumpp (3 Sterne,
samt hauseigener Metzgerei.
Restaurant Bareiss) und Jörg Sackmann (2 Sterne, Restaurant Schlossberg) hei-
Hotel Sackmann
Kirchstraße 15
ßen die Köche, deren Orden den klei-
Murgtalstraße 602
71394 Kernen-Stetten i. R.
nen Ort zu einem großen Namen auf
72270 Baiersbronn-Schwarzenberg
www.ochsen-kernen.de
der kulinarischen Weltkarte machen.
www.hotel-sackmann.de
58
Foto: Christoph Püschner
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
DA S M AG A Z I N
Vom Holzfällerdorf zum
Gasthaus in Kaisersbach hat ohnehin
teller,
Gourmet-Mekka: Baiersbronn im
nur am Wochenende geöffnet. Wer
kraut mit Ripple, Kassler oder Bra-
Zwiebelkuchen
oder
Sauer-
Murgtal bei Freudenstadt zählt
einen der 55 Plätze in der rustikalen
ten mit Spätzle und reichlich Soße.
mittlerweile 8 Michelin-Sterne.
Gaststube ergattern will, sollte vor-
Früher saßen die Gäste in der guten
ab reservieren. "Verändern Sie bloß
Stube, heute kennzeichnet ein Besen
nichts", raten viele Gäste dem Inha-
über der Tür die Scheunen oder Kel-
ber Kurt Hofmann. Er wäre nie auf die
ler, in denen gezecht wird. Im Winter,
Idee gekommen.
wenn man vor dem Ofen zusammenrückt und die Fenster am Nachmittag
Mönchhof 53
schon beschlagen, fühlt sich auch ein
73667 Kaisersbach
„Neigschmeckter", also Zugezogener,
Telefon 0 71 84 / 27 62
nach ein paar Gläsern wie ein echter Schwabe.
Fürstlicher „Lightstyle“ Seit 60 Jahren lockt das Wald- und Schlosshotel Friedrichsruhe Gäste
Slow-Food von der Alb
in die Hohenloher Ebene im Norden Baden-Württembergs.
traditionsreichen
Hanweiler
Besen gibt es seit rund 50 Jahren, damit ist er einer der ältesten im Land. Geändert hat sich in der Zeit kaum et-
üppigen
Genussvoll, bewusst, regional: Das
was. Vom Service bis zum Brotbacken:
Haupthaus des ehemaligen Famili-
Credo der Slow-Food-Bewegung gilt
Die Familie packt mit an.
ensitzes des Fürsten zu Hohenlohe
im Landgasthof Hirsch in St. Jo
steht Boris Benecke am Herd. Der
hann-Gächingen seit mehr als 250
Trollingerstraße 15
mit einem Stern dekorierte Chef des
Jahren. Metzger und Wirt Ludwig Fai-
Winnenden-Hanweiler
Gourmet-Restaurants steht für in-
lenschmid hat das feinfasrige Fleisch
www.weinbau-lorenz.de
novative und aromareiche "Lightsty-
des Wasserbüffels, der auf der Alb
leküche". Das Versprechen: Schlem-
gezüchtet wird, zur Spezialität des
Im Tübinger Altstadt-Besen trinkt
men, ohne dass unsichtbare Hände
Hauses gemacht. Wer hier einkehrt,
man das erste Glas im Stehen und
die Kleidung enger nähen. Wer wissen
sollte ‚Albbüffelgöschle im Dinkelteig‘
wartet, bis ein Platz frei wird. Dann
will, wie das geht, sollte im "Chef's
oder ‚Albbüffelbraten im Heubett mit
ordert man am besten die Literka-
Table
einem
Kürbisecken‘ probieren. Neu auf der
raffe, um den Nachschub zu sichern.
Speisezimmer mit direktem Blick in
Karte ist der ‚Krustenbraten vom Bio-
Wasser nicht vergessen – sonst fällt
die Küche.
Alblinsenschwein‘.
das Aufstehen schwer. Aber auch
Tipp für Wanderer: Sonntags durch-
Sitzenbleiben
gehend warme Küche.
gute Wahl.
Parkstraße 2
Haaggasse 22
72813 St. Johann-Gächingen
72070 Tübingen
www.failenschmid.de/
www.tuebinger-wein.de
Room"
Im
Den
reservieren,
Kärcherstraße
ist
im
Besen
eine
74639 Zweiflingen-Friedrichsruhe www.schlosshotel-friedrichsruhe.de
Schwäbischer Sonntagsbraten Wie bei Oma: Im Gasthaus zum Löwen, im Volksmund nur „Mönch-
landgasthof.html
Das hohenlohische Weingut Lederer liegt direkt unter den Weinbergen in Bretzfeld-Unterheimbach. Mit rund
Trollinger und Zwiebelkuchen
100 Plätzen gehört der 40 Jahre alte Weinausschank zu den größeren seiner Art. Typisch im Hohenlohischen
hof “ genannt, kommt noch die Sup-
sind die Öffnungszeiten: Man hat die Besenwirtschaften
penschüssel auf den Tisch. Und nir-
In
gends isst man so einen gemischten
Selbstgekeltertes,
Braten mit Spätzle oder Kartoffelsa-
knapp. Vier Monate im Jahr dür-
lat. Den kocht Wirtin Gisela Hofmann,
fen Winzer ihren Wein – auch ohne
Weinsteige 6
wie es im schwäbischen Haushalt
Schanklizenz – servieren. Dazu wird
74626 Bretzfeld-Unterheimbach
Brauch ist, nur sonntagmittags. Das
bodenständige Kost gereicht: Vesper
Telefon 0 79 46 / 21 85
59
aber
fließt nicht
nur
vier Monate einfach aufs ganze Jahr
zu
verteilt. Macht sechs Tage pro Monat.
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
Baden in Schwaben Reportage _ Von Frühschwimmen bis Wellnessoase: Im Stuttgarter Leuze wagte unser Autor den Sprung ins kalte Wasser – und kam anschließend im Palais Thermal im Kurort Bad Wildbad ganz schön ins Schwitzen.
M
orgens um Viertel vor sechs, wenn selbst flei-
Punkt sechs fallen die ersten Plastikmarken in den Schlitz,
ßige Schwaben noch zuhauf in den Federn lie-
die Badegäste schieben sich durchs Drehkreuz und spurten
gen, steht Gerhard Pfefferkorn, Jahrgang 1925,
zur Sammelumkleide. Vor dem kalten Becken kommt die hei-
schon in der Eingangshalle des Leuze. Die Ba-
ße Dusche. Pfefferkorn legt seine blaue Badehose ab, dreht
detasche in der Linken, streckt er die Rechte alten Bekann-
den Knauf auf rot und verharrt unter dem Strahl, bis dichter
ten entgegen. Damen gibt er ein Küsschen. Noch verweh-
Nebel den Duschraum füllt. Ich tue es ihm gleich – und füh-
ren die Drehkreuze den Weg ins Bad, also vertreiben die
le mich nach wenigen Augenblicken wie ein Huhn im Sup-
Frühschwimmer sich die Zeit mit einem Plausch. Wehweh-
pentopf, dessen Haut sich allmählich vom Körper löst. Mein
chen? Pfefferkorn winkt ab. Seit einem Vierteljahrhundert
Begleiter schaut mich mit seinem schrägen Grinsen an, als
kommt er fast täglich hierher und dreht seine Runden im
wolle sich nur eine Gesichtshälfte am Spott beteiligen.
eisigen Cannstatter Mineralwasser. „Um anzugeben“, sagt
Rot wie ein frisch gekochter Hummer folge ich Gerhard
er schmunzelnd.
Pfefferkorn in die Kaltbadehalle. Über dem Wasser liegt ein
Um fit zu bleiben, sagen die anderen. Ist Kaltbaden, diese
fauliger Geruch. Der Schwefel, heißt es, habe Heilkräfte.
Mischung aus römischer Thermalkultur und schwäbischer
Mir klappern die Zähne. Ich will zurück unter die Dusche!
Tüchtigkeit, wirklich ein Jungbrunnen? Ich will es heraus-
Während ich vorsichtig den großen Zeh ins Becken tauche,
finden und mit Gerhard Pfefferkorn ins Wasser gehen. Um
steigt ein älterer Herr mit einer mächtigen Narbe über dem
60
Tradition im Fluss: Das Herrenbad war einst M채nnern von Adel vorbehalten, heute haben auch
61
Frauen Zutritt.
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
Herzen ins Wasser. Sein Gesicht zeigt keine Regung. Mit
mir schwimmt Herr Pfefferkorn wie Turnvater Jahn. Ich kämp-
kräftigen Zügen kreuzt er das Becken, steuert zielsicher
fe einige Schwimmzüge lang gegen eine Kältelähmung an. Als
eine Fontäne an und lässt sich das Wasser in den offenen
ich meine Glieder wieder unter Kontrolle habe, zwickt und
Mund plätschern.
prickelt meine Haut. Wie Sprudelwasser auf Sonnenbrand.
Ich beuge mich von außen über den Rand und koste ebenfalls vom Sprudelbrunnen. Der Geschmack von Schwefel
„Jetzt ist es eh schon kalt“, sagt Gerhard Pfefferkorn und
und Eisen lässt mich erschaudern. Ich überlege kurz, das
marschiert zum Außenbecken. In einer kleinen Kabine sitzt
Wasser ins nächste Becken zu spucken. Gerhard Pfeffer-
die Bademeisterin in eine dicke Daunenjacke verpackt. Sie
korn schaut mich mit seinem schiefen Grinsen an. Na gut.
schaut unglücklich; die Digitaluhr an der Wand hinter ihr
Ich schlucke.
zeigt 6:12 Uhr. Herr Pfefferkorn trägt nichts als seine blaue
D
Badehose, grüßt freundlich und steigt die Stufen zum Kaltas Wasser, das Gerhard Pfefferkorn und die an-
becken hinab, als nehme er ein erholsames Wannenbad.
deren Frühbader jung hält, hat einen langen Weg
Ich folge ihm. Er hat Recht: „Es ist eh schon kalt.“ Ich spü-
hinter sich. Es versickert westlich von Stuttgart im
re meine Füße nicht mehr, aber das macht mir jetzt nichts
Boden und kommt erst 20 Jahre später – angerei-
mehr aus. Als hätte mein Körper resigniert. Mit kräftigen
chert mit allerlei Salzen – im Osten der Landeshauptstadt
Zügen schwimme ich durchs Eiswasser, so selbstverständ-
wieder an die Oberfläche. 44 Millionen Liter Mineralwas-
lich, als hätte ich seit 25 Jahren eine Frühschwimmerkarte.
ser sprudeln täglich aus den Bad Cannstatter und Berger
Als wir fertig sind, trinkt Herr Pfefferkorn einen kräftigen
Quellen, mehr gibt es in Europa nur in Budapest. Die Hälfte
Schluck Badewasser, preist die Heilwirkung und steigt aus
des Thermalwassers fließt unterirdisch direkt in den Ne-
dem Becken. Ich folge ihm. Kälte spüre ich keine mehr.
ckar, die andere Hälfte drückt sich durch 19 Brunnen ans
„Das da drüben sind die Warmbader“, sagt Herr Pfeffer-
Tageslicht und speist unter anderem die traditionsreichen
korn und zeigt auf die Hallenbecken mit 34 Grad. Er sagt
Mineralbäder Berg und Leuze.
das ohne Verachtung, aber wir wissen beide: Es gibt einen
Schon die Römer nutzten diese Quellen zum Baden. Doch
Unterschied zwischen ihnen und uns. „Und da hinten sind
auf die Idee, Wasser zu Heilzwecken zu nutzen, kam erst
die Nackten“, ergänzt er mit einem kurzen Blick Richtung
der Fabrikant Augustin Koch im Jahre 1842. Bislang hatte
Saunalandschaft, wo man schwitzend ohne Hose in einem
es ihm lediglich als frostsicherer Antrieb der Schwungrä-
heißen Kämmerchen sitzt und hinterher kalt Duschen geht.
der seiner Fabrik gedient. Neun Jahre später konnte Ludwig
Das ist nicht seine Welt. Er geht erst heiß duschen und dann
Friedrich Karl Leuze in Bad Cannstatt mit wenigen Trink-
kalt baden – so einfach ist das.
