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Nahid und Madjid sind verheiratet, aber kinderlos. Wie funktioniert eine k端nstliche Befruchtung in Iran? Eine Reportage aus Teheran von Amir Hassan Cheheltan


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Scharia Hotline von Amir Hassan Cheheltan

Die Iraner scheinen modern zu sein, wenn Sie sich im Nordteil von Teheran umsehen; und sie leben traditionell sowie im Zeitalter der Aladin-Lampen, wenn Sie einen Ausflug in die Dörfer oder in die Kleinstädte entfernt vom Zentrum machen. Aber wenn Sie etwas genauer hinblicken, dann werden Sie sehen, wie jeder Iraner – abhängig davon,


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in welcher Ecke dieses Landes er sein Dasein fristet – eine wundersame Mischung von Neu und Alt ist. Auf der einen Seite lieben die Iraner neue Phänomene, und auf der anderen Seite sehen sie in allem Neuen einen mythologischen Aspekt. Die Traditionen existieren (weil wir sie noch brauchen), und weil sie existieren, erzeugen sie in uns unterschiedliche, erstaunliche und manchmal groteske Stimmungen. In Iran und unter denen, die in solchen Kategorien denken, ist es eine weitverbreitete Meinung, dass wir, selbst wenn wir modern leben, am Ende doch auf eine traditionelle Art sterben (das heisst: gemäss der Tradition in ein Leichentuch gehüllt und anschliessend begraben werden). Im gegenwärtigen Zeitalter offeriert die Technik der menschlichen Gesellschaft Dienste, die es für Menschen, die der Tradition und den daraus hervorgegangenen Lebensbräuchen treu ergeben sind, sehr schwer machen, auf sie zu verzichten. Meiner Meinung nach sind die Iraner die anpassungsfähigsten und flexibelsten Menschen auf der Welt. Indem sie Zusätze und Fussnoten anbringen, vereinnahmen sie jeden soziokulturellen Kontext. Sie verfolgen ihn dann mit ruhigem Gewissen, führen ihn anschliessend zu einem guten Ende und können dabei auch ihre Tradition bewahren. Manche könnten dies als Heuchelei empfinden. Ich habe dazu keine Meinung, habe jedoch vor, Ihnen ein Geschehen wiederzugeben, dessen Zeuge ich aus nächster Nähe war. Vor ungefähr vier Jahren, an einem sommerlichen Freitagnachmittag, sassen meine Frau Schahla und ich zusam-


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men auf dem kleinen Balkon, der den Hinterhof des Gebäudes überragt, und tranken Tee, als wir im Treppenhaus Lärm vernahmen. Meine Frau horchte einen Augenblick angespannt und sagte dann mit der zufriedenen Miene eines Menschen, der ein Rätsel gelöst hatte: «Das sind sie.» Und natürlich merkte sie, dass ich nichts von ihrer Entdeckung mitbekommen hatte, also erläuterte sie: «Hab ich es dir nicht gesagt?! Die Nachbarwohnung steht von heute an nicht mehr leer. Ein junges Paar zieht dort ein. Gestern sah ich beide auf der Treppe; sie hatten gerade unserem Brauch entsprechend als Erstes den Koran und einen Spiegel in ihre neue Wohnung gebracht. Das Gute daran ist: Sie haben keine Kinder.» Ja, das war der eigentliche Punkt. In den drei bis vier Jahren, in denen die letzten Bewohner, Eltern von Zwillingssöhnen, unsere Nachbarn gewesen waren, hatten sie uns keine Ruhe gegönnt. Die schlimmste Angewohnheit der Zwillinge war, dass sie an langen sommerlichen Nachmittagen, just zur Ruhezeit der Iraner, in ihrer Wohnung Ball spielten. Ihre Mutter war der Meinung, dass die Sonne draussen zu heiss sei und die Kinder davon Nasenbluten bekämen. Der Vater verkündigte, dass es Aufgabe der Mutter dieser Kinder sei, den Kleinkram im Leben zu lösen, und stahl sich damit aus der Verantwortung. Dazu hatten sie erst noch eine Katze, die nur etwas kleiner war als ein normaler Tiger und genauso Flausen im Kopf hatte wie die beiden Zwillinge. Die Kinder hatten ihr beigebracht, sich mit ihnen zu balgen, aber in Wahrheit hatten sie die


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arme Katze danach süchtig gemacht: Kaum sah sie jemanden, sprang sie auch schon auf dessen Rücken; wegen dieser unangebrachten Aktion – soweit ich selbst Zeuge wurde – hätten zwei Leute beinahe einen Herzschlag bekommen, einer davon war mein eigener Schwiegervater. Es ist wohl offensichtlich, dass für Leute, die sich nicht mit den Stimmungen dieser armen Katze auskannten, deren freundschaftliche Absichten hinter diesen wilden Angriffen verborgen blieben; natürlich wehrten sich die Angegriffenen, so dass der Streit begann. Meine Frau und ich beteten 24 Stunden lang, dass sie unser Gebäude verlassen und verschwinden würden. Der Mann, ein junger Ingenieur, erhielt dank seinen Bemühungen ein Forschungsstipendium an einer Universität in Paris; daraufhin gingen sie und bereiteten allem ein Ende. Und nun neue Nachbarn: Sie hatten keine Kinder, auch keine Katze, und das war ein wichtiger Punkt! Meine Frau rannte sofort in die Küche und kam mit einer Flasche voll Wasser, die sie dem Kühlschrank entnommen hatte, sowie drei bis vier Gläsern zurück: «Sie müssen sehr durstig sein.» Und als sie meine Zweifel sah, fügte sie noch hinzu: «Der Beginn einer jeden Bekanntschaft ist sehr wichtig. Lass uns die nachbarliche Beziehung auf einer freundschaftlichen Basis bauen.» Ich stand auf und nahm das Tablett vom Tisch. Meine Frau fügte noch hinzu, wie um mir die Nützlichkeit eines solchen Unternehmens einzuschärfen: «Übrigens kannst


