goon magazine

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magazin fĂźr gegenwartskultur no.23 ď›œ herbst 2007 www.goon-magazin.de

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Illustration von

MASAKO


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JULIE HILL


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Illustration von

JON CONTINO


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OHYUN KWON



editorial

no. dreiundzwanzig  23 Um das Verhältnis von Erfahrungen, medialen Inhalten und sozialen Kontexten in einen sinnvollen redaktionellen Zusammenhang zu bringen und die Ergebnisse dieser Gedanken dem Rezipienten zu vermitteln, erscheint zunächst die Schrift als bewährtestes Mittel. Häufig vernachlässigt wird dabei – obwohl nahe liegend und plausibel –, dass die visuelle Komponente geringstenfalls gleichberechtigter Bestandteil im Verständigungsprozess ist. Dabei haben sich der Einfallsreichtum des Grafikdesigns über Street Art und Graffiti in die Städte eingeschrieben, über Medien und Anzeigen in unser Bewusstsein eingebrannt. Die Welt kommuniziert über Zeichen, Ikonographien, Piktogramme, Codes. Die Schriftsprache selbst, die, um eine Formulierung des amerikanischen Schriftstellers Kurt Vonnegut zu benutzen, durch eine »idiosynkratische Anordnung von sechsundzwanzig phonetischen Symbolen in waagerecht von links nach rechts verlaufenden Zeilen, zehn Zahlen und etwa acht Satzzeichen« charakterisiert ist, wird letztlich erst über das Grafikdesign wahrgenommen. William Addison Dwiggins (1880 – 1956), dem man nachsagt, den Begriff des ›Grafikdesigns‹ in den 1920er Jahren geprägt zu haben, zeichnet sich für die Gestaltung folgender Fonts verantwortlich: Caravan, Metro, Electra, Caledonia, Eldorado, Falcon. Inzwischen ist der Buchstabe selbst schon Zeichen, also Träger von Informationen, die entschlüsselt werden wollen. Eine »idiosynkratische Anordnung von sechsundzwanzig phonetischen Symbolen in waagerecht von links nach rechts verlaufenden Zeilen, zehn Zahlen und etwa acht Satzzeichen« ist demnach gar nicht mehr notwendig. Ein in bestimmter Form geschwungenes M verweist auf McDonald’s, eine eigens für Siemens nach den Regeln des ›Goldenen Schnitts‹ entwickelte Typographie lässt an jedem einzelnen Letter im Geschäftsbrief den Auftraggeber erkennen. Die Möglichkeiten sind vielfältig: In jedem Graphem steckt the whole way of life. Zeichen sind zu unserer alltäglich erlebten, diskursiven, gesellschaftlichen Wirklichkeit geworden. Dieser Entwicklung gerecht zu werden, wird sich in Zukunft ein eigenes Ressort im goon Magazin der Decodierung dieser Systeme annehmen, ohne unbedingt stets auf eine umfassende Erklärung zu zielen. Den hier publizierten Texten geht es schlicht um eine Aufschlüsselung von kulturellen Zusammenhängen und eigenen Prätexten. Doch die Zeichen sollen nicht nur aufgelöst werden; das Gleichgewicht wird gehalten, indem zukünftig auch den graphischen Elementen mehr Raum im Heft gegeben wird. So erscheint die aktuelle Ausgabe des goon Magazins mit vier unterschiedlichen Cover­Artworks, die Todd Coles Fotografie von Miranda July künstlerisch umspielen. Außerdem neu im Heft sind die vier Rubriken performativ, das dispositiv, white cubes und schnittstellen, die aktuellen Tendenzen in Theater, Poptheorie, Bildender Kunst und Videospiel nachspüren. Viele Veränderungen in kurzer Zeit, aber Balance ist kein statischer Zustand, sondern ein dynamischer Prozess. ®

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die redaktion

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OHYUN KWON

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ingredients no. 23

fetzen 8 Die Künstler der Ausgabe 23: Cover­Illustratoren  Bob London  Yuko Stier 10 Illustrative 2007  »Die feine Art des Saufens«  »All Allure« 9 Zoo York Skate Decks  Skurrile Filme 12 Medeamorphosen  Radiovisionen 2. Pornfilmfestival Berin 2007 14 material: Straßen­Schmuck 16 So klingt Berlin  Platten die mich geformt, gebildet, gebessert haben: Reinhold Friedl 17 7. Internationales Literaturfestival Berlin  Rocksäcke  OH! Videomagazin 18 Worauf man in diesem Herbst nicht verzichten kann: Shir Khan

»Unsere einzige Aufnahmeregel lautete: Keine Isländer.«

»Was ist die Quintessenz eines Tages komprimiert in vier Panels?«

Brent Knopf von MENOMENA über die Auswahlkriterien der Bandmitglieder Seite 22

Über Alltagspoesie bei JAMES KOCHALKA Seite 70

Gravenhurst s.26

Ballhaus Ost s.50

Adam Sandler s.68

Modetheorie s.86

töne

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zeichen

22 26 28 30 31 32

44 48 50 52 53 54 55

64 68 70 72 74 75 76 77

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Menomena Gravenhurst Young Marble Giants Hans Appelqvist Kettel Plastic Little

reviews 34 epiphany outlet 35 Mice Parade Valgeir Sigurðsson 36 Troy Pierce 37 Matt Elliott 38 beep street 39 People Last Step 40 Roam The Hello Clouds Alog 41 the relay

6  ingredients

Junge Verlage Post­pornographische Literatur Ballhaus Ost Fridolin Schley Nick Tosches Gottfried Benn Helmut Krausser

56 performativ 57 Kinski liest Kinski Sibylle Berg 58 Rob Sheffield William Boyd 59 Karl Otten 60 Frederick Philip Grove Yoko Tawada 61 das dispositiv

Miranda July Adam Sandler James Kochalka Marvel »Civil War« »Final Fantasy VI« Katastrophenszenarien Jörg Heiser Phoebe Washburn

78 white cubes 79 »Pop Art Book« Antonio Páucar 80 »Hors Pistes« 81 Fatih Akin »Auf der anderen Seite« Makoto Shinkai »The Place Promised In Our Early Days« 82 projectsinge »Monkey_Party« »Mario Party 8« 83 schnittstellen

Einleitung Modetheorie Blindheit bei Dea Loher Im Zauber der Zeichen

91 Street Art jitter – Magazin für Bildgestaltung 92 Robert Bresson Symbole der Macht 93 genealogie der superhelden Die Fantastischen Vier

standards 18 Impressum 94 termine im September, Oktober und November 98 kolumne

ingredients  7


K A R S T E N

heft-verschönerung

J A H N K E

K O N Z E R T D I R E K T I O N

G M B H

ASOBI Seksu SEKSU

Julie Hill

14.11. MÜNCHEN // MUFFATHALLE CAFE 16.11. BERLIN // ROTER SALON 17.11. KÖLN // GEBÄUDE 9 18.11. HAMBURG // MOLOTOW

Masako

25.11. 30.11. 01.12. 02.12.

Maxïmo Park

BoB lonDon

Jon Contino

coVerillustrationen

Ohyun Kwon

Für diese Ausgabe des goon Magazins sind vier inter­ nationale Illustratoren angetreten, um dem Cover (und Miranda July) ihre jeweils individuelle Note zu verleihen. Gemeinsam ist den Künstlern aus Asien, Deutschland und den USA dabei, dass sie angeben, den Zeichenstift in die Hand zu nehmen seit – eigentlich immer. Doch so ähnlich sie sich in ihrer Leidenschaft und Kreativität sind, umso unterschiedlicher fallen ihre individuellen Stile aus. masako (Japan / Singapur) ist mit ihren farbenfrohen, detailverliebten Zeichnungen nicht zum ersten (und hoffentlich nicht zum letzten) Mal im goon Magazin vertreten – in dieser Ausgabe zieren sie des Weiteren den Leitartikel des Worte­Ressorts. Die Blüten, hinter denen sie Miranda July hervorschauen lässt, kehren bei julie hill (Cincinatti, USA, www.80percent.com) auf nicht weniger farbkräftige, aber doch ganz andere Weise wieder. Mit dem Schatten junger Mädchenblüte hat jon contino (New York, USA, www.joncontino. com) hingegen nicht viel am Hut – stattdessen verziert er toDD coles Fotografie von July mit einer stylishen Farb­ sprenkel­Ästhetik. Und bei ohYun kWon (Berlin / Korea, www.ohyun.de) tritt dann die werte Leserschaft in den Vordergrund, wenn der Künstler seiner amerikanischen Kollegin ein mit klarem Strich skizziertes Manga­Publi­ kum an die Seite stellt – und sich gleich noch selbst per Tattoo auf deren Oberarm verewigt. Eine bunte Vielfalt unterschiedlichster Ansätze, in der sich die thematische wie stilistische Vielfalt des goon Magazins widerspiegelt!

Die Schönheit des zweiten Blicks – Bob London gibt unserem Heft eine seltsame Bilderwelt. Das Verstörende findet sich eigentlich überall im Schönen. Manches Mal auch andersherum. Bob Londons Portraits zumindest strahlen im ersten Moment, ergreifen mit einem Lächeln und weit geöffneten Augen. Beim zweiten Blick entpuppen sich diese aber als viel zu weit voneinander entfernt. Hohe Stirn und Skorbutzähne, Kat­ zenhaare und gelbe Arme. Dazu Hunde mit Hasenschar­ te und Übergewicht. Die schablonenhaften Figuren des Londoners erzählen eine obskure inzestuöse Familienge­ schichte im Kinderbuchstil. Bilder wie kleine süße Fieber­ träume, die letzten Endes alles andere als hässlich sind. www.boblondon.co.uk

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Yuko stier Ein Zeichenregen prasselt auf einen Gorilla mit Regen­ schirmchen herab, Schuhe und Sonnenbrillen hängen an der Wäscheleine, die Kasperlemaschine setzt sich in Gang und der Gramophonbusch singt mit dem Vögelchen um die Wette: Yuko Stier hat mit Humor und einer Hand für Feinheiten unser neues Ressort Zeichen illustratorisch aus der Wiege gehoben. Sie selbst ist stolze Berlinerin und hat in London und Kiel Kommunikationsdesign studiert. Gerade steht sie kurz vorm Diplom der Muthesius Kunst­ hochschule. Dort war sie dieses Jahr Mitherausgeberin der »Ultrazinnober Nr. 04 – Kontaminiert« und hat so ei­ niges abgesahnt: u.a. den ersten Platz bei den »TDC New York Student Awards 2007« und die ADC­Auszeichnung Printkommunikation: Bücher, Verlagsobjekte«.

16.10. 17.10. 18.10. 19.10. 21.10. 22.10. 23.10. 24.10. 26.10.

KÖLN // E-WERK HAMBURG // DOCKS AU SV ER K AU FT HAMBURG // DOCKS ZU SATZ SH OW BERLIN // COLUMBIAHALLE DRESDEN // SCHLACHTHOF WIESBADEN // SCHLACHTHOF STUTTGART // LONGHORN MÜNCHEN // TONHALLE WIEN // GASOMETER

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HAMBURG //MANDARIN KASINO BERLIN // VOLKSBÜHNE KÖLN // GEBÄUDE 9 FRANKFURT // BROTFABRIK

Gogol BordellO Bordello

12.11. FRANKFURT // BATSCHKAPP 25.11. MÜNCHEN // BACKSTAGE 27.11. BERLIN // MARIA 28.11. HAMBURG // UEBEL&GEFÄHRLICH 07.12. KÖLN // GEBÄUDE 9

THE HIVES 19.11. 20.11. 28.11. 30.11. 01.12.

HAMBURG // DOCKS BERLIN // COLUMBIAHALLE KÖLN // PALLADIUM WIESBADEN // SCHLACHTHOF MÜNCHEN // ZENITH

!!!

25.10. HAMBURG // KNUST 26.10. KÖLN // GEBÄUDE 9

INTERPOL

16.11. 17.11. 19.11. 24.11.

MÜNCHEN // TONHALLE BERLIN // COLUMBIAHALLE KÖLN // PALLADIUM HAMBURG // DOCKS

EDITORS

02.11. 03.11. 07.11. 08.11.

HAMBURG // UEBEL & GEFÄHRLICH BERLIN // POSTBAHNHOF MÜNCHEN // ELSER-HALLE KÖLN // LIVE MUSIC HALL

Joanna JoannA Newsom

11.09. HAMBURG // KAMPNAGEL - K2 13.09. FRANKFURT // DREIKÖNIGSKIRCHE 18.09. MÜNCHEN // MUFFATHALLE

SONIC SEDUCER

Wer alle vier Cover sammeln möchte, sollte eine Reise durch Deutschland starten, denn in jeder Stadt gibt es jeweils nur ein Cover.

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fetzen goon prÄsentiert

illustratiVe 2007

fetzen

Die feine art Des saufens »Besoffen zu sein, heißt, sich eloquent fühlen, ohne es aussprechen zu können.« So eine der ›77 Säu­ ferregeln‹ in Frank Relly Richs »Handbuch für den modernen Trinker«, das eine klaffen­ de Marktlücke schließt. Denn schließlich gibt es Ratgeberlite­ ratur zuhauf zu Sekundärthemen wie Katerbewältigung oder Alkoholentzug, aber noch keinen zuverlässigen Begleiter durch die unendlichen Weiten des gezielten Wirkungstrinkens. Dem schafft Rich mit sei­ nem Knigge für Komasäufer unterhaltsam und pragma­ tisch Abhilfe, von »Partyspielen für Leute, die keine Partyspiele mögen« bis zum »Zen des einsamen Trinkens«. Also los, es gibt keine Entschuldigung mehr: »Erobern Sie Ihr Wochenende zurück, indem Sie sich das Hirn wegsaufen!« Darauf einen Doppelten! »Die feine Art des Saufens. Ein Handbuch für den modernen Trinker« von Frank Kelly Rich, Tropen, Berlin 2007, 202 S., € 14,80

Der künstlerische Wert der Illustration tritt in der öffent­ lichen Wahrnehmung nicht selten hinter ihrem Nutzwert zurück. Als Randerscheinung mit der eher pragma­ tischen Aufgabe, einen Text zu ergänzen, zu unterstützen oder – buchstäblich – zu untermalen wird die künstleri­ sche Ausdrucksform häufig abgetan, als Gebrauchskunst gewissermaßen. Wie weit dies gefehlt ist, zeigen die jungen Künstler, die Zeichner, Designer und Grafiker, die ihre Arbeiten auf der Illustrative 2007 präsentieren. Nach der erfolgreichen Premiere im vergangenen Jahr macht es sich das Festival, das neben Berlin nun erstmals auch in Paris in einem umfangreichen Programm zeitgenössische Arbeiten von Künstlern aus den Bereichen Illustration, Grafikdesign, Comic, Buchkunst, Animation und Game Art zusammenstellt, zur Aufgabe, einen hierzulande einmaligen Überblick über aktuelle Tendenzen in sämtlichen Bereichen der angewandten Grafik zu bieten. Der Fokus reicht dabei von den detailverliebten Zeichnungen der russisch­ stämmigen, in London lebenden Vania Zouravliov (Bild oben) über die Pop­Art­Collagen Mario Wagners und minimalistische Radierungen von Frédéric Coché bis hin zum eher comichaften Stil des Berliners Benjamin Güdel. Die Ausstellung wird unter Garantie ein Forum für so manche interessante Neuentdeckung bieten – und anderes, vielleicht bereits aus anderen Kontexten Be­ kanntes, in einem gänzlich neuen Licht erscheinen lassen. Illustrative 2007, 31.8. – 16.9.2007, Villa Elisabeth, Berlin und 26.11. – 9.12.2007, Espaces comines, Paris

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all allure

Zoo York skate Decks

skurril: Die fantastischsten filme goon t s Verlo

Ende der Siebziger machte in den Straßen New Yorks eine Gruppe von Skateboardern und Graffiti­ Writern unter dem Namen »The Soul Artists of Zoo York« von sich reden. Es ging ihnen in erster Linie darum, »eine gute Zeit« zu haben und ihre Gefühle kreativ nach außen zu tragen. Gegründet 1993 von Rodney Smith und Adam Schatz vermittelt die Street Wear Marke Zoo York bis heute den urbanen Lifestyle vom »Big Apple« und die unzerbrechliche Attitude der East Coast. Nun präsentiert das Zoo York Institute eine Kollektion von Skate Decks voller Stolz die »Zoo York Artist Series III« mit Grafiken von innovativen Köpfen wie Eric Elms (alias Adorn), Nate Nedorostek, Bryan Collins, Pablo Medina (alias Cubanica), Jim Zbinden (alias Pulp68), AKA x Skuf und den Zoo York Hausdesignern Pete Panciera (alias Connect) und Damien Correll.

Als »Die fantastischsten Filme« kündigt 20th Century Fox nun eine Reihe von DVD­Editionen aus den Reihen »Hollywood Geheimtipp« und »Große Film-Klassiker« an – und zu den großen Klassi­ kern des phantastischen Kinos gehört sicherlich jene Adaption, die Terence Fisher 1959 dem Sherlock­Holmes­Standard »Der Hund von Baskerville« angedeihen ließ. Zwar nicht immer ganz werkgetreu – und stellenweise auch in blutrote Farbe getaucht –, überzeugt die Produktion der legendären britischen Hammer Studios durch eine außergewöhnlich dichte Atmosphäre sowie die grandiose Besetzung mit Peter Cushing und Christopher Lee. Zu gewinnen gibt es zwei DVDs im Paket mit dem Hörbuch »Die schwarze Sonne 1: Das Schloss der Schlange« (Lausch) nach einer Erzählung von Bram Stoker. Das beste Paket zum wohligen Er­ schauern, wenn die Nächte draußen wieder länger werden.

Eine ›stilvolle‹ Darstellung von Erotik und Sexualität als Kontrastprogramm zur Allgegenwärtigkeit nackter Körper in der Tri­ vialkultur hat sich der Bildband »All Allure« zum Ziel gesetzt – ein zunächst einmal eher spießig anmu­ tendes Unterfangen. Dankenswerterweise spielen die darin präsentierten Künstler aus den Bereichen Grafikdesign, Illustration und Fotografie da nur allzu selten mit. Kitschig­prätenti­ ös wird es somit nicht so häufig in »All Allure«. Stattdessen werden unterschiedlichste Ansätze, von der hochglänzenden Fetisch­Fo­ tografie über minimalistische De­ tailaufnahmen bis zur quietsch­ bunten Zeichnung im poppigen Comicstil, zusammengetragen, die in ihrer Bandbreite ein eindrucksvolles Spektrum junger visueller Kunst auffächern. »All Allure« von Robert Klanten, Hendrik Hellige & Sven Ehmann (Hgg.), Die Gestalten Verlag, Berlin / London 2007, 168 S., € 29,90

fetzen  11

Wir verlosen 2 Pakete mit DVD und CD. Einfach Mail an tombola@goon-magazine.de, Betreff: Wuff


fetzen goon prÄsentiert

MEDEAMORPHOSEN Medea ist »als einsame Heroin ein Monster und ein Star«. Die Adaptionen des antiken Mythos um eine je nachdem als Mehrfachmörderin, Hexe, Heilerin, Barbarin oder emanzipierte Frau bezeichnete und vereinnahmte Figur der Überschreitung entfalten sich im Spannungsfeld zwischen Licht und Finsternis, Liebe und Schuld. Spätes­ tens seit Hans Henny Jahnns ›schwarzer Medea‹, deren Kindermord vom Autor heroisiert wurde, erscheint sie im Kontext von Andersartigkeit und Fremdsein. In einer von Globalisierung und Xenophobie gleichermaßen ge­ prägten Gesellschaft, zwischen dem Anspruch einer uni­ versalen, ›humanistischen‹ Kultur und der Angst vor dem Fremden ist die Verbindung zu Medea virulent. Nicht zufällig hat die Zahl der Bearbeitungen dieses Mythos im letzten Jahrhundert stark zugenommen. In zwei Phasen widmet sich das Festival medeamorphosen interdisziplinär den Widersprüchen dieser faszinierenden und polariserenden Figur aus der griechischen Mytholo­ gie. Vom 15. bis 23. September und vom 13. bis 15. Okto­ ber finden in den Räumen des Radialsystem Berlin und an anderen Orten zwei Opern, Theatergastspiele, Lesungen, Konzerte, Workshops, Ausstellungen und ein Symposium statt. In einer langen Filmnacht werden am 29. Oktober

Fragen Sie uns Löcher in den Bauch! foto: mario tursi

neben dem bekannten Pasolini­Film mit Maria Callas in der Hauptrolle auch zwei Raritäten – Lars von Triers und Theo van Goghs »Medea«­Adaptionen zu sehen sein. Damit dürfte sich das Radialsystem unter der Leitung von Sasha Waltz, Jochen Sandig und Folkert Uhde endgültig als transdisziplinärer Veranstaltungsort etablieren, der über die verschiedenen Künste hinaus auch langfristig den Dialog mit den Neuen Medien und Wissenschaften sucht. aha »medeamorphosen. Ein Fest für die Künste«, 15.– 23. September 2007, Staatsoper Unter den Linden / Radialsystem V und vom 13. Oktober – 15. November 2007, Radialsystem V www.radialsystem.de

goon prÄsentiert

raDioVisionen Während Bertolt Brecht 1917 darüber nachdachte den Rundfunk von einem Distributions­ apparat in einen Kommunikationsapparat zu überführen, der statt einiger weniger alle sprechen mache, überlegte sich Walter Benjamin Ende der 1920er Jahre die Folgen dieser Veränderung: »Damit ist die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum im Begriff ihren grundsätzlichen Charakter zu verlieren« verlieren«. Dass Brecht und Benjamin damit bereits die Idee und wesentliche Sonderbarkeit des Web 2.0 vorausdeuten würden: Wer konnte das ahnen? Über das Radio nachdenken heißt also auch die Neuen Medien verstehen lernen; die Vergangenheit begreifen, um die Zukunft zu sehen. Das weiß auch die Veranstaltung Radiovisionen, die sich in Gesprächen, Vorträgen, Präsentationen mit dem Ende des Radiovisionen Radios und seiner Zukunft auseinandersetzt. So stay tuned. sh foto: maison d’ailleurs

Radiovisionen – 250 Jahre Radio, vom 5. bis zum 31.10.2007 jeweils im TESLA, mehr Infos: www.radiovisionen.de

goon prÄsentiert

2. pornfilmfestiVal Berlin 2007 Nach einem viel versprechenden Auftakt im letzten Jahr geht das Berliner Pornfilmfestival Ende Oktober in die zweite Runde. Erneut soll der Frage nachgegangen werden, wie sich ein verfemtes Genre zwischen Kommerz und dem Bestreben nach einer künstlerischen Ausformulierung zu behaupten weiß, und erneut präsentiert das Programm unter­ schiedlichste Ansätze zur Beantwortung, die zwischen Experimentalfilm und nur leicht verbogenem Pornomainstream oszillieren. Außerdem bietet das diesjährige Festival einen Kurzfilmwettbewerb (Bild links: »The Age of Ignorance«), einen Themenschwerpunkt zum Sexbusiness sowie eine ausführliche Reihe mit Klassikern des pornographischen Films, die das schon im letzten Jahr beeindruckend breite Spektrum noch einmal erweitern. Auf geht’s, damit es ein heißer Herbst wird! jw 2.Pornfilmfestival Berlin, 24. – 28.10 in den Neuen Kant Kinos und den Lichtspielhäusern Eiszeit und Xenon 12  fetzen

Apple MacBook inkl. Beratung ab 1.029,00 Euro Jede Frage ist erlaubt! GRAVIS Mitarbeiter beantworten Ihnen jedes Was, Wie und Warum – kompetent, aber ohne Besserwisserei. Zum Beispiel zum neuen faszinierend schönen und schnellen Apple MacBook. Kommen Sie vorbei, und probieren Sie es aus! Ganz in Ihrer Nähe und im Internet: www.gravis.de

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rocksÄcke goon unterstÜtZt

»Wir brauchen Innovation« und »wir machen einen Musikkongress mit Berliner Charme« waren die visionären Äuße­ rungen, die auf der diesjährigen Indiemusik­Messe (Pop Up in Leipzig über die Gänge schallten. Tatsächlich hat das Team von SO KLINGT BERLIN seine ehrgeizigen An­ kündigungen in die Tat umgesetzt und veranstaltet nun seinen ersten Kongress im Oktober. Neben einer zweitä­ gigen Fachmesse, auf der Ausbildungsstätten, Labels und Vertriebe präsent sein werden, steht ein umfangreiches Workshop­ und Talkangebot im Mittelpunkt der Veranstal­ tung. Dabei reichen die Themen von »Berufswunsch Mu­ sikbranche« bis hin zu Lobbyarbeit im Indie­Bereich und bringen so aktuelle Diskurse der Branche auf den Punkt. SO KLINGT BERLIN ist ein Projekt von Studenten der L4 und der UdK Berlin und entstand 2005 mit dem

platten Die mich geformt, geBessert unD geBilDet haBen text: reinhold friedl

Die ersten Schallplatten mit acht Jahren: Mozart Violinkonzerte mit Wolfgang Schneyderhahn, einem wunderbar widerlichen Geiger. Als ich ihn schließlich live hören konnte, signierte er mit Kugelschreiber auf der Papierhülle, in der die Platte lag: der erste Kratzer. Mutter aber hatte David Oistrach, den Geiger, und das zweite Vi­ olinkonzert von Schostakowitsch, dass ich mir endlos auf dem Fußboden, den Kopf zwischen den Boxen liegend, anhörte: Mahlersche Klangspreizung mit wunderbar tiefen Bässen gegen Piccolo­Flöten – die Vorwegnahme 16  fetzen

Ziel, die Berliner Musikszene zu vernetzen. Auf ihrer Homepage findet man nicht nur alle Infos zum Kongress und zum Bandwettbewerb, sondern auch die nunmehr größte Datenbank der Szene. »Mit dem Kongress und dem Bandwettbewerb wollen wir SO KLINGT BERLIN wieder auf eine physische Ebene bringen. Für Austausch und Vernetzung ist das direkte Gespräch immer noch am wichtigsten«, sagt Johannes Lenkeit vom Projektteam. Daneben ist den Organisatoren studentische wie musikalische Nachwuchs­ förderung und der Berlinbezug sehr wichtig, »denn die raue Urbanität und der Berliner Charme sind einzigartig.« Der Kongress von SO KLINGT BERLIN findet am 13. und 14.Oktober im EnergieForum Berlin statt und wird unterstützt vom goon Magazin. Mehr Informationen unter www.soklingtberlin.de

elektronischer Musik. Jazz: nach Glenn Miller, kaum haltbar, Charlie Parker, die 1947­sessions. Vierzehnjährig in München gekauft, beim gleichen Einkauf wie Strauß’ »Fledermaus«. Klavierplatten: vor zweihundert Leuten in der Vor­ lesung Joachim Kaisers zur Strafe aufstehen, begründen warum Glenn Gould (das Wohltemperierte, die Partiten, der provokative Beethoven) besser ist als Barenboim. Die fmp­Pianisten, Keith Tippets »mujician« und Martin Theuers »Traum der roten Palme«, als Jugendlieben. Die Elektronik­Platten: Xenakis »concret PH« auf »electronic works«, Stockhausens »Studie 2« auf »elektronische Musik« und Steve Reichs »early works«. Das Dreige­ stirn! Und dann fing meine Lehre an bei Manfred Klauß in Berlin, der im Osten lange wegen falscher Platten im Knast gesessen hatte und mich mit guten Platten erzog, angefangen mit der RZ­Edition, Spahlinger, Lachen­ mann, Christou, Radulescu usf. Er tut es heute noch! Und ich versuche mich zu bessern und zu bilden. Mein größter Treffer aber blieben bisher die Karajan’schen Weber­Ein­ spielungen, göttlich!! Keiner glaubt’s mir, bevor er’s hört; danach bisher jeder. Reinhold Friedl, *1964. Komponist, Pianist, Ensembleleiter. Studierte Mathematik, Musikwissenschaften, Klavier: Spezalist für avancierte Spieltechniken, »Inside-Piano«. Leitet zeitkratzer, das eigenwilligste und international erfolgreichste deutsche Avantgarde-Ensemble. Friedl arbeitete mit Musikern wie Keiji Haino, Elliott Sharp, Lee Ranaldo (Sonic Youth), Phill Niblock, Merzbow, Carsten Nicolai, zahlreiche Rundfunk- und CD-Aufnahmen. Soeben sind die zeitkratzer-Interpretation von Lou Reeds »Metal Machine Music« (feat. Lou Reed) und Reinhold Friedls »Xenakis [a]live!« bei Asphodel erschienen

William Perdomo

© privat

7. internationales literaturfestiVal Berlin Leipzig und Frankfurt a.M. haben ihre alljährlichen Buchmessen – Berlin hat das internationale literaturfesti­ val. Soviel verschiedene Literaturen an einem Ort versam­ melt findet man selten und einer der wenigen Nachteile dieses bereits fest etablierten Literatur­Events hat ganz sicher damit zu tun: Es ist das Gefühl des Zu­Kurz­Kom­ mens. Bei einer Liste von gut 150 Autoren verteilt auf dreizehn Festivaltage bleiben so manchem oft nicht mehr als 15 Minuten für seine Lesung. In Anbetracht vieler unbekannter Namen muss man befürchten, dass der eine oder andere große Autor im Meer internationaler Stars und Newcomer schlicht untergeht. Hoffen wir, dass es William Perdomo nicht so geht, über den es heißt, dass seine Performances fast genauso wichtig sind wie seine Gedichte. Der »New York City Poet for the People« liest am 8. September im Rahmen der Poetry Night III zusam­ men mit Albert Ostermaier und sechs weiteren Gästen aus Indien, den USA, Australien und Deutschland. Für Perdomo, der seine Gedichte im wahrsten Sinne »for the People«, im Idiom East Harlems verfasst, ist gute Poesie offen für alles, aber immer politisch; seine Studenten der Friends Seminary und Bronx Academy of Letters hält er deshalb an, über das zu schreiben, »what’s going on in the world«. Seine Bücher »Where a Nickel Costs a Dime« (Norton, 1996) und »Smoking Lovely« (Rattapallax, 2003) sind hierzulande noch nicht erschienen – ein echtes Manko, denn seine Poems sind packend, drastisch und entwickeln einen eigenen Drive. »My eyes are buried inside this poem’s / avenue like peeping tom traffic / lights checking out last night’s / rite of passage / painting a dog / chasing a cat with a jungle / boogie beat down for his ass […]«. 7. internationales literaturfestival berlin, vom 4.-16. September 2007 im Haus der Berliner Festspiele William Perdomo liest zusammen mit anderen Autoren bei der Poetry Night III am 8.9., 19 Uhr www.literaturfestival.com

Frei nach der Devise »Rock on for a good cause!« prä­ sentiert Eastpak diesen Herbst eine weitere Kol­ lektion ihrer streng li­ mitierten »Rockbags«. Nach Ozzy Osbour­ ne, Lemmy Kilmis­ ter und Slash greifen jetzt The Hives, The Pro­ digy und die Kaiser Chiefs ins Desi­ gnerkästchen, um im Sinne des derzeit in der Rockszene herrschenden Charity­Zeitgeistes wohl­ tätige Gestaltung zu leisten. Herausgekommen sind dabei drei einmalige Exponate der kollektiven Bandmusikersee­ le: The Prodigy lassen unter der paranoiden Aufforde­ rung »Pay close attention« alptraumhafte Neon­Ameisen über den Rücken krabbeln; die Kaiser Chiefs lassen ihren schizophrenen Tendenzen mit einem Schuss Minderwer­ tigkeitsgefühlen in einem Gespräch zwischen Hund und Katz freien Lauf: »Woof. Miow. I am not that bad if you get to know me«; und The Hives präsentieren ihr Aufmerk­ samkeits­Defizit­Syndrom in vollem Glanz und Gloria. Die Rucksäcke sind für € 49,99 ab September 2007 in einer Auflage von 3.000 Stück erhältlich, einzeln nummeriert und mit einem signierten Band-Label versehen. 10% des Verkaufspreises kommen einer von den Künstlern gewählten wohltätigen Vereinigung zugute. www.eastpak.com

oh! Das ViDeomagaZin Wer hat sich nicht schon einmal die Grundsatzfrage gestellt, was in aller Welt man eigentlich mit all der schönen Demokratisierung im Web 2.0 anfangen soll, wenn die gelegentlich hochspannenden user generated contents zwischen schierem Unfug und der überzeugten Selbstdarstellung mäßig interessanter Menschen verloren gehen? An dieser Stelle kommt nun Alain Bieber ins Spiel, der sich mit der Gründung des redaktionell betreuten Videomagazins OH! der Sisyphusarbeit gestellt hat, das Beste und Interessanteste aus dem information overflow herauszufischen. Um fiktive wie dokumentarische Kurzfilme geht es da, um Video­ kunst oder um Musikvideos, und tatsächlich ist OH! eine Fundgru­ be für Originelles, Experimentelles und Abseitiges zwi­ schen Künstler­ und Bloggersze­ ne. Web 2.1, sozusagen. www.ohtv.de

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fetzen Worauf man in Diesem herBst nicht VerZichten kann

impressum herausgeber ® media e.V. Sebastian Hinz, Postfach 12 69 29, 10609 Berlin sebastian@goon­magazin.de

goon

... erklÄrt Dj shir khan

redaktion Astrid Hackel, Sebastian Hinz (ViSdP), Zuzanna Jakubowski, Jens Pacholsky, Jochen Werner Email: vorname@goon­magazin.de schlussredaktion Mareike Wöhler

text, interview: elsa van heijnsbergen foto: gene glover

art direction & gestaltung Daniel Rosenfeld  layout@goon­magazin.de

Kein DJ in Berlins näherer Umgebung kann derzeit den musikalischen Eklektizismus der Großstadt mit die­ sem Verve in ein nicht erlöschendes Feuerwerk verwan­ deln. Dabei ist Jan Simon Spielberger als Shir Khan kein Kraut&Rüben­DJ, sondern pickt sich sehr gewählt seine persönlichen Favoriten aus den Bereichen Fidget House, Bassbin, Baile Funk, Baltimore Club, Elektro, Techno, Acid, Neo­Disko, Hip Hop, Mash­ups heraus, und kreiert dabei einen Sound, der das Gegenteil der von Minimal Techno regierten Afterhour­Kultur der Hauptstadt ist: MAXIMAL.

controlling & cash-management Falk Stäps  falk@goon­magazin.de

Was zeichnet eigentlich einen guten DJ aus? Man muss wissen wie Spannung aufgebaut wird, wie man das Publikum in Ekstase versetzt. Ich mische Dinge zu­ sammen, die auf den ersten Blick vielleicht nicht zusam­ mengehören, Techno und HipHop zum Beispiel. Damit will ich das Publikum in gewisser Weise auch musikalisch nach meinem Geschmack erziehen. Ein gutes DJ­Set ist für mich eine Melange aus Selektion, Dynamik, Skills – gepaart mit Mut zu Neuem. Umso weiter die Genres auseinanderklaffen, umso schwieriger wird es deepness zu erzeugen. Wer das beherrscht – trotz mannigfaltiger Aus­ wahl – ist ein guter DJ. Gibt es einen Unterschied beim Auflegen im Herbst, im Gegensatz zu anderen Jahreszeiten? Also ich glaube, die Songs im Herbst sind etwas luftiger und windiger. Vielleicht nicht immer ganz so griffig... dafür sind die Übergänge in neue Bereiche fließende. Der Sommer ist dagegen greifbarer, klarer strukturiert, bestimmt auch fröhlicher und voll ekstatischer Schwin­ gungen. Der Winter ist eher deep. Auf welche Platten darf man also beim Auflegen in diesem Herbst nicht verzichten? Breakbot »Happy Rabbit« (Moshi Moshi 2007) Bonde Do Role »Office boy« (Shir Khan Rmx, Domino 2007) Adam Sky vs. Mark Stewart »We Are All Prostitutes« (Crookers Rmx, Exploited 2007) Al Haca »Banana Split« (Meta Polyp, 2007) »Shir Khan – Maximize« von DJ Shir Khan ist bereits bei Exploited / Groove Attack erschienen

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abonnementverwaltung & vertrieb Jens Pacholsky  abo@goon­magazin.de anzeigenleitung & marketing Stefan Gerats  anzeigen@goon­magazin.de Es gilt die Anzeigenpreisliste I/2007 internetauftritt Daniel Rosenfeld  layout@goon­magazin.de Stefan Gerats  stefan@goon­magazin.de Sebastian Munz  slade.de/projekte titelbild Fotograf: Todd Cole, Stylist: Jennifer Johnson Illustrationen: Jon Contino, Julie Hill, Ohyun Kwon, Masako Sawayama Desweiteren danken wir ihrer Mitarbeit: Sibylle Berg, Walter W. Else, Constantin Falk, Frank Geber, Jonas Gempp, Dan Gorenstein, Antony Hare, Cornelis Hähnel, Elsa van Heijnsbergen, Olaf Heine, Renko Heuer, Andreas Huth, Tilman Junge, Kaneda, Ireneusz Kmieciak, Anne Kraume, Patrick Küppers, Brock Landers, Caroline Lang, Susanne Lederle, Dr. Gertrud Lehnert, Ganår Linsson, Kurt Mohr, Sabine Lenore Müller, Stefan Murawski, Alessandro Pautasso, Robert Pick, Matthias Penzel, Konrad Roenne, Kerstin Roose, Fabian Saul, Julia Saul, Annika Schmidt, Nina Scholz, Alexander Schubert, Sabrina Schulze, Markus von Schwerin, Eileen Seifert, Martin Silbermann, Yuko Stier, Lea Streisand, Falko Teichmann, Robert Wenrich Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck – auch nur auszugsweise – darf nur mit vorheriger und schriftlicher Einwilligung der Redaktion erfol­ gen. Alle Urheberrechte liegen bei der Redaktion, sofern nicht anders angegeben. Die Urheberrechte der Artikel, Fotos und Illustrationen blei­ ben bei den Verfassern, Fotografen und Illustratoren. Für unaufgefordert eingesandtes Material aller Art wird weder Verwendung garantiert noch Verantwortung übernommen. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Mei­ nung der Redaktion wieder. Für ihre Artikel übernehmen die Autoren die presserechtliche Verantwortung. Wir behalten uns vor, unvollständig eingesandte Promos, gebrandte CD­ Rs, gefadete, geaudiostampte und sonst wie ungenügend aufgemachte CDs nicht oder entsprechend unzulänglich zu besprechen. Für eine re­ präsentative Kritik ist das komplette Artwork essenziell, ist ein finished product die Mindestanforderung. Wir sind nicht in erster Linie Dienst­ leister, sondern fanatisch Besessene. leserbriefe post@goon­magazin.de

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 www.publicity­werbung.de Erscheinungsweise: vierteljährlich Das nächste Heft erscheint im Dezember 2007.


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»Mein liebstes HipHopKlischee ist definitiv ›Keep It Real‹. Allerdings ist ›Nigga Please‹ auch nicht übel.« Jayson Musson von PLASTIC LITTLE über Rap­Konventionen Seite 32

»Viele Leute meinen, dass die Art wie ich singe und das, worüber ich singe nicht zusammen passen. Ich kann das nicht verstehen. Es kommt einfach nicht anders aus mir heraus.« Mehr von GRAVENHURST Seite 26

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Menomena Gravenhurst Young Marble Giants Hans Appelqvist Kettel Plastic Little

reviews 34 epiphany outlet 35 Mice Parade Valgeir Sigurðsson 36 Troy Pierce 37 Matt Elliott 38 beep street 39 People Last Step 40 Roam The Hello Clouds Alog 41 the relay

Illustration: BOB LONDON


text: renko heuer fotos: constantin falk

»Anemonem ot gninetsil rof uoy knaht.« brent knopf

Unterwegs zum Ambigramm menomena lautet der komische Namen des vielleicht nächsten großen Dings aus Amerikas heimlicher Musikhauptstadt Portland. Doch Erfolg ist kein konkretes Thema für das Trio, die Gedanken drehen sich eher um schräge Wortspiele, Linda Evans, kontextfreie Grammatik und verspiegelte Pitchfork­Groupies

Wer seinen Bandnamen an ein apokryph­kindisches Wortgebilde aus dem Muppets­Kosmos (»Mah­Nà­Mah­Nà«) anlehnt, kann kaum alle Tassen im sprichwörtlichen Schrank haben. Doch ticken die bandinternen Uhren bei Menomena (sprich: s.o.) grundsätzlich anders: Schon mit ihrem Debüt (2003) ging es Brent Knopf (Gitarre, Keys, Glockenspiel, Gesang), Justin Harris (Gitarre, Bass, Saxophon, Gesang) und Danny Seim (Drums, Ge­ sang) hauptsächlich darum, ein Anagramm auf »The First Me­ nomena Album« zu finden (was zum Titel »I Am The Fun Blame Monster« führte), während sie zugleich epische Booklets und CD­ Hüllen in labelbefreiter Heimarbeit anfertigten, u.a. damit einen ersten Hype auslösten, nur um mit ihrem zweiten Album dann eine gänzlich andere Route einzuschlagen: Der erste Digi­Fame verlor sich wieder im formatgetreuen Wind der Erwartungshal­ tungen, als mit »Under An Hour« (2005) plötzlich ein Instrumen­ talalbum erschien, das in erster Linie als Soundtrack für eine Dance­Performance in ihrer Heimatstadt Portland fungierte. Bezeichnend ist zudem, dass die dreiköpfige Crew schon seit ihrer Gründung im Jahr 2000 die Grenzen gewisser ungeschrie­ bener Indie­Regelwerke überschreitet, denn ihre Songs beruhen keinesfalls auf introspektiven Shoegazer­Überlegungen oder eks­ tatischen Gruppen­Sessions. Stattdessen sind es Unmengen von spontan und vor allem multiinstrumentalistisch entstandenen Klangschnipseln, die sie erst später mit ihrem eigenhändig pro­ grammierten Deeler / DLR­Programm in weitschweifige Songs verwandeln. Gelernt werden die fertigen Stücke folglich erst nach ihrer eigentlichen Geburt am Bildschirm, damit auch die Live­Show stimmt. Dieser Tage legen die City Slang­Neuzugänge mit »Friend and Foe« bereits ihr drittes Album vor, wobei sie un­ fassbar große und fast schon orchestral­filmische Pop­Momente in dezent­abstruse Indie­Schräglage (à la Grizzly Bear, Depart­ ment of Eagles, TVOTR, Los Lobos) überführen und sie sogar mit befreundeten Chor­Einlagen oder Fähnlein­Fieselschweif­ Pfeifereien verquirlen. Da gibt es also einiges zu klären im Ge­ spräch mit Quasi­Mastermind und Teilzeitsänger Brent Knopf. Man könnte meinen, Portland sei die neue Bay Area… Fühlt es sich auch so an, wenn man dort lebt? Portland ist in der Tat ziemlich fantastisch, weil unglaublich viele Leute einfach die richtige Motivation haben. Anstatt im knallhar­ ten Konkurrenzkampf zu stehen, kann man sich in Portland im­ mer darauf verlassen, dass Zusammenhalt und gegenseitige Un­ terstützung wichtiger sind als alles andere. Ein Beispiel: Freunde aus mindestens sieben unterschiedlichen Bands aus Portland haben an unseren Chor­Sessions mitgemacht, als wir die Release­ Party von »Friend and Foe« veranstaltet haben. Was sicherlich für die besondere Energie und den Zusammenhalt in dieser Region spricht. Es fühlt sich super an, Teil dieser community zu sein. Und wie war die Szene von Portland früher, als ihr noch die Schulbank drücken musstet? Unseren ersten Kontakt mit der Musikszene von Portland hatten wir durch einen Club namens The Push. Das war so ein Laden, in dem hauptsächlich Rockbands aus dem ›Christian Alter­

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native‹­Sektor aufgetreten sind, in der Regel sogar vor einem Publikum ohne Altersbeschränkung. Aber die Shows waren perfekt: stets ausverkauft, gute Mosh­Ac­ tion und Crowd­Surfen ohne Ende. Das war ungefähr zu der Zeit, als die ganze Welt nach Seattle geschaut hat.

gramm, das für Alternativantworten steht. Du musst die Buchstaben nur so lange durcheinander würfeln, bis die­ jenige Antwort herauskommt, die dir am besten gefällt.