Gäste Schlange, um bei Trinkkuren literweise Heilwasser
W
zu schlucken. Bad Cannstatt war zum Kurort von Weltrang
nen geliebten Zupfgeigenhansel über das Internet zu hö-
und Baden zum medizinischen Allheilmittel avanciert.
ren. Tatsächlich hat eine Studie der Universität Graz jüngst
Mittlerweile verordnen Mediziner nur noch selten Trinkku-
bestätigt, dass bereits ein halbstündiges Bad im Thermal-
ren, aber Gerhard Pfefferkorn und sein Leuze-Club schwö-
wasser den Gehalt des Stresshormons Kortisol im Körper
ren auf ihr Cannstatter Mineralwasser – auch heute, bei
sichtlich mindert.
minus zehn Grad Außentemperatur.
Ich will die Bäderkultur des Südwestens noch von einer
kuren das schwere Rheumaleiden seiner Frau heilen. Der dankbare – und geschäftstüchtige – Gatte kaufte kurzerhand die Quellen und ließ ein Heilbad errichten. Schnell wurde das Bad in ganz Baden-Württemberg bekannt: Bereits Ende des 19. Jahrhunderts standen internationale
S
elchen Nutzen das Kaltbaden aus schulmedizinischer Sicht hat, kann Herr Pfefferkorn nicht beantworten. Das Kaltbaden halte ihn jung, sagt er. Irgendetwas muss dran sein: Er
wird bald 90 und hat sich jüngst ein iPad gekauft, um sei-
anderen Seite kennenlernen und mache mich, mit geie müssen nicht mit rein“, sagt Pfefferkorn, noch im-
senktem Kortisolwert, auf den Weg nach Bad Wildbad
mer mit einer höflichen und einer spöttischen Ge-
im Schwarzwald, zu einem der ältesten Kurorte Europas.
sichtshälfte. Ich weiß: wenn ich jetzt kneife, ist sein
Auf dem Weg zum Bahnhof habe ich das angenehme Ge-
Bild der verweichlichten Jugend für immer besie-
fühl, bereits etwas geleistet zu haben, während andere
gelt. Ich beiße die Zähne zusammen und taste mich ergeben
noch am Frühstückstisch sitzen. Wenig später steige ich
treppab ins Kalte. Beim Eintauchen zieht sich meine Lunge zu-
in Pforzheim in die S6, die mich direkt in den Kurzurlaub
sammen. Ich will schreien, aber das hört unter Wasser ja nie-
fahren wird. Eine halbe Stunde windet sich das Bähnchen
mand. Als ich auftauche, schaue ich voller Schrecken in glück-
durch ein enges, tannenbewaldetes Tal. Fehlt nur noch,
liche, alte Gesichter. Ich erkenne die Dame vom Drehkreuz
dass Heinz Rühmann irgendwo zusteigt. Die Endhaltestel-
wieder und bin erleichtert: Ich habe keine Todesvisionen. Vor
le Bad Wildbad liegt so gemütlich und einsam am Ende der
62
Leidenschaftliche Kaltbader: Gerhard Pfefferkorn und sein Leuze-Club schwรถren auf das eisige Mineralwasser.
63
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
Zeit, wie es ihr Name vermuten lässt. Zuckerbäcker und
durch Größe als durch Schönheit besticht und die moderne
großzügig geheizte Cafeterien säumen das bucklige Gäss-
Wellnesswelt beherbergt.
chen zum Thermalbad. Über den Dächern läuten die vier
Ich will chronologisch vorgehen und beginne mit der Er-
Glocken der Sankt Bonifatius Kirche zum Mittag; erbaut
holung im verwinkelten und reich verzierten Erdgeschoss,
vor bald 150 Jahren, um der wachsenden Zahl katholischer
wo ich zwischen zehn Thermalpools wählen kann. Nach
Kurgäste gerecht zu werden.
ein paar Zügen im großen Herrenbad wechsle ich unter
S
den Blicken einer vollbusigen Marmorvenus ins wärmere chließlich waren es Mönche, die Mitte des 12. Jahr-
Frauenbad, das heute beiden Geschlechtern offen steht,
hunderts das warme Quellwasser der Region erst-
und verweile schließlich in einem der keramikgefliesten
mals für Heilkuren nutzten und damit den Grund-
Fürstenbäder, das nur vier Personen fasst und einst aus-
stein für das heutige Bad legten. Die Kunde von der
erwählten Kreisen vorbehalten war. Schließlich wandele
heilenden Wirkung des Thermalwassers verbreitete sich
ich auf der Suche nach dem Ausgang zwischen Mosaiken,
schnell und bereits im 15. Jahrhundert kurten die württem-
Séparées und Privatbadewannen umher, bis ich in einer
bergischen Fürsten in „Wiltbad“. Gefördert von den Köni-
opulenten Entspannungskathedrale lande: Zwischen an-
gen Württembergs, führte es später Persönlichkeiten wie
tiken Stucksäulen, Palmen und farbenreichen Jugendstil-
den Komponisten Gioachino Rossini und die russische Za-
fenstern räkeln sich nackte Schönheiten aus Marmor. Ein
renwitwe Alexandra Fjodorowna in den Schwarzwald. Noch
Geschichtslehrer käme ordentlich ins Schwitzen, müsste er
Mitte des 19. Jahrhunderts räkelte sich der russische und
Architektur und Interieur einer Epoche zuordnen.
deutsche Adel behaglich im Becken.
Schließlich, es ist bereits Nachmittag, finde ich eine Trep-
Vor 150 Jahren vom Hofarchitekten Nikolaus von Thouret
pe und steige zwei Jahrhunderte empor: Oben wartet eine
für unerhört viel Geld erbaut, wurde das Bad bis heute
moderne Saunawelt auf mich, mit Dampfbad, sechs Sau-
mehrfach erweitert und modernisiert. Hinter dem histori-
nen und Entspannungsbecken. Diese Etagen sind „textil-
schen Teil, einem rostroten maurisch inspirierten Bau, er-
frei“, also lege ich Scham und Badehose ab und wandere
hebt sich ein mehrstöckiger grauer Gebäudefels, der eher
durch das nächste Wohlfühl-Labyrinth, bis ich mich auf
64
DA S M AG A Z I N
Links Auch bei Regen entspannend: Die Sonnenterrasse des Palais Thermal mit Blick auf Bad Wildbad, einen der ältesten Kurorte Europas. Rechts Bau mit Geschichte: Schon im zwölften Jahrhundert priesen Mönche das warme Quellwasser der Region, später kurten hier württembergische Fürsten.
einem künstlichen Sandstrand auf dem Dach wiederfinde. Kurz erinnern mich meine klammen Füße an das eisige Becken im Leuze. Schaudernd flüchte ich in die leuchtende
AUS DER EISZEI T IN DIE FL ASCHE
Panorama-Sauna und lausche dem metallischen Knistern des Ofens. Kleine Rinnsale kitzeln mir den Rücken hinun-
1992 stieß die Romina Mineralbrunnen GmbH
ter und versickern im weichen Frottee. Ab und zu wischt
bei Probebohrungen in Reutlingen auf Wasser-
sich jemand neben mir den Schweiß aus dem Gesicht und
vorkommen. Laboruntersuchungen ergaben, dass
schaut flehend in Richtung Sanduhr, die stehengeblieben
man einen wahren Schatz entdeckt hatte: Das
zu sein scheint. Bei 95 Grad.
Wasser war mit dem Ende der letzten Eiszeit vor
Ich erhole mich im gedimmten Liegeraum und genieße den
rund 10.000 Jahren versickert und wurde seither
Ausblick vom dampfenden Pool auf der Dachterrasse, hoch
in rund 400 Metern Tiefe von wasserundurchläs-
über der gurgelnden Enz, die den Kurort in der Mitte teilt.
sigen Gesteinsschichten vor äußeren Einflüssen
Ein alter Kirchturm läutet den Abend ein und beim Anblick
geschützt. Das erklärt seine besondere Reinheit.
der dunklen Tannen und der hundertjährigen Seilbahn, die
Das Wasser ist frei von Nitrat und Nitrit, zudem
gegenüber am Sonnenberg ruht, vergesse ich alle Sorgen
enthält es wertvolle Mineralstoffe und Spuren
und Mühen des Alltags. Zum Glück kann mich Herr Pfef-
elemente. Es ist natrium- und kochsalzarm
ferkorn nicht sehen: glücklich und wohltemperiert mit den
und somit für Babynahrung bestens geeignet.
Nackt- und Warmbadern im Wasser. Er würde sicher spöt-
In Flaschen abgefüllt ist „EiszeitQuell“ ein
tisch grinsen.
Verkaufsschlager und gehört heute zu den beliebtesten Mineralwassern Baden-Württembergs.
Text: Holger Fröhlich Fotos: Christoph Püschner, Antonia Zennaro
65
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
Der Hingucker Fotoessay _ Durch seine Bilder will Eric Vazzoler Geschichten erzählen. Dafür reist er oft nach Osteuropa oder nach Afrika. Und ins Remstal. Der Franzose pendelt zwischen Straßburg und Stuttgart – im Südwesten Deutschlands findet er Spektakel und Schönes, Action und Kunst; Geschichten, die noch lange nicht enden.
Mit bis zu 70 Stundenkilometern rasen die Biker einen Abhang in Bad Wildbad 66 herab – bei den Deutschen Meisterschaften 2013 im „Downhill“.
DA SNMRAG . 01 A ZIN
67
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
68
NR. 01
Früher verbrachte Götz von Berlichingen auf der Götzenburg in Jagsthausen Jahre seiner Kindheit. Seit 1949 finden in den Gemäuern nun die Burgfestspiele statt.
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
7070
DA S M AG A Z I N
Der Kocher schlängelt sich entlang Wiesen, Wäldern und Weinterrassen – ein in idealer Fluss für ausgedehnte Kanufahrten. Auf dem Unteren Marktplatz von Freudenstadt sorgen 50 Wasserfontänen an heißen Tagen für Abkühlung. Kinder üben die Kletterkunst auf dem Rosenfels in der Nähe von Heubach. Der löchrige Stein lädt besonders Anfänger zum Kraxeln ein.
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
72
DA S M AG A Z I N
Touristen vor einer Pferdeskulptur des italienischen Künstlers Mimmo Paladino in der Kunsthalle Würth, Schwäbisch Hall. Aus Stein ist das Kunstwerk „Einzug in Jerusalem“ des Bildhauers Markus Redl. Einen jungen Besucher der Kunsthalle Würth interessiert zunächst Anderes. Ein Klassiker nicht nur für Kleine: Eine Schauanlage mit einer Modelleisenbahn im Göppinger Märklin-Museum.
