SUBWAY – New York City

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SUBWAY NEW YORK CITY

TREFFPUNKT URBANER SUBKULTUREN AM ENDE DES 20. JAHRHUNDERTS, ANALYSIERT ANHAND DREIER FOTOGRAFIEN VON BRUCE DAVIDSON


Vorwort

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SUBWAY • NEW YORK CITY

VORWORT IN MEINER BACHELORARBEIT BESCHÄFTIGE ICH MICH MIT DEM, VOM FOTOGRAFEN BRUCE DAVIDSON 1986 ERSTMALS VERÖFFENTLICHTEN BILDBAND SUBWAY. Darin werden Fotos gezeigt, die im Jahr 1980 im New Yorker U-Bahnnetz aufgenommen wurden. Im ersten Teil meiner Arbeit werde ich mich kurz mit Davidsons Biografie und dem Bildband »SUBWAY« beschäftigen und erläutern, wieso ich diesen ausgewählt habe. Im Themenbereich “historischer Zusammenhang” werde ich vorwiegend auf den desolaten Zustand, in

welchem sich das U-Bahnsystem in New York befand, eingehen und wie sich dieser bis Anfang der Neunzigerjahre entwickelt hat. Ich werde einen kurzen Überblick über die politische Situation der Vereinigten Staaten Anfang der Achtzigerjahre geben und werde kurz die Jugendkulturen (Subkulturen, Musikbewegungen), die sich in New York zu dieser Zeit ausbreiteten, unter die Lupe nehmen. Auch werde ich mir Gedanken darüber machen, was hinter der Linse des Fotoapparates vor sich ging, welchen Problemen Bruce Davidson im Laufe der Zusammenstellung des Bildbandes begegnete, wie er

sich auf dieses gefährliche Unterfangen vorbereitete und wie er bei seiner Arbeit vorging. Außerdem werde ich genauer auf die technischen Aspekte der Fotografie Davidsons eingehen und versuchen, die Frage zu beantworten, weshalb Subway einer seiner wenigen Bildbände ist, bei dessen Erstellung er Farbfilme verwendete. Da es mir wohl leider nicht möglich sein wird die von Davidson erstellten Originale zu betrachten, werde ich mich bei den zu analysierenden Fotografien auf den qualitativ hochwertigen Bildband verlassen.


INHALTSVERZEICHNIS

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BRUCE DAVIDSON – DER FOTOBAND »SUBWAY«. . . . . . . . . . . . . . .

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HISTORISCHER ZUSAMMENHANG WIRTSCHAFTSKRISE UND DER VIETNAMKRIEG . . . . . . . . . . . . . . .

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STÄDTEFLUCHT UND DROGENMISSBRAUCH . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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NEW YORKS U-BAHN AM ENDE DES 20. JAHRHUNDERTS. . . . . . .

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RÜCKGANG DER KRIMINALITÄT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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DIE »GUARDIAN ANGLES« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VERWENDETE LITERATUR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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BESCHREIBUNG & ANALYSE DES MATERIALS BESCHREIBUNG & ANALYSE DES MATERIALS . . . . . . . . . . . . . . . . .

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GANGS IN NEW YORK CITY – BILD 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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DIE GEBURTSSTADT DES HIPHOP – BILD 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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DER HISPANISCHE MÄRTYRER – BILD 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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ZUSAMMENFASSUNG UND BIBLIOGRAFIE RESÜMEE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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AUSBLICK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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BIBLIOGRAFIE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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KOLOPHON . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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»THE SUBWAY IS DANGEROUS AT ANY TIME OF THE DAY OR NIGHT, AND EVERYONE WHO RIDES IT KNOWS THIS AND IS ON GUARD


Der Fotograf Bruce Davidson

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DER FOTOGRAF BRUCE DAVIDSON 1933 1955 –1957

1958

1969 –1971

Bruce Davidson wurde 1933 in Chicago geboren. Dort kam er als Jugendlicher in Kontakt mit der Fotografie. Er studierte Fotografie und Grafikdesign an der Yale University. Von 1955 bis 1957 war er während seines Militärdienstes in Frankreich stationiert. Davidson dokumentierte die Gesichter der Straßen von Paris und begegnete in dieser Stadt einem Fotografen, welcher seine Arbeit maßgeblich beeinflusste, Henri Cartier-Bresson, welcher das Konzept des “decisive Moment” in die Fotografie einbrachte. Diesem entscheidenden Augenblick beim Erstellen eines Fotos, in dem man im Bruchteil einer Sekunde durch die genaue Organisation der Formen den Ausdruck eines Ereignisses wiedergibt und der Bedeutung dessen gerecht wird. Diese Begegnung veränderte Davidsons Arbeitsweise grundlegend. Als er 1958 nach New York zurückkehrte, trat er der von Cartier-Bresson mitbegründete Fotoagentur Magnum bei. Er arbeitete das nächste Jahrzehnt als Modefotograf und begleitete die Protestmärsche der Bürgerrechtsbewegung. Davidson hielt unter anderem den Alltag in den Armenvierteln Harlem und Brooklyn fest. Er machte in den späten Sechzigerjahren einige Filme, wie »Living Off the Land« (1969) und »Zoo Doctor« (1971), kehrte dann aber Mitte der Siebzigerjahre wieder zur Fotografie zurück. Die nächsten zwanzig Jahre beschäftigte sich seine Arbeit mit New York wie dem Central Park oder der U-Bahn.