Verstehe. Ihr seid ja inzwischen ganz schön groß. Gab es eine Regel, laut der nur Leute über 1,85m der Band beitreten durften? Das nicht. Unsere einzige Aufnahmeregel lautete: Keine Isländer.

Ich mochte zum Beispiel eure Antwort, in der ihr gesagt habt, dass euer Sound wie eine Mischung aus Marilyn Manson und Hanson klingt, um nicht immer als »das weiße Pendant zu TV On The Radio« bezeichnet zu werden. Siehst du das noch immer so? Inzwischen finde ich »Menomena klingen wie ein weißer Robbie Williams« besser.

Warum auch? In was für Bands habt ihr denn vorher gespielt, vor dem Jahr 2000? Ich habe in den späten 1990er Jahren einen Typen na­ mens DJ Tokin’ als Manager begleitet. Er war Freelance­ DJ für Nu­Metal­Bands. Bis er dann leider an einer Gras­ Überdosis gestorben ist.

Ich hätte jetzt auf Linda Evans als neueste Referenz getippt... Da hast du einen Punkt. Sie ist einfach die krasseste Play­ boy­Poserin, hat nicht nur ihren Stern in Hollywood, son­ dern gehört auch zur Ramtha­Sekte. Müsste ich mir ein Tier aussuchen, als das ich wiedergeboren werden könnte: Ich wäre ein Bonobo­Affe, der wie Linda aussieht.

Und was war mit den Gay Lon Mabons? Stimmt, das war eine frühere Band. Nun, in Oregon be­ deutet ›Lon Mabon‹ etwa ›Long Man­Boner‹, also Rie­ senständer. Folglich haben wir nur Coverversionen von Erasure gespielt. Jetzt mal ernsthaft: Wie ging’s mit Menomena los? Also gut, Danny und Justin hatten früher eine vierköpfige Band, das war in den späten 1990er Jahren. Irgendwann habe ich mich ihnen vorgestellt, mit dem Hintergedanken, einfach als fünftes Mitglied einzusteigen. Was allerdings nie passiert ist. Als sie ihre einstige Band im Jahr 2000 dann auflösten, gründeten wir kurze Zeit später Menomena. Und zeitgleich hast du doch auch ein Musical geschrieben, als Abschlussprojekt für die Uni? Ja, das handelte von der Erfolgsgeschichte einer ausran­ gierten Hure, die ihr Glück schließlich darin findet, ihre Kundschaft zu essen. Die Inspiration kam wohl von meiner Zeit an der Westlake Christian High School und der exakte Titel lautete »Little Shop of Whores« – bezeichnend, oder? Allerdings. Stimmt es, dass du an der besagten Schule einen Talentwettbewerb gewonnen hast? Ja, das stimmt. Ich habe den zweiten Platz gemacht, in der Kategorie ›Levitikus aus dem Stegreif aufsagen‹. Wie passend! Schließlich werdet ihr ja auch gerne fälschlich als Christen-Rock eingestuft... Ist das so? Nun, hör mal zu: Wusstest du, dass die Buch­ stabenfolge ›non‹ rückwärts betrachtet immer noch ›non‹ ergibt? Die Worte sind identisch! Wie bitte kann das Ge­ genteil plötzlich exakt dasselbe sein? Wärst du nie drauf gekommen, oder? Unwahrscheinlich. Früher fandet ihr Anagramme aber scheinbar spannender als Palindrome – gibt’s ein neues Lieblingsanagramm, von dem du berichten kannst? Klar doch, allerdings in keiner Sprache, die dir etwas sa­ gen würde. Außerdem ist jede meiner Antworten ein Ana­ 24  töne

»Wir fühlen uns eigentlich genauso, wie Axl Rose sich gerade fühlen muss.« Abgesehen von Linda – mit was für Dingen habt ihr euch denn hauptsächlich beschäftigt, als ihr das neue Album aufgenommen habt? Die Kernfrage war wohl: Was tut man, wenn man je­ manden liebt, der einen aber nicht ausstehen kann? Nun, Gegenfrage: Hängt damit auch zusammen, dass es so viele Wasserreferenzen auf »Friend and Foe« gibt? Sind es Tränen? Danach werden wir häufiger gefragt. Ich glaube eher, dass es an dem Keller liegt, in dem wir das Album aufgenom­ men haben, weil der im Vorjahr Opfer einer Überschwem­ mung war. Ich hatte danach jedes Mal Angst, wenn es zu regnen begann. Und in Portland regnet es andauernd... ... dafür gibt es dort aber auch das kreative Umfeld, das du eingangs schon erwähnt hast. Wie kam es eigentlich zu der Zusammenarbeit mit der Tanzgruppe, dessen Ergebnis dann auch als euer zweites Album veröffentlicht wurde? Die Choreographin Tahni Holt hat uns damals einfach angesprochen. Ihr Plan war es, dass wir die Musik für eine Modern­Dance­Performance mit dem Titel »Under An Hour« schreiben. Wir haben sofort zugesagt – und in­ direkt unser zweites Album aufgenommen. Als wir dann mit den Aufnahmen zu »Friend and Foe« begonnen haben, kam uns schon früh die Idee, dieses Mal mit einem Chor zu arbeiten. Und zum Glück hat Justin so ein grandioses Händchen darin Leute anzuleiten. Und wie lief das Songwriting dieses Mal ab? War Deeler / DLR wieder das Zentrum eures Schaffens? Ja, Deeler / DLR hat wiederum eine zentrale Rolle gespielt. Wir erfinden Loops und schichten sie dann mit der Soft­ ware, die wir ja bekanntlich selbst programmiert haben. Aus den Ideen bauen wir dann Grundgerüste für Songs,

die dann im nächsten Schritt mit Gesang und weiteren Melodien aufgepäppelt werden. Dann finden wir nor­ malerweise raus, dass es so gar nicht geht, und dann wird gestritten und hinterm Rücken der anderen viel geän­ dert, bis sich einer betrogen fühlt und uns irgendwann der Angstschweiß aus den Poren schießt, weil die Platte plötzlich schon wieder sechs Monate zu spät ist und uns klar wird, was für Loser wir eigentlich sind – wirklich! – da muss man nur an Led Zeppelin denken, die »I« und »II« in einem verkackten Jahr veröffentlicht haben, und war­ um soll man da überhaupt noch mithalten wollen... Klingt anstrengend. Was also gefällt dir nicht an euerem Sound? Wir klingen viel zu kommerziell. Aber stimmt es trotzdem, dass ihr immer noch keinerlei Groupies habt? Nun, Groupies lassen sich nur mit Bands ein, die bei Pitchfork­Bewertungen über die 9.0er­Grenze kommen. Battles haben daher wahrscheinlich momentan über­ haupt keine Zeit mehr für ihre Musik. Daran liegt es wohl auch, dass inzwischen jede einzelne Wand bei ihnen ver­ spiegelt ist. Früher habt ihr alles im Alleingang gemacht, selbst die Herstellung der CD-Verpackungen. Wie fühlt es sich an, plötzlich auf einem ›richtigen Label‹ zu sein – und nun auch mit Erwartungshaltungen der Fans konfrontiert zu werden? Wir fühlen uns eigentlich genauso, wie Axl Rose sich ge­ rade fühlen muss.

»Müsste ich mir ein Tier aussuchen, als das ich wiedergeboren werden könnte: Ich wäre ein Bonobo-Affe, der wie Linda Evans aussieht.« Zudem habt ihr kürzlich ja schon eure Reunion-Tour für das Jahr 2112 angekündigt. Was genau ist da geplant? Höchstwahrscheinlich werden wir uns im Rahmen der Tour verstärkt mit Palindromen auseinandersetzen. Die Band, für die wir im Vorprogramm spielen werden, heißt Anemonem – und sie spielen unsere Songs dann rück­ wärts. Non! Wovon träumst du eigentlich sonst so? Von viel Schokolade, Sex, Muppets und Karate. Und abschließend: Wie steht’s mit deiner Kellner-Karriere? Alles in Butter? Ich hoffe nach wie vor, dass ich irgendwann die Musik an den Nagel hängen kann, um mich komplett auf meine Karriere als Servicekraft konzentrieren zu können. »Friend and Foe« ist bereits bei City Slang / Rough Trade erschienen

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text: jens pacholsky :: beep street

Die sanfte Traurigkeit des Nachgeborenen Mit »The Western Lands« geben sich graVenhurst der halluzinogenen Melancholie hin und präsentieren die geeinte Essenz ihres bisherigen Schaffens

text, interview: fabian saul foto: adam faraday

Was nach einer Dreiviertelstunde bleibt, ist zunächst ein­ mal dieses Gefühl der runden Sache. Jede Minute dieses Werks kennt auch die Minuten davor und die, die da noch kommen werden. An jedem einzelnen Punkt, so hat man das Gefühl, existiert jeder andere bereits. Wenn Nick Tal­ bot im Opener »Saints« abschwörend »maybe god is desperate too« dahin flüstert, weiß er genau, dass er am Ende »so here is justice« konstatieren wird. »The Western Lands« ist genau genommen keine Sammlung von Songs, sondern ein eigenes Stück an sich. Ein Bild mit seinen Bildpunkten. Getragen von der wun­ derbar hallig­diffusen, aber dennoch nachdrücklich­kon­ kreten Stimme Nick Talbots gleitet man von einem Song in den nächsten, ohne dabei Monotonie oder gar Gleich­ gültigkeit zu verspüren. Seine Stimme ist hier vielmehr das Tuch, das sich über alles Instrumentale legt und alle Töne, Klänge, Geräusche eint. Der erste Eindruck, es könnte sich bei Gravenhurst um Talbot, der alle Songs schreibt und textet, mit einigen Begleitmusikern handeln, ist aber gänzlich an der musika­ lischen Realität einer Platte wie »The Western Lands« vor­ beigedacht. Die eigentlichen Reibungsflächen entstehen dort, wo Talbot gewaltvolle Texte in den Raum bläst und die Band, als wäre da nichts gewesen, harmonisch­choral Schlagzeug und Gitarren erhebt. Und auch dieser Kon­ trast wird wieder konterkariert von den Geräuschen, die bei den teilweise sessionartigen Stücken zwischen den Ins­ trumenten, zwischen den Arrangements entstehen. »Viele Leute meinen, dass die Art wie ich singe und das, worüber ich singe nicht zusammen passen. Ich kann das nicht verstehen. Es kommt einfach nicht anders aus mir heraus.« Talbot bringt sowohl inhaltlich, wie im Sandy Denny gewidmeten »She Dances«, als auch musikalisch die Folk­ Musik der 1960er Jahre ins 21. Jahrhundert. Seine Texte, zwischen Selbstvergessenheit und tiefer Depression, er­ heben all diese tief verwurzelten Elemente dann aber in psychedelische Höhen. Sie beginnen zu schweben und müssen es gar, können sie doch erst so vereint werden. »Ich mag es, wenn nicht wirklich klar ist, woher ein Geräusch kommt. Eine meiner Lieblingsplatten ist diese erste von Velvet Underground und Nico. Da gibt es viele solcher Geräusche. Man könnte es vielleicht erklären und sagen: Hier, das ist ein verzerrtes Klavier. Aber der Reiz besteht doch darin, dass man es nicht weiß.« 26  töne

Hier unten auf dem Boden der Realität verzichtet die Band aus Bristol auf sämtliche Attitüden der Indie­Gene­ ration. »Wir tragen keine Schlipse und das ganze Zeug. Uns interessiert das alles einen Scheißdreck, uns interessiert es wirklich nicht. Um es einfach zu sagen: Wir wollen etwas tun, dass wir selbst wollen.« Independent heißt im Sinne Gravenhursts vielleicht, das Kunstwerk irgendwo vor den Toren der Gesellschaft zu errichten; des Künstlers Ein­ samkeit ist seine Unabhängigkeit; und: die sanfte Traurig­ keit nagt selbstzerstörerisch wie sonst nur der Zahn der Zeit und spuckt dabei Lebenszeichen wie absonderliche Utopien einer anderen Welt aus. Vielleicht liegt es an den fehlenden Schlipsen, dass die englische Musikpresse Gravenhurst bisher nur im Nebensatz wahrgenommen hat. Nur gut, denn es ist eine Qualität dieser Band, unab­ hängig vom Unabhängigen zu sein und damit wieder das Werk in den Fokus rücken zu können. So wenig die Songs auf »The Western Lands« klas­ sische Songsstrukturen aufweisen, so wenig linear ist ihre Herkunft: »Manche Dinge liegen ziemlich lange herum. Einige Lieder sind zehn Jahre alt, bis ich die richtigen Worte für sie gefunden habe.« Vergleicht man das Album mit den frühen Kompositionen Talbots und mit den zwei bisher erschienenen Platten, lässt sich das neue Werk als Essenz der letzten zehn Jahre hören. Essenz nicht im Sinne eines Best­Of­Prinzips, sondern im Sinne des Grundsatz­Prin­ zips. Die Maxime des neuen Werks, der große Wurf, ist sozusagen Stellvertreter für den Sound der Band selbst. Zu guter Letzt passt es sogar ins Bild, dass Gravenhurst 2004 ihr Debüt beim Electronic­Label Warp gaben. Aus dem einfachen Grund, dass auch hier sich wieder Talbots Unverständnis für die bestehenden Denk­ und Vermark­ tungskategorien des Musikgeschäfts herauskristallisiert: »Warum sollte das von Bedeutung sein?« Während Talbot im Textlichen resignierend die Kiffer wippen lässt, ver­ schwimmen die Ursprünge von Melodien und Klängen im Psychedelischen. Talbot führt uns zu den Dingen selbst, packt sie am essenziellen Schopf, verzerrt sie und spuckt sie ursprünglicher als zuvor wieder aus. Er ist der Nach­ geborene, der in dem, was ist, sein muss. Und: Er platziert sich dafür erst einmal vor der Tür.

»Viele Leute meinen, dass die Art wie ich singe und das, worüber ich singe nicht zusammen passen. Ich kann das nicht verstehen. Es kommt einfach nicht anders aus mir heraus.«

»The Western Lands« von Gravenhurst erscheint am 14.09.2007 bei Warp / Rough Trade

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Nicht brandneu, aber immer noch marmorglänzend

»Save It« und »World Without End« Glücksmomente beschreibt, ohne je ins Rührselige abzugleiten (indem er etwa beim frisch geborenen Sohn das typische Mox­ ham­Spaltkinn entdeckt), wird dabei durch seine sonore Baritonstimme und Louis Philippes Chor­Arrangements aufs Beste unterstützt. Vor zwei Jahren hatte der fiftysomething einige dieser Lieder bereits live beim Wonder Records Festival (Initiator Philippe hatte auch Bertrand Burgalat und die High Llamas geladen) in der Londoner Bush Hall vorgestellt und dabei nicht selten an die bri­ tische Folk­Institution Ralph McTell erinnert.

einzige »Colossal Youth«, das wegweisende, , wurde nts gia le rB Album der Young ma suche ren Spu soeben wiederveröffentlicht. Auf mit Gitarrist Stuart Moxham

text: markus von schwerin fotos: sarah chilvers

»Wollt Ihr zuerst eine Single, eine E.P. oder gleich ein Al­ bum herausbringen?« wurde das Trio, das auf seinen Na­ men in einem Buch über antike Skulpturen stieß, 1980 von seinem Label gefragt. Die Band aus Cardiff entschied sich für Letzteres, bescherte Rough Trade mit »Colossal Youth« seinen ersten Bestseller, ging international auf Tour und – löste sich auf. 26 Jahre später ist das Album nicht nur als dreiteiliges Box­Set wieder veröffentlicht, sondern von der Originalband auch überzeugend auf die Bühne gebracht worden. Schauplatz dieser denkwürdigen Dreiviertelstun­ de war ein Literaturfestival namens Hay­On­Wire, das am 25.5.2007 in Wales stattfand. Abgesehen von einer Radio­ Session für BBC Wales vor drei Jahren war dies seit dem Split das erste Mal, das Alison Statton (Gesang), Philip Moxham (Bass) und Stuart Moxham (Gitarre, Orgel) öffentlich in Erscheinung traten. Und sowohl den trans­ parenten Sound (die Original­Drum­Machine­Spuren ka­ men per DAT zum Einsatz) als auch das Erscheinungsbild (eine zierliche Alison Statton in Blümchenbluse und Rock mit den Händen hinterm Rücken zwischen den konzent­ riert auf ihre Griffbretter schauenden Moxham­Riesen) betreffend, waren sich die drei absolut treu geblieben. Konzentrierte Schaffenskraft Seit der besagten Radiosendung wurde eine erneute Zu­ sammenarbeit nicht mehr ausgeschlossen, doch erst die Proben für den Festivalauftritt haben dem Trio offenbar den entscheidenden Impuls gegeben, gezielt auch an neu­ en Stücken zu arbeiten. Aller räumlichen Distanz, aller arbeits­ und familienbedingten Einbindungen zum Trotz gibt es bereits fixe Session­Termine, und um die Aussicht auf ein zweites Young Marble Giants­Album stand es noch nie so gut wie zurzeit. Bis es soweit ist, lädt die »Colossal Youth + Collected Works«­Ausgabe dazu ein, die zeitlose Qualität dieses einzigartigen Werks wieder zu entdecken. Und die auf der zweiten CD enthaltenen, noch mit einem Mono­Tonbandgerät aufgezeichneten Demoaufnahmen von 1979 zeigen auf faszinierende Weise, welch klare Vor­ stellung der Hauptsongwriter Stuart Moxham bereits von Anfang an vom Sound seiner Band hatte. Twang­Gitarren 28  töne

Eine Sache der Interpretation

à la Duane Eddy treffen da auf Ska­ und Disco­Bässe und verzahnen sich rhythmisch so dicht, dass die (ausschließ­ lich verwendete) Beatbox zwar nur minimal eingesetzt, dabei aber nie auf eine reine Metronom­Funktion redu­ ziert wird. Zusammen mit leierkastenartigen Orgelklän­ gen, zurückgenommen geschrubbten E­Seiten, die einen kurz bevorstehenden Temperamentsausbruch immer nur anzukündigen scheinen, und nicht zuletzt den von Alison Statton kühl vorgetragenen Reflexionen über die Ernüch­ terungen in der Arbeits­ und Liebeswelt, ergeben die Stü­ cke auf »Colossal Youth« gemeinsam mit der instrumen­ talen EP »Testcard«, der Single »Final Day« und dem für die Young Marble Giants prototypischen Sampler­Beitrag »Ode To Booker T« einen Stamm essentieller Popsongs, der – selbst an Zeitgenossen wie Scritti Politti und Aztec Camera gemessen – in seiner schlichten Formvollendung ohne Beispiel ist.

So hatten sie bald einen Stamm essenzieller Popsongs, der – selbst an Zeitgenossen wie Scritti Politti und Aztec Camera gemessen – in seiner schlichten Formvollendung ohne Beispiel ist.

Eine andere Form Zeitgleich ist mit »The Huddle House« auch ein neues Solo­Album von Stuart Moxham erschienen, an dem er mit Louis Philippe (dieser produzierte bereits »Random Rules« von 1993) in den vergangenen zehn Jahren konti­ nuierlich gearbeitet hat. Eine luftige, überwiegend aku­ stisch eingespielte Folk­Pop­Platte mit geschmackvollen Flamenco­ und Brazil­Anleihen, die auf den ersten Hörer ob ihrer Entspanntheit fast wie ein Gegenentwurf zur de­ zenten, aber doch fühlbaren Nervosität und Rastlosigkeit der Young Marble Giants wirkt. Doch Moxhams Sprach­ ökonomie zeichnet sowohl sein Frühwerk als auch die – fast rundweg optimistischen – aktuellen Songs aus. Die humorvolle Art und Weise, wie Moxham in »Desert Rain«,

Bei der Solo­Darbietung solcher Young Marble Giants­ Klassiker wie »Brand­New­Life« und »Final Day« ging dem Gitarristen damals aber ein bisschen der Gaul durch, und insbesondere letztgenanntes Apokalypsen­Szenario hatte plötzlich mehr mit dem agitierenden Gestus eines Billy Bragg als mit der unbeteiligt wirkenden Augurin Alison Statton gemein. Auch die dort gemeinsam mit Louis Philippe interpretierte Ballade »N.I.T.A« (mit solch bekennenden Zeilen wie »It’s nice to hear you’re having a good time / But it still hurts ’cos you used to be mine/ This doesn’t mean that I possessed you / You’re haunting me because I let you«) war ursprünglich nicht daraufhin ange­ legt, mit stoischer Gelassenheit vorgetragen zu werden, sondern als ungebrochener Ausdruck eines Liebeskran­ ken gedacht. In »Brand­New­Life« bildete dann auch Stu­ art Moxhams leidenschaftlich eingesetzte Zweitstimme den Kontrast zu Alison Stattons abgeklärt wirkendem Gesang. Doch genau diese Distanz zu den versprachlich­ ten Tragödien ihres Bandkollegen machte – neben den erwähnten rhythmischen Komponenten und minimalen Gitarre­Bass­Dialogen der Moxham­Brüder – die Einzig­ artigkeit des Young­Marble­Giants­Sounds aus. Zugleich hob Alison Stattons ungeschulter Gesang diese Distanz wieder auf, da ihre Ungekünsteltheit an jemanden erin­ nerte, der unbeobachtet eine Melodie vor sich hinträllert. Eine Art von ›Natürlichkeit‹ wie sie im Verlauf der 1980er Jahre – vor allem durch den New­Order­Sänger Bernard Sumner – weltweit popularisiert und vor allem bei eng­ lischsprachigen Acts aus Deutschland zur willkommenen Richtschnur wurde: The Notwist, Lali Puna, Masha Qrella – allen ist die gedrosselte Emotionalität im Gesangsvortrag gemein, der ihren Zuhörern eine Identifikation offenbar besser ermöglicht als bei expressiven Vokalkünstlern.

Der Zahn der Zeit Im dreißigseitigen Booklet des »Colossal Youth«­ReRelease beschreibt der verdiente Postpunk­Chronist Simon Rey­ nolds, dass der Abstraktionseffekt von Stuart Moxhams leidenschaftlicher Lyrik durch die damalige Zahnarztas­ sistentin Alison Statton nicht beabsichtigt, sondern einzig dem Kompromiss geschuldet war, den Phil Moxham als Freund Stattons seinem Bruder abverlangte, um mit ihm eine gemeinsame Band zu gründen. Die vermeintliche Übergangslösung wurde aber dann 1980 zum erfolgreichs­ ten Act des Independent­Labels Rough Trade – allerdings ohne dass der ums Singen gebrachte Singer / Songwriter das Unbehagen an jener Konstellation verlor. Nach einer kräftezehrenden Amerikatour war es Anfang 1981, noch bevor die »Testcard«­EP erschien, um die Young Marble Giants geschehen. Stuart Moxham veröffentlichte darauf als The Gist ein noch sehr Young­Marble­Giants­verwand­ tes Album namens »Embrace The Herd«, um dann erst wieder in den 1990er Jahren Solowerke unter eigenem Namen zu veröffentlichen. Alison Statton dagegen fand bereits 1981 in Spike und Simon Booth zwei Musiker aus der Cardiffer Szene, mit denen sie als The Weekend eine Art Prototyp­Band für alle kommenden Jazzpop­Formationen der Mittacht­ ziger wie Everything But The Girl (in der auch kurzzeitig Phil Moxham spielte), Sade oder auch The Style Council schuf. Bis Mitte der 1990er erschienen unter den Namen Statton / Devine und Statton & Spike diverse Duo­Platten, welche eine gereifte Sängerin erkennen ließen, doch bis zur Young­Marble­Giants­Reunion diesen Mai sollte es kein neues musikalisches Lebenszeichen mehr von ihr geben. Mittlerweile steht mit dem 27.10. ein weiterer Fes­ tival­Auftritt im französischen Boulogne­Billancourt an, bei dem es dann auch neue Young­Marble­Giants­Stücke zu hören geben soll. Bis dahin bleibt ausgiebig Zeit, sich in das überschaubare, doch ausnahmslos bezaubernde Gesamtwerk bis dato zu vertiefen. Und Moxhams letzter Solo­Visitenkarte sollte man unbedingt auch eine Chance geben! »Colossal Youth + Collected Works« von Young Marble Giants ist bereits bei Domino / Rough Trade erschienen »The Huddle House« von Stuart Moxham with Louis Philippe ist bei Wonder / Dandyland / Cargo erschienen

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hans appelQVist komponiert filmische Sujets

Der Wirklichkeit entgegnen

text: sebastian hinz fotos: martin palm

Eine der einfältigen (und interessanterweise häufig gebrauchten) Floskeln im Musikjournalismus lautet: ›das klingt wie die Musik zu einem Film, der nie gedreht wurde‹. Ein Gemeinplatz, dessen Verwendung in Verbindung mit der Metapher vom ›Kino im Kopf‹ möglichst zu vermeiden ist. Doch wie ist die Ver­ fahrensweise, wenn genau das die Methode des Musikers ist, dessen Werk es zu besprechen gilt? Spä­ testens seit seinem Album »Bremort« (Komplott, 2004) avancierte Hans Appelqvist nämlich zu einem musikalischen Geschichtenerzähler, der seinen Kompositionen den narrativen Charakter des Films aneignete. Insbesondere die Momente des Kinos, in denen die Filmmusik und die erzählte Geschich­ te eine sich gegenseitig ergänzende Einheit zu bilden scheinen, beflügelte den Stockholmer Musiker auf der Suche nach einer künstlerischen Möglichkeit des emotionalen Ausdrucks. So erfand er für »Bremort« eine schwedische Kleinstadt gleichen Namens, legte der CD eine Stadtkarte zur Orientierung bei und erzählte die Geschichten einiger seiner Einwohner. Dafür gewann Hans Appelqvist 2004 in seiner Heimat die Auszeichnung Swedish Radio’s Pop Record Of The Year. Seine letztjährige, operettenhafte Langspielplatte »Naima« (Häpna, 2006) hat zur Protagonistin eine junge Frau mit Entenkopf gleichen Namens, deren »Naima Melodin« sich motivisch durch das Werk zieht und in Variationen (Spannung, Freude, Traurigkeit) vom Gemütszustand der Heldin kündet. Seine aktuelle Veröffentlichung »Sifantin och mörkret« ist eine Ansammlung knallbunter, fabelhafter Kinderlieder mit lautmalerischen Titeln wie »Tilli Talli Tulli«. Geräusche und Dialoge Sein künstlerisches Konzept, die Verbindung der Grundmelodien seiner Akustikgitarre mit den Samp­ les allerhand instrumentalen Schnickschnacks sowie field recordings, die er unter Benutzung eines HHB DAT­Recorders und DPA 4011­Mikrophonen aufnimmt, geht trotz der thematischen Verschiedenheit in jeder einzelnen seiner Produktionen auf. Die Gründe für seinen sehr speziellen Sound sieht Hans Appelqvist daher weniger in der verwendeten Technik als vielmehr darin, dass er nach eigener Aussage die Vielzahl der verwendeten Tonwerkzeuge selbst aufnehme, er allerdings weder ein guter Instrumen­ talist noch ein guter Produzent sei. Die Quellen seiner field recordings passt Hans Appelqvist immer den bestimmten Thematiken an. »Bremort« lässt die Geräusche der Stadt wiederaufleben, »Sifantin och mörkret« besinnt sich auf ländliche Höreindrücke, vom Hundebellen und Kuhmuhen bis zu Kindern, welche staunend die Natur entdecken. Gerne schnipselt er seinen filmischen Musikerzählungen auch Dialogausschnitte aus alten schwedischen Spielfilmen bei, manche Gesprächsfetzen schreibt er auch selbst und passt sie rhythmisch und klanglich in das Gesamtwerk ein. Ein Höhepunkt dieser filmischen Zersetzung seiner am Film genährten Kompositionsweise ist das Album »Tonefilm« (Komplott, 2002) bei dem er Schnipsel aus Filmen großer schwedischer Regisseure, wie Arne Mattssons »Hon dansade en sommar« (»Sie tanzte nur einen Sommer«, 1951), Arne Sucksdorffs »Pojken i traedet« (»Die Wilderer vom Wolfsmoor«, 1961) oder Lasse Hallströms Frühwerk »En kille och en tjej« (»A Guy and a Gal«, 1975) in Verbindung mit Filmprojektorengeratter, alten Gram­ mofonaufnahmen und trockenen, elektronischen Rhythmen zu einer Einheit brachte. Vorsicht! Lokomotive! Das Verhältnis zur Kunst ist bei Hans Appelqvist also keines der Einverleibung, sondern umgekehrt verschwindet der Betrachter in der Sache; ebenso wie das seit Anbeginn des Cinematographen und dessen Gebilden eben ist, die unerschrocken auf einen zufahren wie die bekannten Lokomotiven im Film. Und obwohl dem Zuhörer hier das Kunstwerk auf Leibnähe rückt, wird es diesem nicht entfremdet, also in einem adornitischen Sinne zur Ware, die er zu verlieren fürchtet. Viel eher zieht der Schwede mit seiner Landsfrau Astrid Lindgren gleich, deren Ge­ schichten, einmal lesend und staunend miterlebt, den Rezipienten nicht mehr verlassen. Genauso fantasievoll, erlebnisreich, anders sind die Hörwelten von Hans Appelqvist; sie bleiben einem im Gedächtnis erhalten. Appelqvists Debüt auf dem feinen Häpna­Label hieß »Att Möta Verkligheten«, in etwa: »Der Wirklichkeit begegnen«. Eigentlich ist das Gegenteil der Fall. »Sifantin och mörkret« von Hans Appelqvist ist bereits bei Häpna / A-Musik erschienen

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Eine kurze Zusammenfassung der Pilotenwechsel Das neue Album von kettel bringt Stilbrüche ganz leichtfüßig auf einen Punkt

text, interview: jens pacholsky

Für unsere ›Generation Download‹ vorweg: Ein Album ist eine Zusammenstellung von über einen definierten Zeitraum entstandenen Musikstücken, die der Künstler in einem mehr oder weniger festgelegten Kontext dem geneigten Hörer als Gesamtkunstwerk vorlegen möchte. Dazu kommt eine ausgeklügelte Verpackung mit entspre­ chendem Artwork (auch Cover genannt). Das Konzept des Albums besteht dabei nur in den schlimmsten kapi­ talträchtigen Fällen, der sich die Download­Generation eben durch den gezielten Konsum von Einzeltiteln ent­ zieht, aus einem Hit und fünfzehn Abfallprodukten. Ge­ nau genommen weist das Albumkonzept eine mindestens ebenso diffizile Kompositionsproblematik wie bei einem Song auf. Gern wird die Schwierigkeit mit Homogenität umgangen, sich auf einen Stil begrenzt, um das Hören nicht durcheinander zu werfen. Andererseits besteht genau in dieser Durchgängigkeit die Gefahr eines nicht durchgängigen Hörverhaltens, wenn nach einigen Songs eine Sättigung einsetzt. Andererseits funktionieren Alben, die völlig verschiedene Stile zusammenbringen, nur in den seltensten Fällen und zerstauben meist in ein wildes Durcheinander von Gedankensträngen und fixen Ideen. Nur vereinzelt finden die Gegensätze den Weg zueinander und verschränken sich.

dieser Zeit genauso Fans von den IDM­Ikonen µ­Ziq und Plaid wie auch Jazzclub­Gänger und Kammermusikexper­ ten aus dem Kreis um Debussy gefunden. Des Öfteren verliefen die Flugstundenübergaben sogar sehr fließend. Da flog der Klassikkreis, den Kettel am Piano zusammen mit dem Cellisten Sietse Jan Weijenberg besuchte, einige Stunden als Co­Pilot beim Field Recorder, ohne ihm in die Quere zu kommen. »Ich sehe zwar keine besondere Verbindung zwischen den Stilen, aber ich denke, die Stücke sind alle miteinander verknüpft, weil sie derselben Quelle entstammen: meinem Gehirn! Das Bewusstsein verknüpft einfach alles, was existiert«, versucht der 25jährige die Zu­ sammengehörigkeit aller Stücke zu erklären. Und Kettels Kopf ist in ein sehr sanftes, verspieltes Klangspektrum ge­ bettet, das alle Songs, egal welcher Façon, mit Leichtigkeit umschließt und so sein Album zu einer Einheit der Unter­ schiede zusammenfügt. Als Ganzes zu genießen. »Whisper Me Wishes« von Kettel ist bereits bei Dub Records / Clone erschienen

Zentralisierte Hydra Reimer Hilmar Eising ist eigentlich auch ein Verfechter der Homogenität. Seine bisherigen sieben Alben als Kettel wiesen selten innere Sprünge auf. »Im Normalfall bleibe ich für eine Zeit lang bei einem bestimmten Stil. Das hat nichts mit einer bewussten Fokussierung zu tun, es ist einfach eine Art Autopilot-Funktion, die einsetzt«,, entschul­ digt sich der Niederländer. Mit seinem aktuellen Album »Whisper Me Wishes« tauchen nun plötzlich enorme Verschiebungen auf, die sich von Field Recordings über Jazz bis zu elek­ tronischen Spielarten und Klassik ziehen. »Genau gesagt, ist es ein Schmelztiegel der Stile. Generell sind meine Alben ein Überblick über meine Produktionen von zirka einem Jahr. Dieses Album dagegen ist eine Zusammenfassung der letzten vier Jahre. Es zeigt einfach, dass mein Autopilot-gesteuertes Flugzeug über diesen Zeitraum von einer Menge verschiedener Piloten geflogen wurde.« Unter den Flugkünstlern haben sich in töne  31


Vernacular Vernissage

Beim unablässigen Auffächern der Subgenres legen plastic little aus Philadelphia nun den ›Gallery Rap‹ vor

text, interview: renko heuer

Schon mit dem bloßen Gedanken an die Subkategorien des HipHop begibt man sich auf eine Baustelle, an der zwar sicherlich auch Bier getrunken wird, in Papiertüten natürlich, doch wird es hier niemals ein Wochenende oder gar einen totalen Baustopp geben: Was mit Gangsta Rap anfing, mit Horrorcore, Mafioso Rap, Crunk, Jazz­Hop und New Jack Swing ausgeweitet wurde, um mit Chopped & Screwed, Undie, Shrink Rap und Hyphy völlig zu explo­ dieren, ist noch längst nicht das Ende der Fahnenstange: Gerade erst wurde der Begriff des ›Gallery Rap‹ aus der Taufe gehoben, mit Plastic Little als Vorzeige­Posterboys. Dabei ist die klangliche Galerie der Crew aus Philly letzt­ lich genau das, was die Literatur der 1970er Jahre war (um das P­Wort zu umgehen). Nur noch ausgelassener. Und tanzbarer. Denn: Als das modernistische »Make It New« nicht mehr so recht greifen wollte und der Tod des Autors ganz beiläufig festgestellt worden war, entstand mit der »Literature of Exhaustion« (ungefähr: Barth, Barthelme, Coover, Pynchon, Hawkes, der späte Nabokov, Borges etc.) eine Schreibe, der die epistemologische Sackgassensituation bzw. die unüberwindbare Kluft zwischen Sprache und ›Re­ alität‹ so offensichtlich und unwiderruflich inskribiert war, dass einzig Meta­Texte über das Schreiben selbst oder aber ausgelassene (Wort­)›Dreck‹­Kollagen das Resultat sein konnten – womit besagte Autoren immerhin einen Ab­ gesang auf den Stillstand und die inzwischen lächerliche Mimesis ablieferten und genau damit zeigten, dass sie und ihre Kunstform irgendwie doch noch am Leben waren. Nun könnte man den ›Death of the Rapper‹ zwar schon bei Biggie oder der generellen Aufweichung der späten 1990er Jahre ansetzen, doch wird gerade dieses Jahr verstärkt über den Todeskampf des HipHop debat­ tiert. Und siehe da, Plastic Little melden sich exakt in diesem Moment mit ihrem Meta­Rap (dem ›Gallery Rap‹) zu Wort: Die Mimesis, die sie belächeln, ist die ›Realness‹, die schon längst nicht mehr zur Debatte steht; die Waffen, mit denen sie ins Gefecht ziehen, sind Zitate der Vorgän­ 32  töne

gergenerationen (u.a. Gang Starr): So entwickeln Jayson Musson aka PackofRats, Kurt Hunte, Jon Folmar und der Produzent Michael Stern aka SQUID mit ihrem »She’s Mature«­Debüt (Tone Arm / Free News Projects) einen Gegenentwurf, der so klischeeüberladen ist, dass dem ver­ meintlichen Abklatsch zugleich etwas grundsätzlich Neues innewohnt. Ein paar Beispiele: Plastic Little können Booty­ Sounds und Black­Power­Ansagen in einem Atemzug aus­ spucken, obwohl die Hälfte der Crew aus Weißbroten be­ steht. Zugleich in den Bereichen Grafikdesign, Adbusting und Porno­Insiderwissen bewandert, können sie Snoops »Gin & Juice« umdichten, GZA mit Gitarre nachspielen, Diplo, Spankrock und Ghostface als Gäste gewinnen und trotzdem The Smiths covern. No strings attached. Nicht ohne Grund ist ihr ›Gallery Rap‹­Ansatz, bis­ weilen auch als ›Indie Booty‹ bezeichnet, von ?uestlove be­ reits zum direkten Nachfolger von »Licensed To Ill« erklärt worden. Laut Musson, dem Kopf der Bande, wollen sie, wie schon ihre literarischen Vorbilder trivial­stereotype Scheuklappen endgültig verbannen: »Mein liebstes HipHop-Klischee ist definitiv ›Keep It Real‹. Allerdings ist ›Nigga Please‹ auch nicht übel. Und natürlich hatten wir schon oft Ärger, weil wir die Rap-Konventionen auf den Kopf stellen, doch sind es letztlich nur die weißen Kids aus der Vorstadt, die sich darüber aufregen. Wenn die an die Macht kommen würden, hätten wir im Handumdrehen eine faschistoide HipHop-Staatsform: ›Achtung, Bürger! Es ist drei Uhr, legt Company Flow auf und meditiert für eine Stunde. Um vier müsst ihr dann Doseone auflegen und den Abwasch machen.‹« »She’s Mature« von Platic Little ist bereits bei Tone Arm / Free News Projects erschienen

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epiphany outlet text: renko heuer

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Nachlässige Brillanz mice paraDe machen weiter wie gewohnt: entspannt ins eher Unwahrscheinliche manövrierend text: frank gerber foto: javier villegas

Wäre an die globale HipHop­Landschaft ein Radar an­ gedockt, Michael Winslow würde derzeit ausrasten: Statt Marmelade (wie gesehen in »Spaceballs«) würden dort nämlich die unterschiedlichsten Punkte aufblinken und damit selbst den beharrlichsten Beobachter zum Schwit­ zen bringen: Die Helden der Nineties melden sich zurück Dazu tummeln sich am linken Bildschirmrand messer­ scharfe MCs und Producer, sonst oftmals unterm Radar. Generell weht eine verdammt frische Brise um den ver­ meintlich erstarrten Corner. Um es mit GZA zu sagen: Wir schreiben endlich wieder ein Jahr, in dem »the MCs came / to live out their name.« Den Anfang macht taliB kWeli, spätestens seit sei­ ner wegweisenden Black­Star­Kollaboration (1998) mit Mos Def bekannt und seither ein unumstößlicher Fels in den weniger stumpfsinnigen Brandungen der Headnod­ Gewässer. Nach seiner kürzlich mit Madlib angefertigten »Liberation«­LP, veröffentlicht er sein drittes Soloalbum (»Ear Drum«, Warner): Zwischen Kanye Wests eingängige Chipmunk­Eskapaden streut er erleuchtete Vibraphon­ Bojen und verschleppte Beats aus der ›Bomb Shelter‹. Selbst ausgesprochen zurückgelehnt­delikate Rimshot­ Szenarien, die das geneigte Trommelfell letztlich auch dar­ über hinweghören lassen, dass er eigentlich eine eitle Sau ist, die lieber beim Friseur sitzt als der Tatsache ins Auge zu sehen, dass er auch nicht mehr Einheiten verkauft als APC in ihren besten Zeiten. Schon immer viel sympathischer, taucht common zeitgleich aus der Versenkung auf – aller­ dings weniger als Fixpunkt, sondern vielmehr als ein oszil­ lierender und pulsierender Vektor im linken Mittelfeld des Bildschirms. Hatte er schon mit seinem »Be«­Vorgänger ei­ nen vergleichsweise ebenen Weg (im Vergleich zu »Electric Circus«) gewählt, spinnt er diesen introvertierten Faden mit »Finding Forever« (Universal) einfach weiter: J Dilla ist mit einem Beat vertreten, will.i.am, Lily Allen und Bilal helfen ebenfalls aus, und getragen wird der eindringliche Rundumschlag erneut von Ego­Booster Kanye West, dem »first nigga with a benz and a backpack«, was bei Common 34  töne

aber weniger Bling­Nachgeschmack hinterlässt. Einen deutlicheren Bruch (mit der Brüchigkeit) kann man hin­ gegen bei aesop rock beobachten: der 31jährige ist in­ zwischen mit einer Musikerin (Allyson Baker) verheiratet (bedeutet: mehr Live­Instrumente) und an die Westküs­ te übergesiedelt (bedeutet: weniger urbanes NYC­Infer­ no, allerdings auch kein ›gnarly, dude‹­Talk). Mit seinem fünften Album »None Shall Pass« (Definitive Jux) seziert der Schnitzel­Fan zwar immer noch abstrakte Flow­Mons­ ter über einem weitestgehend von Blockhead aufgestellten Fundament und gestaltet sie zu einem Def-Jux­Tsunami. Doch flirtet er zugleich mit zugänglicheren Beats und überzeugt gerade mit dieser sperrig­leutseligen Kombina­ tion. Schon immer an der West Coast wohnhaft, schlägt auch oh no, bürgerlich Michael Jackson (!), diesen Herbst zu: Während Dr. No zuvor tief in Galt MacDermots Sam­ ple­Kiste gelangt hatte, sind es nun orientalisch­psyche­ delische Klänge aus dem Mittelmeerraum (u.a. Libanon, Türkei), die er mit dem nötigen Bounce versieht und zu einer instrumentalen Delikatesse verschnürt. Ebenfalls weitestgehend wortfrei, dazu inzwischen völlig losgelöst von jeglichen HipHop­Koordinaten, schippert auch oDD nosDam (»Level Live Wires«, Anticon) wieder über den Bildschirmrand und kombiniert seine Trademark­Dronig­ keit mit allgemein­abstrakter Klangmalerei und bezeich­ nenden Gastauftritten von Thee More Shallows, Why? und Tunde Adebimpe (TVOTR). Zu guter Letzt sind es die drei Mädels von northern state, die mit der Frage »Can I Keep This Pen?« (Ipecac) selbst Adrock von den Be­ asties als Gast­Produzenten für ihre Smart­Raps gewinnen konnten: Spero, Hesta Prynn und Sprout verneigen sich nicht nur vor Nathaniel Hawthorne, sondern auch vor den Okayplayer­Harmonien von Res und dem Easygoing­ Bounce der alternden Beasties. Damit dürfte selbst dem verwirrten Winslow klar sein, was Prinzessin Vespa momentan auf ihren funky Dutt­ Headphones hört.

