Oliver Unger
Roh diamanten
Roh diamanten
Exposé
Ein Hochgefühl in meinem Herzen war es, das mich bewog, mich auf den Weg nach Nicaragua zu machen. Ein Land, das – fast sagenumwoben – gefährlich und kriminell sein sollte. Außerdem gäbe es dort ja den Krieg und die Armut. “Gerüchteumwoben” würde ich das heute nennen. Es kann nur das Herz sein, das einen auf eine Weise in die Ferne trägt, bei der man nicht weiß, wohin dieser Weg führt. Ich bin kein Typ, der sich nach einer einmal getroffenen Entscheidung zurückzieht. Ich bin kein Mann, der dann noch Fakten braucht oder mehr Informationen. Krieg? Armut? Kriminalität? Dem kann ich trotzen, wenn mein Herz einmal „JA“ gesagt hat. Und das hat es. Nach dem Gespräch mit der Großcousine meines Mannes, und nach dem Besuch bei Google war alles klar. Ich (oder etwas in mir) wollte nach Nicaragua und dort ehrenamtlich mit Straßenkindern arbeiten. Sie seien teilweise drogenabhängig, misstrauisch und daher auch aggressiv, hieß es in der Stellenauschreibung. Ich musste schlucken, aber mein Herz gab keine Ruhe. Was wollte es von mir? Was wusste es, das ich noch nicht wusste? Trotz aller Widerstände von Kunden, Mutter, Freunden und sogar ab und zu von meinem Lebenspartner und trotz mieser finanzieller Lage, setzte ich mich am 30. Mai 2010 in den Flieger, der mich auf eine Reise brachte, die vielleicht nie wieder ein Ende haben wird. Ich bezeichne mich als spirituell, nicht religiös. Ich glaube ich an Gott, aber nicht an den Got,, den die Christen so gerne hätten, sondern an das, was manche als „EINS“ bezeichnen. Ja, mehr noch: Ich STEHE auf dieses EINS, diesen Gott, diese unermessliche Intelligenz. Ein Gott, der kein Mann mit weißem Bart ist, sondern die Lebenskraft, die wir alle in uns haben. Sie war es, die mein Herz erfüllte und mich letztlich dazu brachte, Neues auszuprobieren und kennenzulernen, meine inneren Beschränkungen, Ängste und Grenzen zu überwinden. Hiervon handelt diese Geschichte. Sie ist das Produkt der Aufzeichnungen, die ich während der Arbeit mit den Chavalos, so werden die Straßenkinder in Nicaragua genannt, gemacht habe.
Die Geschichte ist ein spiritueller Reisebericht. Er erzählt von den Jungen und Mädchen, von ihren Schicksalen und wie ihre Prägungen nach und nach Fesseln in mir sprengten und mich zu einem anderen Menschen formten. Ich machte auf der Reise tiefe Erfahrungen mit Gott, stürzte in Abgründe von Zweifel und empfundener persönlicher Schwäche und bemerkte mittendrin gar nicht, wie ich währenddessen Wurzeln schlug. Jetzt darf sich meine Krone (endlich) entfalten und blühen. Das geht nur mit guten Wurzeln, den Füßen auf dem Boden. Die Botschaft, die ich mit den Lesern dieses Manuskripts teilen möchte ist folgende: Trau dich von deinem Berg hinab in das Tal. Das EINE, Gott, wird dein Wegbegleiter sein. Es wird dir den Spiegel vorhalten und dich so wachsen lassen. Und im Tal angekommen stellst du fest: Vielleicht hast du nicht mehr den Überblick, deine Mauern, deren Steine und Mörtel deine Vorstellungen und Konzepte sind, sind auch weg, aber hier ist das Leben. Mittendrin. Mitreißende Begebenheiten rührten bereits die Leser meiner regelmäßigen Mails aus Nicaragua an. Diese regten an, ein Buch aus der Geschichte zu machen, sie mit vielen weiteren Lesern zu teilen. Ich nenne die Chavalos aus Nicaragua „Rohdiamanten“, weil sie solche sind. Schaut man über ihre Psychologie hinaus, erkennt man sehr schnell, wie rein, wertvoll und klar sie sind. Schleifen kann man sie nur mit einem anderen Diamanten, mit gleicher Hörte und Klarheit. Ist man zu „weich“, gelingt das nicht. Dann formen sie DICH. Was dabei heraus kommt entscheidet man selbst. Verpackt in Fallbeispielen, Dialogen und Gedanken findet der Leser seine „Suche“ widergespiegelt. Nicht immer ernst, hinterfragend und kritisch, sondern auch humorvoll satirisch wird dieses Buch zu einem kurzweiligen, spannenden Lese- und Selbsterfahrungserlebnis.
inhalt Vorgeschichte Wo komme ich her, was habe ich bisher gemacht, geglaubt, gedacht? Abreise und erste Hindernisse Konflikte, Änsgte un erste Erkenntnisse Die Arbeit im Zentrum Fallbeispiele, bewegende Schicksale, herzerwärmende Dialoge, persönliche Erkenntnisse und Gedanken Der Abschied Eine Feier, viele Bilder und Zeichnungen, liebe Abschiedsbriefe von Menschen, die eigentlich nicht schreiben können Wiederankunft und neue Zeit in Deutschland Verarbeitung der Erlebnisse, Kampf mit abgespaltenen Emotionen und erschwerte Wiedereingliederung
Leseprobe
Arbeit im Zentrum
7. Juli „Lieber Gott, was machst du hier mit mir?” Ich lerne hier, glaube ich, auch das Beten. Heute nach Feierabend hatte ich mal wieder das Gefühl, dass der geschlechtslose Herr da oben mit dem Presslufthammer auf meine inneren Beschränkungen losgegangen ist. Na ja, ich will mich nicht beschweren. Ich habe es ihm ja auch erlaubt. Aber selbst wenn nicht - ich denke, dem Neutrum mit dem weißen Bart ist das eh egal. Das sitzt ja sicher auf seiner weißen Wolke. Neurosen-Drama Meine Vermieterin ist ja sehr speziell. Zur Erinnerung: Ich muss immer alles gut abschließen und beim Verlassen des Hauses den Hauptwasserhahn zudrehen. Man könnte ja den teuren Fernseher klauen oder gar den Kühlschrank. Zur Erläuterung: Das Haus steht LEER und enthält nur meine Sachen, ein paar alte Töpfe und Bratpfannen und ein paar Möbel, die sich sicherlich keiner unter den Arm klemmt. Es dauert gute zehn Minuten, bis ich alle Fenster und Riegel geschlossen und den Hahn zugedreht habe. Das plane ich morgens schon mit ein. Außerdem soll ich nicht so oft Licht anmachen, weil das so teuer ist. Okay. Offenbar ist Fernsehen billiger als Licht. Denn der Strom, um den ganzen Tag die Flimmerkiste laufen zu lassen, ist anscheinend selbst den verhungernden Menschen, die sich nachts nur von Wellblech umhüllen lassen, nicht zu teuer. Hoffentlich wird meiner Vermieterin der Stromverbrauch meines riesigen Netbooks von 3 mal 5 Metern nicht zum Verhängnis ... Heute Morgen hat sie mir über ihre Schwester, die im Vorderhaus wohnt, ausrichten lassen, ich solle die Gartenmöbel nur dann rausstellen, wenn ich sie auch benutze. Sonne und Regen würden sie zu sehr strapazieren. Es handelt sich hierbei um edle Möbel aus weißem Kunststoff, welche bereits durch starkes Übergewicht der Vorbenutzer ihre Festigkeit verloren haben. Ich bin schon einmal auf einem der Stühle beim Hinsetzen „durchgesunken” (die Beine knickten ein, weil vorher jemand zu schwer gewesen war und sie bereits „Sollbruchstellen” hatten). Und der Tisch sieht aus, als hätte er drei Jahre seiner Zeit ohne Obdach verbracht. Na gut. Ist ja nicht mein Haus und sind auch nicht meine Möbel. Also respektiere ich das.