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SUBWAY

DIE REISE INS UNGEWISSE MIT ZWEI KAMERAS, VERSCHIEDENEN FILTERN, EINEM BLITZ, EINIGEN FILMEN, EINEM U-BAHNPLAN UND EINEM ALBUM SEINER ARBEITEN ZOG BRUCE DAVIDSON IM FRÜHJAHR 1980 LOS, UM IM NEW YORKER U-BAHNNETZ ZU FOTOGRAFIEREN. Um dieses schwere Equipment zu tragen, bereitete er sich im Vorfeld physisch darauf vor. Auch hatte die Kriminalitätsrate im New Yorker U-Bahnnetz Anfang der Achziger eine bedrohlichen Höchststand erreicht und so beruhigte ihn der Gedanke, im Falle eines gewalttätigen Übergriffes in der Lage zu sein, sich zur Wehr setzen zu können. Er selbst sagte:

»The Subway is dangerous at any time of the day or night, and everyone who rides it knows this and is on guard at all times.«

1980

Mit seinem schweren, auffälligen, teuren Equipment starrten ihn die anderen Fahrgäste wie einen Touristen oder Verrückten an. Um sich die Angst vor potentiellen Dieben zu nehmen, redete er sich ein, man nehme ihn als Detektiv, der als Köder fungiert, wahr, oder seine am Gürtel befestigte Batterie könnte man für ein Polizeifunkgerät halten. Um nicht immer mit dieser Angst leben zu müssen, beschloss er, der Jäger zu werden und nicht der Gejagte. »While riding the train I felt that I could mug a mugger before he mugged me.« So beschreibt Davidson seine gewonnene Sicherheit. Er begann trotzdem nicht den Fehler, die UBahn für einen sicheren Ort zu halten. Um mögliche Überfälle zu vermeiden, musste er häufig Wagon wechseln, da er durch die Verwendung eines Blitzes ungewollt auf sich aufmerksam machte. Trotz dieser Sicherheitsmaßnahme wurde Davidson ausgeraubt, was ihn aber nicht vom Fotografieren abgehalten hat, es hat ihn nicht einmal an jenem Tag weiter davon abgehalten. Die Diebe hatten nur eine Kamera erbeutet, er hatte aber immer eine zweite dabei, mit welcher er sich wieder auf der Suche nach potentiellen Motiven begab. »There is a barrier between people riding the subway […]. To break throught this painful tension I had to act quickly on impulse, for if I hesitated, my subject might get off at the next station and be lost forever.« B. Davidson

Davidson ging mit diesem Umstand auf verschiedene Weise um. Er fragte seine Modelle meist um Erlaubnis, zeigte seine Arbeiten und schickte ihnen einen Abzug davon, wenn sie dem Foto zustimmten. Nur ausnahmsweise fotografierte er auch spontan, dann, wenn die ausgewählte Person in einer besonders schönen Stimmung war, und sagte ihr erst später Bescheid. Davidson versuchte immer mit seinem Objekten eine Bindung einzugehen, dies beansprucht Zeit. Für »Subway« war er über ein Jahr in der New Yorker U-Bahn unterwegs. »I became addicted to the subway. When I heard the rumble of the express train running several floors below our apartment, vibrating the walls, I felt stimulated, like a werewolf responding to the full moon. My life began to revolve around the subway. […] In transforming the grim, abusive, violent, and often beautiful reality of the subway into a language of color, I see the subway as metaphor for the world in which we live today. […] It is a great social equalizer. As our being is exposed, we confront our mortality, contemplate our destiny, and experience both the beauty and the beast.« So beschreibt Davidson sein Werk. Davidsons frühere Werke waren alle in Schwarzweiß. »Subway« war sein erster Fotoband in Farbe, doch hatte er durch die Modefotografie schon Erfahrung in diesem Bereich. Zum einen waren die Kosten nach 1970 für Farbfotos erschwinglich, zum anderen, wichtigeren Punkt, ist Farbe für dieses Werk essenziell. Die Gesichter, das Metall, das Graffiti, die Feuchte Haut der Fahrgäste, würden in Schwarzweiß nicht dieselbe Wirkung erziehlen. Das reflektierende Licht des Blitzes der metallischen Oberflächen, welche noch nie mit so intensiven Licht in Berührung gekommen war, erinnerte ihn an die leuchtenden Fische, der Tiefseefotografie. Blitz und Farbe haben in der U-Bahn laut Davidson eine Besondere bedeutung. Durch den Blitz enthüllte Davidson eine Schönheit, welche von keinem Fahrgast bemerkt werden konnte, da sich diese, in der U-Bahn unsicher fühlten und hinter einer beschützenden Maskerade versteckten.