In der Musik von Mice Parade sind Polyrhythmen und Walls­of­Sound, Sessionhaftigkeit und Songs, Melodien und Texturen, Einflussfülle und subjektive Perspektive, Folk­Elemente aus verschiedensten Ecken der Welt und mit akustischen Instrumenten produzierte (Mock­)Elec­ tronica gleichermaßen bedeutsam. Mit der sicheren Hand des begeisterten Praktikers spielt Adam Pierce – der Kopf von Mice Parade – Schlagzeug, Gitarren, Xylophon etc. ein und schichtet Spuren übereinander, bis Hibbeliges, Ruhiges, Sehnsüchtiges, Noisiges und Pragmatisches in erfrischenden Konstellationen auftreten. Alles wirkt äußerst entspannt, eher aus einer Laune heraus hinge­ worfen als geplant. Natürlich gab es im Laufe der Zeit unterschiedliche Prioritäten. 2001 hatten auf dem Album »Mokoondi« von pygmäischer Musik beeinflusste Melo­ dierhythmen viel Raum, seitdem wurden Indierock­Emo­ tionen herumwirbelnde Songs wieder wichtiger. Etwaige

Kleine Geschichte des Wassers Unter der unbewegten Oberfläche von Valgeir sigurÐssons »Ekvílibríum« wirken unermessliche Kräfte text: jochen werner foto: valli

Wenn ein System in den Zustand des Equilibriums eintritt, so bedeutet dies zunächst einmal augenscheinlichen Still­ stand. Gleichzeitig deutet es aber darauf hin, dass unter der bewegungslosen Oberfläche unterschiedlichste Kräfte so aufeinander einwirken, dass diese sich gegenseitig au­

beschränkte Zweierbeziehungssortiertexte werden dabei von den ausschweifenden musikalischen Aktivitäten durchkreuzt. Neben schon notorischen Gästen wie Doug Scharin, Dylan Christy und Kristin Anna Valtysdottir ist an dem nunmehr siebten Album auch Stereolab­Sänge­ rin Laetitia Sadier beteiligt. Ihr Gesang bei »Tales of Las Negras« setzt ein Sahnehäubchen auf Mice Parades ge­ wohnte nachlässige Brillanz. »Mice Parade« von Mice Parade ist bereits bei Fat Cat / PIAS / Rough Trade erschienen

ßer Kraft setzen; dass Energieströme so zusammenstoßen, dass all ihr Aufwand am Ende exakt Null ergibt. Auch auf dem Debütalbum von Valgeir Sigurðsson, der sich als ge­ nialischer Produzent so verschiedener Musiker wie Björk, Bonnie ›Prince‹ Billy oder Coco Rosie einen Namen ge­ macht hat, treffen verschiedenste Dynamiken zusammen. Der Isländer nämlich hat sich der Unterstützung einiger Weggefährten für sein erstes Soloprojekt versichert, und so steuert der Komponist Nico Muhly immer wieder glo­ ckenhelle Pianoklänge bei, während die Gesangsspuren der vier Nicht­Instrumentals des insgesamt zehn Tracks umfassenden Albums von Will Oldham (Bonnie ›Prince‹ Billy), Dawn McCarthy (Faun Fables) und J. Walker (Ma­ chine Translations) klagend intoniert werden. Obgleich es Sigurðsson eindrucksvoll gelingt, die zwischen elektro­ nischen Soundscapes, klassisch instrumentierten Kom­ positionen und traditionellem Songformat oszillierenden Einzelelemente von »Ekvílibríum« unter einer nacht­ schwarz funkelnden, melancholischen Oberfläche zusam­ menzuführen, so bleibt doch auch stets die Dynamik der Energien spürbar, die im Inneren dieses wunderbaren Al­ bums stetig umeinander fließen – wie jene im Lauf von Tag und Nacht veränderlichen Flussläufe und Wasserströme, die sich leitmotivisch durch Texte, Klänge und Strukturen ziehen: »My love is a stream / That sometimes flows inside of me / First it’s black and then it’s green / A merwolf ’s dream«. »Ekvílibríum« von Valgeir Sigurðsson ist bereits bei Bedroom Community / Indigo erschienen

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Our weight in oil »The world was lost some years ago when the tyrants upped & seized control«. matt elliotts neues Album »Failing Songs« ist ein Bauchkommentar zur Weltsituation text: falko teichmann

Maximize to minimize Richie Hawtins Label Minus hat mit troY pierce einen kleinen Regelbrecher des Minimal Techno an Bord geholt text: jens pacholsky fotos andres marroquin

Eigentlich hätten wir bei einer Veröffentlichung auf Minus einen entleerten Klangraum erwartet, in dem nur die notwendigsten Möbel zu einer rhythmusperfekten Struktur angeordnet sind. Funktionalität par excellence also. Die Künstler JPLS und False sind dieser »Min 2 Max«­Philosophie, die Minus vor zwei Jah­ ren mit ihrer gleichnamigen Compilation nach außen kommunizierte, auf ihren Debütalben bedingungs­ los gefolgt. Troy Pierce jedoch beschreitet nach dem Run­Stop­Restore­Projekt mit Magda und Marc Houle auf seinem Debüt, das als EP getarnt mit insgesamt zehn Titeln (inklusive Remixen von Konrad Black und Troy Pierces Alter Ego Louderbach) eigentlich dem Albumformat nahe kommt, einen leicht verschobenen Weg. Er schmückt den funktionsgetriebenen Raum mit kleinen Accessoires. Nicht dass der Amerikaner aus Muncie, Indiana, nun zur Dekoration der Rhythmuswohneinheit im Stile des Rokoko übergegangen wäre. Es sind vielmehr kleine Dellen in den Wänden, Fenster, getarnt als Tü­ ren, und von ihrer Funktion befreite, miniaturisierte Ausstattungsgegenstände, die auf tippelnden Füßen in den Augenwinkeln des Hörers ständig ihre Position wechseln. Der Wahlberliner Pierce löst sich gleichzeitig vom Standard­Technobeat und lässt seine Takte eher vibrieren denn marschieren. Ein ständiges Zittern von Pulsaren, deren Dynamik dem Minimal Techno mehr (wenn auch dunkle) Farbe verleiht, was dem Umstand geschuldet sein könnte, vollständig ›on the road‹ und nicht im eindrucksarmen Studio entstanden zu sein.

Mit fast einjähriger Verspätung wird »Failing Songs« – der zweite Teil dessen, was Matt Elliott selbst gelegentlich »my trilogy« nennt – auch hierzulande offiziell veröffentlicht. Das bisher nur als Import erhältliche Werk schließt inhaltlich und formal zwar an seinen Vorgänger »Drinking Songs« an, deutet aber mit seinen verfeinerten Arrangements, seiner subtilen Üppigkeit in der Erweiterung des Instrumentariums, seiner noch stärkeren Hinwendung zum Lied, und vor allem in der Eindeutigkeit und Verzweiflung seiner politischen Kommen­ tare eine Erweiterung des solitären Kosmos seines Schöpfers an. Wo »Drinking Songs« dem auf einem mit Tabakkrumen und Absinthflecken übersäten Tischtuch notierten Welt­ schmerz eines heimwehen Trinkers glich, ist »Failing Songs« das apokalyptische Logbuch einer kollabierenden Welt. Un­ tergang ist überall, Blut und Öl fließen mit der Geschwindig­ keit von Nachrichtenbildern durch unsere Wohnzimmer, die von zwei zusammengestürzten Bürotürmen in Manhattan übriggebliebenen Rauchwolken ziehen durch die Welt ges­ tern über Kabul, heute über Bagdad, morgen vielleicht schon verhängen sie den Himmel über Teheran oder Islamabad. Die westlichen Demokratien scheitern an sich selbst, am selbst postulierten Ideal der Aufklärung, parlamentarische Institutionen dienen nur mehr zur Sanktionierung globaler wie innerer Sicherheitsstrategien, das Zeitalter der Verdunk­ lung scheint begonnen zu haben, und aus der Abgeschieden­ heit seines französischen Exils klingt die Stimme von Matt Elliott voll resignierter Schönheit zu uns herüber, erinnert uns daran, dass wir in unserer Jugend glaubten, die Welt zum Besseren verändern zu können und daran, wie unsere Illusionen zu Staub zerfielen. Elliott erspart sich selbst nicht die Erkenntnis, dass wir nicht mehr gemeinsam auf der Barri­ kade stehen, sondern jeder für sich, und dass die letzte Form von Protest aus der Angst der Vereinzelten geboren wird, die sich gegenseitig zurufen, aber immer seltener verstehen. Die Aufnahmen zum bisher namenlosen Abschluss der Trilogie haben begonnen. Mögen es rising songs werden, in der Hoff­ nung, dass wir nicht in alle Ewigkeit dazu verdammt sind, vor der Revolution zu leben. »Failing Songs« von Matt Eliott ist bereits bei Ici D’Ailleurs / Cargo erschienen

»Gone Astray EP« von Troy Pierce ist bereits bei Minus / MDM / Neuton erschienen

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beep street text: jens pacholsky

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Digital war gestern Harmonie ist Chaos Es gibt noch echte Leitartikel. Schade nur, dass diese Zu­ ckungen des Enthüllungsjournalismus in lokalen Medien wie der Leipziger Rundschau passieren, die nie das Ganze erkennen können. Deren Ausgabe 27 eröffnete nämlich mit Frau G. aus Z. bei H., die das Pfauenmännchen F. in einer harten Therapie von seiner aggressiven Pommes­ Sucht befreit hatte. Was die Leipziger Rundschau aus provinziellen Gründen nicht recherchieren konnte: Mit Frau G. war ihnen eine gesuchte Sinnesberaterin auffällig geworden, die seit Jahren Musiker um den Verstand bringt – teilweise mit verheerenden Folgen. So überzeugte sie jüngst die Herren von Bomb Mitte, ihr Liebhaberlabel in den Sand zu setzen. Auf ihr Geheiß legten sie sich mit The Stranglers Anwälten an, wiederveröffentlichten das 1995 wegen Sample­Missbrauch eingestampfte kinDerZimmer proDuctions Lied »Back« (Bomb Mitte) und beleidigten damit zudem die deutsche Rap­ Kommune. Die muss nämlich bei dem zwölf Jahre alten Song – dem MC Textor und Produzent Quasi Modo noch ein »Sequel« hinten anstellen – ihre eigene Irrelevanz endgültig anerkennen. Gemein. Aphex Twin schickte die Dame 2005 sogar mit Regressions­Sitzungen direkt in die Steinzeit und ließ ihm nur das analoge Equipment. Selbst seine neue Identität im Zeugenschutzprogramm als the tuss konnte ihm nicht helfen, das nachwirkende »Rushup Edge«­Syndrom (Rephlex) mit den Roland 909 Drums und 303 Acidlines zu überwinden. Mittlerweile hat es sich Herr Twin dort aber sehr heimisch gemacht und wird manchmal beim verhaltenen Mittanzen in seiner solipsistischen Höhle gesichtet. Selbst al haca waren der Exorzistin mit ihren im Dub(step) verhallenden Subbässen suspekt. Das Ergebnis ihres Eingriffes? MC RQM erzählt freier denn je (u.a. mit Jesus über Fashion), während Cee seiner dunklen Musikwelt ein wenig Licht gönnt und mit »Family Business« (Metapolyp) ein wahres Sommer­Dub­ werk schafft. Einmal ging sie aber zu weit und ließ 1999 Dj maYonnaise nach seinem Anticon­Eröffnungsalbum »55 Stories« spurlos verschwinden. Sporadisch durfte er 38  töne

bei Alias und Sole aushelfen. Doch Gott sei Dank, nach acht Jahren ist der Amerikaner »Still Alive« (Anticon), hat sich in der Zwischenzeit etwas in Global Goons Melodien verliebt, den Jazz und Blues in Nullen und Einsen kodiert und zu einem zurückgelehnten, für Anticon erfrischenden elektronischen HipHop zusammengescratcht. Auch bei aaron spectre zeigt sich das ganze Ausmaß ihres Handelns. Wie die nun veröffentlichten, über sechs Jahre entstandenen »Lost Tracks« (Ad Noiseam) zeigen, führte der Kaltentzug 2006 lediglich zu einer Radikalisierung. Während Aaron früher als feinfühliger IDM­Musiker der Harmonie auf der Spur war, demontiert er nun bekanntlich als Drumcorps mit seinem Grindcore Hörnerven. siXtoo hingegen ließ sich nie von der 50-jährigen beeindrucken. Er lachte ihr ins Gesicht und führte einfach weiter, was er schon immer getan hat: Grandiose elektronische HipHop­Beats konstruieren, die er sich wild hüpfend allerorts live ausdenkt, um sie nachfolgend im Studio als fingiertes Mixtape zusammenzufügen (»Jackals And Vipers In Envy Of Man«, NinjaTune). Jneiro Jarel reagierte noch entschiedener. Ihre bisherigen Auswirkungen auf den HipHop erkennend – die Künstler produzierten plötzlich nur noch Mist – rief er aus den vier Ecken der USA seine Sprachrohre Panama Black, Jawaad, Roc Wun und den Beatmaker Dr Who Dat? (sag mal, heißt Du Dabrye?) und startete als shape of BroaD minDs die von MF Doom unterstützte Kampagne »Craft Of The Lost Art« (Lex), um ganz entspannt, aber zwingend die Rapmusik vor der Stillosigkeit zu bewahren. Am besten war aber sickBoY. Der legte anfangs auf dem Xylophon ganz friedlich seine Breakcore­Aggression ab. Als Frau G. nicht hinsah, zerhackte der Belgier die Rhythmusmaschine einfach in funky Hardcore­CutUps und Turnarounds, las zu Oldschool­Beats heimlich ihre Mitschrift und enthüllt nun das unverschämte Schaffen der Dame in seiner »Music Therapy«­Dokumentation (Very Friendly).

Mit ihrem konfusen Noise­Pop lassen people den Jazz durch die Hintertür herein und unterwandern unser Bewusstsein text: fabian saul foto: ben cooper

Die Harmonie steckt nicht im Rhythmus, nicht in der Me­ lodie, die Harmonie steckt im Chaos. Und jetzt mal ehr­ lich, was ist daran so schwer zu verstehen? Im Dickicht, im mit Stolperfallen versehenen Gehölz musikalischer Wol­ lust wird jede noch so schwache Kontur am Horizont zur klaren Struktur. Wir gehen den gleichen Weg wieder und wieder, hören das gleiche Stück wieder und wieder. Und ja, da spüren wir sie plötzlich ganz deutlich, die Harmo­ nie. Scheinbar ohne gemeinsame Blickrichtung lassen Gi­ tarristin und Sängerin Mary Halvorson und Drummer Ke­ vin Shea ihren ekstatisch­exzessiven musikalischen Gelüs­ ten freien Lauf. Manchmal warten sie, dann ist einer auf der Strecke geblieben. Manchmal rennen sie, dann wollen sie auflegen, dann spielen sie sich Laufpässe zu, schneller als unser Bewusstsein. Das, was sich dann spielerisch als Melodie abzeichnet, das, was plötzlich in unseren Ohren zum Thema stilisiert wird, ist eben nicht eine poppige Noise­Collage, sondern verspielter Jazz, der sich bewuss­ ter durch das Dickicht schlängelt als unseren Ohren lieb ist. Es entzaubert »Misbegotten Man«, die zweite Platte der Formation aus New York, wenn man plötzlich merkt, dass der vermeintlich Scheußliche seine Scheußlichkeit plant. Dann verkommt der eine oder andere Triumph der Intu­ ition, das eine oder andere genial­spontane Moment zur kompositionellen Farce. Das passiert aber erst dann, wenn wir People längst dafür lieben, dass sie uns all die Harmo­ nie im nun mal unvermeidlichen Chaos gezeigt haben. »Misbegotten Man« von People ist bereits bei I And Ear Records erschienen

last step zelebriert das neue analoge Weltbild text: jens pacholsky

Kaum trägt das digitale Musikzeitalter Blüten und macht jeden Produzenten und DJ zum Laptop­Träger, kommt der Flashback der analogen Maschinen. IDM­Messias Richard D. James hat 2005 mit seiner »Analord«­Serie (Rephlex) sicherlich die Legitimierung dafür gegeben, als er gleich elf Singles auf seinem immensen analogen Fuhrpark basierte. Und die Stimmen derer, die darauf beharren, eine digitale Produktion besäße nie die klang­ liche Wärme eines klobigen Synthesizers, behaupten sich auch in der Allgegenwart von Max / MSP, Ableton Live und Cubase hartnäckig. Obwohl diese gern zitierte Ma­ terialgebundenheit nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass die letzte Instanz des Klanges noch immer der Mu­ siker hinter der Maschine ist. Bei all der Diskussion um Wärme und den propagierten organischen Sound könnte aber auch ganz pragmatisch gefragt werden: Warum noch Maschinen herumschleppen, an denen sich maximal ein Dutzend Effekte finden, Plug­Ins dicke Schalter und die einzige Loop­Visualisierung blinkende LEDs sind? Für den ominösen Last Step, mit dem Labelinhaber Mike Paradinas (µZiq) angeblich nur anonym kommuni­ ziert, den einige für Aphex Twin halten, andere aufgrund seiner kanadischen Wurzeln für Venetian Snares, scheint die Antwort ganz einfach: Es ist die Verspieltheit und Un­ mittelbarkeit, die einem echte Knöpfe und Schalter bieten. Auf seinem Debütalbum laufen die Roland 808 Drum­ breaks in lockeren Runden, luftige Jupiter­Synth­ Melo­ dien spielen auf, während die geliebten Roland 303­Bass­ frequenzen wieder in energische Acidlines ausbrechen und zwischendrin alles in Electrofunk­Breaks zerworfen wird. Last Step ist schlicht ein ganz direkt zelebrierter Liebesbeweis an den Funk, bunte Melodien und quietsch­ fidele Klangeffekte, die man hinter großen Knöpfen ent­ decken kann. »Last Step« von Last Step ist bereits bei Planet µ / NTT erschienen

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review

text: sebastian hinz

the relay

Glitches Brew Das australische Trio roam the hello clouDs integriert in ihren Jazz­Improvisationen den Laptop als gleichberechtigtes Instrument text: sebastian hinz

Meditatives Handwerken

Die Arrangements von Roam The Hello Clouds bergen ein Stück von jenem versprengten Jazz, das sonderbar auch in den 1990er Jahren umhergeisterte; wie es damals in der Musik aus Chicago zu hören war, zuerst bei Tor­ toise natürlich, später dann bei Chicago Underground und einigen anderen; wie es aber auch, verborgener, die zu selten rezitierten Alben der Dylan Group enthielten. Schlagzeuger Laurenz Pike versuchte bekanntlich mit seinem Projekt Triosk bereits die Konventionen eines Jazz­ trios neu auszuloten und mittels minimaler Musik und Elektronik einen neuen Blick darauf zu erschaffen. Doch während die Alben von Triosk (bei The Leaf Label) noch größtenteils das Ergebnis eines Produktionsprozesses sind, basiert »Near Misses« ausschließlich auf Improvisationen. Die zehn Stücke wurden an einem einzigen Tag und ohne vorherige Proben aufgenommen. Dass der Rechner dabei als Raum füllender Teil der Improvisation eingesetzt wird, ist das beispiellose Moment hier. Dave Miller – Soloalbum »Mitchells Raccolta« (Background, 2005) – kann mit sei­ nem Laptop nicht nur Harmonien und Tempi mitbestim­ men, er ist zudem in der Lage, sie unmittelbar zu samplen und zu interpretieren. So kommt es zu den schönsten Momenten, wenn das Blechblasinstrument von Phil Sla­ ter bereits überarbeitet und in die Textur elektronisch ein­ gewoben als »Uniform« aus Millers Rechner strömt. Wenn Phil Slaters Trompetespiel – vergleichbar mit Miles Davis’ Mitte der 1960er Jahre, ungefähr »Filles de Kilimanjaro« – sich bisweilen weigert, die Rhythmik mitzugehen, und auch Laurenz Pike tolldreiste Schlagzeugbetonung ent­ fliegt, wird klar, dass hier der Laptop das Ensemble führt. »Near Misses« von Roam The Hello Clouds ist bereits bei ~scape / Hausmusik / Indigo erschienen

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Die Norweger Espen Sommer Eide und Dag­Are Haugan haben sich ein weiteres Stück von früheren Strukturen gelöst: keine zerlegten Beats, weniger verspielte Miniaturen. Mit »Amateur« liefern alog ein sehr viel reiferes Werk ab text: alexander schubert foto: dag-are haugan

Die rhythmische Stimmcollage des ersten Stückes öffnet den Mantraraum, der sich durch das ganze vierte Album von Alog ziehen wird. Repetitive Strukturen schichten sich immer wieder zu einem anschwellenden Kontinuum. Wenig elektronisch, eher handwerklich angehaucht, bas­ teln die zwei perkussive Loops mit meditativer Wirkung. Zu konventionellen Instrumenten mischen sich – wie das Foto in der CD veranschaulicht – selbst gebaute Kons­ truktionen. Die Kombination aus unbearbeiteter Aufnah­ me und digitalem Setzen der Elemente führt zu einem homogenen Gesamteindruck. Das Duo weiß dabei auch den Raum wieder zu öffnen für zurückgenommene, kleinteilige Passagen, welche die dichten Regionen besser zur Wirkung kommen lassen. Wie sehr sie sich zurückzunehmen wissen, zeigen sie in dem poetisch betitelten Stück »Sleeping Instruments«, in dem, dreht man die Lautstärke auf, Bögen über Saiten schnarchen und dem Titel lautmalerisch alle Ehre ma­ chen. Bei normaler Lautstärke kommt es allerdings wie eine Hommage an John Cages »4’33’« daher. Eine schöne Interpretation dieses Gedankens. Genauso lassen die Stü­ cke auch einen Blick in die Vergangenheit zu und liegen nicht fern von den stärker elektronisch klingenden Wer­ ken eines Terry Riley. So kann man Alog grundsätzlich hoch anrechnen, dass sie Traditionen aufgreifen, diese mit ihrem Licht beleuchten und sie dadurch bereichern, ohne eine Kopie zu sein. »Amateur« von Alog ist bereits bei Rune Grammofon / Cargo Records erschienen

Bei den Aufnahmen, die jetzt unter dem Titel »The Inmost Light« (Durtro Jnana) auf drei CDs wieder veröffentlicht worden sind, bestand das Line­Up von current 93 aus David Tibet, Steven Stapleton, Michael Cashmore und Joolie Wood. Mit dem heutigen Ohr gehört, ist erst vernehmbar, welch paradigmatische Stellung die beiden Mini­Alben »Where The Long Shadows Fall« und »The Stars Are Marching Sadly Home« sowie die LP »All The Pretty Horses« aus den Jahren 1995/96 für die derzeit doch sehr lebendige und innovative Folkszene einnehmen. Nicht nur die Organisation als Kollektiv im Stile der späten 1960er Jahre, die sich durch Fluktuation der Mitglieder und gegenseitige Aufwartung (Nick Cave, John Balance von Coil, Andria Degens von Pantaleimon sind Gäste hier) genauso auszeichnete wie durch die Inspiration an­ derer Künste (die C93­Trilogie wurde inspiriert durch den Maler Louis Wain und den Schriftsteller Thomas Ligotti), ist es die musikalische Nutzbarmachung von Zeit (eine Idee = 40 Minuten), die dieser künstlerisch­theatralischen Folklore nun schon seit 1982 anhaftet und vergleichbar macht mit Sunburned Hand Of The Man oder Jackie­O Motherfucker. Selbst solche Bizarrheiten wie der hier zele­ brierte gnostische Fanatismus taucht heutzutage wieder auf: beispielsweise bei Wooden Wand. Mit weiterem Blick auf diese uneindeutigen, geflüsterten, schaurigen Texte (»I take your hand / We walk towards where the roses on­ ce grew«), ist das heute gebräuchliche Eigenschaftswort »wyrd« für diesen Folk wohl mehr als zutreffend. Ob ihrer Kollektiv­Strukturen, Vorliebe für epische Länge, folkloris­ tischen Ästhetik passen auch die Bands aus dem Umfeld des kanadischen Labels Constellation wie Molasses, Thee Silver Mt. Zion oder hrsta (»Ghosts Will Come And Kiss Our Eyes«) in dieses Schema. Von hier kommt dieser Ta­ ge auch das elfte Album von Vic chesnutt. Ende der 1980er Jahre von Michael Stipe entdeckt, zehn Jahre später von der gesamten Alternative­Music­Bande hofiert, dann fallengelassen, hat der seit 1983 durch einen Autounfall in betrunkenem Zustand querschnittsgelähmte Musiker zu­

sammen mit Guy Picciotto (Fugazi) sowie Halb­Montréal (Thee Silver Mt. Zion, Hangedup, Frankie Sparo) ein ab­ wechslungsreiches, herausforderndes, kluges Werk (»North Star Deserter«) aufgenommen. Ähnlich Gutes war auch von animal collectiVe zu erwarten. Deren siebente Offenbarung »Strawberry Jam« kann tatsächlich sämtliche Erwartungen einlösen. Klar, das abstrakt Neue vermag zu stagnieren und in Immergleichheit umzuschlagen. Doch, das sollte auch der neuerliche Wechsel zu Domino – Hei­ mat von Franz Ferdinand, Arctic Monkeys, Bonde do Role – endlich klarmachen: Das hier ist keine Avantgarde, sondern die mit Abstand frischeste Popmusik der letzten Jahre. Deren Kumpel eric copelanD (Black Dice) hat übrigens auf dem AC­Imprint Paw Tracks gerade ein sich jeglicher Einordnung entziehendes Solodebüt mit dem so passenden Namen »Hermaphrodite« veröffentlicht, das als Mixtape für gefundene Klangschnipsel funktionieren soll, aber vom Wesen her eine Art kakophonische Jukebox ist. Auch Andrew Broder, Kopf hinter dem inzwischen zum Trio angewachsenen Projekt fog, wollte ja einst aus unachtsam vernachlässigten Geräuschesamples perfekte Popmusik machen. Wie dieses Vorhaben in formidablen Artrock à la Wilco umschlagen kann, zeigt das dritte Fog­ Album (»Ditherer«, Lex Records), welches Jeff Tweedy zu­ rück in die Depression schicken könnte. Auch tunng, die Band um Sam und Mike Lindsay, musizieren inzwischen als ›richtige‹ sechsköpfige Band, was auch ihrem dritten Album (»Good Arrows«, Full Time Hobby) zu einem kon­ zentrierten Klang und pointierten Kompositionen verhilft. Und wo wir gerade bei guter Musik sind: Touch & Go hat gerade frühe Aufnahmen von the for carnation un­ ter dem Titel »Promised Works« veröffentlicht: Brian Mc­ Mahon und David Pajo (Slint), Douglas McCombs & John Herndon (Tortoise), undundund. Nur falls jemand den Zauber der frühen 1990er Jahre nochmals erleben will.

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worte

»Nur die Jungen bringen etwas Neues, und sie sind nicht sehr lange jung.« William S. Burroughs über die JUNGEN VERLAGE Seite 44

»In dem Augenblick, in dem wir versuchen, die menschliche Sexualität bis in die letzten Ritzen auszuleuchten und vollständig transparent zu machen, ist sie schon gewesen.« Svenja Flaßpöhler über den POSTPORNOGRAPHISCHEN BLICK Seite 48

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Junge Verlage Post­pornographische Literatur Ballhaus Ost Fridolin Schley Nick Tosches Gottfried Benn Helmut Krausser

reviews 56 performativ 57 Kinski liest Kinski Sibylle Berg 58 Rob Sheffield William Boyd 59 Karl Otten 60 Frederick Philip Grove Yoko Tawada 61 das dispositiv

Illustration: BOB LONDON


text, interviews: matthias penzel illustrationen: masako

Da ist derzeit richtig Schwung auf dem Buchmarkt: Die ›jungen Verlage‹ hebeln alteingesessene Strukturen aus, und Autoren wie Jonathan Lethem bringen neuen Schwung in die CopyrightDebatte. Das Bild der verschnarchten Verlagswelt wird mit einer Spur Rock’n’Roll konterkariert

Mehr als 90.000 Neuerscheinungen1 duten all­jährlich auf den deutschen Buchmarkt. Neben Koch- und Schul­ büchern sind das Ka­lender und alle möglichen anderen Druck­erzeugnisse. Unter dem, was in Buch­handlungen ankommt, spielen Romane die größte Rolle; das Gros da­ von kommt aus dem angloameri­kanischen Sprachraum, vor allem den US of A. Darauf ange­sprochen meinen die meisten Literatur­be­triebler, das läge wohl an deren Tradi­ tion, deren Lust am Erzählen, universa­len Plots, wie sie auch aus Hollywood geliefert werden. Vielleicht liegt es auch an der besseren Verpackung, dem Marketing, den Agenten, an Mecha­nis­men, die man mit Literatur und Erzählweisen seltener assoziiert, eben dieser Ag­gres­ sivität, die auch Starbucks und McDo­nald’s zu ›Er­folgs­ geschichten‹ machte. Für Verlage ist das gut: Sie müssen sich oft gar nicht bemühen, herauszufinden, warum ein Buch funktioniert, wen es anspricht usw. Sie machen es, es kommt an oder wird kurz später eingestampft. Vielleicht hat man Glück, und man lan­ciert einen Hit. Wenn nicht, übernimmt man keine Verantwortung. Mit der Lese­brille auf der Nase kriecht den Ent­scheidern die Angst in den Nacken. So weit, so deprimierend.

Unter dem Radar der Talentscouts wu­chern eine Menge Sachen, die die Be­triebler in den konventionellen Buch­ fabriken nicht verstehen können oder wollen. So was wie »Lit Riffs«, eine Anthologie, die von dem Urtier des Rock’n’Roll-Journalismus inspiriert wur­de: von einer Shortstory, die Lester Bangs schrieb, quasi als Remake eines Songs, Rod Stewarts »Maggie May«. Die von MTV Books verlegte Anthologie vereint Texte von mehr und minder bekannten Autoren, zu mehr und minder coo­ len oder pein­li­chen Songs, mit teilweise atemraubenden Er­geb­nissen. Hierzu­lan­de: unbekannt. Man kann anneh­ men, dass Snobismus und Un­wissenheit, gekoppelt mit Angst vorm Risiko (das rhetorische Deckmäntelchen: ›So was haben wir schon mal versucht, ging überhaupt nicht!‹) einer hiesigen Veröffent­lichung im Weg stehen. Krisen und Kon­zentrationsprozesse sind aber auch immer gut, denn sie offenbaren Lücken. Ber­tels­männer und andere mit dem Blick auf Rendite und dem Herz in Gü­ters­­loh agierende Konzerne hinterlassen Lücken. In die stoßen nun seit ein paar Jahren die ›Neuen jungen Kleinverlage‹. Manche heißen, weil das Tradition hat, wie ihre Verleger, an­dere heißen Ver­brecher, blumenbar, Tropen, Kookbooks, orange-press, Tisch 7 usw.

Einschub: Warum überhaupt hierauf ein­gehen? Kauft nicht jeder, was ihm ge­fällt, eher orientiert an Autoren  / Mar­ken­namen denn Verlagen? Stimmt. Wie bei Plat­ tenlabels gibt es allerdings bei Ver­­lagen die mit einem Pro­ fil, das einem hilft, mehr nach dem eigenen Geschmack zu finden, und es gibt Warenhaus-ähn­li­che Apparate, deren Programm mehr von Schlager und Kas­sen­schlagern oder von »Zauberberg« und »Blechtrommel« bestimmt ist. So gesehen ist es von Vorteil, zu verstehen, warum es sich lohnen kann, nach den ›Kleinen‹ zu suchen und gege­be­ nenfalls ein paar Cent mehr auszugeben. Anders, wie Wil­­­­­ liam S. Burroughs in »Naked Lunch« feststellt: »Nur die Jungen bringen etwas Neues, und sie sind nicht sehr lange jung.« Unabhängige Verlage gab es natürlich schon im­mer, so wie es immer Literatur­be­geisterte gab, die einem be­ stimmten Zeitgeist oder Autoren näher waren und so ef­ fektiver agieren konnten als die alteingesessenen Kartelle. Die neuen jungen Verlage haben mit früheren (Wa­gen­­bach, Maro usw.) einiges gemeinsam, doch in vielem unterschei­ den sie sich von ihnen. Sie wissen, dass Idealis­mus und Liebe zum Überleben nicht genügen. Sie schreien nicht lauthals über die ›Even­ti­sierung‹ der Literatur, sie ken­nen Tarantino, SubPop, Surfer oder Skater, Comics und Mc­ Luhan sowie an­dere Ver­ästelungen der Popkultur. An­ders als frü­her sind die Nischen, die sie be­treuen, nicht mehr Outsider und Ter­ro­risten an den Grenzen von Legalität und konventionellen Formen, sondern oftmals nahe dem, was auch große Verlage machen. Das heißt, von Nischen kann eigentlich nicht die Rede sein. So wie überall gibt es auch unter diesen Indies Idio­ten und Kenner. Jedoch: Für Kultur und Litera­tur, für Vielfalt und Irrsinn sind sie essen­ ziell. Wa­rum? Weil die etablierten Verlage im­mer mehr auf die Wünsche von Ketten wie Hugen­dubel, Weltbild und Thalia eingehen, und die haben Schnell­dreher im Auge, »Vollidiot« im Schau­fenster. Strand­lektüre, bloß nichts Be­ wegendes, bloß nichts Neues. Das Phänomen der jungen Verlage ist für Vertreter der Me­dien­elite übrigens ein alter Hut, war es schon, als Denis Scheck auf der Leipziger Buchmesse 2005 eine Panel-Dis­ kus­sion hierzu mo­de­rierte, erst recht ein Jahr spä­ter, als man mit der »Lese-Insel« in Leip­zig auch in Leit­­artikeln der Rhein­pfalz und ver­gleichbaren Or­ga­nen des Hinter­ lands an­kam; wird es auch sein, wenn es irgend­wann eine Art Indie-Bestenliste gibt ... und hoffentlich schließlich ei­ nen ge­sonderten Tisch hierfür bei Thalia et al. Verwirrt? Ih­ re Bücher könnten auch bei den Großen erscheinen (tun das mitunter als lizenzierte Taschenbücher), sie wollen auch vom hinteren Ende der longtail-economy zu Thalias Massen­ge­schäft ... wer oder was sind sie denn nun?

Das sind sie, die jungen Verlage 1

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94.716 im vergangenen Jahr. Das auf dem deutschen Buchmarkt erwirt­schaftete Gesamtvolumen betrug im Jahr 2006 € 9,3 Mrd., 2004 rund € 9,1 Mrd., 2003 € 9,07 Mrd. Die gesamte Produktion von Gegenständen des Buchhandels der deutschen Buchverlage umfasst rund 960 Millionen Bücher und ähnliche Druckerzeugnisse – lt. Börsenverein des Deutschen Buchhandels bzw. dem von ihm herausgegebenen »Buch und Buchhandel in Zahlen 2007«

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orange-press

Erstes Buch und Vö.-jahr 2002 Mission / Warum ein Verlag?

Weil es keinen Non-Fiction-Verlag gab, mit einem frischen, vitaminreichen Image, der sich was traute. Das Besondere

Systematisches Serendipity-Verfahren Erfolgreichstes Buch »WE FEED THE WORLD«: Buch mit dem Regisseur Erwin Wagenhofer zu seinem gleichnamigen Film (20.000 im ersten Jahr), und als erstes Linzenzverkauf nach Frankreich Highlight Die deutsche Erstausgabe von Edward Bernays Buch »PROPAGANDA« im Herbst 2007. Ähnlich wie bei W.E.B. Du Bois wundert man sich auch hier, dass dieses Erstlingswerk der PR, der Beginn eines Diskurses, begonnen von Sigmund Freuds Neffen, noch nie auf Deutsch er­ schienen ist ... Flop John Travoltas Mini-Novelle »NACHT­ FLUG NACH L.A.« (keine 100) Das eint ›die kleinen Verlage‹

Die gemeinsame Party zur Buchmesse, BOOKFAIR A GOGO

mairisch Verlag

Blumenbar

Erstes Buch und Vö.-jahr:

Erstes Buch und Vö.-jahr

Til Stolz, »und durch das bier nun also dichter«, 1999

Mission / Warum ein Verlag? Darum.

Mission / Warum ein Verlag?

Das Besondere Bücher verlegen und eine

Junge Literatur entdecken und junge Au­ toren langfristig begleiten. Das Besondere Der zweite Schwerpunkt: Hörspiel. Produktionen aus der freien Hörspielszene werden hier erstmals ver­ öffentlicht. Erfolgreichstes Buch Finn-Ole Hein­ rich, »die taschen voll wasser«, 2005 Highlight: Claes Neuefeind, »pressplay. Die Anthologie der freien Hörspielszene«, Aufwändigstes und spannenstes Projekt bisher. Flop Wir veröffentlichen nur Projekte, die wir toll finden, also gibts keine Flops.

Bar betreiben unter dem gleichen Label. Peter Licht, »Wir werden siegen!«, 2006 Highlight Matias Faldbakken, »The Cocka Hola Company«, 2003, und »Macht und Rebel«, 2005 Flop Aylin Langreuter, »Erster Teil«, Werk­ schau, Kunstleder, 2004

Das eint ›die kleinen Verlage‹

Besonderes Engagement (auch über das Übliche hinaus), Liebe zum Detail und ein Hang zur Selbstausbeutung.

Verbrecher Verlag

Erstes Buch und Vö.-jahr Dietmar Dath,

Erstes Buch und Vö.-jahr

»Cordula killt dich! Oder: Wir sind doch nicht die Nemesis von jedem Pfeifenheini. Roman der Auferstehung«, 1995

»Live und direkt«, 2004

Mission / Warum ein Verlag?

Mission / Warum ein Verlag?