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du ja noch die Ohren spitzen und schauen, was für Leute das sind.» Ich glaube, dass das Ergebnis dieses Unterfangens sehr zufriedenstellend war. Kaum zurück, berichtete ich ihr bereits auf der Türschwelle: «Der Mann scheint 30-jährig zu sein, die Frau 25. Sie kommen aus Damghan und lebten bis jetzt auch dort. Der Mann besitzt eine grosse Pistazienplantage, ihre finanziellen Verhältnisse sind nicht schlecht, auch wenn sie nur relativ wenig Möbel besitzen.» Meine Frau fragte voller Verwunderung: «Wie konntest Du bloss all diese Informationen in nur 10 Minuten herausbekommen?» Wie es meine alte Gewohnheit ist, wölbte ich meine Brust voller Stolz und erklärte: «Das ist nur ein winziger Teil meiner unerforschten Begabungen.» In Wahrheit hatte es dazu nicht viel gebraucht. Die Wasserflasche, die von oben bis unten mit einem leichten Tau beschlagen war, hatte die Stimmung plötzlich zu meinen Gunsten verändert. Ehe ich mich noch vorstellen konnte, sagte der Mann: «Dann ist es also gelogen, dass in diesem Moloch von Teheran die Menschen ihre Nachbarn nicht beachten.» Die Vorstellung fand statt; der Mann hiess Madjid, die Frau Nahid. Nahid, die verschleiert war, schien scheu und sprach wenig, während Madjid unendlich höflich war. Madjid: «Ja, wir sind gekommen, um für eine Weile in Teheran zu leben und zu sehen, was die Bürger unserer Hauptstadt den ganzen lieben Tag so machen.» Nahid: «Wir hatten das Leben auf dem Land satt.»


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Es waren wirklich ruhige Menschen; seit einer Woche schon waren sie unsere Nachbarn, und wir hörten nicht einmal, ob sie einen Nagel an die Wand ihrer Wohnung geschlagen hätten. Ich verliess in jenen Tagen sehr selten das Haus und kam mit meiner Arbeit am letzten Kapitel meines Romans «Amerikaner töten in Teheran» nicht so recht voran. Schahla kehrte zum Mittagessen zurück; bis um vier Uhr, wenn sie wieder in ihre Praxis musste, hatten wir zwei bis drei Stunden für uns. Seit unser Junge zum Studium nach Deutschland gegangen war, hatte meine Frau morgens, nur um der Leere zu entkommen, die seine Abwesenheit hinterlassen hatte, eine Arbeit in einer nahegelegenen Klinik angenommen, so dass sie in Wahrheit eine Vollzeit-Zahnärztin geworden war. Es waren kaum einige Tage seit der Ankunft von Madjid und Nahid in unseren Gebäudekomplex vergangen, als Schahla mir eines Tages unterbreitete: «Ich begegnete Nahid heute im Treppenhaus; sie zeigte sich sehr freundlich und wollte wissen, worauf ich spezialisiert sei. Anschliessend erkundigte sie sich nach deinem Beruf, sie war ganz aufgeregt. Sie hielt mein Handgelenk mehrmals in ihren Fäusten, und ich merkte sogar, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten.» Einige Tage darauf läutete es eine Stunde vor Mittag an unserer Wohnung; ich erwartete niemanden, blickte durch den Türspion und sah das Profil von Madjid. Ich hatte die Tür noch nicht geöffnet, da legte er schon los: «Ihre Frau ist doch nicht zu Hause?»


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«Wollten Sie mit ihr sprechen? Sie kommt ungefähr in zwei Stunden zurück.» Er lachte und antwortete: «Nein, ich wollte mit Ihnen sprechen … Darf ich hereinkommen? Störe ich auch nicht?» Ich machte eine Geste und zeigte in die Wohnung. Er folgte sofort. Er schien mir ruhelos. «Seit zwei, drei Tagen kämpfe ich mit mir, ob es richtig ist, Sie zu stören oder nicht.» «Ist etwas passiert?» Er schwieg. Ich fragte nach: «Glauben Sie, ich kann Ihnen helfen?» «Für uns Landmenschen gibt es kein grösseres Glück, als nach Teheran zu ziehen und dann plötzlich Leute wie Sie als Nachbarn zu haben.» «Auch wir freuen uns, dass Sie unsere Nachbarn sind. Wir können Ihnen getrost vertrauen.» «Ich habe mir gedacht, dass Sie mit dem Wissen und der Erfahrung, die Sie haben, vor allem Ihre Frau, die ein Doktor ist, die besten Menschen sind, bei denen wir unser Herz ausschütten können. Ich habe meiner Frau geraten, sich direkt mit Ihrer Frau zu unterhalten und sich von ihr Ratschläge zu holen. Aber, um ehrlich zu sein, sie sagte mir, sie traue sich nicht. Also haben wir beschlossen, dass ich den Anfang mache.» «Können Sie mir bitte sagen, wo das Problem liegt?» Sogleich erwiderte er: «Ja, es ist wohl besser, wenn ich zur Sache komme.» Dann machte er ohne Grund einen Schritt auf mich zu und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: «Ich bin mit meiner Frau seit acht Jahren verheiratet, aber keine Spur von Kin-