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Die Schwester war sehr freundlich. Auch meine Vermieterin ist sehr freundlich. Aber ich hasse derart neurotisches Verhalten. Ich habe einige Zeit gebraucht, um mich abzuregen. Als Nächstes soll ich wahrscheinlich die Möbel nachts in Plastiktüten einwickeln, damit die Ameisen nicht draufsch... MANN! Ich sehe immer mehr, dass die Scheinwelt, die einem im Fernsehen vorgegaukelt wird, und die ständige Angst davor, Geld ausgeben zu müssen, welches dann vielleicht irgendwann nicht mehr vorhanden ist, die Menschen wirklich VERRÜCKT machen, sodass sie sich um Dinge sorgen, die vollkommen DUMM sind. Das liegt doch klar auf der Hand: Wenn wir aufgrund unserer Ängste nach und nach alle unsere Chakren verschließen, dann fließt weniger Energie und weniger Geld durch. Und dann denken wir, dass die Wirtschaft schlecht ist oder dieses oder jenes, statt uns WIRKLICH darum zu kümmern. Oder wir fangen an zu betteln und zerstören damit vielleicht noch den letzten Rest unseres Energiesystems. Und je neurotischer und ängstlicher wir durch diesen Vorgang werden, desto einsamer werden wir, weil niemand mehr etwas mit uns zu tun haben möchte. Und wieder denken wir, der Grund sei die Wirtschaftskrise oder sonst was. Dabei ist es ein Mangel von Chancen, der durch einen Mangel an Beziehungen und einen Mangel an Offenheit entsteht. Die Übersetzung von Chakra lautet eigentlich „Rad” (Energierad). Die treffendere Übersetzung ist jedoch „Chance”. Weiter geöffnete Chakren (durch weniger Neurosen und weniger Ängste) = mehr Chancen auf Glück, Wohlstand, Reichtum. Abreise Franciscos Francisco hat heute das Zentrum auf unbestimmte Zeit verlassen. Er hat erzählt, dass einer seiner Cousins aus Managua umgebracht worden sei. Man habe ihm mit einem Messer direkt ins Herz gestochen. Er, Francisco, würde jetzt zu seiner Familie zurückgehen und ihr Beistand leisten. So lautete seine Aussage. Fila kommentierte das heute Nachmittag folgendermaßen: „Diese Geschichte erzählen sie immer.” Man weiß es nicht. Es ist auch egal. Francisco ist weg und alle sind furchtbar traurig. Hatten wir doch endlich gerade den nächsten Schritt für ihn geplant ... Ich habe erst gar nicht gecheckt, was das genau heißt, dass er jetzt nach Managua geht. Das ist ja nicht so weit, dachte ich, und er wird ja in ein paar Tagen zurück sein. Ana Maria geht auch manchmal nach Managua und kommt dann wieder. Aber als Francisco zu mir kam und mir sagte, er werde oft an mich denken und an meine Therapie-Runde, da machte es klick-klick und der Groschen fiel. Ich fragte ihn, wann er wiederkäme, und er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht gar nicht”, sagte er daraufhin. Ich bin dann erst einmal zu Bruder Emmanuel ins Büro gegangen, weil er und Yahaira dort waren. Sie suchten wie wild in den Kleiderkisten nach Kleidung, die sie Francisco mitgeben konnten. Er hat ein neues Oberteil, eine neue Hose, einen Gürtel und Schuhe (LACKSCHUHE - sehr unpraktisch für ein Leben in Nicaragua!) bekommen. Und während die beiden in den Kleiderkisten wühlten, habe ich mir ein Tässchen geweint. Was soll ich denn jetzt noch
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hier?, habe ich mich gefragt. „Traurig?”, fragte Yahaira. Ich nickte. „Wir sind alle traurig”, fügte sie hinzu. Ich war wie gelähmt. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich stand da herum mit meinen feuchten Augen und starrte einfach ins Leere. Nach ein paar Minuten bin ich dann in Yahairas und mein Besprechungszimmer gegangen und habe mich an den Tisch gesetzt. Jonatháns Rufe nach mir holten mich aus diesem Zombie-Zustand. In dem Büro gibt es statt einem Fenster eine Tür nach draußen. Sie stand offen. Allerdings muss man ein Gitter öffnen, um hinausgehen zu können. Dieses war verschlossen. Aber ich sah, dass Jonathán an dem Gitter stand und mich anblickte. Er hatte auch feuchte Augen, und ich dachte, es sei vielleicht wegen Franciscos Abreise. Ich ging zu ihm und fragte, wie es ihm gehe. Er zeigte mir, dass er in jeder Hand eine Glasscherbe hielt. Dann ballte er die Fäuste. Ich erschrak und war zwischen mehreren Gefühlen hin und her gerissen: Trauer, Zombiezustand, Schreck, Angst. Ich erinnerte mich an die Situation vor ein paar Tagen und bat ihn, mir in die Augen zu sehen. Er tat es, aber nur für eine Sekunde, dann wendete er seinen Blick ab. Ich ging zu Yahaira und sagte ihr, was er tat. Gleichzeitig kam Francisco in das Zimmer. Ich sagte ihm, dass Jonathán sich gerade selbst verletze und dass ich deswegen raus müsse. Jonathán stellte sich an das Gitter und nahm Kontakt auf. Yahaira war schnell draußen und ich auch. Jonathán war nicht zu überzeugen, die Scherben loszulassen. Er hielt die Fäuste weiterhin geballt. „Schau mir in die Augen” half diesmal nicht. Er wendete sich ab und drückte stattdessen die Hände noch fester zusammen. Yahaira redete auf ihn ein und ich bat Gott, mir eine Idee einzugeben, was ich tun sollte. Ich nahm Jonathán in den Arm und drückte ihn an mich. Er ballte die Fäuste und ich hielt ihn einfach fest und streichelte ihm über den Rücken. Ich spürte seine immense Trauer und konnte das nicht lange aushalten. Schneller, als mir lieb war, musste ich ihn loslassen und weggehen. Yahaira nickte mir zu und blieb bei ihm. Ich ging auf die andere Seite des Hauses und musste mich erst einmal beruhigen. Jonathán und Yahaira kamen relativ schnell nach. Jonathán ging in das Haus und legte sich unter einen der Tische. Ich blieb noch draußen, weil ich dachte, es wäre jetzt alles okay. Ich brauchte die Zeit, um „runterzukommen”. Das hat mir diesmal noch mehr Angst gemacht als letztes Mal. Yahaira sagte mir, Jonathán habe am Vortag vier Marihuana-Tüten geraucht, und wenn er das mache, dann sei er manchmal so drauf. Ich ging daraufhin ebenfalls ins Haus. Ich setzte mich zu Francisco, der an einem anderen Tisch saß. Ich wollte noch ein bisschen mit ihm sein, seine Energie genießen, seine Frische. Und ich wollte für mich in Stille von ihm Abschied nehmen. Ich habe ihm gesagt, er könne
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jederzeit zurückkommen, wenn etwas schiefläuft. Ich fragte ihn, ob er sich eine Arbeit suchen würde. Er sagte: „Sehr wahrscheinlich ja, um meine Familie zu unterstützen. In Managua ist das auch einfacher als hier.” Francisco hat laut Yahaira keine Gewalt in der Familie erlebt. Die Chancen, dass er in Managua gut unterkommt und vielleicht auch dort bleibt, sind ganz gut. So ist das mit der Liebe: Man teilt sie, so lange es die Zeit dafür ist. Und dann muss man sich gegenseitig frei lassen. Dann fließt die Liebe weiter. Woanders hin. Und manchmal tut das auch weh. Wir schauten hinüber zu Jonathán. „Was meinst du, ist er traurig, weil du weggehst?”, fragte ich Francisco. „Nein. Das ist was anderes.” Francisco stand auf und ich ging daraufhin zu Jonathán. Er lag unter dem Tisch auf dem Rücken und blickte ins Leere. Seine Arme waren über dem Kopf verschränkt. Ich setzte mich zu ihm und er begann ganz massiv an seinen Fingernägeln zu kauen. Das sah so heftig aus, dass ich fast nicht hinsehen konnte. Ich fragte ihn: „Haben sie dir wieder Gewalt angetan?” Er schüttelte den Kopf. „Sicher?” Er wiederholte die Geste und riss