1. Weil man nichts anderes kann. 2. Die Literatur! Die Literatur! 3. Geld. Das Besondere Wir sind ein guter Verlag und lieben unsere Bücher. Erfolgreichstes Buch Jim Avignon, »Welt und Wissen«, ca 3.500 Exemplare Highlight Alle. Vier weitere Titel, die eben­ falls rund 3.000 verkauft haben. Der Rest ist nicht immer in finanzieller, aber in lite­ rarischer Hinsicht gut. Wir wollen diese Ti­ tel noch heute gemacht haben, auch jene 2 Titel, die nicht einmal 100 Exemplare ver­ kauft haben. Das ist das vor allem Pech des Publikums, wenn es das Gute nicht kauft. Flop Keiner.

Voland & Quist

Wir verlegen originelle urbane Literatur in entsprechender Form und Ausstattung. Deshalb legen wir neben den Texten auch viel Wert auf das Design und die CD, die jedem Buch beiliegt. In dieser Form gab es das auf dem Buchmarkt noch nicht. Das Besondere

gut aussehende Bücher mit CDs Erfolgreichstes Buch

Ahne, »Zwiegespräche mit Gott« Highlight

Edo Popovic, »Ausfahrt Zagreb-Süd« Flop Leider mehrere aus den ersten Pro­ grammen. Das eint ›die kleinen Verlage‹

Das eint ›die kleinen Verlage‹

Der Wille, das zu tun, was man mag und das meist abseits des Mainstreams stattfin­ det sowie echte Begeisterung gepaart mit Selbstausbeutung;  reich wird man als klei­ ner Indie-Verlag nämlich nicht.

Sie sind klein. Sie haben vergleichbare Pro­ bleme. Sie haben gelernt miteinander zu kooperieren.

Lilienfeld Verlag

Tropen Verlag

Erstes Buch und Vö.-jahr Paul Kersten »Die toten Schwestern«, 2007

Erstes Buch und Vö.-jahr

Mission / Warum ein Verlag?

»Steter Tropen höhlt den Stein«, 1996 Mission / Warum ein Verlag?

Der Barcode auf dem Cover. Erfolgreichstes Buch Anna Tregubova »Die Mutanten des Kreml« (20.000) Highlight Jonathan Lethem »Festung der Einsamkeit« Flop Bruno Ballardini, »Jesus wäscht weisser oder wie die Kirche das Marketing erfand« Das eint ›die kleinen Verlage‹

Ihr Wille zur Individualität sowie die Ent­ decker- und Leselust, die sie fördern.

Wir graben aus, wir bewahren, wir zeigen wieder drauf. Das Neue braucht Quellen – die wollen wir finden. Das Besondere Schöne Buchausstattung und »gute« Literatur, die das hat, was wo­ anders nur in flacherer Weise gefunden werden kann: Spannung, Witz, Erkenntnis und große Gefühle. Erfolgreichstes Buch / Highlight /flop

Lässt sich noch nicht sagen, da wir neu sind. Das erfolgreichste Buch bei den Vor­ bestellungen aus dem Buchhandel: »Staub und Sterne« von Knud Hjortø. Das eint ›die kleinen Verlage‹

Der Glaube an Texte. Und der Glaube, dass es Leser dafür gibt. 46  worte

FX Karl, »Memomat«, Roman, 2002

Erfolgreichstes Buch

Das eint ›die kleinen Verlage‹

chronischer Geldmangel

kookbooks Erstes Buch und Vö.-jahr

Daniel Falb, »die räumung dieser parks«, Oktober 2003 (kam zeitgleich raus mit Jan Böttchers »Lina oder: Das kalte Moor«) Mission / Warum ein Verlag? Für diese hervorragenden Dichterinnen und Dich­ ter, für Dichtung, für Experiment und Neugier, für weniger langweilige und schö­ nere Bücher Das Besondere Poesie als Lebensform Erfolgreichstes Buch Uljana Wolf »kochanie ich habe brot gekauft« Highlight Monika Rinck, »Ah, das LoveDing!«, Steffen Popp, »Ohrenberg oder der Weg dorthin«, Michael Stavaric / Renate Habinger, »Gaggalagu« Flop Jakob Dobers / Rainer Leupold »Falsche Russen im Buch«

Tisch 7 Erstes Buch und Vö.-jahr:

Doris Konradi, »Fehlt denn jemand«, 2005 Mission / Warum ein Verlag? Damit wir eine gute Ausrede haben, den ganzen Tag und ungestraft über unser Lieblingsthema Literatur reden zu können. Das Besondere Wenn alle Bücher, die wir gemacht haben, nebeneinander stehen, erkennt man das Besondere auch ohne Erklärungen des Verlegers. Erfolgreichstes Buch Stefan Weigl »Marienplatz – Einmal Löwe, immer Löwe« Highlight Unser aktueller Titel Doris Kon­ radis »Frauen und Söhne« Flop Unser Modebuch. Das eint ›die kleinen Verlage‹

Was allen Vorteile bringt und die Arbeit erleichtert. Und dass wir nicht gern hören, wir seien klein. Das kommt nämlich auf den Blickwinkel an.

Was bei den (hier genannten) neuen, jungen, unabhän­ gigen Ver­lagen anders ist, lässt sich am besten mit zwei Sa­ chen illustrieren: Erstens eine Weis­heit, die jeder versteht, wenn er Rock’n’Roll ver­steht: Wichtiger als das, was ge­ macht wird, ist, wie es warum gemacht wird. Kurz: attitude. Es geht nicht darum, ob es einem gelingt, sich mit Blue­ jeans und Turnschuhen zu ver­jüngen, sondern um zwei­ tens: Als Orange-Press und Tropen erstmals auf der Frank­ furter Buchmesse einen Stand anmieteten, zusammen, hatten sie Titel über Medien­theorie, Street-Art, HipHop und Skater dabei. Abends gab es Party ohne Sekt­flöten, dafür mit DJs und Electronica. Alles slick und weit weg von Keller­ver­legern, aber auch abseits etablierter Macher. Exemplarisch für Tropen und für den drive, den der Verlag in die Branche brachte, ist Jonathan Lethem. Der Autor, sein Werk, seine Herangehensweise. Im Rolling Stone schreibt er über Cash und Comics. Im Internet fand man ihn schon 19972. Er debütierte mit einem Roman, der sich anfühlte wie »Blade Runner«, in dem ein Känguruh und Thriller­elemente wie von Raymond Chandler abwechsel­ ten. Crossover. Abseits konventionel­ler Schub­laden. Mit Pepp und Pop. Ge­nauso die folgenden Bücher, alle irgend­ wie Crossover, alle so, dass der Heyne Ver­lag entschied: geht nicht. Bei Tro­pen, mit völlig an­derer (eige­ner) Ver­ packung, den Verlegern selbst als Über­setzer (und Setzer, Designer, Vertreter, Presse) ging’s. Lethem lief so­gar so gut, dass Gold­mann Lizenzen für Taschen­buchaus­gaben einkaufte, Lethem in jede Bahn­hofs­buchhandlung kam. Cross­over, Pop und Pepp, schwer ein­zu­ordnen, leicht und doch heavy: ging nicht nur, der Stoff läuft hervorragend. »Mother­less Brook­lyn« hatte der Verlag für 5.000 Mark ein­ge­kauft, die Taschenbuchrechte für über € 50.000 verkauft3. Der Titel, mit dem Heyne in den 1990er Jahren floppte, »Knarre mit Begleitmusik«, erschien dort sechs Jahre später als »Der kurze Schlaf«. Warum auch nicht? Zwar weder Best­sel­ler­kost noch Kanonenfutter, weder Schlager noch Symphonie – aber eben auch keine sperrige Zwölftonmusik (um das Denken mal kurz in Töne zu fassen). Vielmehr knüpft Lethem an das an, was Alfred Andersch schon vor Jahrzehnten for­ derte: »Das von Chandler gesetzte Prinzip des Verzichts auf literarische Pose wird niemals aufgegeben. Vielleicht handelt es sich dabei zum Entsetzen so genannter Avantgarde um das eigentlich avancierte Prinzip heutiger Literatur.« In Lethems aktuellem Roman, »Du liebst mich, du liebst mich nicht«, agieren vier slacker zwischen Sexshop 2

und Probe­raum, Kunstgalerie und Gefühlschaos. Mit Ins­ trumenten, viel Ambition und etwas zu­viel Abgeklärtheit für den Sprung ins Pop-Geschäft. Nicht nur die Besetzung mit zwei Frauen, Akzentuierung auf Ideen statt Handwerk, deutet Parallelen zu Talking Heads und Sonic Youth an: Bei ihrem Job als Telefonistin einer Nörgel-Hotline notiert sich die Protagonistin Worte und Gedanken eines Anrufers, so kommt die Band an neue Songs, auch ihren Namen, und dann stolpert sie auch noch in die Chance, bei einer Vernis­ sage auf­zu­­treten, da dann allerdings im Sinn von »4’33”«, jenem Song von John Cage, in dem nichts geschieht. Der Roman ist nicht ganz so knüppeldick mit Verweisen und cross-references angefüllt wie dieser Absatz, doch es geht ihm darum: Ideen, Zeilen und wem sie gehören. »Zettels Traum« auf Speed, als Alptraum, beim Treffen Lucindas auf den Nörgler noch mehr von allem und bis zum Exitus. Alles ziemlich schnell, gar nicht heavy, mit einigen hinreißenden Passagen – und für Musikfans ohne Dysle­ xie fast ein Muss. Richtig cool ist, was man nicht liest: die Überlegungen zu Copy­right, was juristisch oder moralisch rechtens ist oder sein sollte. Wer sich dafür interessiert, kriegt Lethems Über­legungen dazu. Gedanken sind frei. Rock’n’Roll ist seit den Tagen der oft nur minimalen Riffs im Blues über Dylan bis hin zu Samples usw. eine einzige Kul­tur der Raubkopierer (oder gelebter open source communities) – wie Lethem in einem Essay (auch kostenlos, bei Har­per’s4) darlegt. Und so kommt bei dem in »Lit Riffs« auch vertretenen Lethem alles zusammen, von Rock’n’Roll über die alten versus neuen Ver­triebs­struk­turen und Tech­ nologien, Burroughs’ Umgang mit Text und Wort wie mit Farbe und Material, zitiert aus einem Essay William Gib­ sons (so wie der Verweis auf Chandler bei Andersch aus einem TV-Talk mit Fauser stammt) ... Neugierig gemacht, erfährt man auf jonathanlethem. com, dass Lethem mit dem Promiscuous Materials Project auch tut, was er sagt. Er lädt hier allen Ernstes dazu ein, ›bestohlen‹ zu werden5. Weniger provokant formuliert: Er erklärt, warum es ihm lieber ist, seine Ideen und Schnip­ sel werden zu Songs, seine Stories für Filme oder Dramen adaptiert, als dass das alles auf der Festplatte Schim­mel ansetzt. Ein irres Konzept6 eines Autors mit at­ti­tude bei einem coolen Verlag inmitten einer wirklich spannenden Verlags­ szene.

Unter Arts | Humanities | Literature | Genres | Literary Fiction | Authors war Lethem bei Yahoo einer von 318 gelisteten Autoren; ein Jahr später waren es 451, 609, mit dem Anschwellen der Dotcom-Blase im Jahr 2002 dann 4052, dann 4544, 4891

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KulturSPIEGEL 12/2002 vom 25. November 2002

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»The ecstasy of influence: A plagiarism« in Harper’s Magazine 2/2007, http://www.harpers.org/archive/2007/02/0081387

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www.jonathanlethem.com/promiscuous_materials.html

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Der Verlag Another Sky Press aus Portland / Oregon verfolgt ein ähn­liches Konzept: Alle Titel sind online abruf- und lesbar. Auf Gros­sisten und Zwischenhändler verzichtend, verspricht der Verlag Autoren bei verkauften Büchern 100% des Gewinns.

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Nichts als Gespenster! Über Neo­PorNo und post­pornographische Literatur text, interviews: annika schmidt illustration: kenada – www.nosurprises.it

Götter und Nutten Pornographische Literatur mit ihrer langen Tradition vom Marquis de Sade über D. H. Lawrence bis zu Hen­ ry Miller boomt seit einigen Jahren. Titel wie »Das sexuelle Leben der Catherine M.« (2001) von Ca­ therine Millet, »Baise-moi« (2000) von Virginie Despentes, »Hure« (2002) von Nelly Arcan und natürlich »Porno« (2002) von Irvine Welsh sprechen für sich. Aber auch Theoretiker, pornographische Feldfor­ scher und Neo­PorNoler melden sich mehr oder weniger literarisch zu Wort. Ariadne von Schirach legt beispielsweise nach ihrem 2005 im Spiegel erschienenen Essay jetzt das knapp 400 Seiten starke Buch »Der Tanz um die Lust« nach. In diesem lamentiert sie – nebst Anekdötchen über ihre Freunde »SusiPop«, »König Gunter« oder »die Eisprinzessin« – wei­ terhin ausführlichst über die Pornografisierung der Ge­ sellschaft: »Die pornographische Freizügigkeit bedeutet das temporäre Ende der sexuellen Moral. Dies schützt meist den Erhalt der Familie; ein Ideal, das in unserer Lebenswirklichkeit viel von seiner alten Bedeutung eingebüßt hat. Das nun frei flottierende Begehren erzeugt eine allgegenwärtige Bewertungssituation. Und nur Götter und Nutten dürfen wirklich mitspielen.« Die amerikanische Autorin Ayn Carrillo­Gailey ist da­ gegen gelassener. Sie erzählt in »Pornology« (2007) – eben­ falls wie die Philosophin Schirach mit trivialliterarischen Fallbeispielen ihres frivolen Freundeskreis »the Naughty Knitters« ausschmückend – von ihrer Odyssee durch die sich ausbreitende Konsumwelt Pornografie: »Es ist eine bi48  worte

ologische Tatsache, dass wir alle auf Sex programmiert sind und darauf, anderen Lust zu bereiten. […] Guter Porno (beispielsweise Vibratoren, erotische Literatur, Sexspielzeug und einige Filme) hilft uns dabei, Sex, Leidenschaft, Lust und Verlangen wieder in unser Blickfeld zu rücken«. Pornogra­ fie stuft Carrillo­Gailey nach anfänglichen feministischen Vorbehalten letztendlich als käufliches Phänomen, aus dem jeder Nutzen ziehen kann, und nicht als gesellschaft­ liches Problem ein. Wo man ihr nur zustimmen kann, denn – wie Svenja Flaßpöhler in der Einleitung ihrer wis­ senschaftlichen Arbeit über Porno­Filme, »Der Wille zur Lust. Pornographie und das moderne Subjekt« (2007), rich­ tig bemerkt: Trotz vermehrter sexueller Darstellungen in der Öffentlichkeit bleiben Grenzen wie das Zeigen eines steifen Gliedes in der Werbung oder im Mainstream­Pop allein schon aufgrund des §184 des Strafgesetzbuches ge­ wahrt. Pornografie für Werte­Verfall verantwortlich zu ma­ chen, ist die Analogie zu der irren Idee, dass das Spielen von Ego­Shootern zu Amok­Läufen führe. Sicher ist lediglich – wovon nicht nur pornographische Literatur, sondern auch Neo­PorNo­Veröffentlichungen dankbar profitieren –, dass das Label »Pornografie« sich gut verk­ auft: »Es gibt Literatur, die sich pornografischer Mittel bedient, die ich nicht unbedingt als subversiv oder kunstvoll beschreiben würde«, so Svenja Flaßpöhler im Gespräch. »Bei Melissa P.s ›Mit geschlossenen Augen‹ beispielsweise ist es wirklich einfach nur eine Vermarktungsstrategie. Da werden klar pornografische Dramaturgien abgerufen, die überhaupt nicht über sich selbst hinausweisen.« Porno-Dystopia Andererseits gibt es Literatur, für die Pornografie nicht verkaufsfördernde Möglichkeit, sondern ästhetische Notwendigkeit ist. Die Autorin Helen Walsh beispiels­ weise sieht ihr Buch »Millie« (2006) trotz des Kreisens um Sexualität und explizite Schilderung solcher nicht als pornographischen Roman, sondern als »urban poetry«. Denn die pornographische Darstellungsweise sei nicht zentral, sondern unvermeidbar: »I don’t think, ›Millie‹ is a pornographic novel, but Millie’s view-point is very pornographic. The reality is that modern day culture is saturated with pornographic images. It is very difficult to write a book today about young people and sexuality without recourse to pornography.« Exemplarisch ist auch die narrative Funktion der por­ nographischen Passagen in diesem Roman. An ihnen wird die Problematik der geschlechtlichen Identitätssuche der Protagonistin Millie vorgeführt und durchgespielt. Auch die jetzt erschienene, von Friederike Moldenhauer und Tina Uebel herausgegebene Anthologie »Sex ist eigentlich nicht so mein Ding« thematisiert die titelgebende und oft explizit dargestellte sexuelle Ernüchterung: »du kennst noch nicht mal ihren Nachnamen und die haben schon deinen Schwanz im Maul, irgendwie befremdet mich das alles.« (Jürgen Noltensmeier) Solche Literatur bedient sich des lüsternen Vokabu­ lars von Porno­Filmen, verschweigt aber gleichzeitig nicht

ihre lustlose Kehrseite. Sie zeigt Sexualität nicht stimulie­ rend oder überhöhend, sondern scheiternd oder satirisch wie Matias Faldbakkens Porno­Produktions­Firma­Roman »The Cocka Hola Company« (2004). Michel Houellebecq und Elfriede Jelinek zählt Svenja Flaßpöhler außerdem zu dieser Literatur, die den Porno­Diskurs zitiert und inso­ fern »drin«, aber gleichzeitig »draußen« sei. Der Pornofilm schaffe dagegen eine »Pornotopia«: »diese Illusion oder Utopie, sich selbst vollkommen gegenwärtig zu sein, nichts mehr verdrängen zu müssen, sondern jeden Wunsch unmittelbar ausleben zu können – also mit sich selbst einig, eins zu sein.« Literatur wie Michael Hvor­ eckys Roman »City. Der unwahrscheinlichste aller Orte« (2006) entlarvt diese kurzweilige Verheißung und lässt sie ins Dystopische kippen. Als der Wunsch des Protago­ nisten nach einem Leben in einem andauernden Echtzeit­ Porno Realität wird, entpuppt er sich als apokalyptisches, alptraumhaftes Endzeitszenario. Solche Porno­Literatur ist Post­Porno­Literatur. Sie transformiert erstens pornographische Strategien, wie die vom Pornofilm zur Performance gewechselte »Mutter von Postporno« Annie Sprinkle, die laut Tim Stüttgen in der Porno­Ausgabe der Texte zur Kunst Sexualität nicht mehr naturalisiere, sondern kommentiere, reflektiere und paro­ diere. Zweitens kann der von Georg Seeßlen 2000 in der taz für Filme wie Catherine Breillats »Romance« (1999) vorgeschlagene »post-pornografische Blick«, der Sexuali­ tät durch pornographische Ästhetik als vergangen und entfremdet wahrnimmt, mehr oder weniger reibungslos auf die Literatur übertragen werden. »In dem Augenblick, in dem wir versuchen, die menschliche Sexualität bis in die letzten Ritzen auszuleuchten und vollständig transparent zu machen, ist sie schon gewesen. Vielleicht geht es im postpornografischen Blick darum, diesen Verlust zu betrauern, um dann eine neue, andere Herangehensweise zu finden, die vor der Leerstelle durchaus nicht zurückschreckt wie der klassische Hollywood-Film, diese Stelle aber auch nicht, wie es die Pornografie tut, auf das Eine reduziert.« (Svenja Flaßpöhler) Die Pornotopia – und somit literarisch wie gesell­ schaftlich die Neo­PorNo­Bewegung – war immer schon gestern, heute ist Porno­Dystopia. Und ganz natürliche und erfüllende Sexualität fernab von Kunst und Theorie gibt es auch noch. »Ayn Carrillo-Gailey: Pornology. Ein braves Mädchen erkundet die abenteuerliche Welt der Strip-Clubs, Pornokinos, Freudenhäuser und Männermagazine«, in der Übersetzung von Christoph Hahn, Rogner & Bernhard, Berlin 2007, 344 S., € 19,90 »Sex ist eigentlich nicht so mein Ding. Eine Anthologie«, hrsg. von Friederike Moldenhauer und Tina Uebel, Eichborn, Frankfurt a. M. 2007, 248 S., € 16,95 »Der Tanz um die Lust« von Ariadne von Schirach, Goldmann, München 2007, 382 S., € 14,95 Svenja Flaßpöhler, geboren 1975 in Münster, promovierte 2005 im Fach Philosophie mit der jetzt erschienen Arbeit »Der Wille zur Lust. Pornographie und das moderne Subjekt« (Campus). Außerdem veröffentlichte sie in diesem Jahr »Mein Wille geschehe. Sterben in Zeiten der Freitodhilfe« (WJS-Verlag). Als freie Journalistin schreibt sie vor allem für den Deutschlandfunk, den SWR und Psychologie heute. Zur Zeit arbeitet sie an dem Buchprojekt »Die Figur des Dritten in der Liebe« (erscheint 2008 im Patmos–Verlag). Das komplette Interview unter www.goon-magazine.de

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Kollektivisten im Alleingang Dreierlei Kontoführung im Ballhaus Ost. Eine Zwischenbilanz

text: susanne lederle

»Uwe und ich kamen aus dem Urlaub zurück und beschlossen, jetzt ein Theater zu gründen. Wir hatten uns das so gedacht: Man trifft sich abends am Lagerfeuer mit einem guten Freund und heckt ein paar Pläne aus.« Dass es ganz so gemütlich nicht zugeht, wenn man eine neue Spielstät­ te etablieren will, haben Philipp Reuter und die beiden Mitgründer des Anfang 2006 eröffneten Berliner Ball­ haus Ost Uwe Moritz Eichler und Anne Tismer schnell gemerkt. Aber bei Sätzen wie »Vielleicht wird’s auch ’ne Sekte« setzt trotz oder gerade wegen dieser Selbstironie die Ahnung ein, dass nach wie vor der Wunsch nach La­ gerfeuerromantik und In­den­Sonnenuntergang­Reiten ein wenig zu übermächtig sind. Unter der Aufschrift Ballhaus Ost, Pappelallee 15 in Prenzlauer Berg findet sich der Eingang in eine dem Haus eingegliederte Galerie, einen großen Ausstellungsraum mit unverputzten Wänden und fulminant­fleckigem purpurnen Teppich. Erst im Hinterhof erreicht man das Haupthaus, ein Gründerzeitgebäude mit bröckelnder Fas­ sade. Einschusslöcher und morsche Holzfenster verraten den hohen Baufälligkeitsgrad. Im ›Großen Saal‹ mit Kir­ chenschiff­Charakter und großen Rundbogenfenstern fin­ det sich die Bühne. Öffnet man die Flügeltür an der Nord­ wand, flutet Licht hinein und gibt den Weg zum ›Garten‹ des verwunschen anmutenden Hauses frei: einem alten Friedhof. Graveyard poetry­Atmosphäre macht die mor­ bide Magie perfekt. Der Verfall »verleiht den Räumen eine wahnsinnige Präsenz und Theatralik«, sagt Bianca Schö­ nig, konzeptuelle Leiterin der Galerie. Klingt soweit gut, Kulisse ist wichtig. Und warum ein neues Theater? In der Schieflage Anne Tismer hat als Schauspielerin auf den Bühnen in Berlin, München, Zürich und Bochum gestanden und drehte Kinofilme. Als Nora in Thomas Ostermeiers Ibsen­ Inszenierung an der Berliner Schaubühne wurde sie gefei­ ert. Aber sie wollte ›mehr‹, mehr als spielen und weisungs­ gebunden sein: selbst Stücke schreiben und in Eigenregie inszenieren. So beteiligte sie sich an der Ballhaus­Grün­ dung und inszeniert dort mit ihrem Kollektiv Gutestun. Auch Reuter versteht sich als ›System­Flüchtling‹, der den Befreiungsschlag suchte. Am Schauspielhaus Bochum, wo er als Schauspieler und Regisseur beschäftigt war, hing ihm »dieses Gejammer zu den Ohren raus. Alles, was dort nach vier Uhr morgens in der Kantine oder in den anschließenden Kneipen besprochen wird, sind Kampfpamphlete, Gemotze gegen ›die da oben‹«. Ihn habe das Gefühl »zur Selbständigkeit genötigt, dass man permanent in einem ge50  worte

schützten Biotop, einem leicht inzestuös wirkenden Sumpf sitzt und das System draußen keine Gültigkeit hat.« Zu wissen, was man nicht mehr will, ist gut, aber was will

kann wenig mehr über die Projekte der anderen sagen, als im Programmheft steht. Ein künstlerisches Profil des Hauses kann sich da schwer entwickeln. Und so redet man lieber über das Haus und »die Magie des Ortes«.

»Vielleicht wird’s auch ’ne Sekte.«

Defekter Durchlauferhitzer

man denn? Die drei Eröffnungsproduktionen zeigten sich politisch. Wurde die Gemeinschaftsproduktion aller drei Gründungsmitglieder »Die Ehe der Maria Braun«, eine Bearbeitung von Rainer Maria Fassbinders Film­Drama um den Mord an einem schwarzen G.I. in der Nachkriegs­ zeit, noch verhalten und mit Anerkennung für Tismers Schauspielleistung aufgenommen, erntete die ›Nazi Re­ vue‹ »Don’t Cry for Me, Adolf Hitler« aus der Feder Eichlers einen Totalverriss. Die Tanz­Inszenierungen »No, he was white« des Kollektivs um Tismer – ein ›Punk­Stück‹, das sich mit der Mittagspause von Lagerarbeiterinnen und damit irgendwann mit Kapitalismus und Kollektivismus beschäftigt – fand dann wieder etwas Zustimmung. Im Folgenden wurde der Spielplan zeitgeistiger, pro­ vokativer und spielte mit den Bedingungen und Möglich­ keiten des Theaters, etwa in Uwe Moritz Eichlers »Die Brautprinzessin«, frei nach S. Morgenstern. »Kitsch und Klischees. Endlich! Ein Bad in allem, was einem sonst von Dramaturgie und Kritik um die Ohren gehauen wird.« Tis­ mers Kollektiv inszenierte z.B. »Bei mir«: »fünfter stock ein picknick auf dem klo kriegt eine ihr kind und tut es in den mülleimer«. Die Produktionen des Kollektivs werden in der kommenden Spielzeit wieder aufgenommen. Mit »Miriam« ist eine weitere geplant, die sich mit der ›Welt als Horrorkabinett‹ beschäftigen wird, mit unserer Wahr­ nehmung des Palästina­Konflikts oder von Sklavenarbeit in China. Gutestun wird in Hamburg, Wien, Taipeh und Atlanta gastieren, kann also getrost als erfolgreich bezeich­ net werden. Weil es im Ballhaus aber nicht so sehr darum geht, das Theater oder die Freie Szene künstlerisch neu zu erfinden, sondern Unzufriedenheit mit den ›Produktions­ bedingungen‹ hinter sich zu lassen, sieht man nicht den Innovationsbedarf im Vordergrund, sondern dachte »eine Kooperation, die Synergien weckt, wäre eine viel vitalere Basis als unbedingt anders sein und sich abgrenzen zu wollen.« Allerdings scheinen schon die Synergien in einer Schiefla­ ge. Man wollte ein Kollektiv, eine Art Labor, in dem ohne Hierarchien kreativ experimentiert werden kann. »Ergeb­ nisoffenheit« nennt Reuter das, aber tatsächlich arbeiten die Akteure seit dem gemeinsamen Eröffnungsstück seltsam unabhängig voneinander: Jeder macht sein Ding,

Bei aller Heiterkeit und Unverbindlichkeit in der Planung ist man sich einer Ernsthaftigkeit jedoch sehr bewusst: »Eine gewisse Ökonomisierung und damit Kommerzialisierung des Betriebes« ist in soweit erwünscht, als sie das Sys­ tem insgesamt stabilisiert und tragfähig macht. Engage­ ment zu ermöglichen, sich selbst und anderen Künstlern ein Forum zu bieten ist eine Sache, aber Schönig gibt un­ umwunden zu, »dass man sich das Engagement auch leisten können muss.« Zunächst zahlte man die Miete und das

»Es gibt dreierlei Kontoführung: eine ökonomische, eine ideelle und eine karrieristische« Nötigste aus eigener Tasche und nahm einen Kredit auf, dieses Jahr erhielt das Ballhaus erstmals Förderung von der Kulturstiftung des Bundes und dem Hauptstadtkultur­ fonds. Aber nach Auskunft Reuters »kann der Betrieb zum jetzigen Zeitpunkt nicht einem Mitarbeiter eine langfristig materiell befriedigende Perspektive geben.« Jeder der Betei­ ligten ist auch in andere Projekte involviert, Reuter spielt in Fernsehproduktionen, Tismer ist mit ihrem Kollektiv unterwegs und dreht gemeinsam mit Schönig Kunstfil­ me. »Es gibt dreierlei Kontoführung«, sagt Reuter, »eine ökonomische, eine ideelle und eine karrieristische. Dadurch, dass man den Horizont seiner Kompetenzen erweitert, sich positionieren kann, wirkt das Ding als Durchlauferhitzer.« Das klingt ein bisschen so, als sei man gedanklich schon bei der Volljährigkeit, bevor das Kind laufen gelernt hat. Bestimmt trägt das Zweit­ und Dritt­Engagement der ein­ zelnen Akteure, um das ›ökonomische Konto‹ in der Waa­ ge halten zu können, zur Zerfaserung bei, aber zunächst müsste sich aus dem zwar sympathischen, aber nicht mehr unbedingt kreativitätsfördernden Chaos ein ›kol­ lektives‹ Profil herauskristallisieren, wenn das Ballhaus wirklich ›erhitzen‹ soll.

Uwe Moritz Eichler und Anne Tismer

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Wang Bang Sweet Poontang

Zwitterwesen friDolin schleY über Zaungäste des Lebens, literarische Fluchten und die Schönheit der Zerstörung

text, interview: kerstin roose foto: aveleen avide

Viele Ihrer Protagonisten wirken wie Zaungäste des Lebens. Zwar stehen sie mit einem Bein im fiktiven Geschehen, jedoch sind die Geschichten häufig nicht ihre eigenen. Was reizt Sie an diesem indirekten Erzählverfahren? Zum einen hatte ich nach meinen ersten beiden Büchern den Wunsch, ein wenig von mir wegzukommen. Obwohl nicht autobiographisch, hatten sie doch unmittelbar etwas mit mir zu tun. Dann glaubte ich aber zu merken, dass die noch spannenderen Geschichten woanders versteckt liegen und dass Recherche mindestens ebenso wichtig ist wie eigene Erinnerung oder Wahrnehmung. Zugleich wird man sich selbst beim Schreiben aber nie ganz los. Das ist auch gut so, denn ohne eine persönliche Verankerung klingt Prosa schnell konstruiert, virtuell, kalt. Literatur kann noch so perfekt gemacht sein, wenn ich darin kei­ nen authentischen Ton höre, berührt sie mich nicht. Die indirekte Haltung der Erzähler in meinen Geschichten hat also etwas von einem Zwitter: Einerseits bleibt damit die persönliche Verankerung erhalten, andererseits befreit sich das autobiographische Ich. Dabei ergeben sich völlig neue Möglichkeiten: Einer Geschichte im Konjunktiv, ei­ ner Episode, die ein Erzähler vorgeblich ›nur‹ weiter kol­ portiert, sind praktisch keine Grenzen mehr gesetzt. Mit der Eröffnung indirekter Erzählräume verhandeln Sie häufig Biographien einer anderen Generation. Wenn man bedenkt, dass beim letzten Open Mike in Berlin moniert wurde, junge Autoren hätte neben Amourösem wenig Eigenes zu erzählen, liegt die Vermutung nah, dass sich darin auch ein latentes Desinteresse am Lebenskosmos der 30- Jährigen äußert. Diese Biographien sind ja oft nur das Stützgerüst der Handlung. Die Art aber, wie die Geschichten erzählt, wie die Biographien wahrgenommen, ausgedrückt und zugleich manipuliert werden, das hat unmittelbar et­ was mit meiner Generation zu tun. Ich finde das einen spannenden Punkt: Dass alle Welt uns erzählen will, wir 52  worte

nick tosches trifft mit seinen Artikeln, Reportagen und Interviews voll ins Schwarze

seien gewissermaßen keine eigene, sondern nur eine verwaltende und erinnernde Generation. Keine Arbeits­ plätze, Selbstbehauptung im Totalkapitalismus, Einsturz der Sozialsysteme, Umweltkollaps, Wirtschaftsflaute. Im Grunde hat man uns direkt nach der Geburt auf einen absteigenden Ast gesetzt. Dass aus so einem Grundge­ fühl subtiler Panik heraus ganz unterschiedliche Literatur entsteht, finde ich aufregend. Die literarische Fluchtbewe­ gung ins Kleine, Heimelige steht da gleich neben apoka­ lyptischen Zukunftsszenarien. Ein apokalyptisches Zukunftsszenario beschreibt die Erzählung »Landerhebung«. Hier beeindruckt vor allem die irritierende Kongruenz von Inhalt und Form: diese ruhige, distanzierte Gleichgültigkeit, mit der Veränderungen wahrgenommen und geschildert werden. Dabei gerinnt das per se extrem verstörende Szenario in seiner verbalen und syntaktischen Verknappung zu äußerst poetischen Bildern; die Grenzen zwischen Schrecken und Schönheit verschwimmen. Ein Grundgedanke war, dass Zerstörung – wenn man alle ethischen Konnotationen einmal vergisst, was man zum Glück nur schwerlich tun kann – viel mit Schönheit zu tun hat. Schön ist fast alles, was wächst, entsteht, neu ge­ boren wird: Darum gefällt uns Kunst oder eine blühende Wiese so gut. Doch wenn etwas Neues entsteht, wird im­ mer zugleich etwas Altes zerstört, überdeckt oder verges­ sen. Beides gehört unmittelbar zusammen. Es gibt eine Art Grundkonsens, dass alles, was auf natürliche Weise wächst, gut ist. Aber was ist dann zum Beispiel mit wu­ cherndem, todbringendem Krebs? Für »Landerhebung« war die Verwandtschaft von Schönheit und Zerstörung maßgeblich. Dass das irritiert, ist eine gewollte und ge­ sunde Reaktion. Das komplette Interview unter www.goon-magazin.de. Fridolin Schley veröffentlichte nach »Verloren, mein Vater« (Roman, 2001) und »Schwimmbadsommer« (Erzählungen, 2003) gerade seinen zweiten Erzählband »Wildes Schönes Tier« im Berlin Verlag

text: matthias penzel illustration: antony hare, p.i. (www.siteway.com)

Als Gitarren noch Kabel hatten, da ging ein Typ hin und schrieb einen fast 10.000 Worte umfassenden Artikel über Black Sabbath, die »erste wirklich katholische Rockband«, wie er anhand von Textpassagen, gegenübergestellt zu Sätzen Burroughs’, fand. Nebenbei brachte er so die Be­ zeichnung Heavy Metal in die Musikpresse. Heute gibt es keinen Artikel, der auch nur ein Drittel so lang ist, noch weniger solche, die wie sein Troggs­Riemen vier Mal so lang sind. Der Typ, Lester Bangs, kam auch auf den Gen­ rebegriff Punk, er lebte und atmete und furzte Rock’n’Roll – starb also mit 33. Einer seiner Blutsbrüder, auch von der sogenannten (Nicht­)Schule der Noise Boys war Nick To­ sches. Ähnlich radikal und Rock’n’Roll, begab er sich früh schon in andere Territorien und Themen, improvisierte und riffte über Kino und Sex, Opium, Las Vegas, Miles Davis’ Autobiographie, Männerbewegung – und schrieb zu Bangs’ fünftem Todestag den besten Text über Lester. Er schrieb auch, was einige für die beste Star­Bio über­ haupt halten: »Hellfire« über Jerry Lee Lewis, auch Roma­ ne, auch »Dino«. Immer ohne Netz und doppelten Boden, manchmal mit Bauchlandung.

»Aus Rock’n’Roll ist George Michael geworden« Ganz in dem Stil ist diese Best Of des »Nick Tosches Reader«. Auf der ersten Seite »kratzen wir uns nun den Sack«, reiten durch die oben genannten Themen (minus Les­ ter), schämen und lachen mit Toshes über Blondie und eine Abrechnung mit William S. Burroughs, staunen über einen der besten Texte überhaupt zu Elvis (»hat den Rock’n’Roll nicht erfunden. Er war aber seine Offenbarung [...] Er hätte eine Religion begründen können. Und das hat er, auf seine Art, auch getan«) und Robert De Niro. Man­ che Themen und Thesen – plötzlich Kant herbeizitiert, woanders Dante – sind eher kirre als irre. Doch immer wieder trifft Tosches voll ins Schwarze: »Rock’n’Roll, einst schmutziger Lärm – und das ist er im besten Falle auch jetzt noch –, gilt heutzutage als Kunst, wird von Kuratoren und Archivaren gesammelt und betreut und von Leuten ernst genommen, die einen Hang zum Ernstnehmen haben [...] Aus Rock’n’Roll ist George Michael geworden: entzückend gefährlich, penibel rasiert, um unrasiert zu erscheinen. Mit anderen Worten: Kunst.« »Muddy Waters isst selten Fisch«, Artikel, Reportagen und Interviews von Nick Tosches, Liebeskind München 2007, 204 S., € 18,90

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Die Innenwelt des Außenstehenden helmut krausser meldet sich zurück und zeigt, dass er noch immer einer der wichtigsten Gegenwartsautoren ist text: dan gorenstein illustration: johannes nawrath »seestück mit karton«, www.johannes-nawrath.de

Großflughafen Gottfried Benn Fliegen geht nicht ohne Geräusche

Ums Geschichtenerzählen geht es schon lange nicht mehr, soviel zumindest hat Helmut Krausser begriffen. Es ist nahezu egal, was alles passieren kann oder wem es passiert. Es ist auch egal, welches Eis man dazu isst und wer welche Band damit verbindet. Das Einzige, was wirklich zählt, ist die Art wie es erzählt wird. Noch wichtiger fast: das Nachdenken darüber. Das war Kraussers große Kunst und das, was ihn so innig mit der deutschen Romantik verband. Drei Romane ist es nun her, dass er das auch unter Beweis gestellt hat. Hyperauktoriales Erzählen

text: konrad roenne illustration: brock landers

Dies vorweg: Es wird von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde unerträglicher, dass es in Berlin, der Stadt Benns, keinen Park gibt, der seinen Namen trägt – er war ja ein leidenschaftlicher Spaziergänger und großer Blumenfan – und durch den wir nach Feierabend heiter gestimmt fla­ nieren können. Auch besteht keine Möglichkeit sich eine überteuerte Wohnung in einer Gottfried­Benn­Allee zu nehmen. Sehr schade. Nun sollten die Verantwortlichen Berlins und Brandenburgs, dem Geburtsland des Dich­ ters, schnell handeln. Der neue Superflughafen in Schöne­ feld wäre nicht schlecht: Dort könnten wir dann abfliegen und landen und sagen: »Ich fliege morgen vom Gottfried Benn, Alter.« Aber ach, der dichtende Dermatologe aus Berlin­ Kreuzberg reiste ja nicht viel, dazu fehlten ihm die finan­ ziellen Mittel. 1926 errechnete Benn für die Weltbühne, was er bisher so für seine Schriftstellerei – er war seit 1912 im Geschäft – verdient hätte. 4,50 Mark im Monat. Ziemlich mies, ohne Frage. Aber er hatte ja seine Praxis für Haut­ und Geschlechtskrankheiten am heutigen Mehringdamm. Dazu der Chef persönlich: »[d]ie Praxis ist mikroskopisch klein, nahezu unsichtbar, uneinträglich, degoutant« (4. September 1926 an Gertrud Zenzes). Und: »Bin heute wieder von der Steuer mit Pfändung bedroht, wenn ich nicht sofort 500 M. zahle. [...] Nein, da bleibt einem die Spucke weg u. da vergeht einem die Laune« (18. August 1931 an Thea Sternheim).