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dern.» Sobald er das sagte, neigte er seinen Kopf todtraurig und blickte zu Boden. Natürlich war ich nicht auf ein solches Thema vorbereitet. Ich schwieg und zog es vor, dass er fortfuhr. «Ich glaube, dass die Ratschläge der Frau Doktor sehr nützlich für Nahid sein werden.» «Natürlich … Übrigens sind Sie beide noch sehr jung; es ist noch nicht zu spät zum Kinderkriegen.» «Ich weiss, aber meine Familie lässt mir keine Ruhe. Sie sagen mir ständig: ‹Lass dich scheiden.› Wenn ich sage, dass ich sie liebe, antworten sie mir, ich solle eine zweite Frau nehmen.» «Ist denn Ihre Familie auf Unfruchtbarkeit spezialisiert? Und überhaupt, der Fehler könnte ja auch bei Ihnen liegen.» Kaum hatte ich das gesagt, fuhr er zusammen, vielleicht war er auch ein wenig gekränkt; wie auch immer, er war darauf vorbereitet, denn er konterte: «Aber Kinder werden von Frauen zur Welt gebracht.» «Natürlich. Aber müssen denn Frauen, um Kinder zu gebären, einen Mann heiraten? Oder irgendwie mit einem Mann Verkehr haben?» Er blickte mich an und schwieg.

«Meine Familie lässt mir keine Ruhe. Sie sagen mir ständig: ‹Lass dich scheiden.› Wenn ich sage, dass ich sie liebe, antworten sie mir, ich solle eine zweite Frau nehmen.»


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Beim Nachtessen erzählte ich meiner Frau alles von den ganzen zögerlichen Haltungen haarklein und erläuterte sämtliche seelischen Regungen jener Begegnung im Stehen. Meine Frau lachte schallend: «Zu Recht bist du ein Geschichtenerzähler. Du hättest vor zwei, drei Tagen dabei sein sollen, als ich Nahid traf. Die ganze Zeit über lag ihr etwas mehr als zehnmal auf der Zunge, ohne dass sie es am Ende sagte.» Sie schwieg eine Weile. «Aber es war offensichtlich, dass etwas sie bedrückte. Ich schlug ihr vor, mich an einem Nachmittag über das Wochenende zu besuchen, damit wir uns bei einer Tasse Tee näher kennenlernen konnten. Aber wie es aussieht, liegt ihr Problem darin, dass du immer zu Hause bist. Sie meinte, dass sie dich nicht stören wolle.» Ein paar Tage später verkündete mir meine Frau, dass Nahid am Donnerstagmorgen, wenn ich auf einer Bergwanderung sei, zu uns nach Hause komme, um sich ausführlich mit ihr zu unterhalten. An Donnerstagen sind die Berghänge im Norden von Teheran das Ziel für alle, die sich durch leichte sportliche Tätigkeiten auf eine Anhöhe begeben, um von dort aus der dicken Russschicht zu entkommen, die über der Stadt liegt, um für zwei, drei Stunden in die Gunst sauberer Luft zu kommen. Ich muss übrigens erwähnen, dass in Iran wie in anderen muslimischen Ländern Donnerstag und Freitag das Wochenende bilden und nicht Samstag und Sonntag. Als ich am Donnerstagmittag nach Hause kam, berichtete mir meine Frau: «Ich konnte nichts zu Mittag kochen,


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sie sprach drei Stunden in einem fort. Gerade eben vor dir verliess sie die Wohnung … Weisst du, warum die Ärmsten von zu Hause fortgezogen sind? Um sich vor dem Geschwätz der Leute zu schützen. Sie sagte, dass Madjids alte Tante die Schlimmste von allen sei; jedes Mal, wenn ihre Augen Nahid erblickten, moniere sie, es sei besser, zu sterben, als dass einem der Ofen ausgehe.» «Haben die in ihrem Damghan je einen Arzt aufgesucht?» «Es gibt dort keinen Spezialisten für Unfruchtbarkeit. Sie selbst suchte einen Gynäkologen auf, der ihr eine Rezeptur gab, die allerdings nichts genützt habe. … Mir schien, dass diese Situation für beide unerträglich geworden ist. Sie erzählte mir, ihre grösste Angst bestehe darin, dass ihr Mann die Scheidung einfordere, dabei liebe sie ihn. Ich sagte ihr, dass Mann und Frau zu gleichen Teilen an einer Unfruchtbarkeit beteiligt seien. Sie nahm wohl nicht ganz ernst, was ich sagte. Sie glaube aber, dass ihre Eileiter verklebt seien.» «Ja», sagte ich, «das ist schon eine heikle Angelegenheit, besonders, wenn man seine Hände faltet und nichts dagegen unternimmt.» Indem sie mir nickend zustimmte, sagte sie: «Sie glaubt, sie habe schon sehr viel unternommen. So war sie bei einem Fürbittenschreiber, dann brachte sie ihr Anliegen vor den heiligen Schrein des Nachkommen eines Imam, dessen Leichnam kopflos war, nämlich des kopflosen Imamsadeh von Qom, bei dem das Gerücht im Umlauf sei, besonders bei kinderlosen Eheleuten helfen