»THERE IS A BARRIER


BETWEEN PEOPLE RIDING THE SUBWAY … TO BREAK THROUGH THIS PAINFUL TENSION I HAD TO ACT QUICKLY ON IMPULSE, FOR IF I HESITATED, MY SUBJECT MIGHT GET OFF AT THE NEXT STATION AND BE


Historischer Zusammenhang

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AMERIKA ZWISCHEN . . . . . . . . . . KONSUMGESELLSCHAFT . . . . . . . UND WIRTSCHAFTSKRISE . . . . . . . DURCH DEN WIRTSCHAFTLICHEN AUFSCHWUNG MITTE DER FÜNFZIGERJAHRE UND DEN DAMITX VERBUNDENEN MASSENKONSUM ERLEBTE DIE GESELLSCHAFT EINEN DRASTISCHER WANDEL.

Die Bevölkerung wuchs durch den Babyboom der Fünfzigerjahre und durch die massiven Einwanderung der Sechzigerjahre stark an. Während die weiße Mittelschicht von der Stadt in die Vorstädte flüchtete, blieben in der Großstadt die Armen und Einwanderer zurück. Für die U-Bahn bedeutete das, dass von nun an immer mehr Benutzer der Mittelschicht auf das eigene Auto zurückgriffen und die U-Bahn vor allem von ärmeren Gesellschaftsschichten genutzt wurde. In den Sechzigerjahren benutzten bereits zwei Drittel der Amerikaner das Auto um zur Arbeit zu kommen. Durch die Tatsache, dass immer mehr Hispanier, also Süd- und Mittelamerikaner, und Asiaten einwanderten, verloren die Afroamerikaner regional den Status der größten Minderheit und es entstand eine komplexe Gemengelage. Die Ballungszentren dieser neuen Einwanderer

befanden sich im Nordosten und mittleren Westen der USA, also auch New York. Kriege versetzten die Nation in Unmut, ab 1945 der kalte Krieg, 1962 die Kuba-Krise, ab den Sechzigerjahren der Vietnamkrieg, unter dem vor allem die schwarze Bevölkerungsschicht litt, da sie anstatt der reichen Weißen kämpfen mussten.


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IM SCHATTEN VIETNAMS DIE POLITISCHEN SECHZIGERJAHRE WAREN VOM VIETNAMKRIEG BEHERRSCHT. ZWISCHEN 1965 UND 1968 WURDEN UNTER PRÄSIDENT JOHNSON EINE MILLION TONNEN BOMBEN ABGEWORFEN.

Der Vietnamkrieg verschluckte Unsummen von Steuergeldern. Auch mussten unzählige Menschen in diesem Krieg ihr Leben lassen. Junge Männer zwischen 18 und 25 Jahren mussten sich bei der Wehrerfassungsbehörde melden. Das Durchschnittsalter von Soldaten betrug neunzehn Jahre. Das heißt, sie durften weder wählen noch Alkohol trinken, dafür mussten sie 21 sein, zum Kämpfen aber waren sie alt genug. Achtzig Prozent der Wehrdienstleistenden stammten aus unteren Einkommensgruppen. Zu Beginn des Krieges waren 24 Prozent der Opfer Afroamerikaner, was der doppelten Menge der wehrfähigen jungen Männer entsprochen hat. Die Überlebenden kamen oft mit schwerwiegenden psychischen Problemen, drogenabhängig oder alkoholkrank von Vietnam zurück. 1976, ein Jahr nachdem Saigon gefallen war, und somit auch der dreißigjährige vietnamesische Konflikt beendet wurde,

befanden sich die USA durch die enormen Kriegsausgaben an einem Tiefpunkt. Im Schatten von Vietnam stieg die Arbeitslosenquote auf 11 Prozent. Jimmy Carter löste den durch den Watergate Skandal zurückgetretenen Nixon als Präsident ab. Carter schaffte es nicht, die USA aus ihrer Wirtschafts- und Gesellschaftskrise zu führen, weshalb er nach einer Amtsperiode von Ronald Reagan abgelöst wurde.