sich mit den Zähnen ein Stück Nagel oder Haut von seinem Finger. Dann schaute er mich an. Sein Blick war eindringlich, fast forsch. Vielleicht sogar wie im Wahn. Ich schaute zurück. Ich hatte die Hoffnung, er sei jetzt „wieder da” und ich könne Kontakt aufnehmen. Plötzlich öffnete Jonathan ganz langsam seinen Mund. Sein Blick war starr auf mich gerichtet. Er spielte mit der Zunge. Ich konnte erst nicht erkennen, was er da hatte, aber eine Art elektrischer Schlag durchfuhr mich, weil ich ahnte, jetzt kommt etwas, das nicht leicht zu verkraften ist. Sein Blick hatte mich indes total aufgesogen, ich war wie in Hypnose, gefangen von dieser heftigen Übertragungsreaktion. Es war eine Scherbe! Er hatte eine Scherbe im Mund. Instinktiv griff ich danach- das war scheiße, denn er verschloss den Mund! „Hilf mir, lieber Gott!”, flehte ich innerlich. Wieder war alles wie beim letzten Mal. Es dauerte nur eine Sekunde, aber es fühlte sich an wie Minuten. Leere. Nichts, keine Antwort. Mein Körper bebte innerlich. Jetzt keinen Fehler machen! Yahaira kam in diesem Moment vorbei. „Er hat die Scherbe im Mund”, sagte ich ihr. Sie schüttelte wütend den Kopf. „Lass ihn!” Ich konnte das nicht. Er fühlte sich so traurig an. Dann wurde mir klar: Die Scherbe im Mund ist das eine. Sich selbst verletzen auch. Das ist seine Entscheidung. Das muss ich bei ihm lassen. Es ist sein Leben. Aber in der Traurigkeit kann ich ihn begleiten. Das liegt in meinem Kompetenzbereich.
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Also setzte ich mich an Jonatháns Füße und richtete meinen Blick in eine andere Richtung. Ich wollte nicht sehen, was mit seiner Zunge passierte. Und ich wollte nicht wissen, ob da Blut ist oder ob er die Scherbe runterschluckt. NICHTS von dem! Aber ich wollte bei ihm sein und seinen Körper dabei unterstützen, mit dieser heftigen Flut von Emotionen umzugehen. Auch diesmal überschwemmte mich ein Tsunami von Trauer. Ich habe mehrfach das ReikiMeistersymbol vor meinem inneren Auge visualisiert, damit mein „Kanal” offen bleibt und ich nicht in dieser Welle ertrinke. Mir war auch egal, ob ich ihn damit einweihe oder nicht. Ich wollte einfach präsent bleiben und den größtmöglichen Raum eröffnen. Ich hielt seine Füße und schaute konsequent weg. Aber ich spürte, wie sein System sich schnell beruhigte. Ich wechselte noch ein paar Mal intuitiv die Handposition, wobei ich die Augen schloss oder auf meine Hände schaute. Am Schluss berührte ich seine Hände, die immer noch über seinem Kopf ruhten. Er fühlte sich gut an. Der Tsunami war vorbei. Ich stand auf und ging hinaus. „Jetzt ist meine Arbeit getan. Der Rest ist Jonatháns und Gottes Entscheidung.” Diesmal beruhigte ich mich schneller. In mir stiegen einige Bilder hoch. Eines der Bilder vor meinem inneren Auge zeigte, wie Jonathán gefesselt irgendwo lag. Daraufhin schaltete ich meine „Bildschirmfunktion” ab. Das kann ich zum Glück. Dann habe ich mich noch einmal selbst in das Meistersymbol eingehüllt. Das wirkt Wunder und „zieht” quasi alle „Reste”, die vom anderen noch in einem sind, aus dem System. Danach ging ich wieder hinein. Ich fühlte mich stabil genug, um zu sehen, wie es mit Jonathán weitergegangen war. Er hatte die Scherbe aus dem Mund genommen. Ich weiß nicht, welchen Schaden sie angerichtet hat. Ich habe kein Blut gesehen. Ich sagte ihm, dass ich sehr traurig werde, wenn er sich etwas antut. Und fügte hinzu, dass ich ihn aber nicht davon abhalten würde und dass es seine Entscheidung sei. Ich erklärte ihm, dass ich ihm mit seiner Trauer helfen kann und versprach, dass er mich deswegen jederzeit ansprechen könne. Ich zeigte ihm, wie er seinen Energiefluss selbst durch ein paar Bewegungen in Gang setzen kann, sodass er dafür keine Scherben braucht. Er nickte. Alles gut. Instinkt und Liebe Alles gut. Für den Moment. Es gab Frühstück. Jonathán setzte sich dazu und aß normal. Ich habe kein Blut gesehen, weder an seinen Händen noch sonst wo. Ein Wunder? Ich weiß es nicht. Jedenfalls ließ sich Jonathán nach dem Frühstück auf der Veranda nieder und ich beobachtete, wie er sich wieder mit einer Glasscherbe ritzte. Diesmal am Handgelenk. Ich fuhr meine Antennen aus, um zu prüfen, wie er sich anfühlte. Das ist eine Arbeit, die sehr viel Selbstvertrauen und Klarheit erfordert. Und mein Gefühl sagte: Alles im Fluss. Alles okay. Jetzt ist es eine Show.
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Ich stellte mich vor ihn, sah ihn an und er mich. Stille. In diesem Moment verließ Francisco das Terrain. Das war das Letzte, was ich von ihm sah: seinen niedlichen Indio-Kopf von hinten, sein blaues Shirt und seine Lackschuhe. Ich war kurz abgelenkt, und in der Zwischenzeit setzte Jonathán wieder seinen „wahnsinnigen” Blick auf. Aber da war keine Trauer mehr zu spüren. Da war etwas anderes. Und dem gab ich Worte: „Du missbrauchst mich!”, fuhr ich ihn scharf an, wendete mich von ihm ab und ging fort. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass er die Scherbe fallen ließ. Puh! Schwein gehabt. Am Nachmittag bei der Gartenarbeit schien er wieder normal. Ich hatte etwas Kontakt zu ihm. Ich erklärte ihm, dass ich ihm mit der Trauer helfe. Aber dass ich auch wahrnehme, wenn er uns Betreuer oder mich unter Druck setzt und uns instrumentalisiert. Ich fügte hinzu, dass ich dann nichts mache und mich abwende. „Profesor traurig?”, fragte er dann in seiner einfachen Art zu sprechen. „Wenn du gehen willst, dann geh!”, erwiderte ich. „Ich bin dann traurig, aber ich werde dich nicht davon abhalten.” Er hob die Augenbraue. Dann senkte er den Blick und wurschtelte mit seiner Harke weiter im Laub herum. Liebe geht seltsame Wege. Sie ist vollkommen anders, als wir uns das vorstellen. In Jonathán ist ganz viel Liebe. Aber sie fließt chaotisch. Vielleicht ist sie blockiert. Vielleicht findet sie auch einfach keinen Ausdruck. Yahaira meint, Jonathán würde gerne offen schwul leben, traut sich das aber nicht. Sie sagt, das sei für ihn sehr schwer. Gleichermaßen spüre ich meine Liebe zu Jonathán. Ich würde ihn am liebsten den ganzen Tag lang ununterbrochen „fest”-halten. Aber das wäre viel zu viel für ihn. Liebe bedeutet nämlich auch, miteinander zu kommunizieren und sich darüber auszutauschen, wer was ertragen kann. Und dann entsprechend und freizügig / mutig drauf zu reagieren. Ich würde es folgendermaßen ausdrücken: Liebe ist nicht rosa, sondern ROT. Aber das ist meins. Ernesto Ernesto (18), der geprügelte Junge, ist heute wieder im Zentrum aufgetaucht. Die Blutergüsse sehen schon viel besser aus. Auch die „Schnittwunde” ist ganz in Ordnung. Bei der Gartenarbeit hatte ich zum ersten Mal die Gelegenheit, Ernesto ein bisschen besser kennenzulernen. Unser Einstand war allerdings etwas schwierig. Man merkt, dass es in seiner Familie Grenzverletzungen gibt. Wir haben über versaute Ausdrücke gesprochen. Für die Chavalos ist es natürlich spannend, wenn ich als Betreuer Wörter in den Mund nehme, die sie eigentlich nicht benutzen dürfen. Aber es hat sich im Gespräch so ergeben und ich habe das genutzt, um mit Ernesto Kontakt aufzunehmen. Doch als Ernesto dann begann, mit diesen versauten Wörtern auf Karla einzureden, bekam sie Angst, dass sie bestraft würde, und hat uns bei Fila und Yahaira verpetzt.