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
Wo der Kunde König ist Reportage _ Hier ist immer Schlussverkauf: Die Outletcity von Metzingen am Fuß der Schwäbischen Alb lockt Kauflustige aus aller Welt an. Wer genug von reduzierter Ware hat, lässt den Tag bei einem „Viertele“ ausklingen. Fabrikverkauf mitten in der Stadt: Unweit der modernen Einkaufspassagen liegt die Altstadt Metzingens – zur Freude der Touristen aus aller Welt.
M
ittags, wenn die Schnäpp-
Schweizern und Österreichern reisen
chenjäger ihre erste Run-
Kauflustige aus China, Russland und
de hinter sich gebracht
Saudi-Arabien an. Chinesische Rei-
haben, kommen sie in
seführer erklären Metzingen gar zu
das kleine Restaurant von Gaetano
einer Top-Attraktion in Deutschland
Amato*, um ihren Hunger zu stillen.
– neben Neuschwanstein, Heidelberg
Besonders beliebt sind die Spaghetti
und Hofbräuhaus. Bis zu 70 Prozent
Bolognese, gern auch mal mit Ketch-
Preisnachlass in rund 60 verschiede-
up und Majo dazu. Dem Italiener tut
nen Markenshops machen Metzingen
das in der Seele weh, „aber das muss
zu einer von Deutschlands Shopping-
man akzeptieren“, sagt er. Was tut
Hauptstädten.
man nicht alles für seine Gäste.
glühende Kreditkarte garantiert.
Und Gäste kommen viele. Ins Restau-
Doch es gibt noch ein zweites Metzin-
rant von Gaetano Amato, und nach
gen. Nur einen Einkaufstütenwurf von
Metzingen sowieso, beziehungsweise
den Glasfronten und polierten Fassa-
in die Outletcity, das Schnäppchen-
den der Konsumtempel entfernt, er-
paradies im Zentrum. 3,5 Millionen
hebt
sind es im Jahr, macht bei 2.200 Ein-
die spätgotische Martinskirche oder
Schwer bepackt, leicht ermüdet:
wohnern 160 pro Nase, 40 Prozent
das imposante Rathaus, erbaut 1668.
Touristin nach dem Shopping.
davon
Weinstöcke schmiegen sich an die
aus
dem
74
Ausland.
Neben
Adrenalin-Kick
und
sich historisches Fachwerk,
DA S M AG A Z I N
Z
wei Könige kommen an die-
verwaltet, dann sind die unterschiedli-
sem Tag noch nicht so ganz
chen Geschwindigkeiten der Schlüssel
auf ihre Kosten. Hinter der
zum Erfolg. „Das ist ein gesunder Aus-
Boss-Filiale sitzen die Cou-
gleich für unsere Gäste. Besonders
sins Tim und Steven Lee aus Shang-
die Chinesen sind sehr interessiert an
hai auf einer Bank und blättern in
den historischen Bauten und der Ruhe
einem chinesischen Ladenführer aus
im alten Stadtkern“, sagt Salzer. Dass
der Touristeninformation. Die bei-
in Metzingen kein Retorten-Outlet auf
den sind morgens mit dem Mietwa-
einer grünen Wiese gebaut, sondern
gen in Mannheim gestartet und seit
die Einkaufszone „in die Stadt integ-
zwei Stunden in Metzingen auf Bum-
riert wurde“, trage zu ihrer Beliebtheit
meltour. Jetzt sind sie müde und ein
bei. „Die Outletcity ist historisch ge-
wenig enttäuscht. „So niedrig sind
wachsen. Die Entwicklung lief immer
die Preise gar nicht, fast wie in Chi-
in enger Absprache mit der Stadt und
na“, sagt Steven. Aufgeben wollen sie
im Austausch mit den Bürgern.“ Vor-
noch nicht. „Ich will mir eine Uhr, ei-
schläge zur Verkehrsführung seien
nen Gürtel und Schuhe kaufen“, sagt
aufgenommen und umgesetzt wor-
Steven. „Ich einen schönen Anzug“,
den, eine Umgehungsstraße entlaste
sagt Tim. Bisher haben sie nur Scho-
die Innenstadt und das nächste Park-
kolade in ihren Tüten.
haus werde entgegen der ursprüng-
Metzingen und die Textilindustrie –
lichen Pläne unter die Erde verlegt.
das hat eine lange Tradition. Früher
„Vieles ist hier deutlich verbessert
wurden hier, wie im benachbarten
worden“, sagt auch OB Fiedler, der
Reutlingen, Stoffe gewoben und Klei-
seine Stadt gern als die „kleinste Me
der genäht. Als die Produktion ins
tropole der Welt“ bezeichnet.
Ausland abwanderte, gründete man in Reutlingen eine Hochschule für Textil und Design. In Metzingen eröffneten die Enkelsöhne von Hugo Ferdinand Boss, Uwe und Jochen Holy, in den 60er Jahren einen Fabrikverkauf
E
s ist Nachmittag. Die Shopper haben ihren Hunger gestillt und sind wieder auf der Jagd nach
herabgesetzten
Teilen
der auslaufenden Saison. In den Res-
nach amerikanischem Vorbild. Edel-
taurants der Schnäppchenstadt kehrt
Stadtränder, im milden Klima am Fuß
marken wie Escada, Burberry, Lacos-
ein wenig Ruhe ein. Gaetano Amato
der Schwäbischen Alb begann man
te und später auch Firmen aus dem
deckt die Tische für den Abend, für
früh mit dem Anbau von Schwarzries-
mittleren Preissegment wie Esprit,
seine Stammgäste, die ihre Spaghet-
ling, Riesling, Muskateller und vielen
Tom Taylor oder s.Oliver sprangen
ti so lieben, wie sie der Römer ihnen
weiteren Rebsorten.
auf den Zug. Die Outletcity wuchs
zubereitet. „Die Leute haben gelernt,
Es soll Menschen in Metzingen geben,
– und führte zu „unterschiedlichen
mit der Outletcity zu leben“, sagt er.
die sich gestört fühlen vom „Trubel und
Geschwindigkeiten“
der
„Und die Chinesen werden auch noch
der Hektik“, weiß Gaetano Amato. „Um
Stadt, wie es Metzingens Oberbür-
lernen, dass die italienische Küche
Missverständnissen vorzubeugen.“ Er
germeister Ulrich Fiedler formuliert.
die Beste ist.“ Er sei da zuversicht-
selbst habe nichts gegen den täglichen
Er regiert eine Stadt, in der alte Da-
lich. Manche Dinge brauchen eben
Ansturm der Preisbewussten. Tags-
men
etwas Zeit.
über kommen die mit dem Ketchup
zum Metzger schieben, bevor Kun-
auf den Spaghetti, abends folgen dann
den beim „After Work Shopping“ bis
seine Stammkunden. Menschen, die
22 Uhr die Filialen von Boss, Armani
ein „Viertele“ guten Weins und italie-
und Co. stürmen. Fiedler sagt: „Man-
nische Küche zu schätzen wissen. „Ich
che Leute sehen darin eine Spaltung.
mag die zwei Gesichter der Stadt“, sagt
Ich sehe sie nicht. Nicht mehr als in
Gaetano Amato. Er ist sicher: „Wir pro-
anderen Städten.“
fitieren alle davon.“ Der Kunde ist eben
Glaubt man Alexander Salzer von der
Text: Johan Kornder
König in Metzingen.
Holy AG, die das Shopping-Paradies
Fotos: Thomas Kienzle
nachmittags
75
innerhalb
ihre
Gehwagen
*Name geändert
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
Ein bärenstarkes Sommerfest Was ist das zerzauste Kuscheltier vom Dachboden wert? Lohnt es, den von Motten angefressenen Teddy zu reparieren? Wie entsteht eigentlich ein Steiff-Tier? Antworten darauf gibt
Gold und andere Schätze
Alles was glänzt Seit 1767 herrschen in Pforzheim gol-
es auf dem großen Familien-Som-
dene Zeiten. In diesem Jahr erlaubte
merfest der Margarete Steiff GmbH
Markgraf Karl Friedrich von Baden
in Giengen an der Brenz. Stets Ende
dem Franzosen Jean Francois Autran
Juni lädt das Traditionshaus Fans und
eine Taschenuhrenfabrik zu bauen.
ihre Familien drei Tage lang in die Teddybärenhauptstadt.
Wer
seine
Shoppen im Grünen
Sammlung erweitern will, wird auf
Schon bald erweiterte Autran seine Fabrikation und produzierte fortan auch Schmuck und feine Stahlwaren.
der Verkaufsbörse fündig, und in der
Fachwerkhäuser drängen sich in der
Pforzheim wurde zur Goldstadt, mehr
Teddybärenklinik (mit eigenem Spa)
Altstadt, darüber thront seit fast
als die Hälfte ihrer Einwohner arbei-
kann man seinen alten Schmuse-
1.000 Jahren die Burg. Auf den ersten
tete einst in der Schmuck- und Uh-
schätzen neuen Glanz verleihen. Kin-
Blick scheint die Zeit stillzustehen in
renindustrie, bis heute stammen 80
dern, die der Umgang mit Stofftieren
Wertheim im nordöstlichsten Zipfel
Prozent des aus Deutschland expor-
langweilt, können im Streichelzoo vor
der Metropolregion, dort wo sich Main
tierten Schmucks von hier. Zu einem
dem Museum ins echte Tierleben ein-
und Tauber zwischen Weinbergen
Besuch in der Stadt am Nordrand des
tauchen, wo keines der kleinen Zie-
küssen. Eine Mainschleife flussauf-
Schwarzwalds laden die "Schmuck-
gen, Lämmchen und Esel einen Knopf
wärts, an der A3 zwischen Würzburg
welten" – Deutschlands größte Ein-
im Ohr trägt.
und Frankfurt, ist ein Städtchen der
kaufs- und Erlebniswelt rund um Gold,
anderen Art entstanden: das „Wert-
Edelsteine, Schmuck und Uhren. In elf
Der „Steiff Sommer“ findet stets Ende
heim Village“. 110 Markengeschäfte
interaktiv
Juni rund um das Steiff-Museum
– von Klassikern wie Aigner bis Jungla-
men wird zum Beispiel die Geschichte
und auf dem Firmengelände in der
bels wie Superdry – 13.500 Quad-
der Goldstadt Pforzheim beleuchtet
Richard-Steiff-Straße 4 in Giengen/
ratmeter Ladenfläche sowie 1.750
oder die Frage beantwortet, wie Gold
Brenz statt. www.steiff.com
Parkplätze machen es zu einem der
schmeckt. In der angeschlossenen
größten „High-End Outlet Shopping
Einkaufswelt kann man mehr als 200
Villages“ der Metropolregion. Rund
Schmuck- und Uhrenmarken in allen
2,5 Millionen Besucher von nah und
Preislagen kaufen. Die Glanzstücke
fern lockte die Kaufstadt 2013 an. Um
der Schmuckwelten, ein vergoldeter
die Käuferströme künftig noch besser
Porsche 911 und ein Oldtimer-Bus der
in die Läden zu lenken, ist derzeit gar
Marke "Neoplan", sind unverkäuflich,
Dieser Flohmarkt ist älter als vieles,
eine neue Brücke über die A3 in Pla-
können aber für eine Ausfahrt gemie-
was man an seinen Ständen kaufen
nung. Alles völlig neu und ungewöhn-
tet werden.
kann. Seit mehr als 30 Jahren wird
lich? Überhaupt nicht: Bereits 1363
der Karlsplatz in der Stuttgarter In-
erhielt Graf Eberhard von Wertheim
Schmuckwelten Pforzheim
nenstadt samstags von 8 bis 16 Uhr
das Recht, Münzen zu prägen. Geld zu
Westliche Karl-Friedrich-Straße 56,
zum Umschlagplatz für Schmuck,
machen hat hier eine lange Tradition.