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zu können … , und es sei ausgemacht, dass sie nach Djamkaran gehen würden.» Djamkaran ist ein Wallfahrtsort 100 Kilometer von Teheran entfernt. Er liegt in der Nähe der heiligen Stadt Qom, die das wichtigste Ausbildungszentrum der schiitischen Geistlichkeit in Iran ist. An diesem heiligen Ort existieren zwei Brunnenschächte, der eine für die Anliegen der Männer und der andere für diejenigen der Frauen. Die Pilger und Pilgerinnen schreiben ihre Anliegen auf ein Stück Papier und werfen es in einen dieser Brunnen mit der Absicht, dass diese Anliegen an den entrückten Imam der Schiiten gelangen. «Ich fragte sie: ‹Und was ist mit deiner Familie? Was sagen die? Welche Hilfe haben sie dir angeboten?› Sie meinte, nichts; sie würden nur Gelübde ablegen und Bittgebete sprechen.» Anschliessend überlieferte mir meine Frau bis ins Detail Nahids Erläuterungen zu dieser Angelegenheit, was ich hier zusammengefasst wiedergebe: Ihre Mutter habe sie zu einem Fürbittenschreiber genommen; dieser habe mit Safranwasser ein Gebet auf ihren Bauch gepinselt und behauptet, sie werde in höchstens 40 Tagen schwanger, und er habe eine ganze Menge Geld von ihnen kassiert. Es blieb ohne Folgen; danach ging es zum nächsten Fürbittenschreiber, der ebenfalls nichts nützte, und wiederum zu einem anderen Fürbittenschreiber, von dem gesagt wurde, er sei so versiert, dass Menschen aus allen vier Himmelsrichtungen zu ihm gelangten, und zwar so, dass, falls seine Fürbitten aufgeschrieben und an einen Baum, der keine Früchte


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gibt, gehängt würden, dieser im nächsten Jahr reichlich Früchte trage. Eine der Nachbarinnen brachte ihm ein ganzes Grasbüschel von den Bergen, das er ihr in die Gebärmutter einpflanzen sollte, weil dies angeblich stärkend sein soll; doch dieser ging nicht darauf ein. Es ging bei ihnen ein Gerücht um, dass eine das irgendwann getan und neun Monate später eine Schlange zur Welt gebracht habe. Ich fragte meine Frau: «Also gut, das mag ja alles angehen, aber sag mir doch, wie denn die ärztliche Wissenschaft ihnen helfen kann?» Sie meinte: «Ich bin ja keine Spezialistin für Unfruchtbarkeit, aber zunächst müsste der Grund gefunden werden, damit er dann kuriert werden kann. Aber weisst du, was ich ihr zum Schluss riet? Ich schlug ihr vor, ein Kind zu adoptieren und sich von all dem Leid zu befreien … Als ich das sagte, bekam sie Zustände.» Meine Frau sprach sehr aufgewühlt und bereitete in diesem Zustand den Salat zu. Als sie da anlangte, ertönte die Türglocke. Ich öffnete die Tür; Nahid stand mit einem Teller Gebäck davor. «Das ist für Sie; selber gebacken.» Und sie reichte mir den Teller. Meine Frau, die Nahids Stimme erkannte, rief mit lauter Stimme von dort aus: «Komm rein, Nahid! Ich mache gerade den Obstsalat fürs Mittagessen bereit. Komm und iss mit uns.» Der Duft des Gebäcks war sehr verlockend. Ich führte ihn an meine Nase: «Was für ein köstlicher Duft.» Sie lächelte mich an und antwortete meiner Frau: «Danke, ich störe nicht weiter.» «Du störst doch nicht, komm rein», beharrte meine Frau. Ich unterstützte sie: «Nur für ein paar


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Minuten, grad so lange, bis Schahla sich für das Gebäck bei Ihnen bedanken kann.» Nahid trat ein, während Schahla zu ihrer Begrüssung aus der Küche kam, auch wenn sie noch das Messer in der Hand hielt. Wir setzten uns um den Küchentisch. Ich sagte ohne Einleitung: «Alles, was Sie meiner Frau erzählt haben, hat sie mir weitergeleitet. Ihr Mann hat sich mit mir vor einigen Tagen unterhalten. Also weiss ich über alles Bescheid.» Ihre kindliche Scham trieb ihr plötzlich die Röte ins Gesicht; sie blickte schweigend auf den Tisch. «Wenn Sie meine Meinung dazu hören möchten, dann adoptieren Sie ein Kind, und entledigen Sie sich aller Probleme.» Im Nu erwiderte sie: «Unmöglich.» Ihre direkte Art zwang mich, zu sagen: «Dann erwarten Sie nicht länger von mir und meiner Frau, dass wir Ihnen mit Ratschlägen zur Seite stehen.» Meine Frau sagte unverzüglich: «Amir, du kannst nur für dich sprechen.» Das war ein angebrachtes Wort, da es die Atmosphäre wieder ausgeglichener werden liess. Ich glaubte, dass ich Nahid verärgert hatte. Etwas ruhiger fügte ich hinzu: «Dann sagen Sie uns wenigstens den Grund.» Das war wohl etwas, das sie sich mehrere Male überlegt hatte. Sie antwortete mit einer gewissen Überzeugung: «Wenn das adoptierte Baby, anders als bei einem leiblichen, ein Junge ist, dann muss ich mich ihm gegenüber verhüllen, und wenn es ein Mädchen ist, muss es sich Madjid gegenüber verhüllen.» «Ach, lasst doch diesen Aberglauben; wie