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Hätte ich an ihrer Stelle wahrscheinlich auch getan. Sie bekommt schließlich oft gesagt, was sie alles nicht richtig macht ... Daraufhin erklärte ich Ernesto, dass wir nun damit aufhören müssten. Das wollte er aber anscheinend nicht. Er fragte immer wieder: „Was muss man machen, um Kinder zu kriegen?” Ich hatte zuvor immer geantwortet: „Poppen”, und er hatte gelacht. Aber nun sagte ich: „Ernesto, jedes Spiel hat einen Anfang und ein Ende. Und dieses Spiel ist jetzt vorbei.” Aber er hörte nicht auf, mich das zu fragen. Yahaira arbeitete mit ihrer Forke in der Nähe und warf mir schon bald einen fragenden, ein wenig vorwurfsvollen Blick zu. „Es ist meine Schuld”, sagte ich zu ihr. „Ich wusste nicht, dass ich ihn damit so anheize.” „Schon gut. So ist er.” Ich habe ihm dann die Aufmerksamkeit entzogen. Wie bei der Hundeerziehung. Das hat funktioniert. Amis im Zentrum Zu all dem Geschiss von heute kamen dann auch noch zwei Amis zu uns ins Zentrum. Die Szene war mal wieder total typisch: Das Eingangstor öffnete sich und ein Auto fuhr auf den Hof. Die gehen echt keinen Millimeter zu Fuß! Es handelte sich um Pater Jimmy und seine Frau, die in den USA Geld für ein anderes Zentrum in Granada sammeln. Jesús Amigo und Cristo Sana („Christus macht gesund”), das andere Zentrum, arbeiten mehr oder weniger Hand in Hand. Wie ich später erfuhr, wollten Pater Jimmy und seine Frau herausfinden, ob es nicht sinnvoll ist, das gesammelte Geld auf beide Zentren aufzuteilen. Um mehr Informationen über die Pläne, Ziele, Abläufe und den Nutzen des Zentrums zu bekommen, haben sie mit Filadelfo gesprochen. Das war eine gute Wahl. Der kann ganz gut „rumschleimen” und Visionen verkaufen. Ich ahnte, dass sie deswegen gekommen waren. Als sie nach dem Gespräch das Büro verließen, heftete ich mich kurz an ihre Fersen. Ganz frisch, fromm, fröhlich, frei erklärte ich, dass wir wirklich großartige Pläne hätten und Bruder Emmanuel hier noch einiges rausholen würde. Pater Jimmy war, glaube ich, ganz glücklich mit meiner Aussage. Ich habe einfach mal mein Gespür für einen guten Zweck ausgenutzt, und ich denke, ich konnte ihm so den letzten „Überzeugungsstoß” versetzen. Pater Jimmy merkte nämlich an, er sei anfangs nicht so überzeugt davon gewesen, Geld in unser Zentrum zu stecken, weil ihm Struktur und Ziele gefehlt hätten. Aber jetzt sei er zufrieden und glaube an die Pläne von Bruder Emmanuel. Chakka! Ich habe Bruder Emmanuel hinterher gefragt, wie er Pater Jimmy einschätze. Emmanuel winkte ab und sagte: „Die sollen mir gestohlen bleiben. Wenn die uns Geld geben, dann wollen die auch alles kontrollieren. Amis wollen immer alles kontrollieren.” Da hat er wohl recht.
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Na ja. Drücken wir trotzdem mal die Daumen. Intervision mit den Betreuern Heute Nachmittag gab es die dritte Intervision mit den Betreuern. Im Moment befinden wir uns noch ganz am Anfang des Unterrichts. Ich hoffe, ich schaffe es in der Kürze der verbleibenden Zeit, dass die Betreuer meine und Dr. Levines Übungen mit den Chavalos fortsetzen können. Ihnen fehlt natürlich die Erfahrung, und sie springen damit ins kalte Wasser. Auch hier bete ich zu Gott, dass alles gut geht und meine Arbeit weitergetragen wird.
Gesteinsbrocken lösen sich Als ich heute mein täglich’ E-Mail-Geschäft erledigte, begegnete ich Miguel. Ich wartete am Eingang des Internetcafés darauf, dass ein Computer frei wurde. In meinem Kopf kreisten viele Gedanken. Mein Körper fühlte sich dumpf und leer an, wie dissoziiert. Aber nicht ganz - immerhin nahm ich ja noch diesen Nebel, dieses Dumpfe wahr. Ich hockte da so auf meinem Stuhl und schaute mal ins Leere, mal auf die Bildschirme der anderen Gäste, dann auf die Straße ... Da kam Miguel mit einem seiner Freunde vorbei. Klar. Das musste HEUTE sein, nicht, wenn ich entspannt bin. Es braucht ja nach so viel Bewegung im Herzen und im Solarplexus auch noch ein bisschen Karma-Lösung, damit sich mein erstes Chakra öffnet. Miguel machte einen Schritt auf mich zu. Er war leicht betrunken (um ca. 17.00 Uhr am Nachmittag). Er drückte mich an sich und fragte, wie es mir ginge. Die Berührung unserer Körper fühlte sich angenehm an. Vertraut. Karma eben. Wenn man zusammen mehrere Wochen lang auf demselben Schiff gereist ist, kennt man sich ... Der Geruch nach Alkohol widerte mich allerdings an. Miguel fragte, ob ich mit ihm etwas trinken gehen wolle, aber ich antwortete, das sollten wir ein anderes Mal machen. Er wirkte beinahe traurig, als ich ihn abblitzen ließ. Ich weiß nicht recht. Sicherlich muss ich das wieder bezahlen. Aber das war nicht der Grund, warum er traurig war. Er hatte ja offensichtlich schon sein Bier (oder was auch immer) gehabt. Ich glaube sogar, dass er die Finger von mir lassen wird. Vielleicht spürt er auch etwas von dem, was da in unseren Energiesystemen passiert. Schwer zu sagen. Wenn man in diesen tiefen Transformationen nicht so geübt ist, lösen diese Prozesse tatsächlich sehr viele wirre Emotionen aus, in die man schnell etwas hineininterpretiert. Ich hatte, glaube ich, bereits geschrieben, dass mir eine solche Karma-Auflösung schon zweimal in ähnlicher Intensität begegnet ist (beides Spanier - Inquisition eben). Damals dachte ich, diese beiden Männer wären jetzt jeweils die Liebe meines Lebens. Das war in beiden Fällen ein riesengroßer Irrtum. Aber es öffneten sich Türen und Tore für viele andere Dinge. Das war wunderbar. Ich hatte in die Sensationen, die ich spürte, etwas hineininterpretiert. Dadurch wurden sie zu Emotionen. Das war fatal. Heute, in der Situation Miguel, fühlt sich das klarer an. Ich weiß, die Liebe meines Lebens
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sitzt gerade in Wuppertal oder in der Nachbarstadt Schwelm und wartet dort sehnsüchtig auf mich. Nun fühlt es sich so an, als würde jemand dicke, beschwerende Gesteinsbrocken aus meinem ersten Chakra abklopfen. Ich höre sie förmlich zu Boden fallen, wenn ich Miguel sehe. Das ist ein abgefahrenes Gefühl.