Berlin’s Best Boy Trotz aller Schwierigkeiten tat er Kummer als etwas für vornehme Leute ab. Benn fühlte sich als Paria – als Dich­ ter ein Earl, als Arzt ein Prolet – und hielt sich vom Staat und dem gesellschaftlichen Leben möglichst fern, das fand am ehesten in seiner Stammkneipe »bei Bockbier u. tiefer Downheit« statt. Nur einmal traute er sich wirklich aus der Deckung, das war 1933 und da war es falsch. Man denke an seine »Antwort an die literarischen Emigranten« vom Mai 1933, an Klaus Mann gerichtet: »Sie kämen den Ereignissen in Deutschland näher, wenn Sie die Geschichte nicht weiter als den Kontoauszug betrachten, den Ihr bürgerliches Neunzehntes-Jahrhundert-Gehirn der Schöpfung präsentiert.« Es war eine recht kurze Episode, doch lang für Benn. »Gebildete Menschen bringen ihr Leben ohne Geräusch zu.« Dies Goethe­Wort zitierte er oft, und es wird schnell wie­ der seine Maxime: »[ü]ber mich können Sie schreiben, dass ich Kommandant von Dachau war oder mit Stubenfliegen Geschlechtsverkehr ausübe, von mir werden Sie keine Entgegnung vernehmen« (26.12.1949 an Ernst Jünger). Angeblich besaß Benn eine entwaffnende Gleichgül­ tigkeit gegenüber der Meinung der Mitwelt und dem eige­ nen Werk. Die zwei existierenden Gedenktafeln in Berlin wären ihm vielleicht schon zuviel, oder gar zuwider. – Er selbst nannte sich einen »Monomanen des Wortes«, und so lasst ihn uns denn nur noch »Berlin’s Best Boy« nennen. Und vielleicht findet sich ja ein würdiges Dermato­ logie­Zentrum, das seinen Namen durch die uns verblei­ bende Zeit trägt. Die Werke Gottfried Benns liegen gesammelt bei Klett-Cotta und im Fischer Taschenbuch Verlag vor

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Natürlich gibt es in der »Kartongeschichte« noch Figuren – Krausser weiß, dass der unbedarfte Leser ohne die nicht auskommt. Die eigentliche und auch einzige Hauptfigur allerdings ist der Autor selbst: ein hyperauktorialer Erzähler, der al­ les mit in seinen Strudel des Erzählens reißt: Wagenheber zum Sprechen bringt, ganze Kapitel zum Schweigen, den Romananfang wie einen Stummfilm mit Kla­ vierbegleitung inszeniert und sich für keinen blöden Witz zu schade ist. Alles das, was sich der Autor bei seinem großen Deutschlandroman »Eros« nicht getraut und was bei seinem Kinderfantasybuch »Die wilden Hunde von Pompeii« die Span­ nung und das Immer­Weiter­Erzähler­Müssen nicht zugelassen hat, kommt nun zum Vorschein und konzentriert sich in diesem kleinen Roman. »… das alles ließe sich liebevoller erzählen.« Aber auch auf inhaltlicher Ebene reflektiert Krausser das Problem des Erzählens. Die Geschichte geht ungefähr so: Eris Vater ist tot und zwar schon längere Zeit. Damit Eri weiter in dem kostspieligen Penthouse wohnen kann, verschweigt sie seinen Tod den Behörden. Mit Hilfe von ein paar Freunden packt sie ihren toten Vater in einen Pappkarton, den sie am Strand vergraben will, was nicht gelingt, weshalb er dann im Meer landet. Soweit so gut. Krausser hat allerdings eine Fi­ gur eingebaut, die von den ganze Geschehnissen keine Ahnung hat: Stan. Der hat irgendwie mal mit Eri geschlafen und auch mit Liz, versteht aber nicht, woher sie sich kennen und warum die plötzlich zusammen wohnen und warum die ans Meer fahren. Den ganzen Roman über verfolgt Stan Eri und ihre Gruppe ohne aus deren Handlungen schlau zu werden, denn er hat – im Gegensatz zu uns Le­ sern – keinen Helmut Krausser an seiner Seite, der ihm das Ganze erklärt. Ge­ nauso Eris Mutter Maria: Sie ist auf der Suche nach ihrem toten Ex­Mann, den sie für lebendig hält – das Gesetz mag sie geschieden haben, vor Gott aber sind sie immer noch Mann und Frau. Eri nennt ihr irgendeine Stadt im Norden um sie loszuwerden und sie verschwindet nicht etwa, nein sie bekommt eine Sideline. In besagter Stadt findet sie unter der genannten Adresse tatsächlich einen Mann, den sie für ihren verschollenen Carl hält, und nun versucht sie ihn von seiner ›wahren‹ Identität zu überzeugen. Die beiden Loser Maria und Stan und letztlich auch wir Leser erleben am eigenen Leib, was es heißt eine Geschichte nicht er­ zählt zu bekommen oder – noch schlimmer – was es heißt, sie doch erzählt zu bekommen, und zwar so und nicht anders. »Kartongeschichte« von Helmut Krausser, marebuchverlag, Hamburg 2007, 140 S., € 18,00

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performativ text: astrid hackel

review

Bibiana Beglau und Bruno Cathomas © Mathias Horn

Mit Scheinlandschaften – abgerissenen Neubausied­ lungen, Gated Communities und virtuellen Compu­ terwelten hebt die neue Spielzeit an. Kein Grund zum Feiern. Als »Annäherung an eine unbehagliche Identität« versteht sich denn auch das auf zwei Jahre angelegte Pro­ jekt der Schaubühne »60 jahre DeutschlanD«. Statt Heimatgefühle wecken zu wollen, ist dieses Jubiläum für das Berliner Theater in erster Linie Anlass zu Diskussi­ onen und der künstlerischen Auseinandersetzung mit zwiespältiger Geschichte. In der ersten Phase werden drei Kurzdramen zu jedem der sechs Nachkriegsjahrzehnte entstehen, wofür achtzehn junge Dramatiker recher­ chieren. An der Verwaisung ostdeutscher Städte und Provinzen werden die weniger weit Zurückblickenden kaum vorbeikommen. Die Folgen der Wende für die ostdeutsche Bevölkerung sind das große Thema des Dramatikers Fritz Kater. Auch sein neues Stück »heaVen (Zu tristan)« (Regie: A. Petras) handelt von der »Zertrümmerung einer Lebenslandschaft«. Darunter fällt das Einreißen von Wohnhäusern ebenso wie der Verlust des Arbeitsplatzes, die Auslöschung von Erinnerungen und die Zerstörung einer gemeinsamen Zukunft. Aus dem Entzug jeglicher Lebensgrundlage heraus sucht der Student Anders Orte, »wo man wirklich leben kann« und verlässt Wolfen, um nach Amerika auszuwandern. Und auch Simone verlässt er, die ihn liebt und die nun mit dem Gefühl absoluter Leere zurück bleibt. Irgendwo ein neues Leben anfangen – für ein anderes Paar, gespielt von Bibiana Beglau und Bruno Cathomas, scheint dieser Traum endlich in Erfüllung gegangen. Mit den Abstiegs­ ängsten einer übersättigten Wohlstandsgesellschaft spiegelt Falk Richters »im ausnahmeZustanD« die Kehrseite des katerschen Heimatverlusts wider. Doch der Traum von Sicherheit und Luxus entwickelt sich in seinem klaustrophobischen Kammerspiel zu einem Alb, denn das Leben in einer ›Gated Community‹ basiert auf strengen Regeln und Strafen. Also ist die Angst, aus der geschützten Siedlung wieder herauszufliegen, groß. Die 56  worte

erhoffte Freiheit entpuppt sich als Gefängnis. Hermetisch abgeschlossen ist auch der Bereich, in dem sich die sieben jungen Leute aus »neXt leVel parZiVal« (Regie: S. Nübling) bewegen. Ihre Welt ist das virtuelle Mittelalter. Jeder von ihnen hat ein Alter Ego aus Bits and Bytes, mit dem er die Abenteuer um Ritter Artus erfährt. Nübling wie Richter sind ›Systemfreaks‹, die es lieben, versteckte Strukturen offen zu legen und den Alarm auszulösen. Hier gerät das Spiel aus den Fugen, als sich mit dem Virus Parzival ein unerwarteter Gegner einschaltet und alles ins Chaos stürzt. Das reale, aus Bürgerkrieg, Migration und Armut bestehende Chaos thematisieren Wajdi Mouawads »VerBrennungen« (Regie: T. Georgi) und Dea Lohers »lanD ohne Worte« (Regie: A. Kriegenburg). Mouawad lässt die Zwillinge Jeanne und Simon die Geschichte ihrer einst aus dem Libanon ausgewanderten Mutter Nawal rekonstruieren. Deren letzter Wille führt sie nicht nur über erstaunliche Entdeckungen in die per­ sönliche Vergangenheit der Mutter zurück, sondern auch in die kollektive Tragödie des Krieges. Die Unmöglichkeit Krieg, Gewalt und Armut in der Kunst darzustellen und die Frage nach der Veränderbarkeit dieser Welt reflektiert Lohers Monolog einer Malerin, deren Erlebnisse in K., einer Stadt am Rande der Menschlichkeit, ihr die Worte genommen haben. »60 Jahre Deutschland. Annäherung an eine unbehagliche Identität«, 2007 / 2008, ein Projekt der Schaubühne Berlin »Heaven (Zu Tristan)« von Fritz Kater, Regie: Armin Petras, Uraufführung am 12.9., Schauspiel Frankfurt »Im Ausnahmezustand«, Text und Regie von Falk Richter, Uraufführung am 6.11., Schaubühne Berlin »Next Level Parzival« von Tim Staffel, Regie: Sebastian Nübling, Uraufführung am 22.9. auf der RuhrTriennale und am 18.10. am Schauspielhaus Basel »Verbrennungen« von Wajdi Mouawad, Regie: Titus Georgi, Premiere am 3.11., Stadttheater Gießen »Land ohne Worte« von Dea Loher, Regie: Andreas Kriegenburg. Uraufführung am 30.9. in den Münchner Kammerspielen

Komm! fiebre mich gesund! nikolai kinski rezitiert die Gedichte seines großen Vaters Klaus Kinski text: stefan murawski foto: olaf heine

Die von Klaus Kinski im Alter von 25 Jahren verfasste Ge­ dichtsammlung »Fieber. Tagebuch eines Aussätzigen« erschien erst 2001 posthum. Zu Lebzeiten des großen Schauspielers wurden seine Gedichte niemals veröffentlicht, und nach ihrer Publizierung kamen Verdachtsmomente auf, dass die Texte insgesamt nicht authentisch seien. Nichtsdestotrotz wurde das Werk von der Literaturkritik sehr wohlwollend aufgenom­ men und von Ben Becker in Lesungen rezitiert. Anlässlich der Taschenbuchveröffentlichung wurde schließlich der einzige Sohn Klaus Kinskis, Nikolai Kinski, gebeten, einige der Ge­ dichte auf der Frankfurter Buchmesse vorzutragen. Der in Paris geborene und in Bel Air aufgewachsene Nikolai hatte erst nach der Erstveröffentlichung 2001 angefangen, Deutsch zu lernen und zeigte sich von dem Projekt begeistert. Von sei­ ner eigenen Leistung jedoch war er, trotz positiver Resonanz, nicht überzeugt, und so entschloss er sich zu einer inten­ siveren Auseinandersetzung mit dem literarischen Erbe sei­ nes Vaters. Unter dem Titel »Kinski spricht Kinski« erscheint nun eine CD, auf der Nikolai neun ausgewählte Stücke aus der Gedichtsammlung rezitiert. Darüber hinaus finden sich noch die beiden Zugaben »Kinski«, eine Collage aus Presse­ zitaten über den berühmten Vater, und »Ich bin der Engel der Verzweiflung« von Heiner Müller. Beim ersten Hineinhören glaubt man tatsächlich, die Stimme des großen Klaus Kinski zu vernehmen, bemerkt aber bald den leichten Akzent, der im Vortrag immer wieder und besonders in lauteren und emotional stärkeren Passagen zum Vorschein kommt. Ins­ gesamt ist der Vortrag aber doch sehr stimmig; Nikolai ist es gelungen, einen eigenen Zugang zu finden, anstatt nur den unverwechselbaren Stil seines Vaters zu kopieren. »Kinski spricht Kinski: Fieber. Tagebuch eines Aussätzigen« von Klaus Kinski, gelesen von Nikolai Kinski, Eichborn Lido, Frankfurt a.M. 2007, 1 CD, € 14,95

Leben. Hier? Wozu? Ein paar Leute suchen das Glück und keiner lacht: siBYlle Bergs fünfter Roman »Die Fahrt« text: jochen werner foto: katja hoffmann

Es geschieht in schöner Regelmäßigkeit: Alljährlich erscheint ein neues Buch von Sibylle Berg, meist den vorigen sehr ähnlich, und immer, wenn man glaubt, nun sei das Erfolgsrezept der Autorin inhaltlich wie stilistisch ausgereizt, trifft sie einen mit einem neu­ en Roman direkt in die Magengrube. Und immer ist man unvorbereitet. Der neue, insgesamt fünfte Roman »Die Fahrt. Vom Gehen und Bleiben« ist wie­ der ein solcher Fausthieb, und er trifft mit brutaler Wucht. Das ist vielleicht an diesem Punkt ein wenig überraschend, da man nach den sarkastischen und melancholischen Happy Ends von »Ende gut« (2004) und »Habe ich dir eigentlich schon erzählt« (2006) end­ lich die dünne Trennlinie zwischen Depression und Ironie im Werk der so ungreifbaren Frau Berg verortet zu haben glaubte. Überdies schien sie sich, ein wenig milder als zuvor, wenngleich im gleichen lakonischen Tenor, nun etwas konsistenteren, weniger zersplit­ terten Erzählformen zuzuwenden. In »Die Fahrt« jedoch greift sie die kleinteilige Strukturierung von »Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot« (1997) und »Sex II« (1998) wieder auf – und schreibt ihr bislang depressivstes Buch. Wie immer führt sie ein Panoptikum unterschiedlichster Lebensentwürfe vor, denen – von Berlin über Tel Aviv und Sri Lanka bis zum winzigen pazifischen Inselstaat Nauru – nur das vollständige und hoffnungslose Scheitern gemein ist. Neu ist jedoch die lässige Eleganz, mit der die Au­ torin diese Episoden verknüpft. An die Stelle des wü­ tenden Zynismus oder der kaum verifizierbaren Iro­ nie ist etwas viel Schlimmeres getreten: die entspann­ te Beiläufigkeit des alltäglichen Horrors, verkündet vom unerbittlichen Lachen der Schwalben. »Die Fahrt. Vom Gehen und Bleiben« von Sibylle Berg, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007, 340 S., € 19,90

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Die Liebe zum Mix-Tape roB sheffielD schreibt eine historisch korrekte und poetische Popgeschichte text: zuzanna jakubowski foto: deborah sheffield

» »Ich bin ein Mix-Tape, eine Kassette, die so oft zurückgespult wurde, dass man die Fingerabdrücke auf dem Band hören kann. « Die Idee ist so einfach wie gut: Ent­ lang von 22 Kassetten ver­ folgt Rob die Geschichte sei­ ner Liebe zu Renée. Bereits nach der ersten playlist steht fest, dass dies eine tragische Liebesgeschichte sein wird. Aber »Love is a Mix Tape« ist nicht nur ein trauriger, autobiographischer Popmusikroman im Stil von Nick Hornby. Vor allem ist er wunderbare, intime Pop­Geschichtsschreibung, einem Greil Marcus ebenbürtig. Denn Rob Sheffield, Redakteur des amerikanischen Rolling Stone, setzt hier nicht nur sei­ ner toten Frau ein Denkmal, sondern auch den wenigen

Jahren Mitte der Neunziger, als die Rock­Musik kurzzeitig »Titten« hatte. Es sind die Jahre von Grunge und Riot Girl, als Popmusik und Feminismus wieder zusammenfanden und der Underground kurzzeitig Mainstream wurde. Dass Sheffield dafür die Form des Mix­Tapes wählt, ist so historisch korrekt wie auch poetisch. »Ich glaube, wenn man einen Mix macht, schreibt man Geschichte. Man plündert die Schatzkammer, schleppt so viel Plunder raus, wie man tragen kann, und verkabelt seine Beute zu etwas Neuem. « Zwischen Pavement, Nirvana und R.E.M., »Beverly Hills, 90210«, Plateauschuhen und »Clueless«, aber auch Missy Elliott, Hanson und Yo La Tengo findet er die rich­ tigen Töne, um einzufangen, wie es sich anfühlt, wenn für ein paar Augenblicke alles möglich zu sein scheint. Und wie es schmerzt, wenn im nächsten Moment alles wieder vorbei ist. Zurück bleibt eine Kiste voller Kassetten. »Love is a Mix Tape. Eine Geschichte von Liebe, Leid und lauter Musik« von Rob Sheffield, deutsch von Kristian Lutze, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007, 288 S., € 8,95

Die relative Einsamkeit der Liebenden William BoYD erprobt in seinem Erzählband »Das Schicksal der Nathalie X« die Kraft des Imaginären auf dem Schlachtfeld der Liebe text: kerstin roose foto: coka (fotolia.com)

»In Wirklichkeit lieben wir niemanden. Wir lieben nur die Vorstellung, die wir uns von einem anderen machen. Es ist die eigene Erfindung, die wir lieben«, lässt der britische Schriftsteller William Boyd jemanden in seinem Erzähl­ band »Das Schicksal der Nathalie X« sagen. Nach der Lektüre ist man über­ zeugt, dass jener Protagonist damit so falsch nicht liegen kann. Elf Geschichten versammelt Boyd, dessen Roman »Ruhelos« in diesem Frühling für Lobeshymnen hierzulande sorgte, darin. Elf glänzende Ein­ zelstücke, die sich thematisch fast alle im Spannungsfeld zwischen großen Erwartungen, enttäuschten Hoffnungen und temporärer erotischer Glück­ seligkeit bewegen, stilistisch jedoch unterschiedlicher nicht sein könnten. Ob Novelle, biographische Miniatur, Protokoll oder tagebuchartige Skizze: Boyd erweist sich in jedem dieser Genres als Virtuose. Die titelgebende Er­ zählung, die wie ein Märchen beginnt: »Es war einmal an einem drückenden Maimorgen im mittleren Ostteil Westafrikas – und eigentlich bei längerem Hinsehen ist es gar nicht so lange her«, entpuppt sich als wunderbare po­ lyphone Satire auf die Traumfabrik Hollywood und bricht so alle Erwar­ tungen, die man damit verbindet. Auch die Erwartungen der Protagonis­ ten werden unablässig gebrochen, vor allem jene, die an dieses Gefühl namens Liebe geknüpft sind. Dabei ist es Boyds lakonische Leichtigkeit, in die er das Träumen, Leiden, Lügen und Betrügen seiner Helden kleidet, welche ihm eine singuläre Position auf dem zur Zeit stark frequentierten Markt der Liebesprosa sichert. 58  worte

»Das Schicksal der Nathalie X. Erzählungen von William Boyd«, aus dem Englischen von Chris Hirte, Berlin Verlag, Berlin 2007, 224 S., € 18,00

MOLIERE

DER MENSCHENFEIND DON JUAN - TARTUFFE DER GEIZIGE von Feridun Zaimoglu, Günter Senkel und Luk Perceval Regie: Luk Perceval Premiere am 31. August 2007

TOMMY

von Thor Bjørn Krebs Deutsch von Gabriele Haefs Regie: Benedikt Haubrich Premiere am 2. Oktober 2007

Gläsernes Mondlicht Das karl otten Lesebuch – Leben und Werk eines fast vergessenen Dichters text: astrid hackel zeichnung: egon schiele

Über den kaum wahrgenommenen Dichter Karl Otten (1889­1963) schreibt Enno Stahl: »Marxist ist Otten si­ cher nicht gewesen, eher ein utopischer Sozialist, der sich stets von Parteien und Gruppierungen, jeder Form von ideologischer Verkrustung, fernhielt«. Ottens politische Haltung mit deutlichem Hang zu Mystizismus und Ka­ tholizismus befremdet und trennte ihn von seinen Zeit­ genossen wie Wieland Herzfelde und anderen Künstlern und Autoren aus dem Umfeld des Malik­Verlags. Sicher ist der erklärte Pazifist nicht zu den ganz groß­ en Dichtern seiner Epoche zu zählen. Zwar provozierte der aus Köln stammende und in London recht einsam ge­ storbene Otten seinerzeit mit homo­erotischen Anklän­ gen im Roman »Lona« und gehörte mit seinem lyrischen Werk zu den bedeutenderen Expressionisten – jene Schilderungen wirken heutzutage jedoch alles andere als schockierend und die beseelte Natur, das Pathos seiner Gedichte muten naiv und übertrieben an. In den meisten Texten häufen sich die Adjektive – das Mondlicht ist glä­ sern, die Nebel braun oder milchig, die Stille sausend, die Hügel schlüpfrig – und lenken vom Inhalt ab. Dennoch sollte man sich hüten, alles, was Otten erzählt und wie er es erzählt hat, über einen Kamm zu scheren: Das kleine »Karl Otten Lesebuch« bietet mit zahlreichen Auszügen, Briefen und einem Porträt des Dichters einen umfassenden Einblick in ein ambiva­ lentes Werk. Ottens Roman »Torquemadas Schatten« et­ wa dokumentiert die francistische Machtergreifung auf Mallorca, von 1933 bis 1936 Ottens Exil. Darin schildert er, wie Wille und Elan der Inselbevölkerung sich den Franko­Truppen entgegenzustellen durch das Zögern der Parteiführer gebremst werden. Erscheinen die Figuren hier jedoch noch recht holzschnittartig, überzeugt sein autobiographisch gefärbter und erst posthum veröffent­ lichter Roman »Wurzeln« jenseits aller Exaltiertheiten vor allem durch sprachliche Klarheit und Reduktion. 01

Karl Otten Lesebuch

»Karl Otten Lesebuch«, zusammengestellt und mit einem Nachwort von Enno Stahl, Nylands Kleine Rheinische Bibliothek, Köln 2007, 160 S., € 6,50

ROOM SERVICE

von John Murray und Allen Boretz Regie: Thomas Ostermeier Premiere am 31. Oktober 2007

DEUTSCHLANDSAGA

Uraufführungsreihe im Rahmen des Projekts »60 Jahre Deutschland – Annäherung an eine unbehagliche Identität« ab November 2007 Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes

IM AUSNAHMEZUSTAND von Falk Richter Regie: Falk Richter Uraufführung am 6. November 2007

BRICKLAND von Constanza Macras Uraufführung Regie und Choreographie: Constanza Macras Premiere am 14. Dezember 2007

schaubühne berlin Karten 030.890023 www.schaubuehne.de

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text: sebastian hinz

das dispositiv

How can you dare to live?

Die stille Explosion der Zitrone freDerick philip groVes Todessonette als LebensForm

Goethe als Botaniker und Celan als Grafikdesigner in den Essays von Yoko taWaDa text: jochen werner

text: sabine lenore müller

Frederick Philip Groves Lyrik geht unter die Haut und schiebt sich bis ins Mark. Dem Saarbrückener Profes­ sor für Englische Literatur und Dichter Klaus Martens verdanken wir die Publikation eines einzigartigen Lyrik­ bandes. Ganz im Sinne des Verfassers erscheinen in »A Dirge for my Daughter« Sonette des Deutschkanadiers F. P. Grove neben Bildern und erklärenden Prosatexten. So entsteht auf 80 gewissenhaft edierten Seiten ein Memori­ al für Phyllis May, die Tochter Groves, die 1927 im Alter von zwölf Jahren ganz plötzlich verstarb. Von schier über­ großen Erwartungen an ihre Zukunft überfordert und mit Liebe überschüttet, hinterließ Phyllis May einen so gewaltigen Schmerz, dass für Grove die einzig mögliche Art des Überlebens darin bestand, seine Gefühle in strikte Pentameter und in Reim zu fassen, um sich so schreibend von der Verzweiflung zu distanzieren und gleichzeitig ein Andenken zu schaffen an alles, dessen er sich nun beraubt fühlte. Seine Sonette lassen sich kaum mit den Neue­ rungsversuchen der Moderne assoziieren. Strukturell wie inhaltlich wirken sie zunächst fast erdrückend archai­ sierend, und man meint, noch im Tode überfordere der schreibende Vater sein Kind mit seiner alles Leben vernei­ nenden Verhaftung an ihr Fehlen. Allerdings wird von An­ fang an klar, dass sich Grove eines größeren, allgegenwär­ tigen Fehlens bewusst ist: Im Leben als Todeserleben ist alles Seiende nur noch arbiträres Indiz für das ungreifbare, in die Vorstellung und in Formen abgeglittene Abwesen­ de. LANG LEBE DIE FORM! – Diese Sonette sind schierer Lebenswille. Grove ermöglicht es dem an post­moderne Spielchen gewöhnten Lyrikliebhaber, die Strenge des So­ netts als eine sehr aktuelle LebensForm zu betrachten. »A Dirge for my Daughter. Poems« von Frederick Philip Grove, selected and edited by Klaus Martens, Königshausen & Neumann, Würzburg 2006, 92 S., € 12,80

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»Die Stimme eines Autors, der in der Migration lebt, wird oft zu schnell auf sein Herkunftsland zurückgeführt. Dadurch wird sie akzeptiert und gleichzeitig ignoriert.« Die seit 25 Jahren in Deutschland lebende Japanerin Yoko Tawada macht in »Sprachpolizei und Spielpolyglotte« keinen Hehl daraus, dass sie keineswegs gedenkt, sich in der Modeschublade der Migrantenliteratur ablegen zu lassen, die heute die akademische Welt in Atem hält. Und doch bleibt eine Differenz stets spürbar in den Essays dieses Bandes, in denen sie eine Reihe von Klassikern der deut­ schen Literatur aus erfrischend originellen Perspektiven unter die Lupe nimmt. Tawadas Fremdheit aber mag nicht die der fremden Kultur sein, sondern dem fremden Geist der Künstlerin an sich entspringen. Dieser lässt sie Interpunktionen zählen oder Buchstabenformen betrach­ ten, um sich den enigmatischen Gedichten Paul Celans anzunähern; lässt sie den Mutationen des Heiderösleins in Goethes Werk nachspüren, lässt sie Wörter in Stücke zerbrechen, um Else Lasker­Schüler zu verstehen. Yoko Tawadas Ort ist weder Tokyo noch Berlin, sondern der im vorangestellten Gedicht beschworene »Bahnhof Nirgendzoo« – ein Ort, stets mit jener Fremdheit aufgeladen, die Alltägliches zu immer neuen Rätseln verschwimmen lässt. Auf gelegentlich obskuren, aber immer aufregend verschlungenen Pfaden führt uns Tawada durch manchen allzu vertrauten Standard und lässt ihn in neuem Licht erscheinen. Was bleibt, ist eine Zitrone – die »Handgrante des Flaneurs« aus einer Kurzgeschichte von Motojiro Kajii, in deren unbewegter Präsenz sich die Sinnhaftigkeit bis zur Unkenntlichkeit dehnt, bis sie in völligem Schweigen die Welt verschluckt: »In der stillen, langsamen Explosion der Zitrone wird sich die Sicht des Alltags langsam auflösen.« »Sprachpolizei und Spielpolyglotte« von Yoko Tawada, Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, Tübingen 2007, 160 S., € 12,00

»Massenkultur«, »Kulturindustrie«, »Unterhaltungskul­ tur«, »Reizüberflutung«, »populäre Kultur«, »Mediende­ mokratie«, »Populismus«, »Konsumkultur«: Begriffe der verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen, ent­ standen in der Annäherung an ein und dasselbe Thema. Zudem nicht selten ohne voneinander zu wissen. Die Verwirrung ist leicht hergestellt, wenn im persönlichen, öffentlichen, aber eben auch wissenschaftlichen Gespräch von derselben Sache mit anderen Worten geredet wird, oder von verschiedenen Dingen mit dem gleichen Wort. »Freiheit« ist so ein Wort. Und »Pop« eben auch. Einst ein klar ausgelegter Faden mit bestimmten Punkten (aus dem Engl., Nomen Knall) und zweifelloser Richtung (It’s the art, stupid), ist der Zwirn gerade derart verheddert, dass ganz vielleicht gerade noch Gilles Deleuze und Michel Foucault ihre Freude daran hätten. Um ihn dann zu zer­ reißen. Schaut man jedenfalls hierzulande in die einschlä­ gigen Publikationen zu diesem Thema, ist eine derartige Lösung dieses Gordischen Knotens nicht in Sicht. Zwar erwachen die deutschen Kulturwissenschaftler nach und nach aus ihrem zwanzigjährigen Tiefschlaf und die Veröf­ fentlichungen zu diesem Gegenstand nehmen merklich zu, allerdings ohne einen einheitlichen Gebrauch der Ter­ mini, was zwangsweise in einem sibyllinischen Sprechen enden muss. Der Bochumer Philologe Thomas Hecken hat diesen Wirrwarr in der Verständigung um die »theorien Der populÄrkultur« erkannt und in seinem gleichnamigen Buch versucht, »dreißig Positionen von Schiller bis zu den Cultural Studies« zu vereinen. Schon im Vorwort verweist Hecken auf die Uneinheitlichkeit der Begriffssituation, aber diskutieren oder gar differenzieren will er sie nicht. Immerhin diese vorsichtige Eingrenzung: »Mit dem alten Bild einer Volkskultur hat diese Populär­ kultur wenig gemein.« Doch nachdem hier die Massen­ kultur so schön von der Volkskunst geschieden wurde, wird die gerade definierte »Populärkultur« im nächsten Satz in einem großen Durcheinander kontextuiert: »Lan­ ge Zeit hat man deshalb Eindeutigkeit auf dem Wege zu erzielen versucht, dass man Merkmale, die man der po­

pulären Kultur [sic!] zuschrieb – z.B. Oberflächlichkeit und Künstlichkeit –, sogleich entschieden verurteilte und abwertete: Populärkultur [sic!] als Gegensatz, Abfall oder Widersacher der hohen Kultur, als Inbegriff gefährlichen Schunds oder, im etwas besseren Fall, herabgesunkenen, trivialisierten Kulturguts«. In einem zweiten Buch von Thomas Hecken ist ein ähnlicher faux-pas zu erkennen. So bleiben am Ende mehr Fragen als vor Antritt der Lektüre: Was unterscheidet beispielshalber die in diesem Magazin verhandelten Themen von anderer Massenware? Anders gefragt: Ist Volksmusik Teil der populÄren kultur? Oder ist Volksmusik Pop? Vielleicht wird dieser Schritt zu einer begrifflichen Unterscheidung nicht gegangen, weil es dann nicht mehr ausreicht, von außen beobachtbare Phänomene zu beschreiben, Soziologie zu betreiben, son­ dern klarzumachen, dass die vorliegende Chimäre eine in­ haltlich­erfahrbare ist. Es gibt nämlich eine Abweichung zwischen Wissen und Verstehen. Thomas Hecken weiß viel. Auch Umberto Eco wusste viel, als er in »Apokalyptiker und Integrierte« über den Superman­Mythos geschrie­ ben hat; nur hat der italienische Semiotiker die Comics auch gelesen? Deren Funktionsweise durchschaut? Mark Terkessidis hat über diesen Sachverhalt im letzten Jahr ei­ nen bemerkenswerten Aufsatz (»Distanzierte Forscher und selbstreflexive Gegenstände. Zur Kritik der Cultural Studies in Deutschland«) geschrieben, dessen an Foucault geschul­ te Kernfrage lautete: »Wie verhalten sich die Forscher da­ zu, dass sie von den methodischen Vorraussetzungen her sich eigentlich als ›Anti­Wissenschaftler‹ verstehen müss­ ten?« Veröffentlicht wurde der Beitrag in der Anthologie »kulturschutt« und wirkte dort etwas deplatziert. »Theorien der Populärkultur. Dreißig Positionen von Schiller bis zu den Cultural Studies« von Thomas Hecken, [transcript]Verlag, Bielefeld 2007, 232 S., € 22,80 »Populäre Kultur. Mit einem Anhang ›Girl und Popkultur‹« von Thomas Hecken, Posth Verlag, Bochum 2006, 215 S., € 22,90 »Kulturschutt. Über das Recycling von Theorien und Kulturen«, herausgegeben von Christoph Jacke, Eva Kimminich, Siegfried J. Schmidt, [transcript] Verlag, Bielefeld 2006, 364 S., € 29,80

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Der angry young man ist erwachsen geworden. Doch sein Glück hält nicht lang an. Über das Erwachsenwerden des ADAM SANDLER Seite 68

Nun hat Marvel den »Civil War« ausgerufen, und nichts wird danach mehr so sein, wie es vorher war. CIVIL WAR im Marvel­Universtum Seite 72

Was ist die Quintessenz eines Tages komprimiert in vier Panels? Über Alltagspoesie bei JAMES KOCHALKA Seite 70

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Miranda July Adam Sandler James Kochalka Marvel »Civil War« »Final Fantasy VI« Katastrophenszenarien Jörg Heiser Phoebe Washburn

reviews 78 white cubes 79 »Pop Art Book« Antonio Páucar 80 »Hors Pistes« 81 Fatih Akin »Auf der anderen Seite« Makoto Shinkai »The Place Promised In Our Early Days« 82 projectsinge »Monkey_Party« »Mario Party 8« 83 schnittstellen Illustration: BOB LONDON


back and fort h. forever. miranDa julY ist das It­Girl der amerikanischen Avantgarde­Szene. Sie befasst sich mit der größten Herausforderung unseres Alltags: der Kommunikation

text: julia saul fotos: todd cole styling: jennifer johnson

Das Bedeutsame im Banalen

Seit ihrem ersten Auftauchen in der Kunstwelt 1995 in­ teressiert sich die amerikanische Künstlerin Miranda July für die Geheimnisse und kleinen Ungereimtheiten des Alltags. Sie steht damit in der Tradition einer Kunstauffas­ sung, die von Marcel Duchamp über Andy Warhol bis Jeff Koons reicht. Duchamp machte mit seinen berühmten Readymades zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstmals den Alltag zu Kunst, und circa 50 Jahre später begründete An­ dy Warhol die Pop Art. Eine Kunstauffassung, die stark gegenwartsfixiert war; »Pop als die totale Gegenwart«, wie es Thomas Meinecke formulierte. Die Pop Art gibt dabei nicht vor, die Gegenwart zu verstehen, sondern sie setzt unter Vermeidung tiefenhermeneutischer Sinnerkun­ dungen an, das Gegenwärtige auszudrücken. Die Arbeiten von Miranda July kann man als eine weitere Steigerung dieser Strategie begreifen: Hier wird nun der Alltag selbst zur Kunst. Sie nimmt den Alltag regelrecht unter die Lu­ pe, und was daraus entsteht und hervorstrahlt, ist etwas ganz und gar nicht Tristes, sondern tief Berührendes und Hoffnungsvolles, Mutmachendes. Ein Appell an die Kraft in jedem Einzelnen. Sie thematisiert Scheitern und Ver­ zweiflung Hand in Hand mit Ermutigung und Hoffnung. Die postmoderne Künstlerin benutzt dazu jedes erdenk­ liche Medium – sie selbst ist dabei oft auch Teil der Insze­ nierung. In ihrem erfolgreichen Debütfilm »Me And You And Everyone We Know« (»Ich und du und alle, die wir kennen«), mit dem sie 2005 sowohl beim Sundance Filmfesti­ val wie auch in Cannes Preise gewann, ist der Alltag eines der Hauptthemen: Es geht um Familie, Freunde, Nach­ barn rund um die beiden Protagonisten Christine (Mi­ randa July) und Richard (John Hawkes). Ohne jeglichen Kitsch erzählt July eine Kennenlerngeschichte, bei der auch die Kinder aus der Nachbarschaft zu Wort kommen. Gleichsam realistisch und verträumt erfährt man von der Trennung der Eltern, den ersten sexuellen Erfahrungen der Klassenkameradinnen und dem kleinen Mädchen von nebenan, das schon fleißig für seine Aussteuer sammelt.

Auch in ihrem Web­Projekt »Learning To Love You More« (zusammen mit dem Künstler Harrell Fletcher), dessen Er­ gebnisse gerade als Buchpublikation erschienen sind, reizt sie diese Alltäglichkeiten aus. Über einen langen Zeitraum hinweg stellte sie den Nutzern der Internetseite verschie­ dene Aufgaben: »Assignment 39: Take a picture of your parents kissing«, fotografiere deine Eltern beim Küssen, oder »Assignment 11: Photograph a scar and write about it«, eine junge Frau aus Pennsylvania erzählt die Geschichte ihrer Narbe: »Well, as you can see, I have a long scar. Why don’t I do anything about it? Because there is a story/history behind

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Egal was sie macht: Sie ist dabei immer ganz und gar julyesque. it... this scar is a forever bond between myself and my sister. A tragic traffic accident left this scar on my back, and took away my sister’s life. Then, it left a permanent hole in my heart. I won’t do anything to it, because it is a part of me.« Eine andere Aufgabe war es, ein Wunschtelefonat auf­ zuschreiben: »Assignment 52: Write the phone call you wish you could have«. Die Ergebnisse dieses Projekts erzählen eindrückliche, manchmal fast rührende, mitunter banale Geschichten des Alltags, von traurigen, glücklichen und starken Menschen. Dabei gewinnt das Normale, Unspek­ takuläre an Bedeutung, Ganz im Gegensatz zur effektha­ scherischen Provokationskunst eines Hitler spielenden Jonathan Meese zum Beispiel. Dinge als Kommunikationsträger Miranda July ist nicht nur Schauspielerin, Regisseurin und Webkünstlerin, sondern in nahezu jeder Kunstrichtung aktiv. Begonnen hat sie ihre Karriere als Performance­ künstlerin; ein Talent, das sie jüngst in einer Reihe bilder  65


von Musikvideos zum Ausdruck brachte, die Mike Mills für die Band Blonde Redhead inszenierte. Ende der 1990er Jahre hat sie als Musikerin mehrere Platten bei den Labels Kill Rock Stars und K-Records veröffentlicht und war ganz nebenbei auch Mitglied vom Dub Narcotic Sound­ system. Ganz aktuell ist der Kurzgeschichtenband »No One Belongs Here More Than You«; erhältlich in pink und gelb, jeweils passend zur Farbe des Pullovers. Sollte man eine andere Farbe bevorzugen, müsse man ein anderes Buch lesen, so July. Egal was sie macht: sie ist dabei immer ganz und gar julyesque, also authentisch, verrückt und un­ schlagbar sympathisch. In den USA ist sie das It­Girl der Stunde, und seit »Me And You And Everyone We Know« hat sie sich endgültig ihren Platz in der Kunstszene gesichert. Unwesentlich ist dabei sicherlich nicht, dass die Charak­ tere aufgrund ihrer Schlichtheit und Banalität ein hohes Maß an Identifikationspotential bieten und dass July sich mit der schwierigsten Aufgabe des Alltags auseinander­ setzt: der Kommunikation. Diese ist bei der in Kalifornien als Miranda Jennifer Grossinger geborenen Künstlerin meist fehlgeleitet, unvollkommen, zufällig oder bedarf der Hilfe eines Mediums. Gelungene Kommunikation funktioniert bei der 33jährigen niemals direkt, sondern stets mittels eines Kommunikationsträgers – über etwas Dinghaftes. Bei »Me And You And Everyone We Know« ist es zuerst ein Paar rosa Schuhe, dann der kaputte Spiegel einer Puderdose, und schließlich ein Bild mit einem Vogel, welches in einem Baum hängt, das Christine und Richard sich schließlich näher kommen lässt. Die rosa Schuhe, die Christine bei Richard gekauft hat, versinnbildlichen in einer kleinen Performance (»Me« & »You«) das Hin und Her ihrer Gefühle, die Annäherung, das Entfernen und wieder die Annäherung. Mit der Frau des Museums für Moderne Kunst gelingt die Kommunikation erst mit Hilfe eines Videotapes, und Richard erkennt das Wesen seiner Exfrau erst, als er den Aufdruck ihres T­Shirts (»precious wondrous special, unique divine rare valuable whole sacred total complete entitled worthy and deserving person«) gele­ sen hat. Ein Stück Stoff, das Richards Exfrau auch die ver­ lorene Selbstachtung zurückgeben kann.

der der Erwachsenen verschieden ist. Diese – nicht nur in Bezug auf Sexualität – unterschiedlichen Welten und die Macht, die Erwachsene über Kinder ausüben, themati­ sierte sie bereits 1996 in dem Kurzfilm »Atlanta«: Mutter und Tochter (beide gespielt von Miranda July) berichten bei einem Fernsehinterview darüber, wie es ist, bei den Olympischen Spielen dabei zu sein. Die Mutter hatte den Traum, aber nicht die Möglichkeit, eine begabte Schwim­ merin zu werden, und trimmt nun die eigene Tochter dazu, die ihr eigenes Leben nicht mitbestimmen darf. In einem Interview mit arte erinnert sich Miranda July, dass sie sich als Kind auch meist nur in die Welt der Erwachse­ nen eingeordnet gefühlt habe, dass Erwachsene Kindern meist nicht viel Selbstbestimmungsrecht lassen würden. Diese unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen zwischen Kindern und Eltern, Männern und Frauen sind es, die un­ seren Alltag zu einem schwierigen Abenteuer machen, der

Diese unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen zwischen Kindern und Eltern, Männern und Frauen sind es, die unseren Alltag zu einem schwierigen Abenteuer machen.

Verschiedene Welten Alle Charaktere in dem Film haben ein Problem mit Kom­ munikation, aber den Wunsch zu kommunizieren. Dabei wird auch deutlich, dass Medien wie das Internet den Kon­ taktaufnahmeprozess nicht unbedingt erleichtern. Denn die Zeichen des Absenders müssen vom Rezipienten erst einmal verstanden und deren Bedeutung entschlüsselt werden. In kindlicher Naivität diktiert Richards jüngster Sohn Robby seinem großen Bruder, der gerade chattet: »I’ll poop in your butt hole and then you will poop it back into my butt and we keep doing it back and forth with the same poop. Forever.« Dies wird von der erwachsenen Per­ son am anderen Ende als erregende, sexuelle Perversion aufgefasst. Miranda July beschäftigt sich in ihrem Kino­ debüt überhaupt recht eingehend mit der Frage nach der Sexualität von Kindern. Sie geht davon aus, dass Kinder ihre ganz eigene Art von Sexualität haben, die aber von 66  bilder

Tag für Tag von uns verlangt, die Bedeutung kleinster Zei­ chen von unterschiedlichsten, komplexen Individuen zu entschlüsseln. July nimmt sich genau dieses Problems der Kommunikation im Alltag an. Das, was sie mit ihrer Kunst beschreibt, heißt es an prägnanter Stelle im Film: »Das ist das Leben. Es passiert wirklich. Gerade Jetzt«. »Learning To Love You More« von Miranda July und Harrell Fletcher, Prestel Verlag, München 2007, 160 S., € 19,95

»No One Belongs Here More Than You. Stories« von Miranda July, Sribner, New York, NY 2007, 224 S., $ 23,00

aus: »Learning To Love You More«

»Ich und du und alle, die wir kennen«, auf DVD erhältlich (Alamode / Al!ve)

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»Billy Madison« (1995), erstmals ganz ausformuliert findet sich der angry young man dann in seinem ersten großen Erfolg »Happy Gilmore« (1996): Happy ist ein überwäl­ tigend untalentierter Eishockeyspieler, der jedoch über einen wuchtigen Schlag verfügt und seine wahren Talente auf dem Golfplatz entdeckt – wo er mit Wutausbrüchen und Fluchtiraden den High­Society­Sport mächtig auf­ mischt. Erfolgreich selbstredend, denn das Bezugssystem des Adam Sandler bleibt das des Hollywood’schen Komö­ dien­Mainstream, in dem Lösungen auch tief sitzender Traumata stets verfügbar sind. Gleichwohl lässt sich eine Entwicklung, eine Reifung innerhalb von Sandlers Rollen­ geschichte, die sich durchaus als eine Art magische Auto­ biographie lesen lässt, kaum leugnen.