75172 Pforzheim.
Zweite Hand, erste Wahl
Möbel, Schallplatten, Geschirr, Kla-
gestalteten
Themenräu-
Öffnungszeiten:
motten, Spielzeug und vieles mehr.
Wertheim Village
Montag – Samstag: 10 – 19 Uhr
Ob Jugendstil oder Krimskrams im
Almosenberg, 97877 Wertheim.
Sonn- und Feiertag: 11 – 18 Uhr
Charme der siebziger Jahre: Hier wird
Öffnungszeiten:
www.schmuckwelten.de
Stöbern zum Erlebnis, vor allem im
Montag bis Samstag 10 bis 20 Uhr.
Frühjahr und Herbst, wenn der Markt
Alle Marken sowie
mit mehr als 3.000 Ständen die halbe
verkaufsoffene Sonntage unter
Innenstadt füllt.
www.wertheimvillage.com
76
DA S M AG A Z I N
Wandel auf leisen Sohlen
F
Feature _ E-Autos sind echte Flitzer.
E-Auto den Weg vom Kuriosum zum
aufgepasst: Das Ordnungsamt
Warum sind sie immer noch nicht
Standard im Straßenbild weisen wol-
könnte künftig ganz unverhofft
im Alltag angekommen? Zwei Städte
len. Bis August 2014 werden neben der
vor Ihnen stehen. Kein Mo-
im Stauferland machen den Test.
städtischen E-Flotte auch Carsharing-
torengeräusch, dass den nahenden
Der Wandel, sagen sie, muss in den
Angebote und das Zapfstellennetz aus-
Streifenwagen verraten hätte. Zumin-
Köpfen passieren.
gebaut. Das Städtebauinstitut der Uni-
alschparker
und
Wildpinkler
dest in Göppingen sind die Schleich-
versität Stuttgart begleitet das Projekt,
fahrten der Beamten – gut 100 Kilome-
das anderen mittelgroßen Städten den
ter täglich in einer Mercedes A-Klasse
Dach eines Carports fangen Sonnen-
Weg in die benzinfreie Zukunft weisen
mit Elektroantrieb – seit Januar 2012
energie ein, mit der sich die Batterie ei-
soll. Die Kosten belaufen sich auf 3,4
Routine. Und das ist erst der Anfang:
nes kleinen E-Autos bei Kaiserwetter in
Millionen Euro, knapp 2 Millionen da-
Bis August 2014 sollen 60 von 150 Wa-
wenigen Stunden aufladen lässt. „Eine
von kommen vom Bund, der sich ein
gen des städtischen Fuhrparks elekt-
der größten Herausforderungen für die
ehrgeiziges Ziel gesteckt hat: 2020 sol-
risch betrieben sein.
Elektromobilität ist der Aufbau eines
len eine Million E-Autos auf deutschen
Pressetermin auf dem Parkplatz vor
Zapfstellennetzes“, sagt OB Till, der
Straßen fahren. Wie das möglich ist,
der Hochschule Esslingen, Standort
demnächst selbst im Hybrid-Dienstwa-
wird nun nicht in Berlin oder Hamburg
Göppingen.
Guido
Till,
parteiloser
gen unterwegs sein will.
erforscht, sondern im hügeligen Stau-
Oberbürgermeister
der
60.000-Ein-
Wie wird die elektromobile Stadt der
ferland, das die Auto-Akkus in tiefver-
wohner-Stadt rund 40 Autominuten
Zukunft aussehen? Wie kann man sie
schneiten Wintern schnell an die Belas-
südwestlich von Stuttgart, ist gekom-
am besten gestalten? „Elektromobiliät
tungsgenze führen kann.
men, um eine Solarstrom-Tankstelle
im Stauferland“ (EMIS) heißt das Pro-
Ausgerechnet in Göppingen. Keine
einzuweihen. Eine simple Konstruktion,
jekt, mit dem die Nachbarstädte Göp-
20 Autominuten sind es von hier bis
eigentlich: Photovoltaikzellen auf dem
pingen und Schwäbisch Gmünd dem
Schorndorf, der Geburtsstadt der
77
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
Technikpioniers Gottlieb Daimler. Gemeinsam mit Carl Benz entwickelte er erst den Verbrennungsmotor und dann das Automobil. Erfindunden, die seit 130 Jahren das wirtschaftliche Rückgrat der Region bilden. Vielleicht ist das der wichtigste Grund, warum die Region dabei sein will, wenn nun nach Alternativen geforscht wird. Denn früher oder später muss der Wandel her. Schlicht, weil das Öl zur Neige geht. Vor allem aber, weil der Klimawandel die Menschheit bedroht.
S
o dramatisch die Aussichten sind: Nach allerlei Leuchtturm projekten
zur
E-Mobilität
kommt das E-Auto nicht so rich-
Auf leisen Sohlen: In Göppingen fährt das Ordnungsamt E-Auto.
tig in die Gänge, kostet es ja oft noch immer etwa doppelt so viel wie ein konventionelles Modell. Immerhin: Beim
Puste aus. Ist das Thema E-Mobilität
ist so leise, dass die Stadt überlegt,
Verbrauch hat man schnell ein Drittel
vielleicht schon beendet, noch bevor
die Tonnen künftig nachts zu leeren.
der Kosten gespart. Ein bisschen ver-
es angefangen hat? In Göppingen und
Es ist Wandel auf leisen Sohlen, der sich
hält es sich mit seinem Vormarsch wie
Schwäbisch Gmünd will man das Ge-
auf den Straßen vollzieht – in Göppin-
mit seiner Performance auf der Stra-
genteil beweisen.
gen und anderswo. 100 Kilometer hält
ße: Beim Start lässt es Sportwagen mit
Zum Beispiel die städtische Wohnungs-
ein Akku eines E-Autos etwa, genug für
Verbrennungsmotor links liegen, doch
baugesellschaft WGG: Bei einem ih-
die meisten innerstädtischen Fahrten.
nach rund 100 Kilometern geht ihm die
rer nächsten Bauprojekte will sie ein
Und doch scheint es zu dauern, bis die
E-Auto anbieten, das sich mehrere
neue Technologie angekommen ist. An
Haushalte teilen können. Die eigene
die Stille der neuen Fortbewegung wer-
Stromzapfsäule am Haus gibt es zum
den sie sich dennoch schon früher ge-
Nachbarschafts-Carsharing gleich mit
wöhnen müssen. „Ich fahre besonders
dazu. Ein Modell, an das viele Hoffnun-
vorsichtig im E-Auto durch die Stadt“,
gen geknüpft sind, vor allem in Göppin-
erzählt Jörg Dittmann, der für das Göp-
gen. „Bei uns parken viele Menschen
pinger Ordnungsamt unterwegs ist.
in der eigenen Garage“, sagt OB Till,
Zu oft ist ihm auf seinen Touren schon
„wenn man die mit Solarzapfstellen
jemand verträumt vor die Motorhau-
ausrüsten würde, wäre klimaneutraler
be spaziert. „Man ist daran gewöhnt,
Strom stets verfügbar, ohne dass wir
dass Autos Lärm machen“, sagt Ditt-
gleich ein ganzes Zapfstellennetz zur
mann. Nun, vielleicht ist das gar nicht
Verfügung stellen müssten.“ Die Stadt
schlecht: Die Elektromobilität verlangt
setzt dennoch auf einzelne Stromzapf-
den Menschen wieder mehr Rücksicht
säulen in der Innenstadt, „auch wenn
im Straßenverkehr ab. Wenn das nicht
gar nicht klar ist, ob wir die wirklich
reicht, kann der Praxistest in Göppin-
brauchen“, so Till. Der Wandel soll halt
gen auch in einer anderen Empfehlung
auch in den Köpfen der Menschen an-
münden: E-Autos mit einem Lautspre-
kommen, und der beste Antrieb nützt
cher auszurüsten, der die Geräusche
wenig wenn kaum jemand weiß, dass
eines Verbrenners imitiert.
es ihn gibt. Lautlose Pilotprojekte Fährt voraus: Göppingens
wie das E-Müllauto, das in Göppingen
Oberbürgermeister Guido Till.
bereits getestet wurde, bleiben da
Text: Mathias Becker
ein wenig im Schatten. Das Müllauto
Fotos: Rainer Kwiotek
78
DA S M AG A Z I N
„Die neue Form von Unabhängigkeit“
diesem Segment. Mit 1.000 Newtonmetern Drehmoment, rund 750 PS und einer Beschleunigung von Null auf 100 km/h in 3,9 Sekunden haben wir ein Fahrzeug geschaffen, das die Welt noch nicht gesehen hat. Die Botschaft ist klar: Umweltschutz und Spaß müssen sich nicht ausschließen ...
Interview _ Er applaudiert, wenn der Ölpreis steigt – aber nicht zu laut,
... zumindest von hier bis zur
die Kollegen könnten ihn hören.
nächsten Steckdose.
Jürgen Schenk, der seit 1980 für
Es kommt darauf an, wie man einen Wa-
Daimler forscht, leitet seit 2009 die
gen fährt. Das gilt für Verbrenner wie
Entwicklung der Elektrofahrzeuge
für Elektromotoren. Bei normaler Fahr-
am Standort Sindelfingen.
weise hat der SLS eine Reichweite von
Ein Gespräch über neue Antriebe
250 Kilometern. Natürlich ist in puncto
und die Zukunft der Mobilität.
Reichweite noch Luft nach oben. Ich Autoentwickler Jürgen Schenk.
würde sagen, in 20 Jahren wird es signifikante Steigerungen geben. Grundsätzlich liegt es auf der Hand, dass der
Herr Schenk, schwärmen Sie auch
fängt jetzt an. Es gibt immer mehr
batterieelektrische Antrieb aufgrund
bis heute von Ihrem ersten Auto?
Menschen, die auf der Langstrecke
der Reichweiten vor allem in Klein- und
Ja, natürlich. 1975, da war ich gerade
Zug oder Flieger nutzen und auf Kurz-
Kompaktfahrzeugen für den Einsatz in
20 Jahre alt, habe ich mir einen grauen
strecken mit dem E-Auto unterwegs
der Stadt und im Umland Einzug hal-
Käfer Cabrio gekauft. Für 300 Mark!
sind. 2009 hatten wir rund 100 E-
ten wird. Auf Langstrecken spielen auf
Als ich ihn repariert hatte, ging es di-
Smarts im Einsatz, bis 2012 waren es
lange Sicht die Brennstoffzellentechno-
rekt an den Gardasee – unvergesslich!
schon 2.000 und Ende 2013 werden
logie und heute schon die Hybride ihre
mehr als 7.000 Fahrzeuge der dritten
Vorteile aus. Wir sind davon überzeugt,
Wissen Sie noch, was der Liter
Generation weltweit in Kundenhand
dass es nicht die eine Technologie als
Benzin damals gekostet hat?
sein. Viele Kunden versorgen ihr Elek-
Königsweg für eine nachhaltige Mobili-
60 Pfennig.
trofahrzeug zunehmend autonom –
tät geben wird, sondern eine Vielfalt an
zum Beispiel mit Solarzellen auf dem
Lösungen, die für alle Kundenanforde-
Günstiger Sprit, freie Bahn: Das
eigenen Hausdach. Bei steigenden
rungen zugeschnitten sind.