8. Juli Innere Straßenkinder Eine Freundin und Leserin dieses Berichts schrieb mir heute per E-Mail, dass sie auch „innere Straßenkinder” habe. Das ist für mich der Satz des Monats. Innere Straßenkinder. Was sind meine „inneren Straßenkinder”? Mein innerer Jonathán: Manchmal hasse ich mich selbst. Einfach so. Kein Mensch weiß, warum- ich auch nicht. Das ist dann einfach da. Und ich würde mir am liebsten irgendeinen Körperteil ausreißen. Sex und Liebe zusammen, beides mit einer Person? Früher: Nein. Heute zum Glück JA. Mein innerer Francisco: Ich bin fröhlich, wenn mich jemand anspricht, sonst eher nachdenklich. Aber manchmal, von einer Sekunde auf die andere, zieht sich der Himmel zu: Depression. Kein Mensch weiß, warum, nicht mal ich selbst. Es ist einfach da. Meine innere Ana María: Ihr könnt machen, was ihr wollt, ich mache sowieso, was ich will. Meine innere María Auxiliadora: Ich öffne mich für das, was mich interessiert. Aber sonst für nichts. Heftig, mir das einzugestehen. Aber so ist es. Meine innere Zenia: Manchmal falle ich einfach in mich selbst hinein und bin weg. Plöpp Augen nach innen. Nicht mehr ansprechbar. Mein innerer Rodolfo: Wenn es mir zu viel wird, ziehe ich mich zurück. Ich werde ganz still. Oder ich betrinke mich. Nicht mit Alkohol. Das geht auch mit Workaholismus. Mein innerer Manuel Salvador: lebt nicht. Ist vor vielen Jahren gestorben. Das schmerzt mich sehr. Wenn er noch leben würde, würde er einfach drauflosschreien, völlig wirr und sinnlos mit seinem offenen Herzen durch die Gegend laufen. Und wenn Gefahr in Verzug ist? Feste (!!!) draufhauen! Meine innere Karla: lebt nur manchmal. Meistens ist sie still. Sie hat Angst vor Konsequenzen. Aber wenn sie sich sicher fühlt, dann tanzt, singt und lacht sie – egal, was andere denken. Schade, dass sie nur so selten da ist. Mein innerer Ernesto: denkt ständig nur an Sex. Und wenn nicht, dann schläft er oder fühlt sich schlapp.
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Ernesto Ich hatte mich vor Ernestos „Wiederkehr” ja nicht so ausgiebig mit ihm befasst. Jetzt tue ich das umso mehr. Er fühlte sich heute sehr schlapp, hat entweder geschlafen oder irgendeinen Blödsinn verzapft. Natürlich wollte er wieder versaute Wörter mit mir austauschen. Ich habe diesmal von Vorneherein abgeblockt. Als ein paar Jungs und ich draußen im Garten saßen, fragte er wieder, was man mit seiner Verlobten macht. Ich antwortete: „Fernsehen, zusammen beten, zusammen essen.” Zwischendurch hat er sein eregiertes Glied herausgeholt. Ich habe das gar nicht richtig gesehen, aber durch das Gekreische von José Abraham bemerkt, dass etwas Merkwürdiges vor sich gehen muss, und dann hinübergeschaut. Da war die Vorstellung aber schon fast wieder vorbei. Ich sah nur noch Hände nesteln und „Beulen”. Der Junge hat anscheinend tatsächlich eine Grenzenlosigkeit, die sehr weit geht. Ich habe ihm gesagt, dass er seine Bedürfnisse doch bitte auf der Toilette befriedigen soll, und ihn vor dem Ausschluss aus dem Zentrum gewarnt. Ich glaube, das hat ihn wenig interessiert, denn er wiederholte die Aktion, sobald ich wieder wegsah. Heute Nachmittag habe ich das Thema in der Betreuer-Besprechung angeschnitten und gefragt, welche „kirchlichen” Beschränkungen ich für ein eventuelles Gespräch über „Sex ohne Partner(in)” mit ihm habe. Ich finde mich sehr respektvoll, weil mich die Konventionen der Kirche sonst ni miércoles (Ich liebe diesen Ausdruck, weil er anständig, aber doppeldeutig ist, so wie „Schei...benkleister”.) = keinen Deut interessieren. Schulterklopf! Ich dachte, wenn ich weggehe, dann will ich für die anderen eine für sie tragbare Basis hinterlassen und nicht einen Garten voller Osho-Unkraut, mit dem sie nicht zurechtkommen. Ich fragte also danach und erhielt die Antwort, dass es keine Beschränkungen für ein solches Gespräch gäbe. Dann warte ich jetzt mal ab, wann der Jung’ dafür offen ist. Ich wollte schon immer mal Papa spielen. Als Ernesto heute schlief, habe ich ihm ein bisschen Reiki gegeben. Das war am Anfang eine drastische Erfahrung für mich. Sein Energiekörper hat heftig gezittert und sich plötzlich ganz schnell in der Mitte der Wirbelsäule zusammengezogen. Dann hat er sich wie ein Wurm durch mich hindurch- und schwupps nach „oben” geschlängelt. Danach fühlte er sich ruhig an. Ich ging weg und kam ein wenig später, nachdem er die Lage gewechselt hatte, zurück, um ihm eine weitere kurze Sitzung zu geben. Sein Herz war total verängstigt und hyperaktiv. Ich habe ihn einfach „gehalten” und gewartet. Es hat sich aber nur ganz wenig bis gar nicht beruhigt. Als Ernesto eine bis zwei Stunden später aufwachte, sah er aus wie ein Kleinkind. Das war sehr rührend. Seine abgeklärte Maske war weg und ich konnte ganz tief in ihn hineinschauen. Spannend und berührend. Ich freue mich, dass ich jetzt mit Ernesto ein wenig Kontakt habe. Irgendwie kann man sich nicht gleichzeitig und gleich intensiv um alle kümmern. Bei manchen öffnet sich etwas, und dann setze ich mich mit ihnen in Verbindung. Und bei anderen passiert weniger.