Historischer Zusammenhang

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STÄDTEFLUCHT & DROGENMISSBRAUCH ALS ERFOLG DER BÜRGERRECHTSBEWEGUNG KONNTEN SICH SCHWARZE FAMILIEN AUS DER MITTELSCHICHT UND AUCH VIELE AUS DER ARBEITERKLASSE AUSSUCHEN WO SIE WOHNEN.

Es gab genügend Leute, die genug Geld und Mut hatten, um die alten, heruntergekommenen Wohngebiete zu verlassen. Der Abzug der wohlhabenderen Gesellschaft führte dazu, dass die Kriminalität in diesen Gebieten stieg, was wiederum dazu führte, dass die meisten dort lebenden Weißen ebenfalls wegzogen.

Soldaten, die aus dem Vietnam Krieg zurückkehrten, fanden ihre Siedlungen verwahrlost wieder.

Vor allem der ansteigende Drogenmissbrauch führte zu einem Anstieg der Kriminalitätsrate. Soldaten, die aus dem Vietnam Krieg zurückkehrten, fanden ihre Siedlungen verwahrlost wieder. Viele von ihnen brachten Heroin für ihre finanzielle Absicherung mit, welches nach kurzer Zeit in allen Städten der

USA verbreitet war und dabei vor keiner Gesellschaftsschicht halt machte. An der rapiden Verbreitung von Heroin war die Regierung Nixon nicht ganz unschuldig. Diese kürzte das von den Demokraten eingeführte Programm zur Bekämpfung der Armut und stoppte somit nicht den Zerfall ganzer Stadtteile. Anfang der Achtzigerjahre nahm der Heroinkonsum wegen der schlechten Versorgungslage ab. Es wurde aber gleich von Angel Dust alias PCP, einer künstlich hergestellte psychoaktiven Droge, abgelöst. Im Laufe der Achtzigerjahre wurde Crack, eine Droge, die aus Kokain gewonnen wird, durch die Produktionssteigerung von Koka-Blättern in Bolivien, Peru und Kolumbien immer günstiger und so zu einer Massendroge für die Armen. Viele Jugendliche aus den sogenannten Problembezirken fanden in diesem Milieu Arbeit. Sie verkauften die Drogen auf der Straße oder wurden für Arbeiten, wie zum Beispiel dem Verpacken der Drogen eingestellt.



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NEW YORKS SUBWAY ENDE DES 20 . JAHRHUNDERTS ANFANG DER ACHTZIGER JAHRE HATTE DAS VERBRECHEN IN NEW YORK EPIDEMISCHE AUSMASSE ERREICHT. IN DIESEN JAHREN VERZEICHNETE DIE STADT IM DURCHSCHNITT DEUTLICH MEHR ALS 2.000 MORDE UND 600.000 SCHWERVER-BRECHEN IM JAHR. Anfang der Achtzigerjahre hatte das Verbrechen in New York epidemische Ausmaße erreicht. In diesen Jahren verzeichnete die Stadt im Durchschnitt deutlich mehr als 2.000 Morde und 600.000 Schwerverbrechen im Jahr. In der U-Bahn herrschte ein unzumutbarer Zustand. Dürftig beleuchtete Bahnsteige und dunkle, feuchte, graffitibeschmierte U-Bahnstationen schufen bei Reisenden ein unbehagliches Gefühl. In den Wagons bot sich den Reisenden ein ähnlich desolates Bild. Diese waren schmutzig, Wände und Decken mit Graffiti bedeckt und auf dem Fußboden sammelte sich der Müll.

»In every detail it is like a nightmare, complete with rats and a tunnel and a low ceiling. It is manifest suffocation straight out of Poe.« In einem Artikel der New York Times aus dem Jahre 1982 schildert das ein Autor folgendermaßen: »Displacing signs and maps, blacking out train windows and obliterating instructions, subway graffiti are deeply menacing. »In case of emergency« is crosshatched with a felt tip; a yard-long signature obscures »These seats are for the elderly and disabled«; “The subway tracks are very