Der angry young man ist erwachsen geworden. Doch sein Glück hält nicht lang an. Coming of Age: Von »The Waterboy« bis »Mr. Deeds«

Searching for a Happy Place Vom Kind im Manne, dem Erwachsenwerden und dem Scheitern an der Welt: Formen der Wut in den Kinokomödien des aDam sanDler text: jochen werner foto: sony pictures releasing gmbh aus »die liebe in mir«

»I don’t know if there is anything wrong because I don’t know how other people are. I sometimes cry a lot … for no reason.« Barry Egan, der Protagonist von Paul Thomas Andersons Film »Punch-Drunk Love« (2002), ist ein zu­ tiefst gestörter Mensch. In das einsame, traurige Dasein des Junggesellen und Produzenten von WC­Saugglocken tritt erst ein wenig Licht, als ein herrenloses Harmoni­ um in sein Leben tritt, das Barry sorgfältig instand setzt – und eine Frau, die kaum weniger neurotisch scheint als er selbst. Erstmals beginnt der introvertierte Barry, sich gegen all jene, die seine Existenz zur Hölle machen – von seinen bis zur Grausamkeit dominanten sieben Schwes­ tern bis zu einem Matratzenhändler, der ihn mit einer ver­ zweifelten Telefonsex­Episode zu erpressen versucht – zur Wehr zu setzen, anstatt seine unterdrückte Aggression in jähzornig­destruktiven Schüben explodieren zu lassen. 68  bilder

Von der Schulbank in die Pubertät: »Billy Madison« & »Happy Gilmore« »Punch-Drunk Love« ist nicht nur das erste Meisterwerk in der äußerst erfolgreichen Karriere des Kinokomikers Adam Sandler. Es ist überdies auch ein Film, der eine Neu­ bewertung des Gesamtwerkes des zuvor allzu oft abge­ tanen Sandler notwendig werden lässt. Denn der geniale Coup Andersons besteht hier eben nicht darin, den Mitte der 1990er Jahre aus der Crew der legendären TV­Show »Saturday Night Live« zum Kinostar aufgestiegenen Komi­ ker gegen den Strich zu besetzen – vielmehr fügt sich Bar­ ry Egan perfekt in eine Linie traumatisierter Protagonis­ ten ein, die sich durch Sandlers Kinoarbeiten zieht. Nahe­ zu stets handelt es sich bei diesen (Anti­)Helden um men­ tal eher kindliche Erwachsene, die an jähen Ausbrüchen unterdrückter Wut leiden. Die Grundlagen legt bereits Sandlers erste Hauptrolle als verwöhnter Millionärssohn

Zunächst beginnt dieser Reifeprozess mit der Zuspitzung: Jene Wut, die in »Happy Gilmore« (mittels des Rückzugs an einen mentalen happy place) zur Stärke umgedeutet wird, kehrt zwei Jahre später in »The Waterboy« wieder. Doch wo Happy dank seiner ungefilterten Direktheit noch recht unvermittelt Sympathieträger war, gelingt das im Falle von Bobby Boucher höchstens noch auf eine sehr verdrehte Art und Weise. Dabei ist das Konzept nahezu identisch: Erfolgloser, leicht debiler Junge wird per Ka­ nalisierung aufgestauter Aggression zum Sportstar. Hier geschieht es jedoch wesentlicher nachdrücklicher – und brutaler, wird doch Billy nur dann zum unaufhaltsamen Amokläufer über das Football­Feld, wenn er in Gedanken seine Gegenspieler mit seinen Unterdrückern gleichsetzt. Das Erwachsenwerden von Sandlers angry young man setzt sich ein weiteres Jahr später, 1999, mit »Big Daddy« fort. Hier gerät Sandy Koufax, zunächst noch ziellos wie einst Billy Madison in den Tag hinein lebend, an einen fünfjährigen Jungen, für den er eine Vaterrolle annimmt und an dem er selbst reift, bis er imstande ist, die Verant­ wortung für eine Familie zu tragen. Dieser harmonischen Fortschreibung mochte aber offenbar auch der angry young man selbst nicht so recht trauen, erinnert doch »Little Nicky« (2000) – der gutmütige, so gar nicht böse jüngste Sohn des Teufels – an die infantileren Charaktere aus Sandlers frühesten Filmen. Und doch steckt eher eine Steigerung der Komplexität denn ein Rückschritt dahinter, wird doch das Welt­ und Menschenbild hier spürbar diffe­ renzierter. Statt, wie zuvor, negative Energien zum Pro­ duktiven umzupolen, geht es nunmehr um die Erringung einer Balance zwischen Destruktivität und Kreativität – ein inneres Kräftegleichgewicht, das Nicky stabilisieren muss, um sich vor sich selbst und der Welt zu behaupten. Mit seinem Selbstverständnis zumindest hat »Mr. Deeds« (2002) keine Probleme mehr, hat er doch seinen Ort im Leben gefunden und ruht in sich selbst. Der Kampf, den

er auszutragen hat, ist nun der gegen die Wahrnehmung der Außenwelt, die mit seinen Wertvorstellungen so gar nicht in Einklang zu bringen ist. Die Wut aber, die Sand­ lers Charaktere stets umtrieb, ist in einer weichen (und etwas langweiligen) Wolke rosafarbener Wattigkeit gefan­ gen – und doch nicht aus der Welt geschafft. Exorzismus, Ankunft, Scheitern: Von »Punch-Drunk Love« bis »Click« Denn in »Punch-Drunk Love« (ebenfalls 2002) gelingt es Paul Thomas Anderson in formidabler Art und Weise, die Abgründe des angry young man an die Oberfläche zu zer­ ren, aus dem klassischen Komödienstoff die erschütternde Tragödie eines zerstörten Menschen zu destillieren – und ihn doch in der Erfüllung einer bizarren Liebe zu erlösen. Ein unerwarteter Höllentrip, der auch für Sandlers eigene Perspektive auf seine Protagonisten scheinbar nicht ohne Wirkung blieb, lässt er doch in »Anger Management« (»Die Wutprobe«, 2003) die ruhige Fassade, hinter der sich Dave Buznik verschanzt, gnadenlos abblättern, um die Wut umso destruktiver zurückkehren zu lassen. »There are two kinds of angry people – explosive and implosive. Explosive is the type of individual you see screaming at the cashier for not taking his coupon. Implosive is the cashier who remains quiet day after day and then finally shoots everyone in the store.« Sandler lässt seinen Helden freilich nicht zum Amokläufer werden, sondern rettet ihn per Psychoanaly­ se durch Wuttherapeut Jack Nicholson. Ein schmerzhafter Exorzismus, der gemeinsam mit »Punch-Drunk Love« ei­ nen Wendepunkt in Sandlers Werk markiert. Der angry young man ist erwachsen geworden. Doch sein Glück hält nicht lang an: Nachdem er in »50 First Dates« selbst fes­ ter Halt für eine ihrerseits beschädigte Partnerin werden kann, rutscht er in rapidem Tempo aus der Pubertät in die midlife crisis. Ob als frustrierter Koch in »Spanglish« (2004) oder als Karrierejunkie in »Click« – Ziel seines Strebens ist nun nicht mehr das Voranschreiten, und sei es nur in Form der Egalisierung eines Rückstandes gegen­ über der Welt, sondern das Anhalten, Sinnieren und – ins­ besondere im zunehmend finsteren »Click« (2006) – das Rückgängigmachen. Einen vorläufigen Höhepunkt erlangt diese umge­ kehrte Bewegung in »Reign Over Me« (»Die Liebe in mir«), in dem Charlie Finemans Trauma mit dem Verlust seiner Familie am 11. September einen sehr realen Hintergrund hat. Auch diese dramatische Entwicklung bleibt dann zwar in den interessanten Ansätzen stecken, da Sandler er­ neut die Grenzen des Feelgood­Kinos nicht zu überschrei­ ten wagt – als Komödie mag man »Reign Over Me« dann aber doch nicht mehr reinen Gewissens bezeichnen. Nein, aus dem angry young man ist längst eine tragische Figur geworden, und aus dem Brachialkomiker Adam Sandler einer der interessantesten Analysten amerikanischer Be­ findlichkeit, die das Gegenwartskino zu bieten hat. »Die Liebe in mir« von Mike Binder, seit 16.8 im Kino (Sony Pictures)

»Chuck und Larry – Wie Feuer und Flamme« von Dennis Dugan, ab 27.9 im Kino (Universal Pictures)

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Socken und Gefühle Alltagspoesie in james kochalkas Tagebuch­Comicblog »American Elf« text: mareike wöhler illustrationen: james kochalka

»The 3 Aspects of Reality« james kochalka, 31.12.2004

»One: The physical world and your physical body« – Me, me, me (and my boner) Homer Simpson wird im »The Simpsons Movie« die kör­ perzersetzende Lektion erteilt, weniger egoistisch zu sein und mehr an seine Mitmenschen zu denken. Wenn die Schamanin in Alaska ihm in dieser Sequenz ihren Odem einhaucht, der Homers Kopf, Augen und Geist aufbläht, so erinnert das an ein Panel aus James Kochalkas Webco­ mic »American Elf«, den dieser seit neun Jahren täglich zeichnet und dessen zweite gebundene Ausgabe jetzt bei einem der interessantesten amerikanischen Comicver­ lage, Top Shelf, erschienen ist. Dass Kochalka den täglichen Tagebuchstrip (daily diary strip) erst erfunden hat, lässt sich an dieser Stelle nicht widerlegen. Merkwürdigerwei­ se auch aus einem der vielen Springfields stammend, die es in den USA gibt, lebt Kochalka heute gemeinsam mit seiner Frau Amy, seinem Sohn Eli und seiner Katze Span­ dy, die neben Freunden und Verwandten als Personen aus dem realen Leben seinen größtenteils autobiographischen Tagebuchstrip ausmachen, in Burlington, Vermont (wie auch Alison Bechdel, s. goon 22). »I want to BE somebody. If no one knows I’m alive, it’s like I’m DEAD! That’s why I draw! That’s why I publish!« haut sein Avatar dem seines Kollegen Jeffrey Brown in dem kleinen Band »Conversation #2«, einem zweiteiligen Zeichner­Battle, um die Ohren. ®

Denn Kochalkas Welt ist zunächst einmal egozentrisch. »American Elf« – sein Avatar mit spitzen Ohren – handelt zumeist von ihm und seinen Erlebnissen mit der Umwelt: Egal, ob das nun der tägliche Strip ist, der noch gezeich­ net werden muss und ihm schlechte Laune verursacht, die Frau, die gerade nicht so (Sex haben) will wie er; das Kind oder die Katze, die ihn besabbern oder kratzen, seine Hy­ pochondrie oder sein Haarausfall – Amy hat es oft nicht leicht mit ihm. Glücklicherweise funktionieren Kochalkas Strips auf (mindestens) drei Ebenen, sonst bestünden sie nur aus vordergründigem Rumgejammere und billigem Jungshumor, wie die Rockmusik, die er mit seiner Band James Kochalka Superstar macht und die musikalisch mit Songs wie »Magic Finger« (einem Penislied) keine weitere Erwähnung verdient. »Two: The Realm of your Imagination« – KOCHALKAHOLIC! »Creation is a free wheeling process, a constant flow throughout the day, chasing various whims. This is true for music, drawing, & writing.« (28.03.2004) Doch gibt es da noch die formale Ebene, und auf der wird Kochalka im Laufe der Jahre immer besser. Sein zu­ nächst banaler Blickwinkel auf den Alltag ist nur der Aus­ gangspunkt für eine Menge interessanter Gedanken, an denen er die Leser teilhaben lässt. Das reale Leben wird mit surrealen Szenen und Reflexionen über das Dasein und das Comiczeichnen vermischt. Die aufs Wesentliche reduzierten, aus höchstens vier Panels bestehenden Strips stecken mitunter voller Weisheit, auch wenn sie farben­

froh und mit dicken Tintenstrichen gezeichnet in wacke­ ligen Panelrahmen stecken und recht simpel aussehen. Klitzekleinen, lustigen wie traurigen Details und Moment­ en kommt eine riesige Bedeutung zu: »I try and make all the strips add up to some kind of complete emotional picture of my life.« Der Rhythmus, der sich dabei über die Jahre ergibt, bei dem jeder noch so banale Tag zum gleichwer­ tigen Bestandteil dessen wird, was sich Leben nennt, lässt sich nicht anhand des (kostenpflichtigen) Blogs, sondern nur anhand der Anthologieform des Tagebuchs erkennen. Woher nimmt Kochalka seine Motive für »American Elf«? Was ist die Quintessenz eines Tages komprimiert in vier Panels? In einem Interview sagt er, dass er entweder ein typisch alltägliches, aber unwichtiges Ereignis auswählt, das zeigt, wie sein Leben abläuft, wie wenn sich seine Ra­ diergummikrümel im Haus verteilen. Oder er wählt ein ungewöhnliches Ereignis, wie den Besuch einer Comic­ messe oder die ersten Worte seines Sohnes. Manchmal muss Dasselbe oder etwas Ähnliches erst mehrfach gesche­ hen, bevor er es zeichnet. (Im Interview gibt er auch zu, dass er gemeinerweise schon Diskussionen mit seiner Frau angezettelt hat, wenn tagsüber nichts passiert ist, um ein Thema zu haben.) Sein einfacher Zeichenstil ermöglicht Kochalka eine gewaltige Produktion, die heute um die 50, oftmals mehrfach aufgelegte Comics sowie Bilderausstel­ lungen und Arbeiten für den Cartoonsender Nickelodeon umfasst und zeigt, dass ihm seit seinen Anfängen in der (selbstverlegenden) Minicomicszene Mitte der 1990er Jah­ re persönlicher Ausdruck vor Perfektion oder Länge geht. Dennoch hat sich sein Actionabenteuer­Bestseller »Monkey vs. Robot« in zwei Auflagen mit über 10.000 Exemplaren für einen US­Independent­Comic sehr gut verkauft, und mit seiner trashigen Superheldenstory »Superf*ckers« ist er mindestens ebenso lustig wie der französische Vielzeich­ ner Lewis Trondheim. Umso verwunderlicher ist es, dass bisher keines seiner Hefte ins Deutsche übersetzt wurde. »Three: Your existence in the minds of others« – I luv u »I just want to live my life and draw my comics. Present them to the readers and let THEM examine, analyze and understand.« (»Conversation #2«) Und dann gibt es da noch ein Thema, das dem Strip Flügel verleiht: die seit über 20 Jahren andauernde Liebe zwischen James und Amy – und neuerdings zu ihrem Sohn Eli. Die Darstellung dieser Liebe steckt voller Alltagspoe­ sie, wobei es Kochalka immer wieder gelingt, knapp an der Kitsch­ und Niedlichkeitsgrenze vorbeizuschlittern: »It’s funny how so many people react with disgust and fear when faced with a work that doesn’t ironically distance itself from real emotions. It’s like they’ve raised a fortress of irony and bitterness around themselves, maybe as a way to protect themselves from getting hurt. I like turning those walls to sugar and watching them melt in the rain. [...] My stories express both these sides – my cynicism and distrust of most everything as well as my pure joy in being alive.« Wenn es stimmt, dass Liebe ein Geschenk ist, dann ist Kochalka ein Glückspilz, der trotz seiner zynischen,

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miesepetrigen Art geliebt wird und vor allem lieben kann. Dass er die Fähigkeit besitzt, sich dem, was ihm täglich begegnet, hinzugeben, es durch diese Hingabe zu binden und im Comic abzubilden, hilft ihm, seine Depressionen und Einsamkeit zu ertragen und sein egoistisches Selbst in einem ›Wir‹ aufzulösen: »The only thing that sucks about having a wife and a child you adore is that suicide is no longer an option. / Ha!« (12.12.2005). Aus freien Stücken gerne zu geben, Verantwortung für andere Menschen und die ei­ genen Handlungen zu übernehmen und dabei sein Selbst zu vergessen, das macht nach Georges Bataille Erotik des Körpers und des Herzens aus. Eine Partnerschaft (oder Erotik als deren Grundlage) ist kein gemütlicher Ohren­ sessel mit freier Sicht auf alle Kanäle, sie verursacht mitun­ ter Unruhe und Bewegung. Furcht, Wut und Streit gehö­ ren genauso dazu wie Tanz, Urlaub und Sex. Es heißt, dass, sowie ein Mensch einem anderen vertraut, er bei diesem weniger Fehler toleriert. Bei den Kochalkas ist es anders: Hier werden Fehler hingenommen oder bemängelt und in Frage gestellt, aber sie ändern nichts am grundsätzlichen Vorhandensein von Zuneigung. Kochalkas Begabung, gute und schlechte Seiten der Wirklichkeit abzubilden, macht ihn – ähnlich dem geläuterten Homer Simpson, der entdeckt, dass er ohne seine Familie ganz allein auf der Welt ist – wirklich zu James Kochalka Superstar, dessen Le­ ben mit all seinen Intimitäten und Blößen man gerne und lachend zusieht. Als Leser und Betrachter überträgt man nach Hans Belting seine (Bild­)Wünsche aufs Comic und macht an ihm neue Erfahrungen. Comics können also die Kraft haben, Alternativmöglichkeiten aufzuzeigen, die wir selbst leben sollten: Mehr ordinäre, lustige und liebevolle Küsser braucht die Welt! »American Elf. The Collected Sketchbook Diaries, Book Two: January 1, 2004 to December 31, 2005« von James Kochalka, Top Shelf Productions, Marietta, GA, 2007, 192 S., $ 19,95 www.americanelf.com, www.kochalkaholic.com

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Whose side are you on? Marvel inszeniert einen eigenen ciVil War und entwirft damit eine feingliedrige politische Allegorie auf die Frage nach Freiheit und Bürgerrechten text: dan gorenstein illustrationen: ramon bachs (aus: »civil war: front line«)

Auch wenn die Verlage stets das Gegenteil behaupten, es kommt nur sehr selten zu einem tatsächlichen Ereignis in der Welt der Superhelden. Die meisten großen crossover verlaufen sich in what-if­Szenarien, die auf das etablierte Universum keinen oder nur sehr wenig nachhaltigen Ein­ fluss haben. Doch nun rief Marvel den »Civil War« aus, und nichts wird danach mehr so sein, wie es vorher war. Die Protagonisten Das Ganze beginnt mit einem schrecklichen Unfall in der Universitätsstadt Stamford, Connecticut. Eine kleine Gruppe von Superhelden, die New Warriors, dreht eine reality-tv-show, in der ihr Heldenalltag in das allabend­ liche Fernsehprogramm der arbeitenden Bevölkerung exportiert wird. Vor laufender Kamera vermöbeln sie Su­ perschurken und reden über ihre Beziehungsprobleme, Fernsehen 2.0. In Stamford jedoch bekommen sie es mit Schurken zu tun, die ihnen überlegen sind, und bei der folgenden Schlägerei kommt es zum Desaster: Nitro (der Name spricht Bände) jagt sich, die New Warriors, das Ka­ merateam und einen großen Teil der Stamforder Grund­ schule in die Luft, Hunderte Kinder sterben. Es folgen Aufräumarbeiten, Gottesdienste und eine Debatte über die Stellung der Superhelden in der Gesellschaft, und 72  bilder

nicht umsonst erinnert der Tonfall an die Auswirkungen des 11. September. Ein Gesetz wird erlassen, demzufolge jeder Maskierte mit Superkräften seine Geheimidentität preisgeben und sich in einer offiziellen Superheldenkartei registrieren lassen muss; wer dies nicht tut, gilt als Staats­ feind. Nun erwartet jeder unbedarfte Leser natürlich sofort, dass der allererste in der Schlange vor dem Regis­ trierungsbüro Captain America ist – doch weit gefehlt: Cap vertritt tatsächlich die Anti­Registrierungsseite, wird zur Ikone des Widerstandes. Auf der Seite der Registrier­ ten stehen Iron Man, Reed Richards und … Spider­Man. Nach Jahrzehnten des Kampfes um die Wahrung seiner Geheimidentität zieht sich Peter Parker vor laufender Kamera die Maske vom Gesicht und verkündet: »Wie die meisten von Ihnen wissen, habe ich meine Geheimidentität jahrelang sorgfältig gehütet und erst eine lange Diskussion mit meiner Frau und Familie hat mich überzeugt. […] Mein Name ist Peter Parker, und ich bin Spider-Man, seit ich 15 war.« Der von den Superhelden geführte Bürgerkrieg ist ein medialer, denn es geht darin um Öffentlichkeit. Homini Saceri: Der Staat frisst seine Kinder Wie bei jeder großen Superheldengeschichte mag das Pro­ blem zunächst simpel wirken, aber durch die Helden und ihre Stellung im Konflikt wird dieser angereichert mit Jahr­ zehnten der Superheldensemiotik. Die Positionen treffen eine eigene Aussage, die Tagline »Which side are you on?«

ist eine Anleitung zur Hermeneutik. So sind die Registrier­ ten vor allem durch die Technokraten des Marvel­Univer­ sums vertreten, und die Reihen der Gegner des Gesetzes sind durchsetzt mit den Idealisten, den old-school­Helden. Spider­Man steht irgendwo dazwischen, die Prämisse, das Richtige tun zu müssen, wird zum Catch-22 in der Ver­ handlung von Freiheit versus Sicherheit. Beide Seiten ha­ ben nachvollziehbare Argumente, und trotzdem treibt sie die Dynamik des Krieges dazu, gegen ihre Ideale zu versto­ ßen. Reed Richards zum Beispiel zeichnet sich verantwort­ lich für den Komplex 42, ein Gefängnis für Superwesen in der Negative Zone. Außerhalb der amerikanischen Staats­ grenzen und damit durchaus zu vergleichen mit einem Superhelden­Guantanamo. Zudem werden einige der re­

Nun hat Marvel den »Civil War« ausgerufen, und nichts wird danach mehr so sein, wie es vorher war. gistrierten Helden von der Regierung gezwungen, die Un­ registrierten zu jagen. Das eigentliche Problem allerdings ist, dass die Trennlinie zwischen Held und Schurke nun eine politische ist und keine ideologische mehr. Wobei politisch heißt: regierungstreu oder nicht. Die Regierung heuert die Thunderbolts – eine Gruppe von Söldnern, die zu großen Teilen aus Superschurken besteht – an, um ihr bei der Suche nach den Unregistrierten zu helfen. Spider­ Man hingegen schließt sich, nachdem er von Komplex 42 erfahren hat, Captain America an und wird zum Outlaw. Der Staat behauptet mit der Hilfe der registrierten Helden seine Rolle als Souverän, macht die Registrierung zum einzigen Kriterium für Heldentum und demontiert damit »die letzte unabhängige Machtbasis«, verleibt sie sich nach und nach in Form von Polizei oder Militär ein.

Metaphora Continua: Die Amerikanische Flagge in Ketten Natürlich lesen wir Europäer »Civil War« viel politischer als der durchschnittliche amerikanische Fanboy, und auch der Autor Mark Millar relativiert das, was man als Allegorisierung des Widerstreits von Liberalen und Kon­ servativen lesen kann: »Obviously, there‘s a certain amount of political allegory in a story where a guy wrapped in the American flag is in chains as the people swap freedom for security, but I really made an effort to just make that stuff the gravy.« Nichtsdestotrotz bleibt die Politisierung des Marvel­Universums bestehen, denn auch nachdem das letzte Heft mit dem »Civil War«­Aufdruck erschienen ist, wird der Superhuman Registration Act in Kraft bleiben. Von nun an gibt es drei Parteien: Helden, Schurken und Un­ registrierte. Die Neuen Rächer gehen in den Untergrund und die Regierung bildet ein eigenes Rächerteam. Für einen Amerikaner liest sich das Ganze möglicher­ weise als Captain Americas Weg in den modernen Staat. Im großen Finale erkennt Cap, dass die Bürger es nicht anders wollen, sie Superhelden für eine gefährliche Sache halten und gern bereit sind, einige Rechte für ihre Sicher­ heit aufzugeben. Oder, wie Reed Richards sagt: »Langeweile ist gut. Sie bedeutet, keiner kriegt ein Hochhaus auf den Kopf.« Und auch wenn dieses Argument sich schließlich durchsetzt, nehmen die Art der Diskussion und die Viel­ zahl an Handlungsweisen, welche die Helden in »Civil War« wählen, die Gegenposition ernst und leisten so ei­ nen Beitrag zur politischen Bildung nicht nur der ameri­ kanischen Fanboys. Der »Civil War« wird noch bis Oktober in zahlreichen Marvel-Serien im Panini-Verlag ausgefochten

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Selbstzerfleischung als Katharsis katastrophensZenarien erfreuen sich ungebrochener Beliebtheit, weisen aber in ihrer medialen Vermarktung neue Tendenzen auf

Vom Verwesen der Welt und anderen Restposten Mit final fantasY Vi für den Game Boy Advance findet ein unbestrittener Klassiker der Videospielgeschichte das rechte Format text: dan gorenstein

Man erzählt sich, die Zeit der großen Geschichten sei vor­ bei. Entlarvt als Ideologie oder aufgebraucht, zum hun­ dertsten Mal erzählt. »Harry Potter« erzählt im Prinzip auch nur von den gleichen Kämpfen zwischen Gut und Böse, die zu seiner Zeit »Star Wars« beschrieben hat, und davor »Der Herr der Ringe«, und vor langer, langer Zeit … die Ilias. Abenteuer, in denen das Schicksal der ganzen Welt in den Händen eines unbedarften jungen Mannes liegt, der darüber zum Helden wird, zum Vorbild für ei­ ne ganze Generation. Denn jede Generation braucht ihre großen Epen, den Stoff, aus dem ihre Träume sind. Die Wiederkehr des Ewigletzten »Final Fantasy VI«, bereits der Name an sich ist paradox. Wie kann die große eschatologische Revision der Fanta­ sie nummeriert sein? Wie kann dem Letzten ein zweites, drittes oder sechstes Letztes folgen? Schon der erste Teil sprengte die Grenzen dessen, was man 1987 an Erzähltie­ fe und vor allem Länge für ein Videospiel für möglich hielt, und ursprünglich waren Fortsetzungen auch nicht geplant, aber der Erfolg beschwor seine Nachfolger und mittlerwei­ le ist die dreizehnte letzte Fantasie in Produktion. Anders als die bekannten Fantasy­Universen allerdings baut kei­ ner der Teile auf dem vorangehenden auf – es gibt keine Chronologie der endgültigen Phantasmagorien, wie das angehängte Ordinal suggeriert; jeder Teil entspinnt seine eigene Welt, seine eigene Geschichte. »Final Fantasy« ist die Matrix, auf der jedes Zeitalter (der Rechenleistung) an seine Grenzen geht, sich selbst ein Bild von der Zukunft entwirft und damit vor allem sich selbst beschreibt. 74  bilder

Teil 6: Das Ende der Welt Dreizehn Jahre nach seiner ersten Veröffentlichung auf dem Super Nintendo ist »Final Fantasy VI« nun da an­ gekommen, wo es hingehört: auf dem Game Boy. Nun­ mehr transportfähig, kann man dieses Epos jetzt nämlich genauso nah am Herzen tragen wie den aktuellen Potter oder die giftgrünen Tolkien­Bände. Die Welt, in die man da als Spieler eintaucht, dürfte in etwa mit der des ausge­ henden 19. Jahrhunderts vergleichbar sein, angereichert mit Magie, Kampfrobotern und Luftschiffen: Steampunk, oder auch Jules­Verne­Science­Fiction. Und genauso wie unser Jahrhundertwechsel einem Tanz am Rande der Ka­ tastrophe glich, ist auch diese wohlgemerkt namenlose Welt heimgesucht vom großen Krieg und schließlich so­ gar dem Tod geweiht, denn hier tritt die Katastrophe tat­ sächlich ein. Nachdem man stundenlang gespielt hat, um genau dieses Schicksal abzuwenden, passiert das Undenk­ bare: Der Spieler findet sich plötzlich in einer sterbenden Welt wieder, die er nicht retten kann, höchstens wieder aufbauen. Selbst wenn das Spiel heutigen Grafikmaßstä­ ben längst nicht mehr gerecht wird, darf man nicht unter­ schätzen, welch tiefen Eindruck diese Apokalypse damals auf die Spieler gemacht hat – und auch heute noch sind die paar Pixel und die wenigen Midi­Melodien problemlos dazu in der Lage, all die Traurigkeit und Größe dieser Er­ zählung einzufangen. Die großen, epischen Erzählungen mögen aus den Geschichtsbüchern verbannt worden sein, die großen Fragen aber nach den letzten Dingen können uns heute wie vor 3.000 Jahren nur diese Erzählungen be­ antworten. »Final Fantasy VI«, für den Game Boy Advance erhältlich (Nintendo)

text: patrick küppers fotos: polyband

Zu jeder Zeit ist es interessant, was es da ist, das die Men­ schen so sehr an Katastrophen fasziniert und was im Ein­ zelnen dahinter steckt. Jedem ist im Grunde klar, dass die Welt bald untergeht, und natürlich werden die Folgen da­ von nicht gerade angenehm sein. (Folgen?) Viel schlimmer aber wäre es doch, wenn man nicht sagen könnte, man sei dabei gewesen. An amüsanter Schizophrenie hat die Menschheit gegenüber dem Mittelalter wenig eingebüßt, Sorge bereitet eher die Qualität, in der sich diese Unter­ gangsfreude gegenwärtig in Bildmedien niederschlägt. Nehmen wir etwa eine Sendereihe von Pro7, die nun auf drei DVDs zum Nachsehen bereitliegt. Dabei kann man rasch herausfinden, dass der Titel der Sendereihe »Perfect Disaster – Wenn die Natur Amok läuft« von den sechs präsentierten Katastrophen spielend unterboten wird. Ästhetisch ist da wirklich nicht viel zu holen, sehen wir also nach dem Inhalt: Die Katastrophen suchen allesamt reiche und westlich geprägte Großstädte heim. Offenbar scheinen die üblichen Nachrichten­Katastrophen, bei denen ständig irgendwelche halbverhungerten Gestal­ ten in rückständigen Gebieten massenweise draufgehen, an Zugkraft zu verlieren. Das Knallbummschrei­Kino ist schon lange und in wiederkehrenden Wellen dem Reiz anheim gefallen, solche Menschen, die den anvisierten Konsumenten aufs Haar gleichen, durch die bunte Kno­ chenmühle der Naturkatastrophen zu jagen. Nun scheint derlei auch zum Stoff für peppige ›Dokumentationen‹ mit viel Werbung dazwischen geworden zu sein. Immer wieder raunt eine Stimme: »Das könnte morgen schon geschehen«, was so zu verstehen ist, dass es bestimmt so kommen wird; schließlich sieht man ja in toller Tricktech­ nik und mit sympathischen Laiendarstellern, wie ein ›Su­ pertaifun‹ (!) Hongkong plattmacht oder ein ›Solarsturm‹ (!!) New York lahmlegt. Man bedauert nur, dass die Ma­ cher ihr ’pataphysisches Talent nicht weitergeführt und et­

wa demonstriert haben, wie ein Supergeysir Singapur ins Meer spült, oder Manchester unter einem Milliardenheer von Wachteln totgekackt wird. Das vollendete Spektakel Jean Baudrillard bezeichnete einmal in einem provokanten Exkurs die Katastrophen als einen Rohstoff, mit dem, wie im Fall von Öl oder Erz, die Länder der dritten Welt die verarbeitenden Industrien der ersten Welt versorgen. In diesem Fall könnte man sich unter den weiterverarbei­ tenden Industrien die Informationsmedien oder Hilfsor­ ganisationen vorstellen. Baudrillard hat bereits 1992 die Möglichkeit durchdacht, dass sich dieser »cannibalisme caritatif« totbeißt und in die lustvolle Selbstzerfleischung übergeht. Eine »Ökonomie des schlechten Gewissens« wird im Zuge dessen wirkungslos. Bisher war es ja doch auf­ fällig, dass immer die Armen von den Katastrophen be­ troffen sind. Natürlich in den Entwicklungsländern, aber auch bei ›westlichen‹ Naturkatastrophen wie zuletzt in New Orleans, sind es vor allem die sozial Schwachen, die den Tribut an Gut und Leben zu zahlen haben. Schlechte Wohngebiete, schlechte Häuser, schlechte Infrastruktur und schlechte Versicherungen. In einem »Perfect Disaster« hingegen, und dieser Titel passt wahrlich zu den von Baudrillard angedeuteten ›fabrizierten‹ oder ›program­ mierten‹ Katastrophen, lösen sich derlei soziale Unsauber­ keiten in allgemeiner Untergangsseligkeit auf. Das vollen­ dete Spektakel, von dem sich der überfettete Westen eine symbolische Katharsis erhofft. Nur möge das demnächst bitte weniger dilettantisch umgesetzt werden. »Perfect Disaster – Wenn die Natur Amok läuft«, als 3DVD-Edition erhältlich (Polyband)

»L’illusion de la fin ou La grève des événements« von Jean Baudrillard, Éditions Galilée, Paris 1992, 173 S., € 21,85

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Kein Triumph der Eingeweihten Jörg Heiser erläutert in »Plötzlich diese Übersicht« gute und schlechte Gegenwartskunst

Thinking in Cycles phoeBe WashBurn lotet in ihren Arbeiten komplexe Beziehungen zwischen Installation, Skulptur, Architektur und ökologischem Design aus

text: eileen seifert fotos: phoebe washburn: »regulated fool’s milk meadow« (2007)

Unzählige Holzlatten, Pappkartons, Altpapier, Steine in verschiedenen Grö­ ßen, Farben, Stärken – aneinandergereiht, gestaffelt, gebunden, geklebt, ge­ nagelt. So sehen viele Arbeiten der 1973 geborenen New Yorker Künstlerin Phoebe Washburn aus, die selbstredend den »Abfall der Industrie, des Handels und der Konsumenten« in ihren architektonischen Skulpturen verarbei­ tet. Wogende Strukturen, die, gewachsen aus der Zahl ihrer Einzelteile, wie gigantische bewegte Organismen anmuten (»True, False and Slightly Better«, 2003), dabei oft urbane Strukturen abstrahieren (»Poor Man’s Lobster«, 2005). Besonders eine Arbeit wie »Nothing’s Cutie« mit seiner eng gestaffelten, in­ formellen Anordnung lässt an die Architekturen der Shanty Towns (z.B. die Favelas in Brasilien) denken, bei denen alles zur Verfügung Stehende der Be­ hausung dient. Die Unsterblichkeit des Abfalls

text: zuzanna jakubowski

Es ist Biennalen­Saison: Unter www.grandtour2007.com konnte man diesen Sommer mit weit weniger Aufwand als einst die Söhne und Töchter aus gutem Hause seinen letzten Schliff in Sachen Gegenwartskunst buchen. Statt Paris, Mailand, Rom, Weimar gab es Münster, Kassel, Basel, Venedig. Gut, wenn man sich im erstbesten Muse­ umsshop Jörg Heisers »Plötzlich diese Übersicht. Was gute zeitgenössische Kunst ausmacht« gekauft hat. Mit Heisers Einsichten in die Methoden der Kunst – in dezentem shocking pink – bewaffnet, werden die Heerscharen von Ob­ jekten und Leinwänden, Installationen und Performances vor den Augen der eifrigen Galeriebesucher plötzlich überschaubar. Heiser sagt es, wie es ist: »Warum erzähle ich das alles überhaupt? Weil es bei Kunst um mehr geht als um ein zufällig ausgewähltes Betätigungsfeld, auf dem man sich ein wenig Spezialwissen verschafft, mit dem man dann angeben kann.« Sagt er und setzt an, die Guten und Schlechten nach Töpfchen und Kröpfchen zu trennen. Die Sehnsucht nach einer Systematik In den 1990er Jahren gehörte Jörg Heiser zu der heute von Nostalgie und Legende umrankten Besatzung der Spex, heute ist er Redakteur des britischen Kunstmagazins frieze. Ein bisschen liest sich seine Kritik an einer Avantgarde, die ihre eigenen Prämissen aus dem Blick verliert, auch wie ein Kommentar auf die Situation des Pop: Gute Kunst zeichnet sich, Heiser zufolge, dadurch aus, dass sie ein ge­ sundes Misstrauen gegenüber den Schulen behält, die sie selbst bildet. Schlechte imitiert ohne zu reflektieren. Dem Pompösen wird hier, so der Autor, im Namen der Kunst die Luft abgelassen. Heiser orientiert sich nur sekundär an den drei Gattungen Skulptur / Installation, Malerei und Film / Video, und konzentriert sich stattdessen auf die Methoden und Strategien der Gegenwartskunst und ihr ambivalentes Verhältnis zum Markt. Wer hier tatsäch­ lich eine plötzliche ›Übersicht‹ erwartet – eine scheinbare 76  bilder

Abkehr von der Postmoderne hin zur Katalogisierbarkeit – wird von der Referenz des Titels auf eine gleichnamige Arbeit der Schweizer Peter Fischli und David Weiss von 1981 eines Besseren belehrt: Eine Serie von 200 derben Tonskulpturen komischer kleiner Szenen verkörpert die Sehnsucht nach einer Systematik in der subjektiven Aus­ wahl, ohne dieses Versprechen je einlösen zu können. Nur so lässt sich Objektivität überhaupt erzeugen: durch ein Offenlegen der subjektiven Kriterien. Plötzlich – Pop? Zwischen den stilistischen Markern von Subjektivität und Objektivität oszilliert auch Heisers Schreibstil. Die Er­ fahrungen des Popjournalismus und seiner sprachlichen Freiheiten scheinen auf jeder Seite durch. »Plötzlich diese Übersicht« ist eine Sammlung von Kunstwerken, Künst­ lern, Strömungen, Anekdoten mit den Zügen einer unge­ ordneten Enzyklopädie. Nüchterne Feststellungen pral­ len auf neurotische Behauptungen, Sätze, die aus einer kunstwissenschaftlichen Einführung stammen könnten, treffen auf krasse Idiosynkrasie. Heiser vorzuwerfen, er würde mit diesem Text genau das betreiben, was er aufzu­ lösen sucht – nämlich die Verkrustung der künstlerischen Schulen und ihrer Begrifflichkeiten – ist gleichwohl unge­ rechtfertigt. Wenn überhaupt, dann geht es dem Autor darum, seine Leser in methodische Reflexionen einzuwei­ hen, ihnen die Werkzeuge dazu zur Verfügung zu stellen. »Um sich als agierender und opponierender Mensch zu erleben, sollte man nicht hängenbleiben im Triumph der Eingeweihten, die sich über die, die’s nicht gecheckt haben, erheben.« Das hört sich doch an, als könnte man diesen Rüffel ausweiten, auf die dichotomen Mechanismen des Popfeuilletons, zum Beispiel. »Plötzlich diese Übersicht. Was gute zeitgenössische Kunst ausmacht« von Jörg Heiser, claassen, Berlin 2007, 368 S., € 22,00

Ausgedientes und Ausrangiertes, zu finden auf Straßen, an Verladestellen oder Fabriken, ist für die Künstlerin Ausgangsmaterial eines Kreislaufs der Wiederverwertung. Dabei liegt der Fokus nicht auf dem ›Trash­Faktor‹ des Abfalls als künstlerische Strategie, sondern auf dem ökologischen Gedanken des Recyclings von Sekundärstoffen – ein durchaus lesbarer Kommentar zu heutigen Konsumgewohnheiten. Washburn füttert so ein System, das sich aus sich selbst zu speisen vermag: Auch die Materialien früherer Installatio­ nen werden für weitere verwendet. Erst wenn eine Arbeit gekauft wird, kann dieser Mechanismus enden. Die Dinge – eben noch im Umlauf – sind nun statisch, quasi unsterblich in ihrer letzten Form. Produziertes Narrengold Bei ihrer jüngsten Auftragsarbeit für die Deutsche Guggenheim Berlin neh­ men prozesshafter Charakter und Selbstproduktion noch einmal eine er­ weiterte Form an. In »Regulated Fool’s Milk Meadow« – einer raumfüllenden ›Grasfabrik‹ – benutzt Wasburn erstmals eine Mechanik. Auf einer Fließ­ bandschleife, die sich in einem mit Fenstern versehenen, geschlossenen Holzgehäuse befindet, werden so genannte ›Erdparzellen‹ (Grasabschnitte in hölzernen Kästen) an unterschiedliche Stationen transportiert, an denen sie Licht und Wasser erhalten. Am Ende werden sie dem Wachstumskreislauf entnommen, um, auf der Oberfläche der Fabrik platziert, als Grasdach zu dienen. Da es jedoch keine natürliche Bewässerung und Lichteinstrahlung gibt, müssen die Pflanzen schließlich verkümmern. »Regulated Fool’s Milk Meadow« spricht in der Thematisierung der Fabrik jenes amerikanische Konzept an, in dem Vorgefertigtes und Abgepacktes eine übergeordnete Rolle spielt. Dabei stellt das Werk Rasenstücke her, die wiederum auf ein sehr typisch westliches Phänomen – nämlich den künstlich angelegten Vorgarten – verweisen: »Der Rasen hat wie so viele andere Dinge in unserer Kultur eine völlig neue Bedeutung erhalten. Die Breite des Rasenbands vor dem Haus ist als Statussymbol fast so wichtig wie die Marke des Autos in der Garage.« Die Produktion des Rasens ist auch die einzige Rechtfertigung für die Fabrik selbst. Sie ist eine Täuschung und Blendung, eine überflüssige Kons­ truktion, die in ihrer Geschäftigkeit Zweck suggeriert, jedoch nur eine andere Welt mit ihren Regeln und ihrem eigenen Sinn spiegeln kann. Gleichzeitig ist sie ein funktionierender, Leben spendender Organismus – eine Mutter je­ doch, die ihre Kinder großzieht, um sie am Ende verhungern zu lassen. Phoebe Washburns Arbeit »Regulated Fool’s Milk Meadow« ist noch bis zum 14.10.2007 in der Deutschen Guggenheim Berlin zu sehen