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Manuel Salvador Manuel Salvador (= Manuel, der Retter) ist auch so ein Spezialfall. Fila sagte, er sei auf dem geistigen Niveau eines Tieres. Das klingt schlimm, aber in gewisser Weise stimmt es. Und es macht ihn sehr gewöhnungsbedürftig. Er schreit viel herum, mischt sich in jedes Gespräch ein, und man kann quasi nichts mit ihm anfangen. Aber er ist freundlich. Und wenn er mal einen Moment lang nicht herumschreit und still ist, dann kann man in seinen Augen sein ganzes Herz sehen. Das ist ähnlich wie bei Karla. Ich mag seine ungetrübte Ursprünglichkeit. Wenn ich meine inneren Beschränkungen überwinde, was mir meistens gut gelingt, dann bewundere ich ihn für seine Hemmungslosigkeit. Ihm passt etwas nicht? Einmal brüllen, hingehen, draufhauen, weggehen. Sonnenklare Handlung. Kein Geschiss, kein Blabla, kein Gerede um den heißen Brei. Man weiß immer, woran man ist. Der Mann ist die pure Authentizität. Heute hat Sabrina vom Projekt Mosaik unserem Zentrum gebrauchte Kleidung geschenkt. Manuel Salvador brauchte eine Hose, und ich habe ihm die einzige, die dabei war, aus dem Kleiderhaufen herausgesucht. Darüber hat er sich, glaube ich, sehr gefreut, obwohl sie ihm gar nicht passte. Den ganzen restlichen Tag haben seine Augen geleuchtet. Das war total toll. Bei der Trauma-Runde macht Manuel Salvador nicht mit. Er verkriecht sich wie ein räudiger Hund unter dem Tisch und brummelt irgendetwas vor sich hin. Man passt sich an Spannend finde ich, wie ich mich nach und nach den Gepflogenheiten des Zentrums anpasse. Ich spreche jetzt schon die Gebete mit. Eins kann ich sogar ganz gut (es ist ein sehr kurzes, deswegen einfach). Außerdem reagiere ich bereits ein bisschen wie die anderen Betreuer. Ich mache das Spielchen einfach mit. Es schadet ja nicht. Ich kann mich selbst dabei beobachten und lernen. Ich stelle fest, dass Grenzenziehen manchmal auch eine Frage von gekonnter Strategie ist. Ich hätte das lieber anders, aber so ist es nun mal in unserem Fall. Will man, dass jemand putzt, und er hat keine Lust (so wie heute Edgard), dann muss man eben sagen: „Du weißt ja, wenn du den Anweisungen nicht Folge leistest, dann darfst du vielleicht nicht mehr kommen. Du musst dir gut überlegen, was du dann den ganzen Tag machen willst.” Ich habe mich vor mir selbst erschrocken. Aber man kommt sonst zu nichts. Die Kids sind raffiniert und wissen sehr wohl, wie sie es anstellen können, ihren Vorteil aus einer Situation zu ziehen. Außerdem sind die Regeln des Zentrums nun mal da und gelten für alle. Ich will so nicht leben und werde das im Ridaya, unserem Zentrum, bestimmt nicht weiterführen. Aber man muss es mal gemacht haben. William ist noch bis zum 16. im Urlaub, und ich fühle mich fast ein bisschen an seine Position versetzt. Das ist natürlich nur in mir. Keiner hat das offiziell festgelegt oder angedacht. Aber ich merke, dass ich schon wie er durch den Garten laufe, hier und da Anweisungen gebe, mit anpacke – einfach, um mit den Chavalos zusammen zu sein. Natürlich habe ich (noch) nicht die gleiche Autorität wie er. Muss ich ja auch nicht haben.
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„Das Leben ist ein Drahtseilakt” „Deine Arbeit kommt mir manchmal vor wie ein Drahtseilakt”, schrieb mir heute eine andere Freundin und Leserin per E-Mail. Und ich habe geantwortet, dass ich das Leben als Ganzes zurzeit als Drahtseilakt empfinde. Und je weiter man seinen Weg geht, desto dünner wird das Seil und desto höher hängt es. Das ist aber keine Strafe. Es ist vielmehr folgendermaßen: Das beste Pferd im Stall muss die meiste Arbeit machen. Leider bekommt der beste Seiltänzer keinen Applaus. Seine Lorbeeren trägt er innen. Er kann sie vielleicht nicht sehen, aber sie sind seine „heimliche” Balanciermaschine. Die Trauma-Runde Meine Idee heute war: Einer wirft dem anderen irgendein Schimpfwort an den Kopf, z. B. „Du Blödmann!”. So läuft es sowieso den ganzen Tag. Man hört eigentlich nur, wie die Jungs einander beschimpfen. „Affe”, „Verrückter”, „A...loch”, „Schwuler”, „Schwein”. Das sind die Klassiker. Und so weiter und so fort. Der andere entgegnet ihm: „Ich mag dich auch.” Das war der Plan. Fila und ich erklärten die Übung. Alle waren ganz still. Dann fragte Fila: „Gefällt es euch, Schimpfworte zu sagen?” Die Antwort kam einstimmig, kräftig, klar. Alle waren sich einig. Sie waren eine homogene, saftige Gruppe: „NEIN!” Das war der Plan. Nur war er schneller verwirklicht, als ich dachte, nämlich ohne dass wir die Übung überhaupt durchgeführt hatten. „Okay, fertig für heute”, sagte ich also. Alle starrten mich ungläubig an. „Hä?” José Abraham, der Bruder von Francisco, tippte mich an und fragte mich: „Was? Fertig? Du hast ja nichts gemacht!” „Fertig”, wiederholte ich. Wahre Heilung geschieht unerwartet, schnell und unspektakulär. Daran konnte ich sehen: Wenn man sich selbst für einen Moment das Verbotene erlaubt, wird es total uninteressant.
9. Juli Sei fleißig wie die Ameise Die Ameisen hier sind echt der Hammer. Filadelfo sagt immer „Sei fleißig wie die Ameise. Wer arbeitet, hat auch zu essen”. Man muss gucken, ob da die Kirchenväter Gottes Botschaft
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nicht zu stark vereinfacht haben. Wahr ist aber, dass die Ameise wirklich schnell bei der Sache ist. So habe ich das bisher noch nicht gesehen. Die kleinen Wunderkrabbelviecher bilden sofort ihre Straßen, wenn es etwas zu transportieren gibt. Heute Morgen sah ich einen Brotkrumen, der mir anscheinend runtergefallen war, quer über die Terrasse wandern. Ich habe dann noch einen hinterhergeworfen. Der wanderte schon wenige Sekunden später in dieselbe Richtung. Dann noch einer und noch einer ... Vier Brotkrumen wackelten ans andere Ende der Terrasse. Und das in einem Affenzahn, wenn man die Größe einer Ameise bedenkt. Ich habe beobachtet, wie sie sich in Windeseile zu Gruppen zusammentun und sich offenbar vollkommen einig sind. Und ich bezweifle, dass sie lange herummeckern oder noch mal schnell den Fernseher einschalten, bevor sie loslegen. Ich dachte: „Wenn wir Menschen auch mal so gescheit wären.” Edgards Selbstzerstörung Ich will bei meiner Arbeit mit den Chavalos subtiler werden. Das ist, glaube ich, eine sehr weise Entscheidung. Während einer „Sitzung”, die Yahaira und ich ja auch schon mal machen, lügen die Chavalos viel. Aber wenn man zum Beispiel mit ihnen die Mangos zusammenfegt oder einfach nur so herumhängt und quatscht, rutscht ihnen schon mal etwas heraus, das sie sonst nicht gesagt hätten. Jonathán und Edgard saßen heute mit mir am Tisch und wir flachsten herum. Und da stellte Jonathán Edgard eine Frage, die er besser zu einem anderen Zeitpunkt gestellt hätte: „Wie viel hat er dir bezahlt?” Da war alles klar. Zur Erinnerung: Edgards Augenbrauen waren auf einmal abrasiert. Am Dienstag erschien er zum ersten Mal ohne. Yahaira und ich hatten ja schon einen Verdacht, und jetzt hörte ich die Bestätigung. Edgard hat für seine Dienstleistung 50 Córdobas bekommen (2,50 Dollar). Wahnsinn - das reicht gerade für ein Glas Klebstoff! Ich erzählte Yahaira davon, und sie bat mich, ein Gespräch mit Edgard zu führen. Ich habe ihn direkt angesprochen. Er war zwar mit etwas anderem beschäftigt, aber ich dachte, es ist sowieso immer der falsche Zeitpunkt, egal, wann ich es mache. Ich sagte: „Edgard, hast du zwei Minuten für ein Gespräch?” Er nickte. „Wirklich?”, fragte ich nach. Er nickte. „Schluck bitte niemals den Samen von anderen Männern!” Er erschrak und verbarg sein Gesicht hinter den Händen. Kurz darauf rannte er zu Jonathán und beschimpfte ihn, vor Scham lachend. Dann warf er sich zu Boden und schloss die Augen. Ich setzte mich zu ihm und fuhr fort - Augen zu hilft ja nicht, wenn man akustische Signale abhalten möchte. „Edgard, es ist mir egal, was für Sex du praktizierst. Aber ich sage dir, dass du dich bitte vor HIV und Aids schützen sollst. Zieht euch bitte Kondome über. Aids ist eine ziemliche Quälerei.” „Ich will sowieso sterben.”