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kann euch denn der Anblick eines Kindes, das ihr in euren Armen grossgezogen habt, verboten sein? Wie nur?» Ich musste das alles wohl ziemlich heftig hinausgeschrien haben. Nahid zögerte bei meinem Blick und verliess unsere Wohnung. Meine Frau ärgerte sich über meine Reaktion und sagte gekränkt, nachdem Nahid gegangen war: «Amir, ich wundere mich über dein Benehmen. Du kennst diese Menschen recht gut, dennoch benimmst du dich manchmal so, wie wenn du überhaupt nichts über ihren Glauben, über ihren religiösen Eifer und über ihre Gefühle wüsstest.» Ich wollte mich erklären, doch sie liess es nicht zu und zeigte ihre Ungeduld beim Verlassen der Küche mit einer hastigen Geste, wie wenn sie etwas nach hinten wegschieben wollte. Die nächsten Tage schickte Schahla sie – auf Anraten eines ihrer Kollegen in der Klinik – zu einem Spezialisten. Die ersten Untersuchungen brachten noch kein Ergebnis. Natürlich waren die Eileiter etwas verklebt, aber das hiess noch nicht, dass dies über all die sieben Jahre ihrer Ehe bestanden hätte. Doch Madjid nahm natürlich genau dies zum Vorwand: «Seht ihr, ich hatte recht.» Aber als der Doktor vorschlug, neben den Untersuchungen, die an Nahid vorgenommen wurden, auch Madjid zu untersuchen, kam er mit dem Satz: «Mir fehlt doch nichts.» Und als er sah, dass ich darauf beharrte, prahlte er: «Wenn ich wollte, könnte ich in einer Nacht bis zu zehn Frauen schwängern.» Hier konnte ich nicht mehr an mich halten: «Schau


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mal, mein Junge, die Zeugungskraft eines Mannes liegt nicht in Erektion und Erguss. Glaubst du eigentlich, wenn du wie ein Held Liebesspiele beginnst und wie ein Sieger daraus hervorgehst, dass damit alles beendet sei? Seit sieben Jahren hast du blühende Nächte verbracht und dennoch nichts hinbekommen.» Es war klar, dass dies das Ende unseres Gesprächs war; er ging. Die Untersuchungen von Nahid gingen weiter. Schahla überbrachte die Nachrichten, und ich sah Nahid, wie sie mit Unterlagen unter dem Arm ständig am Hin- und Hergehen war. Sie hatte meiner Frau mitgeteilt: «Man merkt erst, was man besitzt, wenn man es verloren hat.» Und einmal fragte sie sogar: «Wo muss man hingehen, um ein Kind zu adoptieren?» Die Verklebung der Eileiter im Unterleib wurde beseitigt. Der sie behandelnde Arzt teilte mit: «Soweit es Nahid anbelangt, gibt es überhaupt keine Hindernisse mehr für eine Schwangerschaft.» Er gab dies sogar dem Arzt telefonisch durch, der die Operation unserer Patientin vorgeschlagen hatte, und sagte noch: «Jetzt benötigen wir nur noch einen stark gebauten und gesunden Kerl.» Madjid zuckte nach wie vor mit den Schultern und erklärte im

Ihre Mutter habe sie zu einem Fürbittenschreiber genommen; dieser habe mit Safranwasser ein Gebet auf ihren Bauch gepinselt und behauptet, sie werde in 40 Tagen schwanger.


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Brustton der vollen Überzeugung: «Aber mir fehlt doch nichts.» Er ging sogar noch weiter und behauptete: «Diese Ärzte verstehen überhaupt nichts. Alles, was sie können, ist, den Patienten eine falsche Medizin zu verschreiben und die Leute zu töten.» Am nächsten Donnerstagabend machte er sich wieder auf nach Djamkaran; dieses Mal allein, und sagte mir, er habe im Innern der Moschee dermassen von Herzen und mit Hingabe geweint und dabei von den Heiligen verlangt, dass sie sein Anliegen erfüllen möchten, dass sich alle Anwesenden um ihn gedrängt und ihn bei alledem unterstützt hätten. Natürlich teilte er mir nicht mit, was er dieses Mal in dem Brief geschrieben hatte, den er in den Brunnenschacht warf. Schliesslich war er sicher, dass ein Anliegen, das mit gebrochenem Herzen vorgetragen wird, nicht ohne Antwort bleiben würde. Einige Monate vergingen. Wir hatten geglaubt, dass wir unsere nachbarschaftliche Pflicht erfüllt hätten. Aber dem war nicht so. Eines Abends, als meine Frau aus der Praxis nach Hause kam, sagte sie mir, dass Nahid sie in ihrer Praxis angerufen habe und sie in meiner Abwesenheit am nächsten Donnerstagmorgen zu Hause besuchen komme. Als ich am nächsten Donnerstag gegen Mittag von meiner Bergwanderung zurückkam, konfrontierte mich meine Frau gleich auf der Türschwelle mit dem Ergebnis ihres Gesprächs. Meine Mission liege darin, Madjid zu bewegen, sich einer ärztlichen Untersuchung zu stellen.


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Ich teilte ihr noch auf der Türschwelle meine Meinung mit: «Wie weit dürfen wir uns eigentlich in die Privatsphäre unserer Nachbarn einmischen?» «Das ist keine Einmischung, verwechsle das nicht. Sie haben uns selbst darum gebeten, ihnen zu helfen.» «Schau, Liebste, wenn andere daran Gefallen finden, aus jeder einfachen Sache ein kompliziertes Problem zu kreieren, dann lass sie ruhig machen. Es ist nicht unsere Pflicht, dass … » «Ach, fängst du schon wieder damit an? … Du hättest hier sein und alles mit ansehen sollen. Nahid weinte unaufhörlich, während sie redete. Sie brauchen wirklich unsere Hilfe.» Ja, es scheint ganz so, dass das Weinen der Frauen die Männer entwaffnet, sogar dann, wenn sie nicht selbst Zeuge des Geschehens sind. Aber ich sagte: «Wieso redest eigentlich nicht du mit ihm?» «Das ist unmöglich. Hast du vergessen, wie sein Gesicht, als ich das Thema nur kurz streifte, rot wie ein Granatapfelkern wurde?» «Jetzt hat sich die Situation geändert; wir müssen versuchen, das Thema zu viert zu lösen.» Meine Frau sagte nichts mehr, aber es war offensichtlich, dass ich den ersten Schritt tun musste. Es war nicht so schwierig, Madjid umzustimmen. Vielleicht war er ja selbst zu dem Ergebnis gekommen, dass der Ball nun wirklich in seinem Feld gelandet sei. Er sagte nur: «Also gut, ich bin bereit.»