dangerous. If the train should stop, do not” the rest is black and unreadable … In every detail it is like a nightmare, complete with rats and a tunnel and a low ceiling. It is manifest suffocation straight out of Poe.« Mitte der Achtzigerjahre war jeder Zug der Transit Authority-Flotte, welche ganz New Yorks abdeckt, mit Ausnahme des Midtown-Shuttle, graffitibedeckt. Da nur wenige der eingesetzten Wagen über eine funktionierende Heizung verfügten, waren die meisten im Winter kalt. Im Sommer bot die U-Bahn den Fahrgästen einen ähnlich unangenehmen Fahrkomfort, da viele der Züge nicht mit einer Klimaanlage ausgestattet waren. Die Gleiskörper waren an etwa 500 Streckenteilen so unter Mitleidenschaft gezogen worden, dass die Geschwindigkeit auf 25 Stundenkilometer herabgesetzt werden musste. Durch das Schwarzfahren entgingen der Transit Authority geschätzte 150 Millionen Dollar pro Jahr. Diese schätzte, dass etwa 170.000 Leute am Tag die UBahn benutzen ohne zu zahlen. Anfang der Achtzigerjahre geschahen in den U-Bahnen und Bahnhöfen jedes Jahr etwa 15.000 Verbrechen – eine Zahl, die bis zum Ende des Jahrzehnts auf 20.000 stieg. Die Belästigung der Fahrgäste durch aggressive Bettelei und Kleinkriminelle war so verbreitet, dass die Fahrgastzahl auf den niedrigsten Stand in der Geschichte des U-Bahn-Systems gesunken war.


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RÜCKGANG DER KRIMINALITÄT IM U-BAHNSYSTEM EINIGE VIERTEL DER STADT NEW YORK, WIE VOR ALLEM BROWNSVILLE ODER EAST NEW YORK VERWANDELTEN SICH NACH EINBRUCH DER DUNKELHEIT DIREKT IN GEISTERSTÄDTE. Der Drogenhandel wurde in diesen Teilen Brooklyns offen betrieben und Bandenkriege waren allgegenwärtig. Dieser Zustand änderte sich erst Anfang der Neunzigerjahre. Innerhalb weniger Jahren sank die Anzahl der Morde um rund 65 Prozent und die Zahl der begangenen Gewaltverbrechen halbierte sich. Im U-Bahn-System gab es am Ende der Neunzigerjahre 75 Prozent weniger Verbrechen als am Anfang des Jahrzehnts.

»Wenn ein Fenster zerbrochen ist und nicht repariert wird, werden die Leute in der Umgebung daraus schließen, dass sich niemand darum kümmert und niemand aufpasst. Bald werden weitere Fenster zerbrochen sein, und ein Gefühl der Anarchie wird von dem Gebäude auf die Straße ausstrahlen, ein Signal dafür, dass man hier machen kann, was man will.

Im Laufe der Neunzigerjahre sank die Verbrechensrate in den Vereinigten Staaten aus einer Reihe von relativ klaren Gründen. Der illegale Handel mit CrackKokain, der eine Welle der Gewalt unter Banden und Drogenhändlern ausgelöst hatte, ging langsam zurück. Die dramatische Konjunkturerholung hatte auch zur Folge, dass viele Leute, die sonst den Verlockungen der Kriminalität erlegen wären, legale Jobs annahmen. Und schließlich bedeutete das steigende Durchschnittsalter der Bevölkerung, dass es einfach

weniger Menschen in jenem Altersbereich gab – Männer zwischen achtzehn und vierundzwanzig –, der für die Mehrheit der Straftaten verantwortlich war. In New York hatte der rapide Fall der Verbrechensrate andere Gründe. Das Nachlassen der Crack-Epedemie war eindeutig ein Faktor. Doch durch die massive Einwanderung der Achtzigerjahre wurde die Stadt nicht älter, sondern jünger. Im Fall der New Yorker U-Bahn spielen die Kriminologen George Kelling und James Q. Wilson eine wesentliche Rolle. Sie waren die Urheber der »Broken Window Theory«. Diese besagt: Wenn ein Fenster zerbrochen ist und nicht repariert wird, werden die Leute in der Umgebung daraus schließen, dass sich niemand darum kümmert und niemand aufpasst. Bald werden weitere Fenster zerbrochen sein, und ein Gefühl der Anarchie wird von dem Gebäude auf die Straße ausstrahlen, ein Signal dafür, dass man hier machen kann, was man will. Von 1984 bis 1990 wurden alle Züge der Transit Authority von Graffitis befreit und renoviert. Mit einer Null-Toleranz-Politik wurde gegenüber Schwarzfahrern vorgegangen. William Braten, der damalige Tansit Police Chef und später Polizeichef von New York, wendete dieselbe Strategie in der ganzen Stadt an und hatte damit Erfolg. Die Kriminalität sank in der Stadt genauso schnell und dramatisch wie in der U-Bahn. Natürlich wäre es leicht die gesamte Schuld der hohen Kriminalitätsrate der Graffiti zu geben, man sollte doch bedenken, dass es Gewalt und Verbrechen schon vor Aufkommen dieses urbanen Kunstdrangs gab. Die New York Times berichtete im Februar 1965, dass sich Delikte wie Raub und Angriffe auf Fahr-