Auto war Freiheit pur. Gilt das auch
Benzinpreisen ist das die neue Form
für einen Elektrosmart mit einer
von Unabhängigkeit. Aber nicht jeder
20 Jahre bis sich die E-Autos durch-
Reichweite von 145 Kilometern?
hat eine Garage mit Steckdose. Des-
setzen – Sie müssen einen langen
Wer nonstop von Flensburg nach
halb ist der Aufbau einer öffentlichen
Atem haben. Zumal es nicht sicher
München fahren will, sollte das natür-
Ladeinfrastruktur so wichtig.
ist, dass die Menschen umsteigen werden.
lich nicht mit einem E-Auto tun. Es ist ohne Zwischenladung schlicht nicht
Daimler baut neben dem Smart
Wissen Sie, vor 100 Jahren stritt man
möglich. Im Stadtverkehr und im Um-
und der B-Klasse mit Elektroan-
darüber, ob Eisenbahnen in Zukunft
land jedoch sind batterieelektrische
trieb auch den E-SLS AMG Coupé,
mit Dampf, Diesel oder Strom fahren
Fahrzeuge die perfekten Begleiter: Sie
eine Art Düsenjet für die Straße.
würden. Keine große Veränderung geht
sind umweltfreundlicher und leiser,
Kann man mit elektrischen 750 PS
von heute auf morgen, doch was Kraft
im Unterhalt günstiger und machen
die Welt retten?
gibt, ist die Gewissheit, an der richtigen
nicht zuletzt auch noch eine Menge
Das wäre schön. Für uns geht es zu-
Sache zu arbeiten. Je teurer das Benzin
Spaß – vor allem beim Ampelstart!
nächst mal darum, die Wünsche und
ist und je günstiger die Elektroautos,
Mobilitätsbedürfnisse unserer Kunden
desto schneller wird sich der Wandel
Warum steigen die Menschen dann
zu erfüllen. Der SLS Electric Drive zeigt
vollziehen. Die Zeit ist auf unserer Seite.
nicht endlich reihenweise um?
das Potenzial der Elektromobilität und
Weil dem großflächigen Umstieg ein
steht für unsere Entwicklungskompe-
Text: Mathias Becker
Umdenken vorausgehen muss. Das
tenz und Technologieführerschaft in
Fotos: Christoph Püschner
79
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
Die Stadt der Ehrenbürger
hilfsbereit? Liegt es daran, dass die Vereinskultur in Schwaben auf eine lange Geschichte zurückblickt? Dass die Menschen hier geselliger sind als anderswo? „Wir machen halt das, was uns Spaß macht“, sagt Gundis Eisele. Für sie bedeutet ein Ehrenamt nicht
Portrait _ Turmwächter und Nachtwanderer, Vorlesepaten und Bürgermentoren: In Nürtingen ist jeder Zweite ehrenamtlich engagiert – ein deutscher Spitzenwert. Ein Besuch in der Heimat der Nächstenliebe.
nur, etwas zu geben; sie bekommt auch viel zurück. „Ich finde es schön, gebraucht zu werden“, sagt sie und schließt die Fensterläden im Kirchturm für heute. „Mögen Sie einen Pfefferminz für unterwegs?“, fragt sie, bevor
F
sie die Stufen der Wendeltreppe nach unten huscht. ünf Besucher sind Gundis Eise-
rose“ und bietet „Wohlfühlnachmitta-
40.000 Menschen leben in Nürtingen,
les Einladung auf den Turm der
ge“ für Senioren an. Zweimal im Monat
das sich vor den Toren Stuttgarts an
spätgotischen
an
lädt sie zu ihrer Gruppe „Gemeinsam
den Neckar schmiegt. Eine Mauer
Stadtkirche
diesem Sonntag gefolgt. Nicht
statt einsam“. Und jeden Mai organi-
aus dem Spätmittelalter umschließt
gerade viel, aber davon lässt sich die
siert sie ein Fest für bis zu 500 Senio-
die Altstadt, die Fachwerkhäuser ste-
quirlige 70-jährige Rentnerin nicht die
ren, singt mit ihnen Volkslieder, küm-
hen eng beisammen. Grüne Hügel
Laune verderben. „Sie müssen mal an
mert sich um eine Tanzgruppe und um
legen sich wie ein Band um den Ort.
Weihnachten kommen, da können sie
eine Preisverleihung. All das, ohne ei-
Das „Städtle“ ist stolz auf Friedrich
hier einen Ampelverkehr einrichten“,
nen Cent dafür zu bekommen.
Hölderlin und Harald Schmidt, seine
sagt sie in breitem Schwäbisch. Einmal
Gundis Eisele gehört zu den 49 Prozent
Kunstakademie, seine Hochschule für
im Monat steigt sie die 189 Stufen auf
der Nürtinger, die laut einer Umfra-
Wirtschaft und Umwelt. Die eigent-
den Kirchturm und erzählt Besuchern
ge von 2009 ein Ehrenamt ausüben.
liche Attraktion aber ist sein großes
Anekdoten aus der Geschichte des
Der Bundesdurchschnitt liegt bei 36
bürgerschaftliches Engagement: gan-
Bauwerks. Ehrenamtlich.
Prozent, laut einer Studie des Bun-
ze 67 Selbsthilfegruppen gibt es, 14
„Turmwächterin“, das ist nur eines ih-
desfamilienministeriums aus demsel-
Bürgerbeteiligungsforen
rer fünf Ehrenämter. Unter der Woche
ben Jahr. Warum sind die Menschen
als 100 ausgebildete Bürgermentoren,
leitet sie die „Selbsthilfegruppe Arth-
in dieser Stadt nur so ausgesprochen
die zwischen Gemeinderat, Verwal-
und
mehr
tung und Einwohnern vermitteln. Dazu kommen ein Jugendrat, Nachtwanderer, Stadtteilmütter und Vorlesepaten. Selbst die Angestellten der Kommune haben den Überblick über das bunte Heer der Ehrenamtlichen verloren. „Man muss den Bürgern zeigen, dass sie ernst genommen werden, wenn man will, dass sie sich engagieren“, sagt Hannes Wezel. Der drahtige 59-Jährige mit der randlosen Brille gilt als einer der Väter des Nürtinger Erfolgsmodells. Er setzt sich seit bald 35 Jahren für mehr Bürgerengagement ein und ist mittlerweile Referent der Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg. Als 1991 in Nürtingen ein neues Rathaus Die Stadt im Blick: Gundis Eisele führt Besucher
gebaut wurde, kam Wezel die Idee, ei-
auf den Turm der Stadtkirche – ehrenamtlich.
nen „Bürgertreff“ einzurichten – einen
80
DA S M AG A Z I N
Ort für die Engagierten der Stadt. Der
ringe!“, sagt eine Nachtwandererin zu
Söhne. Wie Gundis Eisele, die Turm-
Vorschlag fand Gehör, die Pläne wur-
einem 18-jährigen Mädchen, das auf-
wächterin der Stadtkirche, sieht er sein
den um ein Freiwilligenzentrum erwei-
fallend viel Schminke im Gesicht trägt
Engagement aber nicht nur als gute
tert. Die Keimzelle des Nürtinger En-
und Glitzer-Creolen an den Ohren.
Tat. Auch die Aktiven selbst profitier-
gagements war geschaffen. Bis heute
Schon kommt ein Gespräch über das
ten vom Programm, man lerne Leute
treffen sich hier Bürgermentoren und
Fernsehprogramm vom Vorabend in
kennen, tausche sich aus. Auf einer
Selbsthilfegruppen, es gibt Kurse und
Gang. Johannes Jahn erkundigt sich bei
Tour hat Jahn, damals alleinstehend,
Fortbildungen für Ehrenamtliche.
einem Jugendlichen, den er von frü-
Gabriele Düregger, 47, kennengelernt.
„Engagement schafft Transparenz und
heren Rundgängen kennt, nach einer
Sie war ebenfalls bei den Nachtwan-
hilft, Bürger und Verwaltung einander
anderen Clique. „Die trinken soo viel“,
derern aktiv. Heute leben die beiden
anzunähern“, sagt Nürtingens Ober-
stöhnt Sven. „Wir bleiben lieber weg
zusammen.
bürgermeister Otmar Heirich. Er klingt
von denen, dann gibt’s keinen Stress.“
überzeugt, auch wenn er den Preis
„Es ist wichtig, dass die Jugendlichen
einer
kennt:
einen Ansprechpartner haben“, sagt
Text: Esther Göbel
Mitunter erschwert sie einem das Re-
Jahn, selbst Vater zweier erwachsener
Fotos: Christoph Püschner
aktiven
Bürgerschaft
gieren. Als Pläne publik wurden, dass auf einem weitläufigen Gelände am Neckarufer mehrgeschossige Wohnhäuser errichtet werden sollen, taten sich viele Nürtinger zusammen, demonstrierten, sammelten Unterschriften. Der Wind der Mitsprachewilligen blies dem Stadtoberhaupt ins Gesicht. „Manche verstehen nicht, dass Beteiligung kein Wunschkonzert ist“, sagt Otmar Heirich. Man könne eben nicht alle Meinungen berücksichtigen. Letztlich müsse eine Entscheidung her und im Fall des Grundstücks beschloss der Gemeinderat: Es wird gebaut. Der Streit um das Areal schwelt dennoch weiter über der Stadt. „Es ist eben nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen“, sagt Heirich. Und doch verwendet er gern das Wort „Bürgerkommune“, wenn er von Nürtingen spricht.
E
s ist Abend geworden über der Stadt und Johannes Jahn, 53, zieht einen der blauen Fleecepullover über, den die Nacht-
wanderer auf ihren Rundgängen tragen. Jahn ist einer von den sieben Freiwilligen, die freitags und samstags die Plätze ablaufen, an denen sich Jugendliche treffen – zum Quatschen, Trinken, Partymachen. Heute wandern Jahn und seine Mitstreiter vom Marktplatz zum Busbahnhof und schließlich zum Parkhaus, wo sie eine Gruppe Jugendlicher treffen. Man kommt ins
Den Nachwuchs nicht aus den Augen verlieren: Die Nachtwanderer
Gespräch. „Du trägst aber schöne Ohr-
sprechen Nürtinger Jugendliche auf der Straße an.
81
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
Bürger im Einsatz Portraits _ Freiwilliges Engagement ist der Kitt der Gesellschaft. Wir stellen drei Aktive vor.
Rachel Dror, 93 Jahre, aus Stuttgart, floh vor den Nazis nach Palästina, wurde dort die
Claus Kuge,
erste Polizistin Israels und kehrte später zurück nach Deutschland. Für ihr
66 Jahre, aus Pforzheim. Der Chef
Engagement im Austausch zwischen
einer Werbeagentur ist seit fast drei
den Religionen erhielt sie den baden-
Jahrzehnten Mitglied der „Löblichen
württembergischen Landesverdienst-
Singergesellschaft von 1501“.
orden und die Otto-Hirsch-Medaille.
„Als ich heiratete, sagte mein Schwie-
„Als ich jung war, habe ich mich nicht
lie, und wir sind traditionell in der Löblichen, also trittst Du auch ein.’