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„Da gibt es einfachere Wege. Frag jemanden, ob er dich mit einem Messer ersticht, oder spring von einer Brücke. Das geht schneller, tut weniger weh und ist sicherer.” In diesem Stil tauschten wir noch den einen oder anderen Standpunkt aus. Dann ließ ich von ihm ab. Ich fange langsam an, diese Touristen zu hassen, die die Situation der Straßenkinder für ihren sexuellen Vorteil ausnutzen. Das wird nicht so bleiben, ich werde mich sicherlich nicht mit Hass anfüllen. Aber es ist eben gerade da. Später am Tag hatte ich einen weiteren intensiven Kontakt mit Edgard. Er setzte sich zu mir und sagte mir noch einmal, dass er sterben wolle. Ich ermahnte ihn: „Das wäre für mich okay, wenn du es wirklich willst. Aber mach keine Witze, denn ich nehme ernst, was du sagst.” Er bestätigte mir, dass er es ernst meine. Edgards Mutter hat ihn schon als kleines Kind abgelehnt. Sie hat ihn geschlagen und auch mehrfach mit dem Messer angegriffen und verletzt. Sein Nervensystem steht unter Hochspannung. Oder sollte ich sagen „stand” unter Hochspannung? Er schielt meistens sehr stark, aber manchmal guckt er perfekt geradeaus. Vor allem, wenn ich mich mit ihm „balze”. Dann schlagen wir jeweils die linke und rechte Faust im Wechsel gegeneinander. Das ist eine tolle Übung, um seine (und meine) Hirnhälften auszugleichen. Es ist fast wie ein Wunder, wenn sich seine Augen gerade ausrichten. Immer nur für einen Augenblick (schöner Ausdruck an dieser Stelle), aber immerhin. Als er neben mir saß, spürte ich: JETZT ist der Zeitpunkt gekommen, ein wenig mit ihm zu „arbeiten”. Ich fragte ihn: „Weißt du, warum du dich selbst ablehnst?” Er schüttelte den Kopf. „Wenn die Mutter ihr Kind ablehnt, so wie deine Mutter dich, dann lehnt das Kind sich selbst auch ab, so wie du.” Er schaute mich mit großen Augen an - klarer Blick. Dann senkte er den Kopf. Ich bemerkte einen immensen Energieschub, der uns beide durchfloss. Das war wie eine Explosion! Ich fuhr fort: „Wenn der Gedanke kommt, dass du dich umbringen willst, dann sage innerlich zu deiner Mutter: ‚Sieh her, so wie du mich ablehnst, lehne ich mich auch ab, weil ich dich liebe’.” Noch eine Explosion. „Wie geht es dir?”, fragte ich ihn. „Schlecht”, antwortete er. Aber sein Blick war für einen Moment ganz klar und gerade. Er blieb bei mir sitzen und ich blieb mit ihm. Wir quatschten noch ein bisschen dummes Zeug daher, und ich spürte, wie sich sein System nach und nach beruhigte. Irgendwann musste ich ihn fragen: „Was glaubst du, warum wir Profesores eigentlich diesen Job hier machen?”
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Er zuckte mit den Schultern. „Wegen dem Geld?” Er schüttelte den Kopf. „Weil uns langweilig ist und wir keine bessere Arbeit gefunden haben?” Er lachte. „Ich verdiene hier gar nichts”, sagte ich. „Und die Rosi auch fast nichts. Du verdienst an einem Tag manchmal mehr als sie in einem Monat.” Er schaute mich verdutzt an. „Also, Edgard, sag es mir - warum machen wir das?” Er zuckte mit den Schultern. Ich sah ihn an. Mir kamen die Tränen. Ich konnte es nicht verhindern. Ich wäre lieber weniger dramatisch gewesen und kam mir fast vor wie meine Mutter. Aber es war absolut authentisch. Mein Herz öffnete sich weit, und das war gut, denn so floss es in der richtigen Frequenz aus mir heraus: „Wir sind hier, weil wir euch lieben. Euch alle, dich und Francisco und Jonathán und Karla. Alle. Nur aus Liebe. Sonst nichts.” Er schaute mich an. „Glaubst du mir? Oder hältst du das für Blödsinn?” Er schluckte und nickte. „Ich glaube dir.” „Und es ist an euch, diese Liebe anzunehmen. Das ist sehr schwierig. Du bist ja auch manchmal rebellisch. Es ist vielleicht nicht so einfach, diese Liebe anzunehmen. Es ist auch für mich manchmal schwer. Aber das ist euer Job. Wir sind für euch da und geben. Und ihr nehmt.” Im Garten Heute war wirklich Edgard-Tag. Wir alle arbeiteten wieder im Garten. Edgard hatte keine Lust. Aber er muss nun mal. So sind die Regeln. Alle hatten die Harke in der Hand und schaufelten und kratzten die verfaulten Mangos und das gemähte Unkraut zusammen. Edgard hingegen saß auf einem Tisch, schaute uns zu und machte Faxen. Ich ging mit einer Harke zu ihm, stellte sie wortlos neben ihn und ging weg. Dann sagte ich laut zu den anderen, sodass er es hören konnte: „Ignoriert ihn. Wenn ihm langweilig wird, wird er kommen.” Es dauerte ungefähr drei Minuten, dann fing er an, Karla beim Aufladen der Schubkarre zu helfen. Ich fragte sie: „Und, Karla? Zufrieden mit deinem Zuarbeiter?” Sie nickte. „Guter Arbeiter.” Dann ließ ich Edgard einen Becher Limonade zukommen. Was in der Hundeerziehung funktioniert, funktioniert auch in der Menschenerziehung. Am Nachmittag blieb Edgard die ganze Zeit bei mir. Wir haben zwei neue Saiten für Yahairas Gitarre gekauft. Rodolfo begleitete uns bis zum Laden, glücklich lächelnd und singend und auf der kaputten Gitarre klampfend. Das war so niedlich. Rodolfo sieht ja wirklich abgefuckt
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aus. Ihm fehlen zwei Schneidezähne, und die anderen sind teils gräulich, teils schwarz angefault und gleichen eher Steinen als Zähnen. Außerdem ist sein Gesicht sehr asymmetrisch. Er ist einfach gezeichnet von seinem daueralkoholisierten Leben. Aber mit der Gitarre und seinem schrägen Gesang wirkte er wie ein zufriedenes kleines Kind. Er strahlte von innen heraus. Das hat mich sehr berührt, und deswegen habe ich ihn tunlichst nicht unterbrochen. Meine Ohren haben es ja auch ausgehalten ... Edgard kam dann mit ins Internetcafé, saß fast eineinhalb Stunden lang ganz still neben mir, schlief ein bisschen, kaute ein paar Chips, guckte in der Gegend herum. Anschließend gingen wir in den Copyshop, um ein paar Flyer für meine Workshops zu kopieren. Auch das war ihm nicht zu langweilig. Die Flyer legten wir zusammen an einigen Stellen aus, und zur Belohnung spendierte ich uns beiden ein Eis. Und zum Schluss hingen wir für eine Weile im Park herum und versuchten, die neuen Saiten aufzuziehen. Das ist aber nur halb gelungen. Edgard wollte eigentlich noch mit zu mir kommen, aber ich habe ihn irgendwann verabschiedet. Ich möchte aus verschiedenen Gründen nicht, dass die Chavalos wissen, wo ich wohne. Ich denke, wenn meine äußerst neurotische Vermieterin mitbekommt, dass die Jungs und Mädels das wissen und womöglich vor dem Haus herumlungern, wird sie das nicht so gut finden. So erkläre ich es ihnen immer, wenn sie fragen. Beim Abschied bat Edgard mich natürlich noch um Geld. Ich sagte ihm, dass er