gäste sich zwischen 1963 und 1964 um 52,5 Prozent im Gegensatz zu allgemeinen Verbrechen in New York nur um 9 Prozent erhöht hat. Es handelte sich bei den Kriminellen meist um Jugendliche, welche die Fahrgäste ausgeraubt und bedroht haben. 1965 beauftragte der Bürgermeister von New York, in jeder U-Bahn einen bewaffneten Polizisten in jeden Nachtzug zu stationieren. Ein Problem von Graffiti war und ist bis heute, dass es eine anarchistische Ausstrahlung hat, welche bei unaufgeklärten Menschen ein Gefühl der Angst auslöst. Obwohl es bei den Sprayern dieser Zeit nicht in erster Linie um die Ausübung einer illegalen Aktion ging, dazu später mehr.



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CURTIS SLIWAS GUARDIAN ANGELS IM MÄRZ 1979 BERICHTETE DIE TRANSIT AUTHORITY ÜBER EINEN ANSTIEG DER RAUBÜBERFÄLLE IN DER U-BAHN UM RUND 83 PROZENT INNERHALB EINES JAHRES. Einen Monat vor diesem Bericht waren die Guardian Angels von Curtis Sliwa ins Leben gerufen worden. Eine am Ende 1980 auf rund 500 Mann angestiegene Gruppe junger Männer, die, wie Sliwa behauptete, einen nicht gewalttätigen Widerstand gegenüber dem Verbrechen bot.

»youths dressed in Bruce Lee style pants and wearing red berets festooned with beaned tails who strutted up and down the aisle [of the subway car], looking cool and mean.«

So wurden sie beschrieben: »youths dressed in Bruce Lee style pants and wearing red berets festooned with beaned tails who strutted up and down the aisle [of the subway car], looking cool and mean.« Trotz der Guardian Angels und der Bemühungen der Polizei und des MTA wurden 1984 jeden Tag um die 40 Verbrechen begangen.

Guardian Angels


Verwendete Literatur

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VERWENDETE LITERATUR DER BILDBAND »SUBWAY« , DESSEN TEXTE IN ENGLISCHER SPRACHE GESCHRIEBEN SIND, WAR DIE GRUNDLAGE FÜR MEINE DIPLOMARBEIT.

Die für die Beschreibung und Analyse des Materials notwendigen Fotografien bezog ich aus demselben Bildband. »Subway« beinhaltet jedoch nicht nur Fotos, sondern lieferte mir auch das nötige Hintergrundwissen für meine Arbeit. Bruce Davidson beschreibt in diesem Bildband seine genaue Vorgehensweise und erzählt einige Anekdoten aus seinem Jahr im New Yorker U-Bahnsystem. Weiter beinhaltet der Bildband ein Vorwort von Fred Brathwaita (FAB 5 Freddy), einem der Pioniere des Streetgraffiti und Arthur Ollman, dem ehemaligen Direktor des Museum of Photographic Arts in San Diego, und einen Essay von Henry Geldzahler, einem im Jahr 1994 verstorbenen US-

amerikanischen Kurator für zeitgenössische Kunst. Diese Texte halfen mir bei

der Interpretation und Analyse der Fotos. Das Buch New York, Capital of Photography ist auf Englisch geschrieben und lieferte mir eine ausführliche Biografie Bruce Davidsons. Ich erhoffte mir in diesem Buch auch Texte, welche mir bei dem Bereich »historische Zusammenhänge« dienlich wären zu finden, musste aber feststellen, dass es in diesem Buch vor allem um jüdische Fotografen in New York

und deren Vorgeschichte handelt, was in meinem Fall nicht zweckdienlich war. Das Buch Kleine Geschichte der USA stellt eine nicht so wichtige Kompo-


nente für meine Arbeit dar. Es bietet einen leicht verständlichen, anschaulichen Überblick über die US-amerikanische Geschichte. Für meine Arbeit waren die Informationen jedoch zu allgemein und gingen nur zum Teil auf die Stadt New York ein, welche in ihrer soziografischen Entwicklung eine Sonderrolle einnimmt. Für konkrete Informationen über die Situation in New York Ende des 20. Jahrhunderts dienten mir die Bücher XXX, Drei Jahrzehnte HipHop und Tipping Point,

Wie kleine Dinge Großes bewirken können. Das Buch von Nelson George ist aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt und bietet einen detaillierten Einblick in die Entwicklung des HipHop und streift kurz die der Stadt New York.