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Es stellte sich heraus, dass Madjids Hoden völlig gesund waren. Es wurden auch keinerlei Verengungen am Geschlechtsorgan festgestellt. Er überbrachte mir die Nachrichten eine nach der anderen und wölbte dabei jedes Mal seine Brust wie Held Rostam aus dem Königsbuch von Ferdowsi. Aber als es im letzten Stadium zur Untersuchung der Spermien kam, wich er aus und erzählte mir nichts darüber. Dieses Mal rief ich ihn an: «Wie wär’s, wenn du diesen letzten Schritt auch tust und alle Bedenken ausräumst?» «Ich habe doch alle Ihre Anordnungen befolgt.» «Nein. Der letzte Schritt besteht darin, dass du die Spermien untersuchen lässt.» «Meine Situation ist ausgezeichnet, was die Spermien anbelangt: Meine Mutter hat mir monatelang täglich eine kleine Schüssel befruchteter Eier eingeflösst, danach habe ich so viel Leberextrakt bekommen wie noch nie.» Und dann fragte er herausfordernd: «Was suchen die überhaupt in diesen zwei bis drei cm³ schmutzigem Schleim?» Ich antwortete auf der Stelle: «Spermien, mein Lieber. Diese Spermien müssen auf Anzahl, Form und Beweglichkeit hin untersucht werden … wie auch immer, es ist nötig, allein schon deiner Behauptung zuliebe nachzugeben.» Meine medizinischen Kenntnisse flössten ihm Furcht ein, hatte ich mich doch wegen seiner Probleme zu einem kleinen Arzt gewandelt. Er willigte nolens volens ein, küsste mich sogar auf die Wangen und sagte: «Es tut mir leid, dass wir Ihnen so viel Scherereien bereiten.» «Wir sehen es als


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unsere Pflicht an, Ihnen als Nachbarn zu helfen.» Aber, Hand aufs Herz: Ich glaubte nicht so recht an das, was ich da sagte. Glücklicherweise war eine solche Untersuchung in der gleichen Klinik möglich, in der meine Frau arbeitete; sie schickte Nahid in die entsprechende Abteilung, damit sie für Madjid einen Termin vereinbaren konnte. Doch zwei, drei Tage vor dem Untersuchungstermin brach der Streit von neuem los. Damit das Labor die Spermien untersuchen konnte, war Madjid gezwungen, diese durch Masturbation zu gewinnen, und das ist genau das, was in der Scharia absolut haram, also verboten ist. Die ungewissen Augenblicke kamen einer nach dem anderen, Augenblicke, in denen wir drei – das heisst Nahid, meine Frau und ich – uns allesamt in einer endgültigen Sackgasse sahen. Nahid meinte resignierend: «Hier hilft nun überhaupt nichts weiter.» Wenigstens ich war mir sicher, dass dem nicht so war. Es hat immer Sachen gegeben, die haram waren und danach urplötzlich halal, erlaubt, wie das Schachspiel oder die Verzehrung des iranischen Störs. Es gibt auch Dinge, die sind zwar haram, aber zu bestimmten Gegebenheiten und unter bestimmten Umständen dennoch halal. Am Ende löste sich dieser Knoten durch Nahid selbst. Die Nachahmungsinstanzen der Schiiten unterhalten Büros, in denen sie die Fragen und Zweifelsfälle der Gläubigen bezüglich der Scharia, des islamischen Rechts, beantworten,


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sogar über das Telefon. Meine Frau verfolgte aufgeregt das Thema und berichtete mir täglich. Nahid telefonierte selbst; es liege überhaupt kein juristischer Einwand vor. Beim nächsten Mal telefonierte sie unter Anwesenheit von Madjid. Nahid wählte die Nummer und überliess Madjid dann den Hörer. Weil so etwas zum Zwecke einer medizinischen Untersuchung als notwendig erkannt werde, gebe es nichts zu beanstanden. Diese Beglaubigung holten sie eine halbe Stunde vor dem Untersuchungstermin ein. Nahid hatte meiner Frau erzählt: «Als Madjid mit dem Reagenzglas aus dem Waschraum kam und es dem Verantwortlichen im Labor überreichte, konnte er vor Müdigkeit kaum stehen.» Das war also der Zustand unseres Helden, des allabendlichen Eroberers des ehelichen Lagers! Als ich es ihm anvertraute, wurde er rot: «Es war abgemacht, dass Nahid Ihnen nur die notwendigen Informationen mitteilt.» Das Ergebnis der Untersuchung war enttäuschend. Madjid wurde sogar selbst hinter das Mikroskop gebeten, um seine Fruchtbarkeit zu sehen. Er hatte mit einer Stimme, die kaum zu vernehmen war, den verantwortlichen Laboranten gefragt: «Ist die Form der Spermien pro-

Wenn das adoptierte Baby, anders als bei einem leiblichen, ein Junge ist, dann muss ich mich vor ihm verhüllen, und wenn es ein Mädchen ist, muss es sich vor Madjid verhüllen.