heute schon ein Eis, eine Tüte Chips, ganz viel von meiner Zeit und von meiner Liebe bekommen hätte. Dann dankte ich ihm für seine Zeit und seine Liebe und ging heim. Jonathán Als ich heute Morgen zur Arbeit ging, hatte ich eine Idee, wie sich Jonatháns Selbstzerstörungsmuster von innen heraus vergiften lässt. Aber mehr dazu, wenn ich diese Idee tatsächlich in die Tat umsetze. Wer meine Art der strategischen, provokativen Kommunikation nach Tief berührt ® kennt, ahnt, dass ich etwas „Fieses” plane. Ich stellte es mir im Geiste vor, und dabei durchfuhr es mich wie ein Blitz. Ich spürte, dass ich große Angst davor habe, diese Idee tatsächlich umzusetzen. Aber ich spürte auch, dass es ein guter, wirksamer Einfall ist. Ich werde ihn allerdings aufgrund seiner Heftigkeit mit den anderen Betreuern durchsprechen und absegnen lassen. Deswegen schreibe ich das hier aber nicht. Ich formuliere diese Zeilen, weil ich eine weitere wichtige Erkenntnis hatte, die ich gerne mit meinen Therapeuten-Kollegen teilen möchte: Bevor wir eine Intervention tätigen (sei es eine Berührung, eine Frage, ein Satz, eine Yoga-Übung, was auch immer), MUSS diese Intervention ZUERST in uns selbst wirken dürfen. Zuerst müssen sich unsere eigenen Türen und Tore durch die Intervention öffnen. Dann können wir die Idee, das Gelernte, die Eingebung anwenden. Das klingt logisch und ist den meisten klar. Das ist mir bewusst. Ich meine damit aber noch etwas Tiefergreifendes als „Selbsterfahrung”. Ich meine, dass unsere Interventionen wirk-
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lich immer sowohl für den Prozess des Therapeuten als auch für den Klienten etwas bewirken. Wirklich für beide. Als seien wir beide Klienten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger als das. Jede gescheite Intervention ist auf den Moment, auf die Situation, auf den gegenseitigen Rapport abgestimmt. Und deswegen ist sie gleichermaßen für uns selbst. Sie ist kein Werkzeug, das wir schon tausendmal benutzt haben. Sie ist neu. Für beide. Und überraschend. Für beide. Als hätte er etwas gespürt, fragte Jonathán mich heute, ob ich bei seiner vela (Aufbahrung) dabei sein würde, wenn er sich umbringen würde. Ich schaute ihn an und fühlte in mich hinein. Dann erwiderte ich überzeugt und ein bisschen desinteressiert: „Nein.” „Wieso nicht?” „Weil du dann ja sowieso schon weg bist. Ich bin lieber mit dir zusammen, wenn du lebst, als wenn du tot bist.” Er hob seine Augenbraue. (Das war noch nicht die Umsetzung meiner Idee.) Satsang Yahaira hat heute die Bibelreflexion gehalten. Und zum Schluss haben alle noch mal gebetet. An der Art und Weise, wie die Chavalos beten, muss ich noch ein wenig herumschrauben. Das ist mir zu runtergeleiert, zu abgedroschen. Ich habe schon mit Yahaira darüber gesprochen, dass wir ihnen das richtige Beten beibringen, das Beten mit dem Herzen, das nicht nur aus dem Rezitieren von irgendwelchen Sprüchen besteht, die man mal gelernt hat. Ich bemerkte an der Art, wie Yahaira die Bibelreflexion gestaltete, dass sie wirklich ernst meint, was sie über Gott, Jesus und den Glauben sagt. Sie scheint tatsächlich „Kontakt” zu haben. Das gefällt mir. Am Ende der Stunde meldete ich mich zu Wort. Ich wollte die Gruppe eigentlich nicht aufmischen, aber ich konnte mich nicht zurückhalten. Mein eigener „Kontakt” war derart stark, dass ich einfach fragen musste: „Wie klopft Gott an unsere Tür und spricht zu uns?” „Mit dem Herzen.” „Mit den Händen.” „Durch seine Taten.” „Durch Wunder.” Ich fügte hinzu: „Er spricht manchmal auch durch unsere Krankheiten zu uns.” Das erstaunte die Chavalos. Sie waren aber nicht überzeugt. Ich fuhr trotzdem fort, begleitet durch die Kraft Jesu Christi, die mich in diesem Moment erfüllte und trug. „Wir Menschen sind voll von Müll, schlechten Gedanken und ‚Sünde’. Und wenn wir Gott begegnen, dann holt er den ganzen Müll hoch und befreit uns davon. Und manchmal, wenn er besonders viel davon löst und durcheinanderwirbelt, dann werden wir davon krank. Früher hat die Kirche gesagt, die Krankheit sei des Teufels Werk. (Anmerkung des Autors: Das ist ja nicht ganz falsch, es kommt darauf an, was man als „Teufel” bezeichnet.) Aber wer ist der eigentliche Teufel? Unsere schlechten Gedanken, unsere Sünden. Wir selbst machen uns also krank, weil
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wir so viel Müll angesammelt haben. Und Gott will uns davon befreien.” Rodolfo und Yahaira hörten sehr genau zu. Karla hat mich nicht verstanden und abgeschaltet. Das ist nicht schlimm. Ich habe sie hinterher mit etwas anderem infiziert. Sie behauptet immer ganz stolz von sich, sie sei sehr katholisch. Daraufhin sagte ich nach der Bibelreflexion zu ihr: „Karla, mir ist aufgefallen, dass die Chavalos hier nicht mit Herz beten. Sie glauben nicht, was sie sagen. Und sie führen es auch nicht durch. Du bist doch so sehr katholisch, bitte hilf ihnen, dass sie es besser machen.” (Ich bin fies, was?) Herz hat die Gute nämlich - mehr als wir alle zusammen! Kanal für die Liebe Ich glaube, ich lerne nicht nur, mit der Harke Gartenarbeit zu machen oder Chavalos zu erziehen, sondern auch mehr und mehr, mir selbst wirklich zu vertrauen. Ich drehe die Lautstärke meiner inneren Stimme hoch. Ich verabschiede mich nach und nach von meinen „Werkzeugen” und folge dem, was meine Anbindung mir rät. Ich sehe mit meinen eigenen Augen, spüre mit meinem eigenen Körper, dass das am kraftvollsten ist. Was da gerade aus mir heraussprudelt, stammt von mir, kommt aus meinem Leben, ist mein Geschenk, meine Liebe und gleichzeitig der Kanal für die Liebe. Das ist Tief berührt ® , das Ergebnis meines Prozesses und meiner Erfahrung. Ich fühle mich vielleicht ein bisschen wie damals Bert Hellinger, als er die ersten bahnbrechenden Erfolge mit seinem Familienstellen zu verzeichnen hatte. Das macht mich unglaublich stolz. „Ich” (mein Kanal, meine Intuition) funktioniere auch in anderen Situationen, außerhalb meiner privaten Therapieräume im Ridaya. Running Gag Ich liebe Running Gags. Gestern entwickelte sich einer beim Mittagessen. Es gab Reis und frittierten Käse. Fast alle von uns lieben diesen Käse. Jonathán wollte mehr davon. Keiner wollte ihm etwas abgeben. Da reichte Zenia ihm ein winzig kleines Stück, und Karla verkündete sofort: „Gloria unserem Herrn!!!” Ich bin fast hintenübergekippt vor Lachen. Dann gab ich Jonathán ebenfalls ein winziges Stückchen ab und wiederholte: „Gloria dem Herrn!” Karla stand auf und schmiss sich lachend auf den Boden.
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