Das Buch Tipping Point lässt sich in die Sparte Populärwissenschaft einordnen, jedoch bot es mir in dem Kapitel über den Fall des Verbrechens in New York statistische Werte und eine genaue Beschreibung der Zustände in New York Citys U-Bahn-

system. So schuf es für mich, neben den Impressionen aus Davidsons Bildband Subway, einen persönlichen Zugang zum Thema. Das in englische Sprache abgefasste Buch Art and the Subway, New York Underground lieferte mir historische Informationen über Graffiti in New York City und einen, da nur aus den Bilband Subway übernommenen, für mich nicht relevanten Einblick über die Fotografien Bruce Davidsons im New Yorker U-Bahnsystem. Um in das Thema Gangs in New York City Ende der Siebzigerjahre einzutauchen, halfen mir vor allem die Dokumentarfilme 80 Blocks from Tiffany’s und Flyin Cut Sleeves. Nützliche Daten und geschichtliche Zusammenhänge bot mir das Buch The Youth Gang Problem, A Community Approach. Das Buch False Prophet, fieldnotes from the punk underground bot mir die nötigen Informationen zu der New Yorker Underground Hardcore Szene.



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Beschreibung & Analyse des Marerials

BESCHREIBUNG & ANALYSE DES MATERIALS AUS DEN ZAHLREICHEN FOTOS IN SUBWAY WERDE ICH IM BESONDEREN AUF DREI EINGEHEN, DIE VON MIR GENAU BESCHRIEBEN UND ANALYSIERT WERDEN. Aus den zahlreichen Fotos in Subway werde ich im Besonderen auf drei eingehen, die von mir genau beschrieben und analysiert werden. Diese vier Fotografien wurden von mir anhand ihrer formalen Aspekte und vor allem wegen ihrem sozialen und gesellschaftlichen Hintergrund gewählt. Das erste von mir ausgewählte Foto zeigt fünf männliche Jugendliche, welche sich durch ihre Kleidung und den darauf befestigten politischen Symbolen einer Gang zuordnen lassen. Das zweite Foto zeigt einen jungen afroamerikanischen Mann in einem roten Trainingsanzug, der in Richtung einer von Graffiti bedeckten U-Bahn blickt. Dieses Foto steht in meiner Arbeit stellvertretend fü r die noch junge Hip-Hop-Kultur Anfang der Achtzigerjahre, welche sich aus der bis dahin vorherrschenden Gang-Kultur gebildet hat. Das dritte Foto zeigt wie einem jungen Mann erste Hilfe geleistet wird. An diesem Werk beeindruckte mich vor allem der dramatische Ausschnitt, den Davidson gewählt hat.


Gangs of New York

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GANGS OF NEW YORK DAS FOTO ZEIGT FÜNF WEISSE, MÄNNLICHE JUGENDLICHE, DIE SICH AN EINER OBERIRDISCHEN U-BAHNSTATION VON DAVIDSON ABLICHTEN LASSEN.

Das Foto (Abb. 1.0) zeigt fünf weiße, männliche Jugendliche, die sich an einer oberirdischen U-Bahnstation ablichten lassen. Das tiefe, warme Licht lässt auf die Abenddämmerung schließen. Die Jugendlichen sitzen bzw. stehen am Geländer. Der Jugendliche, welcher am nähesten dem Betrachter ist, befindet sich in der linken unteren Bildecke. Da er dem Fotografen am nähesten war, wurde er am stärksten vom Blitz beleuchtet. Seine linke Schulter wird vom Bildrand abgeschnitten.. Seinen Oberkörper schräg nach vorne gerichtet, den Kopf dem Betrachter zugewandt, ist sein Gesichtsausdruck ausdruckslos. Er trägt ein schwarzes T-Shirt und einen grauen Kapuzenpullover. Ihm gegenüber, rechts im Bild, seine Schulter von der Mittelachse geschnitten (Abb. 1.4), ein weiterer Jugendlicher. Er hält sich an einem Geländer fest. Den Körper im Profil, hat er seinen Kopf leicht der Linse zugewandt. Eine grüne Kapuze hängt über sein blaues Jeansgilet. An Jackenkragen und Rücken wurden Aufnäher angebracht. Er hat ein Veilchen an seinem linken Auge. Ein Milchbärtchen ziert die blassen Gesichter beider Jungen. Ein dritter Jugendlicher steht zwischen den beiden dahinter. Wütend dreinblickend, mit rot angelaufenen Kopf, präsentiert er seine linke Faust geballt in die Kamera. Auf seinen Fingern ist das Wort »H-a-t-e« tätowiert, ein Buchstabe pro Finger. Im Gegensatz zu dem dunklen Haar seiner Kollegen ist seines rot und

lässt eine irische Abstammung nicht ausschließen. Er trägt ein weißes T-Shirt mit schwarzem Aufdruck, darüber eine dunkle Jacke. Breitbeinig und frontal lässig sitzt der vierte Jugendliche auf dem Geländer. Seine Hand hat er locker auf seinem linken Oberschenkel abgelegt. Er trägt ein kariertes Hemd, darüber eine schwarze Weste, auf dessen Brust ein politisches Symbol angebracht ist. Seine enge Hose wird von einem Gürtel mit protziger Gürtelschnalle gehalten. Ein gemustertes, schwarzes Kopftuch hält seine wallende Mähne zusammen. Aus seinem rechten Mundwinkel hängt cool eine jungfräuliche Zigarette. Unter seinem rechten Auge kann man eine Verletzung erkennen.