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blematisch oder ihre Fortbewegung?» Er bekam zur Antwort: «Weder noch; es existieren überhaupt keine Spermien.» Ich erinnerte ihn daran: «Tja, mein Lieber, Männlichkeit hat eben nichts mit adonischem Körperbau, Bizeps und tiefer Stimme zu tun.» Dieser Mangel lag schwer auf ihm. Jetzt hatte er nicht einmal mehr den Mut, dem Labor einen Fehler vorzuwerfen. Vor lauter Hoffnungslosigkeit blieb er die ganze nächste Woche im häuslichen Asyl. Seine Frau empörte sich: «Was ist los? Du hast doch keinen Krebs.» Und erhielt zur Antwort: «Hätte ich nur Krebs; das wäre für mich leichter zu ertragen. Nun habe ich meine Ehre verloren.» Jawohl, die Ehre. Vielleicht lag darin des Pudels Kern. Der grosse Eroberer der Betten war nun blossgestellt, und diese Schmach hatte sein ganzes Selbstbewusstsein zunichte werden lassen.

Das Asyl nahm schliesslich ein Ende. Als ich auf die Strasse ging, um mir Zeitungen zu kaufen, zehn, zwölf Tage nach der Sache mit dem Reagenzglas und dem Mikroskop im Labor, sah ich ihn, wie er an der Wand entlangschlich; offensichtlich hatte er abgenommen. Er müsse sich stärken, meinte ich zu ihm. Er setzte ein bitteres Lächeln auf: «Wozu noch?» «Allem Anschein nach müsstest du mehr an den Willen Gottes glauben als ein Mensch wie ich oder die Bereitschaft haben, dich ihm zu unterwerfen.»


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«Sie haben recht, das ist Gottes Wille.» «Du weisst, dass die Medizin auf diesem Gebiet erstaunliche Fortschritte gemacht hat.» «Das heisst, es gibt Hoffnung?» «Natürlich; in den meisten Fällen kann das, was man nicht besitzt, von anderen überlassen werden.» Er schaute mich ratlos an. Sein Ausdruck schrie es förmlich heraus, dass er mich nicht verstanden hatte. Ich erklärte: «Hast du je gehört, dass Menschen ihre kranke Niere herausnehmen lassen und die gesunde Niere eines anderen an deren Stelle setzen können, selbst das Herz?» Er fragte mit plötzlich weit aufgerissenen Augen: «Das heisst … ?» Ich: «Das heisst, man kann das Sperma eines anderen Menschen benutzen.» Ein Zittern liess seine Gesichtsmuskeln erbeben. Es schien mir, wie wenn er mir eine Ohrfeige verpassen wolle, aber es nicht tat, vielleicht auch, weil dem Ärmsten so etwas nicht einmal in den Sinn käme. Er verabschiedete sich geschwind und ging. Am Abend sagte er in einer schwankenden Stimmung zwischen Wahn und Weinen zu seiner Frau: «Anscheinend gibt es für uns keinen anderen Weg, um Kinder zu bekommen, als dass du das Lager eines anderen Mannes teilst.» Zornig spuckte er auf den Teppich und legte sich ohne Abendessen schlafen. Nahid, die seit einigen Monaten in dieser Angelegenheit zu einer ordentlichen Spezialistin herangereift war, wusste, dass dem nicht so ist, sagte aber nichts dazu und tröstete voll Mitleid ihren schmerzerfüllten Ehemann. Ihr


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kam in den Sinn, ihm zu sagen, dass sie eher bereit sei, zu sterben, als so etwas zu tun, aber sie verschwieg es. Madjid war nach Monaten voller Streitereien und Diskussionen sowie Verstimmungen und Versöhnungen schliesslich bereit, zu hören, welche Vorschläge die Medizin zu diesem Fall macht und wie das umzusetzen ist. Die Eizelle seiner Frau würde mit dem Sperma eines anderen Mannes – jawohl, eines anderen Mannes – in einem Reagenzglas befruchtet, und anschliessend würde der frisch gebildete Fötus in die Gebärmutter seiner Frau eingesetzt werden. Das Ganze ist nicht einmal kompliziert, auch wenn Madjid Schwierigkeiten hatte, es zu verstehen. Aber würde die heilige Scharia eine solche Methode auch bewilligen? Es schien ganz so, wie wenn nun alles von der Beantwortung dieser Frage abhinge. Ein weiteres Mal brachte die telefonische Anfrage im Büro der Nachahmungsinstanz Klarheit in die Sache. Es gebe kein juristisches Problem, doch die Ausführung eines solchen Unterfangens hänge von einigen Vorbereitungen und Bedingungen ab: 1. Nahid und Madjid müssten sich zunächst trennen. Es reiche bereits, wenn die Scheidung entsprechend der Scharia eingeleitet würde, ohne dokumentiert zu werden, ja, es sei sogar nicht einmal nötig, dass andere davon erführen. 2. Nach Ablauf von drei Monaten und zehn Tagen müsse sich Nahid mit dem Mann trauen lassen, dessen Sperma dem Labor überlassen worden sei. Dazu sei es nicht nötig,