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white cubes text: zuzanna jakubowski

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Bunt, auffällig und immer noch da Ironisch & interaktiv: Ein sehr unterhalt­ sames pop art Book zwischen Coffee­ table und Inspirationsquelle text: caroline lang foto: © allen jones: »dream t-shirt« (1964),wolverhampton art gallery, wolverhampton, uk

Ruth Noack und Roger Martin Buergel © Maria Ziegelböck / documenta GmbH

Eigentlich zentral, dennoch fast versteckt, von den meisten Besuchern übersehen und im Katalog mit dem falschen Standort ausgezeichnet, hängt auf dem Absatz der rekonstruierten Haupttreppe des Fridericianums eine Reproduktion von Paul Klees im Jahr 1920 gefertig­ tem »Angelus Novus«. Walter Benjamin interpretierte das kleine Bild nachhaltig als den ›Engel der Geschichte‹, der mit der Zukunft im Rücken auf die Trümmer der Moder­ ne zurück blickt. Die künstlerische Leitung hat sich wohl um das Original bemüht, sich schließlich aber auch mit der Reproduktion zufrieden gegeben. Diese Kombination aus Sujet, historischer Interpretation und reproduzierter Materialität referiert verspielt auf Benjamins Diktum vom Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reprodu­ zierbarkeit und hätte sich zu einem Versuch der »Documenta 12« – immerhin die angesehenste internationale Ausstellung für Gegenwartskunst – entwickeln sollen, ihre eigenen Bedingungen und Mechanismen mitzureflektie­ ren. Stattdessen setzt die künstlerische Leitung mit der derzeitigen Ausstellung auf Verdaulichkeit unter dem Deckmantel einer Wiederentdeckung der Ästhetik und inszeniert eine Leichtigkeit, die schwer im Magen liegt. Es wird viel diskutiert, und dabei bezeichnend wenig über die tatsächlich ausgestellten Werke; über 500 sind es diesmal an insgesamt neun sehr unterschiedlichen Stand­ orten. Nicht verwunderlich, geht es doch selbst dem Ku­ ratorenpaar Roger M. Buergel und Ruth Noack nicht um die einzelnen Kunstwerke: »Wir begreifen die Ausstellung als ein Medium. Damit bewegen wir uns weg von der Repräsentation der ›besten KünstlerInnen der Welt‹ hin zur Produktion eines Erfahrungsraums, in dem es möglich wird, die Begriffe ›Kunstwerk‹ und ›Publikum‹ aneinander zu schärfen. « Wenn dem doch so wäre. Wurde in den 1950ern auf der documenta ausschließlich bereits etablierte Kunst der Moderne ausgestellt und für ein Nachkriegsdeutschland rehabilitiert, so kam seit den 1960ern die Ausstellung eines Künstlers auf der documenta der Etablierung auf dem internationalen Kunstmarkt gleich. Heute wendet 78  bilder

man sich gegen den Markt und es gilt: Das Kurations­ konzept wird zum eigentlichen Kunstwerk, die einzelnen Werke zu Rohmaterialien und der Kurator zum Künstler. Die Verantwortlichkeit ist ungleich höher. Auf der »d12« ist dies deutlich zu spüren. Das Aus­ stellungskonzept der »Migration der Form« ist überdo­ minanter Rezeptionsfilter der Ausstellung: Werke, die zu zwei Dritteln längst keine Gegenwartskunst mehr sind, wurden so gruppiert, dass sich für den Betrachter formal­ ästhetische Parallelen ergeben, durch die die einzelnen Arbeiten aus ihrer bisherigen ›Überdeterminierung‹ be­ freit werden sollen. Auf Kontextualisierung wird bewusst verzichtet, soll damit dem Betrachter doch Raum zur eige­ nen Bedeutungsfindung gegeben werden. Leider bleiben dabei die inneren, tieferen Zusammenhänge zwischen den Ausstellungsstücken verborgen, oft zugunsten rein formaler und oberflächlicher Ähnlichkeiten. Entgegen der kuratorischen Behauptungen wird dem Publikum keine eigenständige Reflexion abverlangt, im Gegenteil, es entsteht – auch durch die zugegebenermaßen hübsche Gestaltung der Ausstellungsräume – eine auf der Dicho­ tomie von Ähnlichkeiten und Differenzen basierende Konsumierbarkeit der Kunstwerke, die auch noch vorgibt keine ausgerichtete Vermittlung zu sein. Der Versuch, hier selbstreflexive Aussagen über das Ausstellungswesen her­ bei zu interpretieren, bedarf eines kreativen Potentials, das zu wenig im Ausstellungskonzept selbst angelegt ist. So wird die »d12« letztendlich weder den einzelnen Wer­ ken noch den formulierten kuratorischen Ansprüchen Buergel und Noacks gerecht. Für die ausgestellten Kunst­ werke gilt, was schon in dem intertextuellen Verwirrspiel um die Klee­Reproduktion angelegt ist: Es geht hier um den Ausstellungswert, nicht um die Autonomie oder Aura der einzelnen Arbeiten. »documenta 12«, künstlerische Leitung: Roger M. Buergel, 16.6. – 23.9.2007, Museum Fridericianum und andere Ausstellungsorte in Kassel

»Die Pop-Künstler machten Bilder, die jeder, der den Broadway entlangging, im Bruchteil einer Sekunde wieder erkennen konnte – Comics, Picknicktische, Männerhosen, Berühmtheiten, Duschvorhänge, Kühlschränke, Colaflaschen – all die großartigen modernen Dinge, die von den Abstrakten Expressionisten so geflissentlich übersehen wurden.« (Andy Warhol) Irgendwie könnte man ja meinen, die Pop­Art habe an drive verloren. Dadurch, dass viele Motive bis zum Unerträglichen reproduziert und merchandised wur­ den, kam es zu einem Übersättigungseffekt. Über einem massenkonfektionierten Klappsofa im Einrichtungshaus fand sich allzu oft ein Warhol oder Lichtenstein. Gerade deshalb ist es interessant, über diese Standards hinaus die

anderen Werke dieser Kunstszene zu betrachten. Das »Pop Art Book« präsentiert thematisch angeordnet Drucke, Ge­ mälde und Collagen und lässt dabei weder die Aspekte der consumer culture, noch die Ikonen der Neuzeit wie Mari­ lyn Monroe, die Beatles, JFK oder die Stones zu kurz kom­ men. Neben den selbstverständlich auch hier vertretenen Warhol und Lichtenstein finden sich auch David Hockney, Jasper Johns oder Robert Rauschenberg. Der Ansatz ist iro­ nisch und interaktiv – so verbergen sich einige spielerische Elemente im gut 200 Seiten starken Band. Als Gimmick für Sammler gibt es zudem zwei Postkarten. Die beschrei­ benden Texte sind kurz gehalten, und so bleibt jede Men­ ge Raum für Knallig­Auffallendes. Ebenso unübersichtlich wirkt das wie unterhaltsam – und obgleich man meinen könnte, es sei eine Schnapsidee, der farbenfrohen und auf­ fälligen Schule ein weiteres Buch zu widmen, kommt das ganze Unterfangen nicht wirklich überflüssig und irgendwie charmant daher. Egal, ob man es nun als Cof­ feetable­Ausgabe schick zu Hause drapieren oder als Künstler zur Inspira­ tion nutzen mag, dieses »Pop Art Book« eignet sich für beide Zwecke. »Pop Art Book« von Julia Bigham, Black Dog Publishing, London 2007, 196 S., € 24,95

Fäden Fliegen Formen In der Ausstellung »memorias de un viaje« sind brillante neue Arbeiten des Künstlers antonio pÁucar zu erleben text: partick küppers fotos: antonio páucar

Der Mensch ist ein Madensack – so schmiss es einst der Barockdichter Simon Dach seinen Mitmenschen ins Ge­ sicht. Gelernt hat man seither nicht daraus, und der pein­ liche Körperkult der Gegenwart ist eine oft bedrückende Tatsache. Welche Befreiung vermag aber aus der Kunst zu sprudeln: In einer Raumecke der Galerie Davide Gallo hängt ein Bündel Fäden von der Decke. An diesen Fäden hat der in Peru geborene Künstler Antonio Páucar zahl­ lose Fliegen befestigt. Die längsten Fäden dieses unbe­ wegten Schwarms enden in schwarzen Lederschuhen, die in lockerer Haltung am Boden stehen. Aber Halt! – Die lockere Haltung ist die des Schwarms, dessen geordnete Formen die eines stehenden Menschen sind. Eine Video­ installation der Ausstellung zeigt, digital verzerrt, Páucar, wie er sich mit Erde bedeckt. Die Fragmentierung des Menschen, das leidige Leid der Neuzeit, findet sich hier mit augenzwinkernder Freude am Spiel auf den Verfalls­ prozess des menschlichen Körpers rückbezogen. In dem Moment, da der Körper vollständig zerfallen und dabei in die Erde und, als Fliegenschwarm, in die Luft überge­

gangen ist, greift der Künstler ein. Er ordnet den Schwarm als Punkte im Raum an, so dass der Betrachter den Men­ schen, sein Ebenbild, als reine Form und Möglichkeit der Rekonstruktion erkennt. Zweifellos, die Installation »Zapatas que rompen el silencio« im Kontext der schönen Aus­ stellung »memorias de un viaje«, die weitere neue Arbeiten von Antonio Páucar umfasst, ist einer der spannendsten Kunstmomente, die es derzeit in Berlin zu erleben gibt. »memorias de un viaje« von Antonio Páucar, noch bis zum 23.9.2007 in der Galerie Davide Gallo in Berlin

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»Was wird sein, wenn ich nicht mehr bei Dir bin?«

Parallelräume, Parallelträume

»Hors Pistes« und die selBstBesessenheit der Kultur

makoto shinkais impressionistischer Anime »The Place Promised In Our Early Days« auf den Spuren der Träume des Universums

text: sabine lenore müller

Gartenstaaten

Noch nicht hier und nicht mehr drüben: »Hors Pistes« prä­ sentiert Kurzfilme ›neben der Spur‹: Alle Projekte tasten sich von innen an die Grenzen des Dokumentarischen heran, entfernen sich von der kulturellen Matrix, in der sie entstanden sind, und blicken so auf sich selbst herab, wie ein frisch Verstorbener von der Zimmerdecke. Ich und ich sind zwei völlig unterschiedliche Dinge, und »Hors Pistes« ist eine wirklich sehenswerte Kurzenzyklopädie der Selbstbesessenheit und des Selbstexorzismus. Die drei Kurzfilme »Connaissance Du Monde« (2004) von Philippe Fernandez, »Louisada, Avenue C« (2004) von Maeve Au­ bert und »Pick Up« von Lucia Sanchez (2004) wurden auf dem Festival Hors Pistes am Centre Pompidou in Paris vorgestellt und erscheinen nun bei lowave auf DVD

In »Louisada, Avenue C« geht 52 Minuten lang eine handheld Kamera durch einen unverortbaren Garten und prä­ sentiert auf stark gelbverschobenem Material fettes Grün, arbeitende Hände, Tomaten, während auf der Tonspur Menschen über ihren Alltag in den USA, in der Stadt, er­ zählen. Der Betrachter, unfähig die Stimmen zuzuordnen, sieht nur die paradiesisch entrückte Vegetation, oszilliert zwischen verschiedenen Zuständen: Polizeisirenen, Vögel nimmt er wie im Traum wahr. Ein Gute­Nacht­Film, der im Halbschlaf zwischen Sehnsucht und Überdruss fest­ steckt.

Schwarz ist bunt »Connaissance Du Monde« juxtaposiert Schwarzweißauf­ nahmen eines Vortrags im urbanen Frankreich mit rotsti­ chigen Aufnahmen von den Osterinseln. Mit sachlicher Rhetorik werden im schwarzweißen Europa wilde The­ orien über Aliens als Kulturbringer entwickelt, während ein erfolgloser Autor und Filmemacher, von seiner Mutter verbal gedemütigt, symbolisch in der Badewanne ersäuft, um dann zum ›Nabel der Welt‹ auf die farbenfrohen Os­ terinseln aufzubrechen. Dort wartet eine einsame NASA­ Station auf die Rückkehr der Götter. Denn seit sie gingen ist nichts mehr, wie es war: Wir können keine Steinblöcke mehr per Supermagnet bewegen und sind als sinnlose Kreaturen zur ewigen Suche nach unseren überirdischen Erzeugern und Förderern verdammt. Der Dokumentarfil­ mer verschwindet ins Überrot des Materials, die Zuschau­ er seines Streifens verlassen schwarz­weiß den Abspann – unbewegt.

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Altengymnastik »Pick Up«: In einem Strandressort hat sich eine Legion Rentner der Kurzweil hingegeben. Auf und ab und auf, und abends zieht sich eine Omi Rasierklingen aus der Va­ gina, Sandzwerge am Strand, dazu ein furchtbarer Schla­ ger der Schlümpfe: »Aber was wird sein, wenn ich nicht mehr bei Dir bin?« …man leidet mit dem verängstigten Schlumpf an der Flüchtigkeit allen Daseins, und gleich­ zeitig an der schier erdrückenden Prophezeiung: »Das, mein lieber Schlumpf, wird niemals gescheh’n«. Im Mas­ senhotel, nach dem Ableben der Hochkultur: Man wartet auf den Tod und vertreibt sich die Zeit, hinterlässt der Nachwelt alogische Spuren im Sandstrand. Unweigerlich erscheint »Das Siebente Siegel« mit dem Totenreigen: Al­ tendisko, Formationstanz zu Spieluhrmusik. Was werden unsere kosmischen Erzeuger wohl finden, wenn sie eines Tages zurückkehren? Wasserspeiende Plasteblumen? Son­ nenbrillenschnüre? Goldketten auf mumifizierten Brust­ toupets? »Hors Pistes« ist bereits auf DVD erhältlich (lowave)

Found in Translation fatih akins Trilogie »Liebe, Tod und Teufel«, Teil 2: »Auf der anderen Seite« text: annika schmidt fotos: pandora film

In Fatih Akins neuem Film »Auf der anderen Seite« wird wie im ersten Teil seiner Trilogie über »Liebe, Tod und Teufel«, »Gegen die Wand« (2003), in Türkei und Deutschland gelebt und geliebt, ohne sich der zerstörerischen Kraft des Todes entziehen zu können. Während sich der erste Film jedoch auf ein Liebespaar konzentriert, wartet »Auf der anderen Seite« mit einem komplexeren Figuren­Ensemble auf. Dreifach wird das Thema des verlorenen Sohnes vari­ iert: Mutter Yeter, die sich in Bremen prostituiert, und die in der Türkei politisch aktive Ayten sind durch örtliche, Vater Ali und Germanistik­Professor Nejat durch mora­ lische und die Bremer Mutter Susanne (Hanna Schygulla!) und Studentin Lotte durch ideelle Distanz entzweit. Der schicksalhafte Tod einiger Figuren lässt andere eine neue Heimat und manche ein Kind finden – wenn auch nicht unbedingt das eigene. Durch das hoffnungsvolle Ende bil­ det »Auf der anderen Seite« das Gegenstück zu »Gegen die Wand«. Denn der endet so offen wie traurig, nachdem das durch Selbstmordandrohungen erzwungene Leben vor­ her exzessiv narrativ, musikalisch und bildlich zelebriert wurde. Einziger Bruch und Ruhepol waren die Intermezzi der folkloristischen Band vor idyllischem Hintergrund. Wie diese Zwischenspiele am Bosporus ist »Auf der anderen Seite« nun insgesamt leiser, beruhigter und poetischer – ein cineastisches Lied der Wehmut und der Liebe zu Bre­ men und Istanbul. »Auf der anderen Seite« von Fatih Akin, ab 27.9.2007 im Kino (Pandora Film)

text: jochen werner foto: rapid eye movies

»So wie wir nachts träumen, träumt auch unser Universum. Unser Universum versteckt andere mögliche Realitäten in seinen Träumen.« Objekt der Träume der beiden Schuljun­ gen Hiroki und Takuya ist ein weit in den Himmel hineinra­ gender Turm, jenseits der Grenze in einem geteilten Nach­ kriegsjapan. Der Zweck dieses Turmes ist unklar; um ihn ranken sich die unterschiedlichsten Assoziationen: Je nach Sichtweise ein Symbol des Krieges, des Friedens, der Ver­ zweiflung oder der Sehnsucht, bildet er das enigmatische Zentrum von Makoto Shinkais Anime »The Place Promised In Our Early Days«, der zunächst die Bemühungen der Protagonisten verfolgt, sich im mühevoll restaurierten Flugzeug Bella Ciela dem Turm zu nähern. Als schließ­ lich ihre Verbündete und Mitschülerin Sayuki, in die sich beide Jungen verliebt haben, spurlos verschwindet, verlie­ ren sich die Freunde aus den Augen und vergessen ihren Schwur. Doch Jahre später, im Regierungsauftrag an der Erforschung des Turms arbeitend und von der in Träumen wiederkehrenden Erinnerung an Sayuki gepeinigt, finden beide wieder zusammen und kommen dem Geheimnis auf die Spur: Der Turm ist in Wahrheit ein Verbindungs­ punkt zwischen parallelen Welten, die Stabilität dieser Re­ alität einzig gewährleistet durch die sie träumende Sayuki. Ein Erwachen der seit Jahren Schlafenden könnte ein Ver­ schwinden der Welt in einem allumfassenden Traum be­ deuten… Seinem komplexen Thema entsprechend, taucht Makoto Shinkai seinen Anime in überwältigend schöne Bilder melancholischer Traumverlorenheit. Eine impres­ sionistische Lichtdramaturgie und eine unirdisch sanfte Farbgebung komplettieren die ästhetische Brillianz dieses Films, der fernab von stereotypen Manga­Standards am stillen Himmel seine Kreise zieht. »The Place Promised In Our Early Days« von Makoto Shinkai, seit 3.8.2007 auf DVD (Rapid Eye Movies)

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text: dan gorenstein

schnittstellen

Das Spiel im Spiel im Spiel mario partY 8 holt mit einem alten Konzept noch mehr Gelegenheitsspieler vor die Wii

Im Haus des analogen Unterbewusstseins

goon t s Verlo

Das Künstlerkollektiv projectsinge lässt uns orientierungslos durch bedrohliche Zwischenräume stolpern text: jochen werner foto: projectsinge

»We had hoped to tell a story, but that tools have shaped their own shadows.« Mit ihrer ersten DVD­Veröffentlichung »Monkey_Party« schickt sich das französische Künstler­ kollektiv projectsinge an, mithilfe von sechs audiovisu­ ellen Installationen das Tier in der Maschine zu wecken. Diese gruppieren sich allesamt um jene bedrohlichen Räume, die sich zwischen den Bildern und Klängen des TV­Bildes und den Gerätschaften, die dazwischen geschal­ tet die Voraussetzungen seiner Existenz liefern, auftun. Verwischende Unschärfen gibt es da, ohrenbetäubende Störgeräusche, entgleitende oder längst entglittene Bilder, in denen sich der zum Nutzer avancierte Zuschauer mit scheinbarer Freiheit bewegt. Das beginnt bei den zufalls­ generierten Kombinationen von »Monkey_Trap«, deren Zusammenhänge durch den stetig möglichen Wechsel zwischen zwei parallelen Bild­ und Tonspuren stets aufs Neue zerfleddern und sich neu zusammenfügen, setzt sich mit der Hinzufügung der Schrift in den 16 Unterti­ telspuren von »Monkey_Brain« fort und kulminiert in der videospielartigen Interaktivität von »Monkey_Key«. Dort bewegt sich eine subjektive Kamera auf den Spuren eines völlig leer bleibenden (und somit zur Verschmelzung mit dem User bereit gestellten) Protagonisten durch ein verlassenes Haus, geleitet vom Zuschauer, der die Fort­ führung des Weges an immer neuen Kreuzungen und Knotenpunkten bestimmt. Aus der Unübersichtlichkeit der Verzweigungen ergibt sich schließlich nicht wirklich der Gang durch ein schlüssig nachvollziehbares Gebäude, sondern eher ein orientierungsloses Stolpern durch die ei­ genen Urängste im Haus des analogen Unterbewusstseins – eine verstörende und nicht wenig Furcht einflößende Erfahrung. »Monkey_Party« von projectsinge, auf DVD erhältlich (projectsinge / lowave) Ergänzungen und Erweiterungen sind online auf www.monkey-party.org zu finden

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text: dan gorenstein

Als »Mario Party« 1998 für das N64 erschien, war es eine Retro­Revolution. Videospiele waren zu diesem Zeitpunkt längst eine zeitfressende Angelegenheit, die Qualität eines Spiels wurde nahezu gleichgesetzt mit seiner Dauer und die wiederum mit seiner Komplexität. Videospielen war ein Hobby für hingebungsvolle Nerds, die Lücke zwi­ schen Spieler und Nichtspieler nahezu unüberbrückbar. Das Konzept war damals wie heute dasselbe: Bis zu vier Spieler treten auf einem virtuellen Spielbrett gegeneinan­ der an, würfeln, ziehen und sammeln Sterne. Der Clou ist, dass am Ende jeder Runde alle Spieler ein kurzes Mini­ spiel spielen; der Sieger bekommt einige der berühmten Mario­Münzen und kann sich damit Sterne auf dem Spielbrett kaufen. Die Minispiele reichen von schlichtem Memory bis hin zu ausgefeilten Autorennstrecken, und durch ihre schiere Anzahl – jeder Teil bringt etwa 50 un­ terschiedliche Spiele mit sich – sollte der Vorteil des Ge­ wohnheitsspielers gegenüber dem Laien ausgeglichen werden. Jedem Spiel sind eine kurze Erklärung sowie ein Trainingsmodus vorangestellt, um die Chancengleichheit weiter zu forcieren – schließlich sollte eine »Mario Party« keine Expertenrunde sein. Mit »Mario Party 8« kommt jetzt die erste Ladung Minispiele für die Wii, jene Konsole, die sich das casual gaming auf die Fahnen geschrieben zu haben scheint. Man könnte sagen, der Weg, den Nintendo vor neun Jahren mit dem ersten Teil eingeschlagen hat und der den Spaß am Spiel im Gegensatz zur Expertise des geübten Spielers hervorhebt, ist mit der Wii zu einem vorläufigen Höhepunkt gekommen. »Mario Party 8«, für die Wii erhältlich (Nintendo) Wir verlosen 3 Exemplare des Spiels. Einfach Mail mit Betreff »It’s Me, Mario« an tombola@goon-magazine.de

Das Herzstück eines jeden Computerspiels ist seine Steue­ rung. Um Zugang zu der virtuellen Welt des Spiels zu erhal­ ten, genügt es nicht mehr, das Gerät einzuschalten, man muss fast alle seine Funktionen fortwährend am Laufen halten: Der Spieler befindet sich, im Gegensatz etwa zum Zuschauer eines Films, in einer ständigen Abfragesituati­ on. In der Kybernetik bezeichnet man den Ort, an dem ein Objekt mit einem anderen interagiert, als Interface oder Schnittstelle. Nach kybernetischen Maßstäben beschränkt sich das Modell der Schnittstelle also nicht auf die Inter­ aktion von Computer und Bediener, sondern beschreibt darüber hinaus unseren allgemeinen Zugang zur Welt. So wäre die Klinke einer Tür beispielsweise die Schnittstelle zwischen der Tür und der Person, die durch die Tür treten will, oder der Schläger im Golfspiel die Schnittstelle zwi­ schen Ball und Spieler. Der Ball wiederum ist die Schnitt­ stelle zwischen Spieler und Spiel. Seit es Computerspiele gibt, bemühen sich deren Produzenten um die Erfindung und Herstellung immer saubererer Interfaces. Das kann ei­ nerseits in die Richtung der tatsächlichen Steuerung eines Spiels oder Spielegenres gehen – ein frühes Beispiel hierfür wären die unzähligen Lenkräder für Autorennspiele oder die lightguns für diverse Shooter –, andererseits kann aber auch die Grafik als Schnittstelle zwischen Spielwelt und Auge des Spielers gesehen werden. Die Kombination aus beiden Interfaces ist dann die viel beschworene Hand­ Auge­Koordination. Nintendo hat sich mit seiner neuen Konsole Wii dafür entschieden, das Hauptaugenmerk auf die Bedienungsschnittstelle zu legen und sich somit aus dem Grafikwettrüsten zu verabschieden. Das Konzept trägt Früchte: Immer mehr Nichtspieler lassen sich auf die wesentlich intuitiveren Steuerungskonzepte der Wii ein, eine neue Zielgruppe ist erschlossen. Natürlich sind diese neuen Spieler auch an anderer Software interessiert als der durchschnittliche Gamer, und demzufolge kommt die Wii auch nicht mit einem Mario­Spiel im Paket, son­ dern mit einer Sammlung von fünf Sportspielen. Diese Sammlung, Wii sports, bildet gewissermaßen die Ma­ trix für alle zukünftigen Übersetzungen dieser Sportarten.

Nun ist die erste Welle eingetroffen: die Golfspiele. Zum einen wäre da die japanophile Knuddelvariante pangYa! golf With stYle: Ursprünglich wurde das Spiel nicht für die Wii entwickelt, vielmehr verbirgt sich dahinter eine Adaption des Massen­Online­Golfspiels »Albatros 18«, in dem gegolft, gestyled und vor allem gechattet wird – neu ist nur der nachgeahmte Golfschlag. »Pangya!« ist voll von stylishen Outfits, seltsamen Schlägersets, Manga­Caddies und so genannten ›mystischen Phönixbällen‹, nichtsdes­ totrotz handelt es sich aber darüber hinaus tatsächlich um ein durchaus ernst zu nehmendes Golfspiel. Von EA, dem weltgrößten Sportspielhersteller, kommt der ameri­ kanische Gegenentwurf: tiger WooDs pga tour 2007. Obgleich aber dieses Spiel viel kantiger und auf den ersten Blick auch rauer als »Pangya!« wirkt, gibt es auch hier eine nicht zu verachtende Stylesektion, und darüber hinaus für diejenigen, denen Tiger nicht persönlich genug ist, auch einen Spielergenerator. Hier lässt sich von den Wangen­ knochen bis zur Augenstellung alles haarklein ermitteln, und im Ergebnis müsste ein nahezu perfekt designter indi­ vidueller Golfer entstehen, den man, sollte man gut genug golfen, in die Nike­Schuhe oder das Polo­Shirt seiner Wahl stecken kann. Das Herzstück bleibt aber auch bei »Tiger Woods« das Golfen – ein Sport, der sich besonders gut für die Übersetzung aus der realen Welt in die virtuelle eignet, ist es doch neben den Motorsportarten der platzraubends­ te Sport. Die riesigen Golffelder werden übertragen in ein­ fache Datenfelder, und doch spielen wir noch Golf, denn wir haben einen Schläger: die Wii­Mote. Die Mimikry der Schlagbewegung macht das Golfspielen auf der Wii so intensiv, denn nach dem Schlag kommt, auch im echten Leben, nur noch die Beobachtung, der Film, bis es wieder an den nächsten Schlag geht. »Wii Sports« ist bereits bei Nintendo erschienen »Tiger Woods PGA Tour 07« von EA ist bereits bei Nintendo erschienen »Pangya! Golf with Style« von NTREEV / Tecmo ist bereits bei Nintendo erschienen

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das

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Die Wissenschaft der Zeichen ist die Semiotik. Der griechische Ursprung des Wortes ist bezeichnend uneindeutig: Symptom, Vorzeichen, Spur, Unter­ scheidungsmerkmal, Kennzeichen, Beweis, Ausdruck, Hinweis, Gestalt und auch – geschriebenes Zeichen. Unter diesen Aspekten sollen in Zukunft an dieser Stelle die unterschiedlichsten Überlegungen stattfinden, in denen wir ›Zeichen‹ als Repräsentationen der Welt auffassen, die nicht nur ›sind‹, sondern immer auch ›gemacht sind‹, und versuchen werden, diese so gut es geht zu entziffern ohne sie immer erklären zu wollen.

Dabei soll hier aber keine rein akademische Debatte geführt werden; gerade dem scheinbar Kruden und Abseitigen wird weiterhin Beachtung geschenkt, den Auswüchsen der Popkultur, dem, was an den Rändern des Mainstream wabert. Grundlagendebatten der Gegen­ wartskultur können sich dabei neben Nischenwissen und theoretischen Diskussionen wieder finden, die in einem Artikel oder einer Rezension meistens zu kurz kommen – weg von der blattmacherischen Tendenz, die eigenen Prätexte und Bedingungen zu ignorieren und hin zu einer selbstreflexiveren Kulturanalyse. zeichen  85


Die Versprechen der Mode Über soziale Distinktion und individuelles Glück

text: gertrud lehnert

Gespür für das Wesentliche

Als Lucien de Rubempré, der naiv­raffinierte Empor­ kömmling in Honoré de Balzacs Roman »Verlorene Illusionen« von der Provinz nach Paris kommt, lernt er sogleich eine wichtige Lektion: Will er auch nur die mindeste Chance haben, irgendwann zur guten Gesellschaft zu ge­ hören und als Dichter zu arrivieren, muss er sich komplett neu einkleiden. In der Metropole macht man sich nämlich über den provinziellen »Hochzeitskellner im Sonntags­ staat« ebenso lustig wie über seinen angemaßten Adelsti­ tel. Lucien zögert nicht lang. Er gibt fast das gesamte Geld, das ihm sein mittelloser Schwager großzügig geliehen hat und von dem er viele Monate lang leben wollte, beim bes­ ten Schneider von Paris für eine neue Garderobe aus. Und damit hat er seinen Schritt in die Verschwendung und die Verschuldung getan. Denn in einer Welt, die auf den äußeren Schein setzt, zieht eine Ausgabe die andere nach sich: Nie ist es genug mit dem, was man hat. Die Mode re­ giert diese Welt, ganz gleich ob in Gestalt von Kleidermo­ den, intellektuellen Moden oder Lebensstilen. Und zum unveränderlichen Kern der Mode zählt ihre Veränderlich­ keit, der sich beständig anpassen muss, wer nicht schlag­ artig altmodisch sein will. Das wiederum erfordert von den einzelnen einen fortwährenden Entscheidungs­ und Unterscheidungsprozess: Die Gratwanderung zwischen dem, was wirklich modisch (oder elegant oder vornehm) und dem, was es nur scheinbar ist, ist nur denen möglich, die über das entsprechend verfeinerte Distinktionsvermö­ gen verfügen — d.h. die modischen Zeichen zu lesen und kompetent selbst einzusetzen vermögen.

Aber nicht genug, dass man die richtigen Kleider und Ac­ cessoires kauft — man muss sie auch zu tragen wissen. Ma­ dame de Bargeton, die ursprünglich ebenso provinzielle Geliebte Luciens, begreift das sofort und ist schon am Tag nach ihrer Ankunft in Paris »nicht zum Wiedererkennen: Die Farben ihrer Toilette waren so gewählt, daß ihr Teint zur rechten Geltung kam; ihr Kleid war entzückend; ihre Haare waren anmutig frisiert und standen ihr gut zu Gesicht, und ihr Hut war von erlesenem Geschmack [...]. Sie hatte die Handbewegungen und das Benehmen ihrer Cousine angenommen; sie saß wie sie da und spielte mit einem eleganten Riechdöschen, das mit einem Kettchen an einem der Finger

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Mode ist der legitime Ort des Phantasierens und des Tagträumens. der rechten Hand befestigt war.« Modisch höchst gelehrig, mit scharfem Blick und sensiblem Gespür für das We­ sentliche, hat Madame Bargeton binnen weniger Tage ihr provinzielles Flair abgelegt und die wahre, die groß­ städtische Eleganz angenommen. Vestimentäre Objekte und persönliche Attitüde verbinden sich und schaffen eine Frau von Welt. Sofort zeigt sie Lucien — mit dem sie doch aus der Provinz geflohen ist — die kalte Schulter: Im Gegensatz zu ihr gehört er allzu offensichtlich (noch) nicht zur guten Gesellschaft.

Uniformität Was Balzac in seinem Roman von 1837 anschaulich vor­ führt, analysiert Georg Simmel fast ein Jahrhundert spä­ ter in einem wegweisenden Aufsatz als die grundlegende Struktur der Mode. Mode gilt dem Soziologen als Zei­ chensystem, das Gruppenzugehörigkeiten schafft und zu­ gleich die Abgrenzung der jeweiligen Gruppe nach außen garantiert. Zugleich — und das unterscheidet Mode von Trachten oder Uniformen — erlaube sie es dem Individu­ um, sich innerhalb der Gruppe von den anderen Grup­ penmitgliedern zu unterscheiden und als vermeintlich eigenständige, unverwechselbare Persönlichkeit zu posi­ tionieren. Madame de Bargeton führt in Balzacs Roman vor, wie das funktioniert: Sie hat sich eine modisch tonan­ gebende Dame zum Vorbild genommen und sich dieser »ähnlich gemacht, ohne sie nachzuäffen«. Nachahmung und leichte Modifikation des Nachgeahmten: das genau macht Mode aus. Denn natürlich wird Mode nur das, was viele tragen, aber wenn zu viele das gleiche auf gleiche Weise tragen, ist Uniformität das Ergebnis. Die Mode als spezifisch modernes Phänomen bedarf zumindest der Illusion von Individualität, um zu funktionieren. Und so predigen Modezeitschriften schon längst nicht mehr den einheitlichen Stil, sondern den Mix aus verschiedenen angebotenen, sprich: vorgefertigten Stilen als den letzten Schrei der individuellen modischen Kreativität. Ästhetische Experimente Das scheint paradox. Und doch öffnet sich gerade hier der Spielraum, den die Mode zur Verfügung stellt. Dieser Spiel­ raum ermöglicht eine gewisse Variabilität der Zeichenver­ wendung, ja erfordert sie geradezu. In dieser Perspektive wird Mode zu dem Ort, an dem man sich vergleichsweise risikolos ausprobieren, an dem man ungestraft und ohne künstlerischen Anspruch ästhetische Experimente durch­ führen kann. Mode ist der legitime Ort des Phantasierens und des Tagträumens. Denn Mode funktioniert nicht nur

als soziales Zeichensystem, sondern in mindestens dem­ selben Maße auch als Auslöser von Atmosphären und als Versprechen des ganz Anderen (oder im Gegenteil des Ureigenen). Wenn Gustave Flauberts Emma Bovary sich ihren Träumen von einem anderen Leben hingibt, so wird deren inhaltliche Vagheit nicht zufällig eingefangen durch Mode. Emma kauft sich wunderschöne Kleider, die ihren narzisstischen, verschwommenen Träumen von sich selbst eine materielle Greifbarkeit verleihen, ohne sie freilich konkreter zu machen. (Ihre Liebhaber erfüllen eine ganz ähnliche Funktion.) Emma geht daran zugrun­

Die Mode regiert diese Welt, ganz gleich ob in Gestalt von Kleidermoden, intellektuellen Moden oder Lebensstilen. de. Aber ein derart grässliches Ende muss wirklich nicht sein. Tatsächlich bietet die Mode Glücksversprechen an, und manchmal hält sie sie sogar: weil sie sich eben nicht um sozialen Aufstieg, Glück in der Liebe oder sonst etwas Konkretes drehen, sondern um Phantasien vom eigenen Ich. Die Mode ist Auslöser und materielles Zeichen dafür, und zugleich ist sie viel mehr als ein Zeichen, das ja im­ mer etwas anderes repräsentiert. Sie ist für einen Moment die Sache selbst: Sie ist die Phantasie, ist das Versprechen, ist das — wenn auch sehr ephemere — ästhetische Glück. Gertrud Lehnert ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. Modegeschichte und -theorie, sowie Inszenierung und Visualität in Literatur und Kunst. Aktuelle Veröffentlichungen zum Weiterlesen: »Mode, Schule der Frauen« von Hannelore Schlaffer. Suhrkamp Insel, Frankfurt am Main 2007, 168 S., € 14,80

»Kleidung verändert. Mode im Kreislauf der Kulturen« von Claudia C. Ebner, Transcript Verlag, Bielefeld 2007, 170 S., € 20,80

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Unfreiwilliger Voyeurismus Die Rückforderung und Zentrierung des Blicks in Theatertexten von Dea Loher

text: astrid hackel

Das Augenlicht wünscht sich die Striptease­Tänzerin Ab­ solut »mehr als alles auf der Welt« und das unglücklich verliebte Mädchen Julia sehnt sich stärker noch als nach der Erwiderung ihrer Liebe danach, einmal »nur den Himmel« zu sehen. »Blaubart – Hoffnung der Frauen« und »Unschuld« – in beiden Stücken von Dea Loher spielt eine junge blinde Frau die eigentliche Hauptrolle. Der Prolog ihres Dramas »Fremdes Haus« erzählt die Legende einer Massenblen­ dung aus Rache, und durch die »Manhattan Medea« zieht sich Blindheit als vielgestaltige Metapher für geistige Ver­ blendung, emotionale Abhängigkeit und den Wunsch, die Vergangenheit radikal auszublenden. Polarisierung Blindheit ist in den Texten der Dramatikerin durchaus präsent, fällt aber nicht unmittelbar ›ins Auge‹. Dazu sind ihre Charaktere viel zu ›normal‹, ist das Ereignis ih­ rer Erblindung viel zu nebensächlich. Weder verknüpft Loher sie an irgend einer Stelle mit einem moralischen Imperativ noch schreibt sie die in der Literatur­ und Kul­ turgeschichte bestehenden ambivalenten Klischees der Blindendarstellung fort. Die US­amerikanischen Kultur­ wissenschaftler Sharon Snyder und David Mitchell führen in ihrem Buch »Narrative Prosthesis. Disability and the Dependencies of Discourse« aus, dass und wie die Literatur und darstellenden Künste an der kulturellen Konstrukti­ on von Behinderung als negative Differenzkategorie mit­ wirken, und das seit Jahrhunderten. Kai Nonnenmacher, Pilar Baumeister und Harry Merkle sind sich bei aller Differenz einig, dass sich blinde Figuren oft nur zwischen den Polen Bösewicht und unschuldiges Opfer bewegen. Vor allem blinde Frauen werden entweder als ›böse‹ Ver­ führerin, ausgegrenzte Seherin oder die bessere Hausfrau bzw. entsexualisierte Heilige geschildert.

überaus stark mit Formen von Weiblichkeit. Darüber hi­ naus verweist Blindheit über die ›Normalität‹ der Charak­ tere hinaus wirkungsästhetisch auf das Theater selbst, als Kunstform. Sie ist ein so paradoxes wie treffendes Bild für die vielfach beschriebene Krise der Repräsentation, denn »[w]o statt Welt Weltverlust erfahren wird, kann es nicht um Nachahmung, also Darstellung einer ›Realität‹ gehen« (Gerda Poschmann). Der Dramatiker Fritz Kater fasst das Problem in zwei Sätze: »[A]lles, was sichtbar ist, ist schließlich auch beschreibbar und letztendlich auch lesbar, und genau das scheint mir nicht mehr möglich. Das Drama der Zukunft wird vielleicht das Drama der Abwesenheit sein«. Schon in Samuel Becketts »Fin de Partie« wird mit­ tels Blindheit die Unmöglichkeit, in einer sinnfreien Welt überhaupt noch Theater machen zu können, behauptet.

Blindheit ist ein so paradoxes wie treffendes Bild für die Krise der Repräsentation. Von dieser Totalität um einiges entfernt, ist das »Paradox gegenwärtiger Nichtanwesenheit« (Hans­Thieß Lehmann) für Lohers Figuren oft der einzige und doch unrealisierbare Ausweg aus einer als unzuverlässig, un­ gleichzeitig und fragmentiert erfahrenen Welt. Ihre Me­ thode der Diskontinuität entspricht einem Theaterver­ ständnis, das im Verhältnis zur verwandelten und nicht mehr darstellbaren Weltwahrnehmung steht. Es regt die Entwicklung neuer Wahrnehmungsweisen zur Unterbre­ chung von stumpfsinnigen ›Alltagsblindheiten‹ an. Der Blinde ist in einer visuell geprägten Gesellschaft an­ und abwesend zugleich, indem er gesehen wird ohne selbst zu sehen. Als Form oszillierender An­ und Abwesenheit steht Blindheit in Lohers Dramen unter anderem für Versuche, alternative Formen der Darstellung für das Nichtrepräsen­ tierbare zu finden.