Barbara Schuster Gratz,
für Politik interessiert, ich habe nur darauf gehört, was meine Eltern sagten. Und im März 1933 sagten sie, ich
Inzwischen bin ich seit fast zehn Jah-
52 Jahre, Lehrerin, ist eine von 2.000
dürfe nun nicht mehr mit meinem
ren Obermeister, und um eins gleich
Ehrenamtlichen, die 2012 an der
Freund Werner spielen. Damals be-
klarzustellen: Wir sind kein Gesangs-
Inszenierung der „Staufersaga“ an-
gannen die Repressionen gegen die
verein, sondern setzen uns dort ein,
lässlich des 850. Stadtjubiläums von
Juden. Ein anschauliches Beispiel da-
wo Hilfe gebraucht wird: Lesepaten-
Schwäbisch Gmünd mitwirkten.
für, wie Schüler den Holocaust ver-
schaften für Schüler, Flüchtlingshilfe
stehen können. Seit 1978 führe ich
oder Mitarbeit im Stadtarchiv – wir
„Erst habe ich nur meine drei Söhne
Schulklassen
helfen an Nahtstellen, die die Kom-
animiert, bei der Staufersaga mitzu-
oder erzähle ihnen im Unterricht, was
mune nicht abdeckt. Das hat eine
machen. Aber dann war das Haus leer,
ich erlebt habe und was das Judentum
lange Geschichte: Im Mittelalter wü-
also haben mein Mann und ich auch
ausmacht. Die Jugendlichen sind inte-
tete die Pest in Pforzheim und aus
mitgemacht. Dann bekam das Projekt
ressiert und freuen sich über die Of-
Angst vor der tödlichen Krankheit
eine Eigendynamik, denn alle unsere
fenheit, mit der ich spreche. Ich habe
wollte niemand die Leichen wegbrin-
Bekannten halfen mit. In Schwäbisch
den Eindruck, der heutige Geschichts-
gen. Schließlich bildete sich doch eine
Gmünd kam man an jeder Ecke mit
unterricht möchte, dass die Schüler
Gruppe, die die Toten unter Gesängen
den „Staufern“ in Berührung. Es war
den Unterricht mit gesenktem Kopf
zu Grabe getragen hat. Eine löbliche
eine tolle Zeit, noch heute bekomme
verlassen. Das ist falsch, sie sind kei-
Tat. Heute haben wir 550 Mitglieder,
ich Gänsehaut, wenn ich an dieses
ne Täter, sie sind für das Heute und
traditionell nur Männer. ‚Das soziale
große Gemeinschaftsgefühl denke.
das Morgen verantwortlich. Ich werbe
Gewissen der Stadt Pforzheim’ nann-
Ich traf alte Bekannte aus der Schul-
um Toleranz und möchte Vorurteile
te uns der Bürgermeister neulich. Wir
zeit und lernte neue Leute kennen.
beseitigen, darum engagiere ich mich
geben unserer Stadt etwas zurück,
Mit manchen treffe ich mich bis heu-
mit 93 Jahren noch. Denn wer die Ver-
das ist der Gedanke, der uns zusam-
te. Schwäbisch Gmünd wird oft ‚Stadt
gangenheit vergisst, ist gezwungen
menschweißt. Ich hoffe, mein Sohn
des Ehrenamts’ genannt, viele tun was
sie noch einmal zu erleben."
wird auch beitreten.“
für das Stadtleben, jeder nach seinen Fähigkeiten. Im Moment läuft die Landesgartenschau. Auch da helfen wir wieder ehrenamtlich.“
82
durch
die
Synagoge
Fotos: Christoph Püschner
gervater: ‚Jetzt gehörst Du zur Fami-
DA S M AG A Z I N
Ehrenrunde für kritische Kunden: Pferdeauktion in Marbach.
Von Pferden und Stärken
D
as Mädchen stürmt schluchzend von der Zuschauertribüne. Sie wird ihren „Sir“ nicht bekommen. 16.000 Euro, das war ihrer Mutter dann doch zu viel. „Sir“, der schokoladenbraune Wallach, wird
eine andere Reiterin glücklich machen. Ein Samstag im März, nicht nur der Wallach sorgt für Gefühlswallungen. Auf dem Haupt- und Landesgestüt Marbach, dem ältesten staatlichen Gestüt Deutschlands, kommod eingebettet in die sanften Falten der Schwäbischen Alb, findet die jährliche Reitpferdeauktion statt. Der Duft von Harz liegt in der Halle. Holzraspeln dämpfen die Hufe der Gestütszöglinge, die zur Musik ihre Runden drehen. Der Auktionator presst seine Monologe ohne Atempausen durchs Mikrofon: „... besticht durch seine sportliche blutgeprägte Erscheinung und jetzt hau noch einen drauf Zeit den Zweitwagen zu verhökern tief in ihnen sehe ich aber eine andere Antwort 9.000 kommen wir nochmal gnä' Frau so wun-
Reportage _ Am Haupt- und Landesgestüt Marbach
derbar aufdekoriert in frühlingshaftem Gelb was 8.500 ja das
werden edle Hengste und Stuten gezüchtet, an der Uni-
sind die Schwaben kurv ruhig weiter durch die Republik 900 Kilometer hin und zurück und such dich tot ...“
versität Nürtingen gibt es die einzige Pferdeprofessur Deutschlands: Für die Metropolregion sind die Vierbeiner
Wer ein Pferd kaufen will im Süden Deutschlands, der ist heu-
längst zum Wirtschaftsfaktor avanciert.
te dabei. Aber auch ein Gebot aus den USA wird ins Mikrofon gerufen. Schweizer und Österreicher eifern mit. Olympia-Reiterin Sandra Auffahrt soll in Bremen ungeduldig neben dem
83
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
einem Umsatz von fünf Milliarden Euro pro Jahr ist die deutsche Pferdewirtschaft auf eine beachtliche Größe gewachsen: Futtermittel und Zubehör, Fahrzeug- und Stallbau, Pferdemessen und Turnierveranstaltungen, Fuhrbetrieb und Pferdetherapie, Stutenmilch- und Pferdefleischproduktion: Um die Vierbeiner herum sind zahlreiche Branchen entstanden. Am Biertisch vor der Auktionshalle in Marbach sitzt Roland Gerster, Anfang 60, bei Kaffee und Aprikosenkuchen. Der Hobbyreiter aus Weingarten am Bodensee und seine Frau haben in Marbach den Hengst „Diskurs“ für 5.000 Euro gekauft. Ein echtes Schnäppchen, finden sie: Er ist gesund, hübsch, rittig. Das sind die Attribute, die Freizeitsportler von einem Pferd erwarten. „Naja, die Männer wollen auch was zum Angeben“, sagt Wildtrud Gerster und schmunzelt. Seit dem ersten Kauf ist der Besuch in Marbach den Gersters eine liebgewordene Tradition geworden. „In andere Ställe durften wir nicht mal reingucken, weil die Gestüte Angst haben vor Ansteckung“, sagt Roland Gerster. In Marbach sei die Atmosphäre offener. „Hier haben wir uns wohlgefühlt.“ Beim heutigen Besuch gesellt sich zur Gewohnheit der Reiz der Versuchung: „Impala“ wird angeboten, Halbschwester von „Diskurs“. „Da muss ich mich auf die Hände setzen, die juckt mich schon“, sagt die Frau. In Zeiten, in denen das Sperma der Zuchthengste gefroren Professor Dirk Winter nahm seine Turnier-
verschickt wird, fokussiert sich fast alles auf die Gene von
Stute mit, als er aus der Lüneburger Heide an
ein paar Hengsten mit großen Namen. Eine Portion Erb-
die Fachhochschule Nürtingen kam.
gut von „Totilas“, dem begehrtesten Dressurhengst, kostet etwa 8.000 Euro. Bis zu 500 Stuten deckt so ein Hengst per Post. In Marbach versucht man, auch andere, alte Blutlinien einfließen zu lassen. Rund 60 Landbeschäler, so heißen
Telefon sitzen. Der sportliche „Kilian“ hat es ihr angetan, Va-
die staatlichen Deckhengste, werden im Ländle gehalten,
ter Vollblüter, Mutter Leistungsträgerin aus Trakehner-Zucht.
darunter die bedrohten Rassen Schwarzwälder Kaltblut
Das älteste Staatsgestüt Deutschlands steht für gute Kinder-
und Altwürttemberger. Das hätte sich der Gründer des Ge-
stube, reelle Preise, Transparenz und vor allem: Sympathie.
stüts, Herzog Eberhard im Bart, nicht träumen lassen. Vor
Und die scheint ausschlaggebend zu sein, wenn man sich ein
500 Jahren war Pferdezucht reine Geschmackssache: näm-
Tier kauft, das den Stellenwert eines Gefährten hat.
lich die des jeweiligen Herrschers. Es wurde viel experimen-
V
tiert, eine florierende Pferdezucht war entscheidend für die or 100 Jahren war das anders. Pferde waren, eher
Macht eines Landes.
unsentimental, Transportmittel. Gebrauchsgegen-
Die „Tatort“-Titelmelodie lockt die Besucher in die Halle zu-
stände. Werkzeuge. Keine hochbeinigen Tiere mit
rück. Ein Mannschaftswagen der Polizei fährt mit Sirene und
Araberkopf, wie Walllach „Sir“ ihn auf seinem langen
Blaulicht ein, dahinter traben drei Reiter auf Pferden. Die Po-
Hals trägt, sondern vor allem rüstige Nutzpferde. Im Südwes-
lizeireiter lassen Ratschen über den Köpfen der Tiere kreisen,
ten zählte man auf den zähen Schwarzwälder Fuchs, der noch
schleifen knatternde Dosen hinter ihnen her und zünden
in den kältesten Wintern die Stämme aus dem Wald zog. Doch
Platzpistolen. Gestütschefin Astrid von Velsen-Zerweck er-
mit den Pferdestärken aus Stahl schrumpften die Bestände.
klärt den Sinn der kuriosen Vorführung: „90 Prozent unserer
1970 gab es nur noch knapp 30.000 Tiere in Baden-Württem-
Besucher sind Freizeitreiter, die wollen ausgeglichene Pfer-
berg. Bis das Volk den Reitsport entdeckte und dem Pferd ein
de.“ Die ausgebildeten Polizeipferde lassen sich nicht einmal
Revival bescherte.
von Fahnen stören, die ihnen über den Kopf geschwenkt wer-
Heute sind deutsche Pferde, wie ihre blechernen Nachfolger,
den – immerhin müssen sie das auch im Einsatz im Stuttgar-
ein weltweit gefragter Exportschlager. Allein in Baden-Würt-
ter Fußballstadion aushalten.
temberg leben derzeit rund 120.000 Tiere – etwa ein Zehntel des
Auktionator Hendrik Schulze Rückamp, der Mann mit der
deutschen Bestands. Und mit rund 300.000 Arbeitsplätzen und
Jahrmarktsstimme, sagt, er möge die Auktion in Marbach,
84
DA S M AG A Z I N
weil sie ehrlich sei. „Es gibt keine mit Kraftfutter aufgeblase-
stall Jungborn schnellt Winters Zeigefinger immer wieder
nen Dreijährigen. Die Tiere sehen aus wie sie in dem Alter halt
nach links und rechts. Dort ein Stall. Da eine Reitarena. Hier
aussehen.“ Bei vielen anderen Auktionen säßen im Publikum
ein Pferdehof. „Es fällt schon auf, wie viele engagierte Pfer-
zudem Preistreiber, die auf Geheiß der Händler mitbieten.
demenschen hier zu Hause sind.“ In Jungborn steht neben
„Das hier ist noch eine Schau, keine Show.“
einem Dutzend Privatpferden von Studenten auch eine Stu-
Unweit des Gestüts, in Nürtingen, steht in einer Glasvitrine
te mit exotischem Namen: „Samba Pa ti“. Sie war Winters
der Hengst Schneck. Genauer: sein Skelett. Angeblich gehör-
Turnierpferd, heute ist sie im wohlverdienten Ruhestand.
te das Pferd dem letzten König von Württemberg, Wilhelm II.
