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Rätsel

Rätsel

Von Aurelia Albrecht aus Seebach, Zürich

KOLUMNE

ICH UND DIE GESELLSCHAFT HIN UND HER

Wir wollen klare Antworten, klare Strukturen und klare Definitionen. Meist merken wir aber nicht, wie oft wir mit uns selbst im Widerspruch sind. Wie oft passiert es, dass wir unsere Meinungen ändern? Der «homo sapiens» sollte klug, wissend und vernunftbegabt sein, jedoch scheinen wir in der Umsetzung oft zu hapern und einen Grund zu haben, anders zu sein.

Text und Illustration Valentina Botic

Wir sind Menschen und grübeln über Gott und die Welt, Natur und Wesen und das hat uns in unserer Existenz auch oft weit gebracht. Nun haben aber alle schon mal die Erfahrung gemacht, sich nicht ganz sicher zu sein und mit den Gedanken hin und her zu schweifen.

«Ōdī et amō. Quārē id faciam fortasse requīris. Nesciŏ, sed fierī sentiō et excrucior.» Gedicht von Catull.

«Ich hasse und liebe. Warum ich dieses mache, fragst du vielleicht. Ich weiß es nicht, aber ich fühle, dass es geschieht, und werde gequält.»

Also schon vor 2'000 Jahren war das innerliche Hin und Her eines Menschen ein bereits bekanntes Problem. Catull bringt es sogar noch auf den Punkt: Keine Ahnung warum das so ist! Es ist so und es tut weh. Wenn diese Knacknuss bereits seit so vielen Jahren besteht und keine Antwort mit sich bringt, was sollen wir dann mit dieser Widersprüchlichkeit in uns tun? Wir werden sie nie los: Diese Widersprüchlichkeit in unseren Gefühlen, Gedanken oder Gelüsten wird immer bestehen bleiben. Wir scheinen also nicht mehr «homo sapiens» zu heissen, sondern eher «homo ambivalens»: Der widersprüchliche Mensch.

Was wir vergessen, ist: Diese Ambivalenzerfahrungen sind Teil unserer menschlichen Existenz und sind auch Teil unserer psychischen Realität. Wir können wütend und traurig zugleich sein, mit einem Auge trauern und mit dem anderen uns freuen. Dieses simultane Fühlen von gegensätzlichen Gefühlen ist normal, selbstverständlich und in jeder Hinsicht menschlich. Wenn wir beginnen dies nicht mehr zuzulassen, zu unterdrücken oder zu verdrängen, geraten wir in Krisen. Es ist also nicht nur menschlich, es hält uns gesund! In unserem Inneren ist Mehrstimmigkeit etwas, was ein gutes Recht hat in uns zu verbleiben. Nicht nur für uns als einzelne Person ist es gesund: Die Tauglichkeit der Ambivalenz ist eine Grundvoraussetzung, damit eine vielstimmige, offene und tolerante Demokratie überhaupt funktioniert.

Diese Mischgefühle gehören in unsere Realität und unseren Alltag. Wer dies als fehlerhaft oder verboten ansieht, droht Gefahr schwerwiegend zu erkranken: Depressionen, Narzissmus oder Borderline-Symptome. Ohne unseren ambivalenten Gefühlen wären wir nicht in der Lage eine Strategie zu entwickeln mit unseren und anderen gemischten Gefühlen umzugehen. Es wäre kein Leben, keine Gemeinschaft und schon gar keine Liebesbeziehung möglich. Wer sich selbst nicht zugesteht, wird es anderen genauso übelnehmen. Klar kann ein «Jetzt-oder-Nie»-Denken manchmal einen guten Push geben, aber dieses «alles-oder-nichts»-Denken ist nicht die einzige Art, bei der wir in der Lage sind zu fühlen

Wir sind Mischcharaktere und wenn wir erwachsen werden und erwachsene Beziehungen führen möchten, setzt es voraus, dass wir den Mischcharakter unser Gegenüber akzeptieren. Selbst die intimste Beziehung, die wir mit uns selbst haben, braucht diese Toleranz. Wer sich selbst nur mit Höchstleistungen und nur als Überflieger akzeptiert, kränkt sich selbst stets zutiefst bei den kleinsten Fehlern. Nimm dich als gut UND schlecht an, denn du bist beides zugleich und das ist gut so!

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