Paradoxien Bildstörung Zur Verbreitung und fortschreitenden Verfestigung sol­ cher Negativkategorien trägt Loher mit ihren Theatertex­ ten gerade nicht bei. Unkonventionell und frei von Pathos ist ihr Rückgriff auf das Thema Blindheit. Während weib­ liche Blinde in der Literatur­ und Kulturgeschichte eher eine Leerstelle bilden, verbindet sich bei ihr Blindheit 88  zeichen

Gemäß der medientheoretischen Zuweisung des Sehens an den Mann ist die Frau per definitionem blind, da sie als ›Objekt‹, das gesehen wird, von vornherein kein Sehen zu verlieren hat. Sowohl in »Blaubart« als auch in »Unschuld« wird diese Konvention kritisiert, indem Loher die Blick­

dramaturgie einfach umkehrt und zum Teil ad absurdum führt: In »Blaubart« sehen sieben Frauen auf Heinrich, der – im übertragenen Sinn blind – keinen einzigen Blick erwartungsgemäß erwidert: Durch Mord an den Wer­ benden stellt er die ›natürliche‹ Ordnung der Geschlech­ ter wieder her. Lediglich in der ›harmlosen‹ Blinden, die ihm keinen Blick zurückgeben kann, glaubt er seine Liebe und Rettung gefunden zu haben. Und ausgerechnet ihr unerwarteter Blick trifft, ja tötet ihn: »Ich aber, ich werde dich töten. / Für dich wird es sein wie Erlösung. / Für mich wie mein eigener Tod. / Dann aber. Werde ich frei sein von dir. / Deiner Maßlosigkeit. Deinem Mittelmaß. Deinen Lügen. [...] Ich, die die Liebe tötet. / Und das Verlangen danach.«

Eine Welt aus Abwesenheiten. Trägt »Blaubart« durch Lohers Montagetechnik, die kritisch­distanzierte Überblendung von Zitaten und die Verzerrung des originalen Stoffs deutliche Züge einer Far­ ce, werden Geschlechterkonventionen in dem sechs Jahre später entstandenen Text »Unschuld« ernsthafter, eher philosophisch verhandelt. Absolut ist eine bodenständi­ ge, junge Frau mit erotischer Ausstrahlung und starkem Selbstbewusstsein. Sie spürt die heimlichen Blicke der Männer auf der Straße, die ihr zutiefst zuwider sind. Sie möchte offen und unverstellt angeblickt werden – wie in der Hafenkneipe »Blauer Planet«, in der sie Nacht für Nacht tanzt. Die drameninhärente Trennung von Akteur und Zuschauer ist wie eine theatrale Aufführungssituati­ on innerhalb der eigentlichen Darstellung: Absolut, die blinde Tänzerin, ist das Sinnbild eines Akteurs, der die zerstreuten oder blinden Blicke des Zuschauers zurück­ fordert und zentriert. Durch die Ineinanderspiegelung verschiedener Darstellungsmodi wird die Repräsentation im Theater als solche repräsentiert. Dadurch verlagert sich das Interesse über die Brüche und Diskontinuitäten im Inhalt hinaus auf die Materialität und Mechanismen dieser Repräsentation. Die dramenästhetische Beschaf­ fenheit verweist so über Inhalt und Form dieses Werkes hinaus auf die Produktions­ und Rezeptionsbedingungen von Literatur und Theater sowie auf Funktionsweisen und Regeln der Wahrnehmung im Allgemeinen.

Blinde Projektionen Drei Kunstgriffe der Autorin kulminieren in dieser Situ­ ation: Erstens lässt Loher im übertragenen Sinn gerade die Frau zu einem Spiegel werden, die aufgrund ihrer Blindheit gar keine Blicke erwidern kann. Zweitens ver­ körpert Absolut, die ›ausgerechnet als Blinde‹ lustbetont ihren Körper präsentiert, die Antithese der genannten Klischees. Gleichwohl sie die unterdrückte sexuelle Be­ gierde ihrer männlichen Betrachter freilegt und ihre Lust reflektiert, spiegelt sie deren Blicke im »Blauen Planeten« nicht wieder, sondern absorbiert sie. Drittens wird in dieser Szene die für die Gattung konstitutive theatrale Aufführungssituation im Text ins­ trumentalisiert: Gegen seinen Willen wird der Zuschauer selbst in die Situation eines Voyeurs versetzt. Er hat keine Wahl; er muss sehen. Dass Blindheit als Form der Negation jenseits aller Neutralität stets auf das sehende Auge verweist, wird in der Konstellation von Absolut und ihren Besuchern eins zu eins ins Bild gesetzt. In einer Welt aus Abwesenheiten ist Blindheit eine Möglichkeit der Reokkupation und Pro­ duktion unverbrauchter und vorurteilsfreier (Kopf­)Bilder. Schon Voltaire hatte erkannt, dass das Sehen ebenso wie das Lesen und Schreiben erst Schritt für Schritt erlernt werden müsse. Im Theater als einer ›Schule des Sehens‹ geht es genau darum: um das Finden und Erproben neuer Wahrnehmungsweisen. Gerade der Auftritt blinder Fi­ guren verweist auf die defizitären Strukturen des Theaters und »die Fragwürdigkeit menschlicher Wahrnehmung und Erkenntnisfähigkeit« (Poschmann) im Allgemeinen. »Manhattan Medea. Blaubart – Hoffnung der Frauen« von Dea Loher, Verlag der Autoren, Frankfurt a.M., 2002, 133 S., € 14,00 »Unschuld. Das Leben auf der Praça Roosevelt« von Dea Loher, Verlag der Autoren, Frankfurt a.M., 2004, 202 S., € 16,00

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review

Ein Zaubertrick der Zeichen

Da flimmert nichts, da glitzert was!

Eine medienhistorische Veröffentlichung untersucht die Nebengeräusche der Kultur

Wie man Bilder auch zeigen kann

text: zuzanna jakubowski

Im Club, in der Uni, bei der Arbeit. Beim Bier mit Freunden, beim Einkau­ fen, beim Fernsehen – Zeichen bestimmen unseren Alltag, wir sind ständig von ihnen umgeben und deuten sie, ohne uns dessen bewusst zu sein. »Es gibt kein Entrinnen aus der Interpretierbarkeit«, formulierte es der Semio­ tiker Rudi Keller. Kulturelle Codes sind nie eindeutig und Authentizität im­ mer schon Resultat einer geschickten Inszenierung. Dabei geht es allerdings nicht um eine Verschwörung der Wissenschaft und Unterhaltungsindustrie, sondern um die unüberbrückbare Differenz dessen, was repräsentiert wird und dessen, was repräsentiert. Die Zeichenhaftigkeit der Welt ist schon seit der Antike Gegenstand philosophischer Reflexion. Sprache ist dabei nur ein Zeichensystem unter vielen; auch mediale Differenzen spielen beim Le­ sen und Entziffern von Zeichen eine entscheidende Rolle. Kosten und Nebenwirkungen In ihrer Einleitung zu dem Essayband »Im Zauber der Zeichen« beschrei­ ben Jörn Ahrens und Stephan Braese eingängig den täuschenden Kurz­ schluss von Zeichen und Wirkung: »Die Differenz zwischen Fiktion und Realität wird im Moment des Erlebens ›vergleichgültigt‹, verschmiert, zugunsten eines ›Traums der Unmittelbarkeit‹, der dem Zeichen ein Vermögen zuschreibt, das tatsächlich auf andere Ursachen zurückzuführen ist.« Zeichen und Be­ zeichnetes fallen ineinander. So verdrängen die technischen Medien, dass im Neuen auch das Alte steckt, dass es auch eines Blickes auf »abgesunkene Bedeutungsebenen« bedarf, um die Dimensionen medialer Kultur zu begrei­ fen. Die Herausgeber arbeiten hier mit den Begriffen der Psychoanalyse, um zu verdeutlichen, was sie mit dieser abwechslungsreichen Veröffentlichung beabsichtigen: Archäologen gleich sollen die einzelnen Texte das Verdrängte, die »Kosten und Nebenwirkungen, Hypotheken, Vor- und Frühgeschichtliches sowie Kollaterales der Medienentwicklung« − welches peripher als »Rauschen der Kultur« noch wahrzunehmen ist – aus dem Unterbewussten der Kultur­ geschichte quasi zu Tage fördern. Kuriositäten Damit werden rückwirkend, aber auch aktuell greifend Kontexte erhellt, Schleier zurückgezogen, die eine Naturalisierung gesellschaftlicher Pro­ zesse verdecken. Spannend und auch unerwartet ist die Themenauswahl der einzelnen Beiträge: Hervorzuheben wäre Rainer Stollmanns Beitrag zu einer Medientheorie Alexander Kluges und Oskar Negts, die Globalisie­ rungsprozesse als eine Kolonisierung des Bewusstseins – nicht unähnlich der des afrikanischen Kontinents im 19. Jahrhundert – beschreiben; sicherlich auch Olaf Brieses Nachzeichnung einer visuellen (Selbst­)Konstruktion von Bakterien durch ihre medialen Repräsentationen zwischen Mikroskop und Fotoapparat. Monika Schmitz­Emans wiederum entlarvt in ihrem Text zu Justus Kerners »Klecksographien« aus dem 19. Jahrhundert das Geisterse­ hen des Autors als Resultat sprachlich determinierter Deutungskunst. Es ist genau diese scheinbare Abseitigkeit der Beiträge, ihre Kuriosität, die sie so vergnüglich zu lesen macht. En passant wird – wie durch Zauberhand – in der ›Natur‹ Stück für Stück die ›Kultur‹ freigelegt. »Im Zauber der Zeichen. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Mediums« von Jörn Ahrens und Stephan Braese, Vorwerk 8, Berlin 2007, 184 S., € 19,00

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Heute schon die Häuserwand gelesen? Julia Reinecke veröffentlicht die erste wissenschaftliche Analyse zu street art text: jens pacholsky fotos: xavier prou, julia reinecke

Gibt es eigentlich noch eine einzige Oberfläche in unseren Metropolen, die nicht von Aufklebern, Schablonen­Graf­ fitis, cut-outs und Miniaturinstallationen geziert wird? Street Art ist neues expandierendes Kunst­ und Vandalis­ musforum, exklusives Stadtgefühl und vor allem voll im Trend. Dabei entwickelte sich diese Strömung der illegalen Verschönerung fremden Eigentums bereits in den 1980er Jahren, also eher parallel zu Graffiti als danach – selbst wenn heute gern von Post­Graffiti gesprochen wird, wie Julia Reinecke in der ersten wissenschaftliche Analyse zu Street Art zeigt. Ihr Untertitel »Eine Subkultur zwischen Kunst und Kommerz« macht dennoch stutzig: Die Einord­ nung der Street­Art­Protagonisten in die Subkultur bleibt – der zugehörigen grundlegenden Theorie von Anthony Giddens oder dem postmodernem Ansatz der innerlichen Fragmentierung von David Muggleton zum Trotz – frag­ lich. Gerade die Street­Art­Bewegung glänzt durch das Fehlen eines gemeinsamen Habitus, Wertekodex oder Stils. Die Kunst­Kommerz­Frage klingt dagegen schlicht­ weg trivial. Welche Subkultur, Szene, Undergroundbewe­ gung spielt nicht mit diesen Polen? Spannend bleibt Julia Reineckes Buch dafür bei der Portraitierung der wichtigs­ ten zehn Vertreter – wie Blek Le Rat, der 1981 in Paris das Schablonen­Graffiti praktisch erfand – und der histo­ rischen Einordnung in die Tradition von Dadaismus und Situationismus. Die Betrachtung der Kulturwissenschaft­ lerin bietet somit eine interessante Erstübersicht, die aber noch genügend Platz für fortlaufende Feldforschung lässt. »Street Art – Eine Subkultur zwischen Kunst und Kommerz« von Julia Reinecke, Transcript Verlag, Bielefeld 2007, 194 S., € 23,80

text: mareike wöhler illustration: natalie huth, »les fantômes de …« (2006)

Jetzt gibt es mit jitter also auch noch ein Magazin für Bildgestaltung. Beim Durchblättern sieht die erste Nummer mit dem Schwerpunkt Zeichnung toll aus. Doch halten die Artikel, was die größtenteils farbigen Illustrationen versprechen? Und interessiert das auch Leute, die selbst keine Bilder gestalten? Ja und ja. Dies ist kein weiteres Bilderbuch im Magazinformat, das viel zum Gucken, aber wenig inhaltliche Substanz zu bieten hat, und auch keine Plattform für Besprechungen von Zeichentechniken und Bildbearbeitungsprogrammen. In Essays, Interviews und Artikeln werden Zeichner, Illustratoren, Grafiker, Ani­ mationsfilmer, Modellbauer und Bilderbuchillustratoren präsentiert, wird die Zeichnung in ihrer materiellen und formalen Vielfalt untersucht, ohne dass dies rein theore­ tisch­akademisch oder begeistert­pragmatisch daherkä­ me. Man kann bei der durchweg gelungenen Auswahl zahlreiche Entdeckungen machen, z.B. Oliver Kuglers Reisezeichnungen, Katharina Gschwendtners komplexe Alltagsszenarien auf Glas oder Natalie Huths gesichtslose Restebilder. Immer geht es in den Artikeln darum, bisher bekannte Sichtweisen auf Illustration in Frage zu stellen, um den Radius und die Themengebiete von Zeichnern so­ wie die Sichtweise auf deren Arbeit zu erweitern. So folgt auf ein Interview mit einer Professorin für Illustration, die für ein Hand­in­Hand­Gehen von Theorie, Vorstellungs­ kraft und Praxis plädiert, ein unerwarteter Artikel über Bildeinsatz und Bildfunktion in den hermetischen Ge­ heimwissenschaften des 17. Jahrhunderts und die Abhän­ gigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis von Ästhetik. Von Angst oder Bildflimmern, die der Name jitter nahelegt, ist jedenfalls nichts zu sehen oder zu spüren. Vielmehr geht es um die Umsetzung von Pestalozzis Forderung nach »Kopf, Herz und Hand«, und diese drei sind hier bei sich. jitter. Magazin für Bildgestaltung 01/07, hg. v. Andreas Rauth, Berlin 2007, € 12,00 jitter 02/07 mit dem Schwerpunkt Musik ist soeben erschienen

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review

Die ejakulative Kraft des Auges roBert Bressons »Notizen zum Kinematographen«: ein unverzichtbares Standardwerk in Neuauflage text: jochen werner foto: ganår linsson

»Ein allzu erwartetes Bild (Klischee) wird niemals richtig erscheinen, selbst wenn es richtig ist.« Dieser Satz, einer der klügsten mithin, der jemals über das Kino gesagt wurde, kanzelt scheinbar mühelos und im Vorübergehen jene kunstgewerblichen Erscheinungsformen ab, in denen das

genealogie der superhelden so genannte Arthouse­Kino heute mehr denn je ein gut­ bürgerlich­verbildetes Publikum zu bedienen sucht. Daran zumindest hat sich in den vergangenen fünf Dekaden we­ nig geändert, schrieb doch Robert Bresson diese erleuchte­ te Sentenz bereits in den 1950er Jahren auf. Sein Büchlein »Notizen zum Kinematographen«, eine Sammlung apho­ ristisch formulierter Gedanken zum Film an sich und der spezifischen, minimalistischen Ästhetik des französischen Autorenfilmers, erscheint nun in einer Neuauflage im Alexander Verlag – und erweist sich als schier unverzichtbar. Lose dahingeworfen, reiht der schmale Band Geistesblitze aneinander, ohne die man künftig nie wieder einen Film sehen möchte. So radikal und konsequent, wie Bresson sei­ ne eigenen Filme inszenierte, arbeitete er auch sein Kon­ zept vom ›Kinematographen­Film‹ (in Abgrenzung zum populistischen Massen­›Kino‹) heraus, das etwa mit der Ablehnung des dramatischen Schauspiels einher geht: »Ein Schauspieler ist im Kinematographen wie in einem fremden Land. Er spricht die Sprache nicht.« Mit diesem Beharren auf einer eigenen, immer wieder neu zu entdeckenden Sprache des Films hat Bresson in seinen nur 13 Langfilmen Unschätzbares für diese noch junge Kunstform geleistet – immer mit dem Mut zum Scheitern, denn: »Umso größer ist der Erfolg, je mehr er ans Mißlingen grenzt«. »Notizen zum Kinematographen« von Robert Bresson, mit einem Vorwort von Jean-Marie Gustave Le Clézio und einem Nachwort von Dominik Graf, aus dem Französischen von Andrea Spingler und Robert Fischer, Alexander Verlag, Berlin 2007, 124 S., € 12,90

Macht Zeichen! text: zuzanna jakubowski abbildung: natalie birkle »uniform«

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Die fantastischen Vier, Grundriss einer schrecklich netten Familie text: robert wenrich abbildung: panini verlag

Family Values

Einen Fußmarsch von der berühmten 5th Avenue – Ecke Madison und 42nd Street – just an der Kreuzung aller grö­ ßeren plotlines des Marvel­Universums, steht das Baxter Building, seit 1961 Wohn­ und Werkstatt einer besonde­ ren Heldentruppe. Der sophokleïsche Stan Lee und sein buddy noire Jack Kirby katapultierten damals 1. den Wis­ senschaftler Reed Richards samt 2. seiner späteren Frau Susan Storm, 3. ihren Bruder Johnny sowie 4. Ben Grimm, Richards’ Schulfreund, in den Orbit. Dort geriet deren Schiff in einen Strahlenregen, der die Vier nach ihrer Rückkehr zur Erde verwandelte und sie mit übermensch­ lichen Fähigkeiten versah: Reed erhielt einen dehnbaren Körper, Susan konnte sich fortan unsichtbar machen, Johnny entflammen, und Ben Grimm mutierte zu einem unansehnlichen Koloss erdiger Farbe. Bis hierhin ist die Heldengenesis nicht mehr als US­amerikanischer Stan­ dard, und doch vermochten die Comics der F4 jahrzehn­ telang zu begeistern.

Grund hierfür ist die Konzeption der Serie: Der Superheld von der Stange bleibt zwischen seinen obligatorischen Prügeleien eher farblos, wenn er auch ein wenig vom Fenstersims herabpredigt. Den Fantastischen Vier ver­ passten Lee & Kirby aber ein Leben hinter dem Heldenle­ ben: Eine Mietpreiserhöhung wurde mit derselben Verve angegangen wie die Bekämpfung ihres Erzfeindes Doktor Doom. Im Baxter Building wird sich verliebt, verlobt, ge­ trennt, gestritten, während noch Asteroiden auf New York herabstürzen. Die dafür benötigte Spannung beziehen die Geschichten aus der alchemistischen Anordnung ihrer Figuren. Jeder der vier ist mit seinen Fähigkeiten und sei­ nem Temperament einem der vier Elemente (1. Wasser, 2. Luft, 3. Feuer, 4. Erde) zugedacht. In geradezu klassischer Manier kollidiert da Johnnys cholerische Natur mit der ernsteren seiner Schwester – de­ ren Emanzipationsbewegung allein Stoff für Bücher böte. Oder die grüblerische Schuld Richards’: Die Forscherhy­ bris und deren Folgen hat wohl ihn und die beiden Storms glimpflich davon kommen lassen, Grimm aber fürs Leben entstellt. Dem blieben allein die hellblauen Augen als In­ dikator größerer, innerer Schönheit. Richards’ Bemühen um die Umkehrung des tragischen Prozesses hat neben­ bei bis heute Anteil an der Lebendigkeit der Comics. Last Science Heros

Ein Workshop an der Hochschule Pforz­ heim hinterfragt sYmBole Der macht

»Welches sind die Symbole der Macht? Welche Bilder, Zeichen und Logos stehen für Macht, Erfolg, Sieg, Größe, Kraft, Stärke, Reichtum, Intelligenz? Mit welchem Gesicht zeigen sich die Großen, die Brand-Leader, die Big Player, die Imperien, die Weltmächte?« Mit diesen Fragen ging es in einem dreitägigen Workshop an der Hochschule Pforzheim un­ ter Leitung von Lars Harmsen (FINEST / MAGMA Design & Communication Group, Karlsruhe) und Professor Michael Throm (Studiengang Visuelle Kommunikation, Pforzheim) um das Thema »Zeichen der Macht − Zeichen machen«. 16 Studierende des Studiengangs »Visuelle Kommunikation« gestalteten Fonts und Dingbats, die nun in einer umfangreichen Publikation erschienen sind. Auf den Seiten des Bandes tummeln sich die Symbole, be­ lustigend und verstörend, kritisch und provokant: So be­ steht der font »Uniform« aus Lego­artigen Männchen in immer neuen Kostümierungen, mit Kruzifix, Stethoskop, Korsett, mit Schleier oder Ski­Maske, in immer neuen Kombinationen. Unter dem Titel »Create your Guerril­

A Cosmic Comic Sitcom

lero« findet sich ein papiernes Anziehpüppchen, Terrorist oder Widerstandskämpfer, zum selber zusammenstellen; Uniform, Waffe und längst zur Marke gewordenes Gesicht lassen sich beliebig austauschen. Die »Ordensschwestern« bieten einen Baukasten für Abzeichen an. Letztlich ver­ mitteln die jungen Graphiker – indem sie Zeichen der Globalisierung in ganz praktisch verwendbare Fonts um­ wandeln – sehr anschaulich, dass die Symbole der Macht Versatzstücke sind, die in komplexen Prozessen mit Be­ deutung aufgeladen werden. »Zeichen der Macht – macht Zeichen« erscheint in einer limitierten Auflage, mit einem Sticker-Bogen zur individuellen Titelgestaltung und einer CD mit Fonts und Dingbats, 35,00 € zzgl. Versand, Bestellung bei doreen.kaden@hs-pforzheim.de

Neben den Figuren glänzt auch das Inventar der Ge­ schichten. Denn Thema der F F4 ist die Wissenschaft, die Helden selbst sind ja Forscher. Der Comic kommt aus dem Herzen des 20. Jahrhunderts, hat viele seiner vor allem physikalischen Entdeckungen kommentiert, oft­ mals auch vorweggenommen. (Dass Science­Fiction wie kein anderes Genre der Exegese der Gegenwart verpflich­ tet ist, sollte ja stadtbekannt sein.) So wehrten die F4 F schon, lange vor den armstrongschen Sprüngen, inter­ stellare Gefahren im Mondstaub ab und rekalibrierten Cyborgs, bevor man noch die Robotik zu den erns­ ten Wissenschaften zählte. Gentechnik, Energieproblematik, String­ theorie – derart ausgestattet, entwickelte sich die Serie schnell zur Comic­Dependance der Max­Planck­Institute; und überdies dank ihrer großartigen Figuren zu einem liebevollen Almanach unserer Zeit. Die Fantastischen Vier erscheinen in diversen Reihen im Panini Verlag Die Reihe »Genealogie der Superhelden« wird im nächsten Heft fortgesetzt

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termine

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musik

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Das Album Andorra gilt vielen als der Geheimtipp des Sommers.

magazin für gegenwartskultur no.23 z herbst 2007 www.goon-magazin.de

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Candie Hank, Jason Forrest, Senking, Guido Möbius, Roman, Sun ok Papi k.o., Bleed, Strobocop 22.9. Brüssel | B, Recyclart

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7.9. Stavanger | NO, NuMusic Festival 8.9. Berlin, Cassiopeia 9.9. Hamburg, Golden Pudel Club www.whataboutabout.com

NISTA NIJE NISTA

Wien, Sydney, Berlin) 8.9. Berlin, Ballhaus Naunynstrasse 28.9. Düdingen | CH, Bad Bonn (+ DJ Elephant Power) www.myspace.com/nistanije nista

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CLUSTER (the originators of space

age – finally reunited!) 14.9. Berlin, Ballhaus Naunynstrasse . Bern | CH, Dampfzentrale

Record PreRelease Party – die Platte erscheint zwar erst im November, aber man muss die Feste feiern wie sie fallen 14 9. Berlin, Bang Bang Club

WAX ON LABELNIGHT »WAX DA JAM« mit Nightmares On Wax

Soundsystem (Warp) feat. Ricky Ranking (Roots Manuva/UK), Chyna B (NOW/UK), Bla May (NOW/UK), Guts (Paris), Negghead (Leeds), Arveene (Leeds), George Solar (Cornfy Dub / Köln) 19.9. Icon, Berlin www.myspace.com/waxonrecords

Die Band der Stunde aus Port­ land / Oregon zum ersten Mal so richtig auf Tour in Europa. 19.9. 20.9. 21.9. 22.9. 4.10. 5.10. 6.10. 7.10. 8.10.

Hamburg, Übel & Gefährlich Berlin, Postbahnhof Heidelberg, Karlstorbahnhof Münster, Gleis 22 Köln, Stadtgarten Nürnberg, Muz München, Orangehouse Wien | A, Chelsea St Gallen | CH, Palace

DON NINO + NLF3 TRIO

(Prohibiterd Records / F) 19.9. Hamburg, Hasenschaukel (w/ NLF3) 20.9. Berlin, Schokoladen @ Popkomm (w/ NLF3)

ARCHITECTURE IN HELSINKI 19.9. Bielefeld, Forum 22.9. München, Ampere 30.9. Düsseldorf, Zakk

POPKOMM NINJA TUNE LABELNIGHT mit

Coldcut (UK), The Qemist (UK), James Mountain (UK) 20.9. Berlin, Icon www.myspace.com/coldcut www.myspace.com/theqemist

Toca/USA), Noah23 (2nd Rec./Cana­ da), 2econd Class Citizen (Equinox/ UK), DJ Scientist (Equinox/Berlin) 28.9. Hamburg, tba 29.9. Dresden, tba 30.9. Berlin, Ausland 2.10. Würzburg, Cairo 3.10. München, Sunny Red 4.10. Offenbach, Hafen2 6.10. Luzern | CH, Treibhaus 8.10. Bordeaux | F, El Inca 9.10. Lyon | F, La Marquise 10.10. Angers | F, L’étincelle 11.10. Brüssel | B, Windows 12.10. Amiens | F, The Ring Ding 13.10. Rouen | F, Le Clipper 14.10. Paris | F, Twenty One Pub goon prÄsentiert

ONCE WE WERE (S) & WE VS. DEATH (NL) 29.9. Berlin, Schokoladen www.myspace.com/oncewewere www.myspace.com/wevsdeath

NOISIA! 29.9. Berlin, Icon www.myspace.com/denoisia

GASTON, VERT BAND, HAUSCHKA, THADDI, FRANK DOMMERT, CANDIE HANK

GUSTAV + BAND (Mosz, Wien)

4.10. Berlin, Hebbeltheater / HAU 2

20.9. München, Rote Sonne gustav.cuntstunt.net

THE CINEMATIC ORCHESTRA

POPKOMM CLUBWORLD SPECIAL mit

Alex Gopher (V2/Paris), Daniel Stefanik (Moonhabour), Marlow feat. Comixx (Moonharbour), Dan Drastic (Moonhabour), Delfonic (Oye Rec.) 21.9. Berlin, Icon www.myspace.com/alexgopher www.myspace.com/moonharbour

94  termine

EQUINOX RECORDS PRESENTS THE ONE YEAR AND A DAY TOUR 2007 mit Ceschi & Friends (of

4.10. Erlangen, E­Werk 5.10. Berlin, Lido 6.10. Heidelberg, Karlstorbahnhof www.myspace.com/thecinematicorchestras www.roedelius.com , www.dietermoebius.de

A.J. HOLMES – »The King of the New Electric Hi­Life« Recordrelease Party 12.10. Berlin, Bang Bang Club

termine  95

töne  95


termine

termine

lesungen

ausstellungen

HEAVEN (ZU TRISTAN)

4. – 16.9.

12.9. Frankfurt, Schauspiel ab 17.11. Berlin, Maxim Gorki Theater

27. – 30.9. Berlin, Kino Blow Up

NEXT LEVEL PARZIVAL

2. PORNFILMFESTIVAL BERLIN

NIKOLAI KINSKI

BONOBO

6.9. 8.9. 9.9. 11.9. 12.9.

»Kinski spricht Kinski: ›Fieber – Tagebuch eines Aussätzigen‹«

4 . Berlin, NBI www.myspace.com/surrounded

ANDY MOOR 8

(USA)

Flensburg, Deutsches Haus Bremen, Waldau Theater Oldenburg, Kulturzentrum PFL Bremershaven, Capitol Bockelskamp, Kaleidoskop – Klein­ kunstbühne auf dem Findelhof 13.9. Hannover, Uhu­Theater Kleinkunst 14.9. Leipzig, Schaubühne Lindenfels 15.9. Hagen, Hasperhammer 16.9. Düsseldorf, Savoy Theater 17.9. Witten, Werk­Stadt 18.9. Essen, Zeche Carl 19.9. Köln, Kulturkirche Köln . Darmstadt, Centralstation . Baden­Baden, Rantastic­Kleinkunst­ bühne . Zürich, Kaufleuten 23.9. Ulm, Roxy 24.9. Erlangen, Kulturzentrum E­Werk www.suhrkamp.de

Uraufführung

und Ausstellung Die von Zeichnerinnen aus Berlin und Hamburg gestaltete Anthologie »Spring« geht in die vierte Runde – diesmal zum Thema »Garten Eden« – mit Arbeiten zwischen Comic und freier Illustration. Das wird gleich zweimal gefeiert:

22.9. Essen, Salzlager ab 18.10. Basel, Schauspielhaus

DAS FUNKJAZZEXPERIMENT

Ausstellung: »Eye Dip Eagle« von Thilo Staudt, Vernissage mit Fat Dra­ gon live, DJ Jimmy T. Dean Berlin, ZMF / Zur Möbelfabrik

– Photographien

96  termine

8. – 11.11. filmbuehne­museum, Ethno­ logisches Museum Berlin­Dahlem

RIMINI PROTOKOLL

Karl Marx: Das Kapital, Erster Band 30.9. - 2.10. Berlin, Hebbel am Ufer

STEFAN KAEGI

Mnemopark

di_4_sept und mi_5_sept

10. - 13.10. Berlin, Hebbel am Ufer

6.11. Berlin, Schaubühne goon prÄsentiert

Das 50jährige Jubiläum nimmt das Haus der Kulturen der Welt zum An­ lass für ein interdisziplinäres Projekt mit Ausstellung, Filmprogramm, Musik, Konferenzen, Lesungen, Per­ formances zu den transatlantischen Beziehungen mit Fokus auf New York.

20.10. Freiburg, Haus für Film und Literatur 22.10. Basel, Literaturhaus 24.10. Wien, Literaturhaus 25.10. Leipzig, Haus des Buches 26.10. Göttingen, Literarisches Zentrum 27.10. Berlin, Volksbühne

10. ETHNO-FILMFEST BERLIN

David Grossman so_9_sept

Michael Ondaatje mi_12_sept und do_13_sept

Peter Stein liest Cˇechov

Uraufführung

NEW YORK

Lesereise: »Die Reiherkönigin«

les Kurzfilmfestival Berlin 6. – 11.11. Berlin, Babylon Berlin Mitte, Hackesche Höfe Filmtheater, Roter Salon in der Volksbühne und Volks­ bühne am Rosa­Luxemburg­Platz

IM AUSNAHMEZUSTAND

Lesung mit Gästen, Präsentation des Hörspiels, Doktorella spielen

DOROTA MASLOWSKA

INTERFILM 2007 – 23. Internationa­

3.11. Gießen, Stadttheater

KERSTIN GRETHER

28.9. Bremen, Junges Theater www.kerstin-grether.de

30.9. München, Münchner Kammerspiele

VERBRENNUNGEN

BEN WEAVER

9.11. Halle, Objekt 5 10.11. Ebensee | A, Kino 11.11. Wien | A, WUK 13.11. Zürich | CH, El Lokal 14.11. Stuttgart, Schocken 15.11. München, Amerika Haus (mit Kurt Wagner) 16.11. Dresden, Star Club 19.11. Bonn, Harmonie

Uraufführung

1. ­ 22.9. Hamburg, Hinterconti 1. ­ 22.9. Berlin, Galerie Neurotitan im Haus Schwarzenberg, www.spring-art.info, www.neurotitan.de

www.myspace.com/jordanmusic www.myspace.coom/rahim

aktuelles Album: Paper Sky (Glitterhouse / Indigo)

LAND OHNE WORTE

24. – 28.10. Berlin, in den Neuen Kant Kinos und den Lichtspiel­ häusern Eiszeit und Xenon www.pornfilmfestivalberlin.de

THOMAS HOEPKER

Retrospektive. 50 Jahre Fotografie 21. – 23.9. Berlin, c/o Berlin im Postfuhramt

MEDEAMORPHOSEN. Ein Fest für

die Künste. 15. – 23.9. Berlin, Staatsoper Unter den Linden / Radialsystem V 13.10. – 15.11. Berlin, Radialsystem V

VERZAUBERT – Internationales Queer Filmfestival

so_16_sept

14. – 21.11. City & Atelier, München 21. – 28.11. Cinedom im Mediapark, Köln 21. – 28.11. Cinestar Metropo­ lis, Frankfurt am Main 28. – 5.12. International, Berlin

so_16_sept

AROUND THE WORLD IN 14 FILMS

filmfestiVals SOMMER, SONNE, FIEBERTRÄUME – eine schlimme Reise

durch Länder und Zeiten Die Freunde des schrägen Films präsentieren immer mittwochs im Babylon Mitte (Berlin) Werke aus den Kellern der Filmgeschichte 5.9. »Urlaubsreport – Worüber Reise­ leiter nicht sprechen dürfen« 12.9. »Maniac« (USA 1934) plus Überraschungsprogramm

Das Berliner Independent Filmfesti­ val im Babylon Mitte 30.11. – 8.12 Berlin, Babylon Mitte

Angela Winkler Jane Birkin

Der Vorverkauf hat begonnen. Karten unter 030 254 89 100 www.berlinerfestspiele.de

sonstiges goon prÄsentiert

RADIOVISIONEN – 250 JAHRE RADIO 5. – 31.10. Berlin, TESLA www.radiovisionen.de

termine  97

töne  97

Bookstore at Connaught Place, New Delhi © Ulrich Schreiber

25 26

»SPRING NO.4«­Releaseparty

© Mary Ellen Mark

© Olaf Heine

!!!

SURROUNDED (S)

FILMFESTIVAL CONTRAVISION

goon prÄsentiert

13.10. Berlin, Kino Babylon www.rockpaperscissor.de

goon prÄsentiert

Uraufführung . Espaces comines, Paris

mit dem Film »Tekkon Kinkreet«, einem Manga von Taiyo Mastumot mit Soundtrack von Plaid, Live: Plaid – Exklusives Surroundset (Warp/UK), Modem Talking aka Phlex, Holzaal, Xbockwurst, Bitslave

1 www.myspace.com/newideasociety

19.9. »Die fliegende Guillotine« 26.9. »Woodoo – Die Schreckens­ insel der Zombies«

7. INTERNATIONALES LITERATURFESTIVAL BERLIN ROCK PAPER SCISSOR 10

26.10. www.myspace.com/sibonobo

theater


51 internationale kÜnstler

kolumne text: sibylle berg

karin aue Violaine Barrois

ILLUSTRATION | GRAFIKDESIGN | FOTOGRAFIE

Als ich jung war Als ich jung war, hatte ich Angstzustände. Lass mich nie feststellen, alles falsch gemacht zu haben, wenn ich zu alt bin, um neu zu beginnen, betete ich zu mir. Ich habe vieles falsch gemacht. Das Erkennen beginnt. JETZT. Himmel man fährt doch nicht ins Tessin, sagten mir wiederholt Schweizer, die Sorte, die im Freitagtaschenturm shoppen geht, und in den Ferien macht man mit Crossmaschinen in Cambodia herum. Irgendwann gingen mir die Argu­ mente aus. Das Wetter, ja, ja, und die Bananenbäumchen, so herzig. Seit ich ein Mensch war, fuhr ich wie alle Deutschen ins Tessin. Selbstverständlich ohne ein Wort italienisch zu können, tigerte ich in den Tälern herum und seufzte: Ach das Tessin, das ist schon ein schöner Flecken deut­ scher Erde. Ich habe lange nicht verstanden, dass das Tessin eine NO–GO­Area für gewisse Schweizer ist. Doch irgendwann verstand selbst ich Sätze wie: Klar, da fahren meine Großeltern auch immer hin. Da der Mensch nicht mehr ist, als die Summe gehörter Meinungen, begann sich mein Blick zu verändern. Ich sah auf einmal vergrößert die Tearooms in Locarno, die Horden cellulitischer Camping­ platzbewohner, ich vermeinte den Hass der Tessiner Gas­ tronomen zu spüren, wenn wieder ein deutscher Tourist durch ein Grotto plärrte: »Camerioonä, una Pizza per favore.« Was dem Tessin ja mal eindeutig abgeht, merkte ich, ist jeder Glamour. Keine eleganten Restaurants hat es da, keine Damen, die in Mules aus Maybachs hüpfen. Und die Berge, die den Himmelsblick beschneiden, wie unelegant die verputzt sind. Und außerdem, war das Tessin nicht der Lieblingsurlaubsort von der singenden Schreibtorte Hera Lindt? Sieht nicht jede Bar dort aus, als käme gleich Udo Jürgens herein, seinen Glasflügel im Gepäck? So wurde das Tessin zu dem, was ich sehen wollte, und ich begann nach Italien zu reisen, wunderbar im August im Cinque Terre, Teil eines tausendköpfigen Touristen­ wurmes zu sein. Am Meer lag ich in Liegestühlchen, 10 Reihen vom Wasser entfernt, (ja gnädige Frau, das Liege­ stühlchen bestellt man ein Jahr im Voraus), nach Spanien fuhr ich und ließ mich mit Millionen anderen jungen hip­ pen Touristen durch die Ramblas schieben, und endlich war ich ein Teil der großen Schweizer Reisegruppe. Denen kein Ort zu ausgefallen, kein Ziel zu abwegig ist. Für viele Jahre überließ ich das Tessin völlig den Deutschen und Re­ maxx. Und wurde erst vor kurzem wieder angespült. Mit einem richtigen Ausländer, der staunend durch die grüne Hölle Tessin sprang und befand, dass er tropische Regen­ wälder geschaut hatte, die weniger imposant waren. Im­ mer wieder stieß der Mensch kleine Schreie aus und fuhr wie besemmelt mit Bergbähnchen, ertrank fast in einem Fluss und verputzte in Grottos diverse Geißenkäse. Die erste Nacht verbrachten wir im Hotel Michelangelo am Monte Verita. Aufgeladen mit den Bildern der wunder­

katharina Borchert steVen Burke luke BroWn

bar Bekloppten aus dem Museum (die gotische Schön­ heitstänzerin!!! Der Typ, der den Wald mit Botschaften vollgenagelt hatte!!! Die Satanisten!!!) hocken wir auf der Riesenterasse des niedlichen kleinen Hotels. Das ist doch wie überall auf der Welt, wo es schön ist, sagt der Bekann­ te und ich sehe mit einem Mal die Umgebung wieder, wie früher, bevor mir Menschen mit schlechtem Kleiderge­ schmack meinen Lieblingsort vermiest hatten. Vielleicht ist es aber auch nur die heilsame Gleichgültigkeit eines erfüllten Lebens, die mich vorurteilsfrei schauen lässt. Wir also auf der Dachterrasse und ich denke, dass es in der Schweiz immer wieder so angenehme Überraschungen gibt. Ein kleines Hotel mit beängstigend freundlichen An­ gestellten und einer Terrasse, von der aus man die alten Holzbauten auf dem Monte Verita anschauen kann. Und unten Ascona. Das hatte ich selbst in jener Jugend gemie­ den, als ich gerne ins Tessin fuhr, denn da gab es zu viele Landeskameraden mit rosa Hemden und Krokoschuhen. Doch schon wieder eine Überraschung: Hat man die er­ würgend putzige Altstadt hinter sich gelassen, kommt man zum Lido, weiter zum Hafen und dann zu einem riesigen Landlappen zwischen den Mündungsarmen der Maggia. Da sieht es aus wie in den Hamptons. Groß, grün, satt. Ein Golfplatz mit Riesenbäumen und dann ein Park 110.000 m2 groß. Mitten im Tessin. Auf dem steht das Cas­ tello del Sole. Das Hotel, das einem Landhaus gleicht, hat einen eigenen Strand, den man durch den Park erreicht. Überall lümmeln Sofas auf dem englischen Rasen, auf Rat­ tantischen (IM GARTEN!!!) frische Lilien, direkt am See hat es eine Bar, neben Schilfhecken. Das ist großartig. Das ist Beverly Hills. Rasensprenkler tun ihren Dienst und 6 Gärtner wuseln herum. I LOVE 6 Gärtner! über den eng­ lischen Rasen spazieren Vögel und gepflegte ältere Paare, die so reich sind, dass man es ihnen nicht mehr ansieht. Fährt man hier ein wenig herum, sieht man nichts, was aussieht wie das Schreckbild des Tessin. Keine Kunsthand­ werker, keine Rusticos, keine Heimatdichter und Aquarel­ listen. Fette Villen, fette Kieseinfahrten, so richtig herrlich ausländisch sieht das aus und ist es zum Glück nicht. Hier haben wir etwas, das es auf der Welt nicht mehr so oft gibt. Einen absolut perfekten Platz, und den habe ich nicht seh­ en können, so lange. Ein Gefühl von Verlust überkommt mich, denn als ich abends wie selbstverständlich zwischen anderen Alten, habe ich gerade ANDERE ALTE geschrie­ ben? im 16 Michelin oder sonstwas Punkte Restaurant sitze, kann ich äußerlich keinen Unterschied erkennen zwischen mir und IHNEN. Ich mag wohl nun Schönheit und Ruhe, feines Essen und ruhige Personen um mich. Ich gehöre dazu. Und zugleich auch nicht, denn morgen muss ich wieder nach Hause und die anderen, die tun, als wären sie wie ich, werden einfach hier bleiben, für Wochen oder für immer in ihren Suiten und Villen. Ich habe alles falsch

roBerto christen carlos Dieciocho jennY Dupont oona eBerle ingo fischer rYan gallagher silVia gehrke anDreas glumm kristian goDDarD aleXanDer gÜngör nathanaËl hamon maXWell holYoke-hirsch i like DraWing jellofishY chrissi jÜlich Dennis kastrup eVgenY kiseleV koa martin kretschmer nicolas lampert hanna martus masako maria eVa mastrogiulio raY ogar Daniel pagan michael petersohn johan potma manfreD renner nils rigBers nathalie rolanD saBine schmiDt therese schreiBer toni schWitter skWak hYDro74 jan mathias steinforth faBian stuhlinger YVonne sussmann kate sutton tim tsiu jeffreY tZu kWan koh Brian ulrich esme Valk ans Van Der Vleuten lami thui Vo oliVer Wiegner

98  kolumne

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