Die Pferdepension in Jungborn soll seinen Studenten die
Ob das tatsächlich stimmt, ist Dirk Winter egal. Wichtig ist für
Haltung eigener Tiere erleichtern und dient ihnen zugleich
ihn, dass er seinen Studenten mit „Schnecks“ alten Knochen
als Studienort. Für umfangreichere Forschungsprojekte fah-
zeigen kann, wie es bei Pferden unterm Fell aussieht. Winter
ren sie nach Marbach, den größten Ausbildungsbetrieb für
ist seit gut zwei Jahren Deutschlands erster Pferdeprofessor
Pferdewirte bundesweit.
und Dekan des Studiengangs Pferdewirtschaft. Der 51-Jähri-
Dort herrscht noch immer auktionsbedingte Aufregung –
ge kommt selbst von einem Hof in der Lüneburger Heide, wo
bei den Besuchern freilich weit mehr als bei den Pferden.
die berühmten Hannoveraner zu Hause sind. Was zieht ihn
Hastig hüpfen die Preise. „Lamento“ prescht durch die Streu,
also in den Süden?
sein Vater hat über 150 Nachkommen im Sport, wenn das
D
kein Empfehlungsschreiben ist! Schlag auf Schlag fallen die ie Fachhochschule Nürtingen hat einfach den Be-
Gebote, getrieben von einem Rosenholzhämmerchen. „Ba-
darf erkannt“, sagt Winter. „Der Pferdemarkt ist ein
rony“, Schönheitskönig, ab nach Kalifornien, 20.000 Euro.
wichtiges Wirtschaftsfeld, dafür sucht man Fach-
Balletttänzer „Ballentaine“. Tübingen hält’s. 12.000 Euro.
kräfte.“ Bis dato mussten deutsche Studierende in
Springer „Achachidon“, super Interieur, darf für 20 lila Schei-
die Niederlande, nach England, Österreich gehen, um sich
ne nach Österreich. Bewegungstalent „Doyen“ geht in die
Pferden akademisch zu widmen – oder gleich nach Übersee.
Schweiz.
„Das hat schon einen Schmelz hier“, sagt Winter. „Wir sind als
Als der vielversprechende Trakehner „Kilian“ an der Reihe
Einzige auf den deutschen Markt ausgerichtet und der ist rie-
ist, bimmelt das Telefon des Auktionators. Olympionikin
sengroß.“ 50 Studienplätze gibt es. Und sieben Mal so viele
Sandra Auffahrt ist dran. 18.000, zum Dritten. Das Häm-
Bewerber.
merchen fällt.
Pferde sind Dirk Winters Beruf – und sein Hobby. Abends nach der Uni fährt er oft noch zum Reiten raus auf die Alb.
Text: Agnes Fazekas
Auf den drei Kilometern von seinem Büro zum Schulungs-
Fotos: Heinz Heiss
Schau statt Show: Auktionator Hendrik Schulze Rückamp besiegelt den Deal mit seinem Hämmerchen.
85
86
Kein Hügel ohne Weinstock Übersicht _ Aus dem Südwesten stammen nicht nur die besten Autos der Welt, auch viele regionale Weine gehören zur Oberklasse. Dafür sorgen sonnendurchflutete Hänge, gehaltvolle Böden und Winzer mit Tüftlertalent.
U
ngläubig reibt sich die Augen,
Nur wenige Kilometer weiter, in Fell-
Untergrund der Region bietet einen
wer zum ersten Mal, schip-
bach, wartet gleich der nächste Aus-
hervorragenden Nährboden für Qua-
pernd mit dem Ausflugsboot
nahmewengerter. Die Wurzeln des
lität: Muschelkalk, Vulkangestein, Keu-
oder radelnd am Uferweg,
Weinguts Gerhard Aldinger reichen
per und Lehm verleihen den Weinen
dem Neckar von Cannstatt Richtung
bis ins 15. Jahrhundert zurück. Sein
Kraft und Stärke. Das sonnig warme
Hofen folgt. Das soll noch Stuttgart
Lemberger vor allem, aber auch der
Klima tut sein Übriges. Riesling und
sein? Eine Großstadt? Während sich
Sauvignon Blanc, der Riesling und
Trollinger gedeihen besonders gut,
Bäume und Büsche ehrfürchtig zum
der Weißburgunder zählen zu den
doch auch Kerner, Silvaner, Spätbur-
Fluss hin neigen, steigen seitwärts
edelsten Tröpfchen im Ländle. Be-
gunder und Samtrot reifen hier zu ge-
steile Weinhänge empor. Hier und da
reits 2004 würdigte der Gault Mil-
schmackvoller Größe.
gemauerte Terrassen, dazwischen ein
lau Gert Aldinger als besten Winzer
Dazu kommt: Die Wengerter der Regi-
leicht windschiefes Häuschen. Der Ver-
in
on sind, wenig überraschend, Tüftler-
kehrslärm ist fern, nur das Zwitschern
ehrte
der Vögel und das Rauschen der Blät-
Gesamtkollektion.
aufs Neue – und können dabei auf eine
ter sind zu hören.
Etliche Ecken der Metropolregion ha-
lange Erfolgsgeschichte zurückblicken.
Die Weinberge sind nicht allein idylli-
ben Ausnahmereben zu bieten: Das
Dichter und Denker dürsteten schon
sche Kulisse, keineswegs. Ausgezeich-
Remstal östlich von Stuttgart, das
vor mehr als 200 Jahren nach dem
nete Weine wachsen hier, im Umland
Enztal im Nordschwarzwald und das
württembergischen Rebensaft. Fried-
von Cannstatt, Uhlbach und Untertürk-
Untere Neckartal. Heuchelberg und
rich Schiller, der im weit entfernten
heim. So wie die des Weinguts Wöhr-
Stromberg bei Heilbronn. Hohenlohe
Weimar lebte, bat regelmäßig seine
wag. Der Gipskeuper-Boden gibt den
im Nordosten und die Landschaft um
Mutter in Leonberg, ihm doch einen
Tropfen seine gehaltvolle Note, vor al-
Kocher, Jagst und Tauber im Osten ge-
Eimer Neckarwein zu schicken. Und
lem der Riesling ist es, der Jahr für Jahr
hören ebenfalls dazu. Auf der „Vinalies
Friedrich Hölderlin schrieb sogar eine
Juroren wie Genießer beglückt. Dabei
Internationales 2013“ in Paris, einem
beschwingte Ode an seine rebenreiche
verzichten die Winzer – oder, wie man
der renommiertesten Weinwettbewer-
Heimat: „Seliges Land! Kein Hügel in
hierzulande sagt: Wengerter – Hans-
be Frankreichs, wurden Weine und Sek-
dir wächst ohne Weinstock.“
Peter Wöhrwag und seine Frau Chris-
te der Metropolregion mehrfach mit
tin bewusst auf hohe Erträge, um voll-
Silber- und Goldmedaillen dekoriert.
Text: Katharina Schönwitz
ausgereifte Trauben ernten zu können.
Der Erfolg hat mehrere Wurzeln. Der
Foto: Rainer Kwiotek
Württemberg, die
2010
schließlich
Gourmetbibel
87
seine
naturen. Sie erfinden ihre Weine stets
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
Die Supertrolli-Macher Portrait _ Christoph und Heike Ruck vom Weingut Rux kämpfen leidenschaftlich gegen das verkorkste Image des Trollingers an. In Mühlhausen produziert das Paar den „Nimbus“: einen schweren, dunklen „Supertrolli“.
D
as Rebenreich von Christoph und Heike Ruck ist zwei Hektar groß und dreigeteilt: Ein Weinberg in Mühlhau-
sen. Einer in Münster. Ein Hektar am Cannstatter Zuckerle, einer der besten Weinbaulagen in Stuttgart – ideale Ausrichtung zur Sonne, steile Weinbergterrassen,
beste
Muschelkalk-
böden. Das Stück Zuckerle hat ihnen Heike Rucks Großvater vermacht, mit Trollinger-Reben vom Ur-Ur-Opa, 100 Jahre alt. Fast hätten sie ihn rausgerissen, den Trollinger. Weil kein Connaisseur ihn trinken würde, diesen farblosen, ollen Schwabenwein, der wächst wie Unkraut und so viel Arbeit macht, dass sich selten etwas anderes lohnt, als
sonst schüttelt, bezeichnen ihn als
Sechs Monate im alten Fass zaubern
ihn genossenschaftsmäßig zur Ein-
„Supertrolli“: Er habe etwas „Geheim-
aus den erntefrischen Trauben einen
heitsbrühe zu mixen. Doch im letzten
nisvolles“ an sich. Normalerweise, sagt
satten Trollinger. Gepaart mit Kön-
Moment, beschwipst von Ehrgeiz und
Heike Ruck, entschuldige man sich da-
nen und Leidenschaft ergibt das: ein
Lokalpatriotismus, entschieden sich
für, einen Trollinger zu machen. „Die
Schmuckstück.
die Rucks anders: Es muss doch mög-
Lösung ist: Man muss es mit Selbstbe-
lich sein, daraus ein kleines Schmuck-
wusstsein tun.“
stück zu machen!
Heike und Christoph Ruck, 40 und
duzierten sie 2.000 Flaschen. In der
Erfreuliches Ergebnis ihres Übermuts
39 Jahre alt, sind im Weinberg auf-
zum Weinkeller umgebauten Gara-
ist ein Trollinger, der weit entfernt ist
gewachsen. Er mit dem Vater im
ge des Großvaters. Im nächsten und
von grünhenkeligen Bauchgläsern und
fränkischen Iphofen. Sie bei den
übernächsten 4.000 Flaschen, darun-
biederem Opa-Feeling. „Nimbus“ heißt
Großeltern in Stuttgart. Beide haben
ter ein Sauvignon Blanc, über den das
der kleine Schatz. Einer der außerge-
studiert, Geisteswissenschaften, und
Gourmetmagazin „essen und trinken“
wöhnlichsten Trollinger der Region,
fanden, dass da die Bodenhaftung
schrieb, er sei kraftvoll, mit Kräutera-
findet Bernd Kreis, den als ehemaliger
fehlt – das erdige Gefühl, die Luft, die
roma und einem Hauch grüner Boh-
Chef-Sommelier des Stuttgarter Edel-
Sonne, der Regen. Dann haben sie
nen. 2011 zogen sie mit ihrem Wein in
restaurants Wielandshöhe selbst ein
sich kennengelernt. Und beschlos-
eine ausgediente Gärtnerei. Wo Salat-
gewisser Nimbus umgibt. Und Kenner,
sen, ihre Leidenschaft zum Beruf
köpfe lagerten, liegt nun hektoliter-
die es beim Gedanken an Trollinger
zu machen. Im ersten Jahr, 2008, pro-
weise Spätlese. Seit November 2011
88
DA S M AG A Z I N
Die Weine vom Weingut Rux schmecken
sind sie hauptberufliche Weinbauern,
ne Adler“ in Heslach, das Stuttgarter
nicht nur gut, sie sind eine Lebens-
20.000 Flaschen produzieren sie im
Szenerestaurant „5“.