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dass Nahid den Besitzer des Spermas kennenlerne oder gar treffe. Tatsächlich geschehe die Zeitehe zwischen den beiden Reagenzgläsern, das eine gefüllt mit dem Sperma des Mannes und das andere mit dem Ovum von Nahid. 3. Diese Zeitehe könne sogar nur für eine Stunde geschlossen werden, das heisst, für die Zeit, die es brauche, um das Sperma des Mannes zu gewinnen (er kann dies auch früher tun und das Sperma in einer Samenbank aufbewahren lassen) und die Befruchtung mit der Eizelle von Nahid herbeizuführen. Nach der Einpflanzung des Fötus in ihre Gebärmutter könne die Zeitehe aufgelöst werden, während sich Nahid sofort wieder mit Madjid trauen lassen könne. Die Geschichte ist lang; die Angelegenheit mit der drei Monate und zehn Tage dauernden Trennung, die fern von den Augen beider Familien stattfinden sollte, hatte selbst Ereignisse zur Folge, deren Schilderung Sie langweilen würde. Ich begnüge mich damit, dass Madjid die Aufsicht über die Pistazienhaine zum Anlass nahm und die ganze Zeit auf dem Land verbrachte, während Nahid vorgab, in Teheran zu bleiben, weil sie sich in einem Englischkurs anmelden und den Unterricht besuchen müsse. Es war evident, dass den beiden Familien die Sache nach ein, zwei Monaten nicht mehr geheuer war. Die Aufsicht über die Pistazienhaine nehme doch nicht so viel Zeit in Anspruch. Die Haine hätten einen Aufseher und Arbeiter, die sich sehr gut in der Arbeit auskennten, einmal abgesehen davon, dass Madjid täglich Anordnungen gebe, die er am nächs-


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ten Tag widerrufe, so dass er alle verärgere. Nahids Vater machte sich stehenden Fusses auf den Weg nach Teheran, nur um zu merken, dass die Geschichte mit dem Englischunterricht nichts weiter als ein Märchen war. Klar, dass Schahla und ich bei der Lösung dieses Abenteuers eine Rolle einnahmen, damit jene berühmten 100 Tage vorübergingen, Madjid wieder nach Hause zurückkehrte, der Fötus in die Gebärmutter von Nahid eingepflanzt sowie die erneute Trauung gemäss der Scharia vollzogen wurde und wir alle erleichtert aufatmeten. Sie bekamen auch mit, in welchem Ausmass Schahla und ich als verständnisvolle Nachbarn bei der Bewältigung dieser Krise zur Seite standen. Daher schickten sie uns auch aus ihren Ortschaften in einem fort Trockenfrüchte, selbstgestrickte Socken und Heilpflanzen. In den telefonischen Kontaktaufnahmen, die ich unternahm, um mich für die Geschenksendungen zu bedanken, versicherte ich ihnen, dass von nun an die Präsenz des Kleinen sie so beschäftigen werde, dass das Paar keine Zeit mehr finde, sich miteinander zu streiten. Vor einigen Tagen sah ich sie, wie sie Hand in Hand auf dem Gehsteig spazieren gingen. Der Bauch von Nahid

Damit das Labor die Spermien untersuchen konnte, war Madjid gezwungen, diese durch Masturbation zu gewinnen, was in der Scharia absolut haram, also verboten ist.


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wölbte sich deutlich. Ich fragte, wann wir sie und ihr Neugeborenes mit einem Strauss Blumen im Krankenhaus besuchen sollten. Nahid meinte: «Ungefähr in drei Monaten.» Beide schienen sehr glücklich. Madjid sagte: «Nahid möchte das Geschlecht unseres Kindes nicht wissen; sie bat ihren Arzt, ihr nichts darüber zu sagen.» «Und es ist abgemacht, dass Madjid bis zur Geburt unseres Kindes darüber schweigt», meinte Nahid, und fügte dann hinzu: «Auf jeden Fall haben wir das Kinderzimmer schon eingerichtet. Bitte besuchen Sie uns zusammen mit Frau Doktor und sehen Sie es sich an.» «Nahid hat die Kleider unseres Babys in Blau ausgewählt; ich habe natürlich nichts dagegen.» Nahid versetzte ihrem Mann einen Stoss: «Spitzbube.» Danach lachten wir alle aus voller Kehle. Sie verabschiedeten sich und gingen; Madjid hatte die ganze Zeit während dieser kurzen Begegnung ein Lächeln auf dem Gesicht, doch dieses konnte nicht den schwachen, aber spürbaren Kummer verbergen, der tief in seinen Augen mitschwang. Meine Frau meinte, dass sich Madjid in das Neugeborene verlieben werde, und sie sei sogar bereit, mit mir darüber eine Wette abzuschliessen. Ich sagte ihr, dass ich mit ihr einverstanden sei, warum also wetten. Danach fragte ich mich unverzüglich, ob ich im Falle einer Widerrede wirklich als Verlierer aus dieser Wette hervorgegangen wäre.


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Verlag: Puntas Reportagen AG Geschäftssitz: Zumikerstrasse 16a, 8702 Zollikon Redaktion: Reportagen, Käfiggässchen 10, 3011 Bern, T +41 31 981 11 14, redaktion@reportagen.com Text: Amir Hassan Cheheltan Übersetzung: Farsin Banki Art Direction und Gestaltung: Moiré: Marc Kappeler, Markus Reichenbach, Ruth Amstutz www.moire.ch, grafik@reportagen.com Illustration: Claudia Blum, www.kabeljau.ch/claudia Printed in Switzerland © 2012 Puntas Reportagen AG © für die Texte: Reportagen und die Autoren © für die Illustrationen: die Gestalter

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«Was mich beim Verfassen von Reportagen antreibt, ist der Versuch, die Welt in ihren unbeleuchteten Zonen zu erhellen, sie persönlich zu spiegeln, nicht zuletzt, damit sich andere in ihr finden können, so, wie ich mich in Texten manchmal mehr als in Orten finde.» Roger Willemsen in Reportagen #6

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