einstellung. Im Stil einer kleinen aber
Jahr. Die Bo'teca di vino, ein Gourmetre-
Die Ambitionen des jungen Winzer-
exquisiten „Garage Winery“ verrichten
staurant für ausgesuchte Gesellschaft
paars lässt schon der Verkaufsraum in
Heike und Christoph Ruck alle Arbeiten
und noch ausgesuchtere Weine, gehört
Mühlhausen erahnen: Ein Gams- und
von Hand.
zu ihren Kunden. Der noble „Golde-
ein Hirschgeweih hängen über naturbelassenen Eichentischen mit dezentgrauer Filzauflage, dahinter, wie ein Gemälde, die Fensterfront mit Panoramablick auf Felder und Wiesen. Edel sieht’s aus bei den Rucks, nach Landhausstil im Design-Modus. „Wein ist ein Lifestyle-Produkt geworden“, sagt Heike Ruck. Da muss halt auch das Ambiente passen. Der beschwingte Plan ging also auf. Sie haben ein Schmuckstück geschaffen. Wie weiter? „Fünf Hektar Weinberg!“, sagt Heike Ruck. „Geile Weine produzieren!“, sagt ihr Mann. Darauf einen Supertrolli. Text: Anna Hunger Fotos: Uli Reinhardt
89
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
Von Löwenstein in die Welt
E
inen Termin mit Jürgen Zipf zu bekommen, ist nicht so einfach. Berlin, Düsseldorf, München, Weinprobe, Donnerstag
vielleicht, ach nee, der ist auch schon verplant. Jürgen Zipf ist unterwegs, dauernd. Er reist im Land herum und zeigt Flagge für die junge württembergische Weinlandschaft. Er ist ein Größer-Denker. Seine Vision: Eine starke neue Winzergeneration für Menschen, die den Wein genauso lieben wie er.
Portrait _ Jürgen Zipf kann Karate. Und er macht Weine, die mindestens genauso kämpferisch daherkommen wie er.
Ein Wirtschaftsaufschwung der Weinverrückten. Gemeinsam mit seiner Frau Tanja bewirtschaftet er das Weingut Zipf in
90
Immer ein bisschen besser als sehr gut: Ausnahme-Winzer Jürgen Zipf aus Löwenstein mit Ehefrau Tanja.
auf Felsen klettern oder Radfahren.
Früher, erzählt Jürgen Zipf, hätten die
Zwölf Hektar Reben besitzen sie, 60
Winzer im Weinberg sich nicht mal mit
Prozent Rotwein, 40 Prozent weißer,
dem Hintern angeschaut vor lauter
ein Haus mit fünf Stockwerken und
Konkurrenz. Heute sitzt er stunden-
Aufzug. Jürgen Zipfs Großvater und
lang mit seinen Kollegen in ihren Kel-
Vater haben hier schon produziert. Da-
lern, probiert, tauscht Ideen aus, pro-
mals saß er als Kind unterm Sonnen-
fitiert vom Miteinander.
schirm zwischen den Reben. Seit 2004
2001 hat er die Winzergruppe „Junges
sind es seine.
Schwaben“ mitgegründet. „Was der
Jürgen Zipf wurde mit viel Geduld
Schwabe anfängt, das macht er recht“:
und Zuneigung zum Winzer herange-
das Motto der fünfköpfigen Weinbau-
zogen. Kein Wunder, dass er Weine
ertruppe. „Und wenn’s geht, noch ein
produziert, die nicht fürs schnelle
bissle besser“: das Credo von Jürgen
Nebenbeitrinken gemacht sind. Sei-
Zipf. Schon in den 90er Jahren, als noch
ne Nische ist das Komplexe – schwe-
kaum jemand eine E-Mail-Adresse be-
re Weine, anspruchsvolle, jahrelang
saß, hat er eine Seite für seine Weine
gelagert. Solche, die beim ersten
ins Internet gestellt. Seine Frau, seine
Schluck anders schmecken als beim
Winzerkollegen und er haben sich auf
zweiten und dritten und die nach ei-
Messen und Weinproben deutschland-
ner Stunde schon ein völlig anderes
weit Kunden erarbeitet, in Berlin und
Aroma entwickelt haben.
Hamburg, in Düsseldorf und Köln.
Die seien genauso eigenwillig wie ihr
„Der Name Zipf soll sich weiterverbrei-
Mann, sagt Tanja Zipf neckisch. Drei
ten, damit die Leute einen Bezug zu
Viertel aller Weintrinker würden seine
uns bekommen“, sagt Jürgen Zipf. Ein
Weine nicht mögen, sagt Jürgen Zipf.
Kunde erzählte ihm kürzlich, er habe
Er ist stolz darauf. Er findet, man müs-
seinen Wein in einem Restaurant an
se sich positionieren. Und es scheint
der Ostsee getrunken. Weiter weg von
zu funktionieren. „Seine Weine haben
Württemberg – das geht in Deutsch-
eine Eleganz, die selten mit württem-
land nicht. Das ist die Hauptsache, und
bergischen Weinen assoziiert wird“,
darauf ist er stolz.
schreibt Stuart Pigott über ihn, Weinkolumnist der Frankfurter Allgemei-
Text: Anna Hunger
nen Sonntagszeitung und weltweit als
Fotos: Uli Reinhardt
Kenner deutscher Weine bekannt.
Wenn Jürgen Zipf nicht auf Reisen ist, kümmert er sich aufopferungsvoll um seine Reben. Seine extravaganten Weine werden sogar an der Ostsee getrunken. Löwenstein. Er ist passionierter Karatekämpfer und mit seinem Beruf ist es ein bisschen wie mit seinem Sport: Ruhe, Präzision, eine gute Strategie und eine Menge Ehrgeiz führen irgendwann zum Erfolg. Sie, 35 Jahre alt, ist Sporttherapeutin. Sie sorgt dafür, dass ihr Jürgen und die beiden vier und acht Jahre alten Kinder nicht nur im Weinberg herumturnen, sondern auch mal
91
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T
So sehen Sieger aus Portrait _ In der Metropolregion Stuttgart gehört Sport zum Alltag. Dabei geht es aber nicht nur um Leistung auf dem Platz. Ein Verein – die TSG Reutlingen – zeigt seit vielen Jahren, wie sehr Sport Menschen verbindet.
O
b sportliches Großevent oder Vereinsarbeit – bis ins kleinste Dorf ist die Metropolregion Sportlerland. Allein in Württemberg sind mehr als zwei Millionen Menschen in 5.700 Sportverei-
nen organisiert, die Mehrheit davon in der Metropolregion Stuttgart. Allein mit dem VfB Stuttgart springen fast 45.000 Mitglieder in die Waagschale. Das Daimler-Stadion und die Porsche-Arena (Tennis-Grand-Prix der Damen) sind Leuchttürme, in deren Schatten eine Vielzahl an Aktivitäten gedeiht. Längst ist dabei der Sport mehr als nur körperliche Ertüchtigung, er ist auch das Spiegelbild gesellschaftlicher Entwicklungen. Ein Verein, der in dieser Hinsicht heraussticht, ist die „Turnund Sportgesellschaft Reutlingen 1843 e.V.“ (TSG), einer der mitgliedsstärksten Vereine in Baden-Württemberg. Hier ist die Heimat der „Young Boys“ , einer Fußballmannschaft, die zwar keinen Spitzenplatz in der Bundesliga belegt, dafür auf andere Art „spitze“ ist. Die „Young Boys“ sind die vielleicht bunteste Truppe auf dem Rasen dieser Region. Fragt man nach ihnen, kann man das in vielen Sprachen tun. Kroatisch, Russisch, Türkisch, Polnisch, Portugiesisch – die Liste ist lang und damit noch lange nicht erschöpft. Die 27 Nachwuchskicker der TSG-Juniorenmannschaft kommen aus 16 verschiedenen Nationen. „Integration durch Sport“ hat sich die TSG Reutlingen schon vor vielen Jahren auf ihre Fahnen geschrieben und tatsächlich ist der mit 4.600 Mitgliedern und 23 Abteilungen größte Reutlinger Sportverein ein gutes Beispiel dafür, was Vereine in der Metropolregion Stuttgart leisten. „Hier steht jeder für jeden ein“, erklärt Yasin Yilmaz, Trainer der „Young Boys“ das Prinzip des Vereins, und tatsächlich übernehmen Trainier und Funktionäre der TSG weit mehr
92
DA S M AG A Z I N
Verantwortung für den Nachwuchs, als man vermuten würde. Wer von den jungen Spielern gut auf dem Platz sein will, muss auch gut in der Schule sein. Jedes Halbjahr werden deshalb die Zeugnisse der Nachwuchskicker kontrolliert, und wer abzurutschen droht, bekommt Nachhilfe. Die Kosten dafür übernimmt notfalls der Verein, wenn die Eltern es nicht schaffen. Bei seiner Mannschaftsaufstellung geht Yilmaz dann doch oft nach den gängigen Klischees vor: deutsche Ordnung in der Abwehr und arabischer Teamgeist im Angriff. Meist hat es gewirkt. Doch das eigentliche Rezept für den Erfolg auf dem Rasen sei ein anderes, so Yilmaz. „Es geht um Respekt.“ Respekt. Anerkennung. Akzeptanz. Das erhoffen sich auch jene Menschen, die mit Behinderungen leben. Auch für sie bietet die TSG seit vielen jahren eine sportliche Heimat mit der Abteilung „TSG inklusiv“. Seither haben die Sportler dieser Abteilung nicht nur viele Siege auf dem Platz oder in der Halle errungen – sie haben viel mehr gewonnen: Selbstvertrauen und Lebensmut. Sport bedeutet hier eben mehr, als man in Ergebnissen messen kann. Text und Fotos: Felix Austen
DIE GROS SEN SPORT EV EN TS IN DER MET ROPOL R EGION Porsche-Tennis-Grand-Prix Das einzige deutsche WTA-Turnier findet jedes Frühjahr in
Ein Team, so bunt wie seine
der Porsche-Arena in Stuttgart statt. Allein sieben deutsche
Stollenschuhe: Die „Young Boys“
Spielerinnen standen im vergangenen Jahr im Hauptfeld,
von der TSG Reutlingen in der
dazu sieben weitere Top-10-Spielerinnen der Welt. Turnier
Kabine (oben) und mit Trainer
direktorin ist die ehemalige Weltranglisten-Vierte Anke Huber.
Yasin Yilmaz auf dem Platz
Infos: www.porsche-tennis.de
(unten). Neben Fußball trainieren sie hier auch Fairness und
Weißenhofturnier
den respektvollen Umgang
Beim MercedesCup, besser bekannt als Weißenhofturnier,
miteinander. Wer in der Schule
trifft sich das Who-is-Who des Herrentennis' jedes Jahr im
abrutscht, erhält Unterstützung
Juli in Stuttgart.
durch einen Nachhilfelehrer.
Infos: www.mercedescup.de Marbacher Vielseitigkeit Einen traditionsreicheren Ort hätte sich das Internationale Reitturnier wohl nicht aussuchen können: Mit über 500 Jahren ist Marbach auf der Schwäbischen Alb das älteste staatliche Gestüt Deutschlands. Infos: www.eventing-marbach.de
93
M E T RO P O L R EG I O N S T U T TG A R T W I R T S C H A F T, F O R S C H U N G , K U LT U R U N D L E B E N I M S Ü D W E S T E N