Im Hintergrund erkennt man gegen das Licht der untergehenden Sonne die Skyline Manhattans. Links von ihm vervollständigt ein weiterer Jugendlicher das Quintett. Seine linke Hand hält sich an der Decke der Überdachung fest. Ein Teil seiner Hand liegt bereits außerhalb des Bildrahmens. Sein linkes Bein abgewinkelt, hat er seinen Fuß auf dem Geländer abgestützt. Durch seinen Standpunkt überragt er alle anderen. Auch er trägt eine schwarze Lederjacke und eine blaue Jeansweste.

An seiner Brust prangt das deutsche Eiserne Kreuz. Er trägt einen schmuddeliges, graues Sweatshirt und ein rotes Stirnband. Links von der Gruppe sieht man schwach von einer Neonröhre beleuchtet den Rücken eines gut gekleideten Mannes. Von seiner Position kann man daraus schließen, dass er eine Treppe hinunter läuft. Oberhalb des Mannes befindet sich ein vom Bildrand abgeschnittenes Schild, mit der Aufschrift »ND DIVISION«. Das Schild ist an einen Balken angebracht, der leicht schräg nach unten sich bis zu einer Stahlsäule fortsetzt. Die rechte Bildhälfte wird von den, durch das Sonnenlicht erleuchteten Schienen dominiert. Diese haben einen gemeinsamen Fluchtpunkt, die Linien treffen sich hinter der Armbeuge des obersten Jungen. Auf dem ersten Gleis eine fahrende U-Bahn, von der man nicht weiß, ob sie ankommt oder wegfährt. Neben den Schienen ist eine Häuserreihe zu sehen. Im Hintergrund erkennt man gegen das Licht der untergehenden Sonne die Skyline Manhattans. Mit Hilfe des Programms »Google Earth« und dessen Funktion »Street View« konnte ich anhand der Skyline und dem Stand der Sonne den Standort mit ziemlicher Gewissheit auf Queens reduzieren, genauer noch auf den Hunters Point, einer Wohngegend in der Nähe der Ed Koch Queensboro Bridge. Queens ist der flächenmäßig größte der fünf Stadtbezirke von New York.

TECHNISCHE HINTERGRÜNDE MASSE: Alle von mir beschriebenen Aufnahmen sind im im Fotoband »Subway« zu finden. Dort hat diese Aufnahme die Maße 245 x 131 mm. PROPORTIONEN: Dies entspricht einer annähernden Proportion von 3:2 Davidson machte die Fotos aus dem Fotoband »Subway« mit einer Canon T-90. Als Träger der Fotos diente Kodachrome 64. Die Fotos wurden mittels Lambda Cibachrome gedruckt.



 Abb. 1.1

Im Bild kann man eine Dreieckskomposition erkennen (Abb. 1.1), die links von den Jugendlichen, und rechts von den Schienen der U-Bahn gebildet wird. Die Spitze fällt auf den Ellbogen des obersten Jungen. Man kann davon ausgehen, dass das geschulte Fotografenauge Davidsons diese Komposition bewusst gewählt hat. Fakt ist, dass durch dieses Dreieck Bewegung in das an sich statische Motiv kommt. Auch in diesem Foto arbeitet Davidson mit starken Kontrasten. Vor allem stehen sich zwei helle Stellen schräg gegenüber (Abb. 1.2). Rechts oben der in gelb getauchte Himmel und links unten die vom Blitz erhellten Gesichter bzw. Kleidungsstücke. Die Gangmitglieder nehmen die linken zwei Drittel der Bildbreite ein. (Abb. 1.3) Das Geschehen wird von drei, vielleicht vier verschiedenen Lichtquellen erhellt. Die Teenager werden in der vordersten Ebene durch das harte Licht des Blitzes getroffen. Hinter ihnen im Treppenaufgang sieht man eine grü nlich leuchtende Neonröhre. Vielleicht befindet sich auch eine weitere Neonröhre oberhalb des Fotografen. Die einzige natü rliche Lichtquelle ist die Sonne, welche vor allem den rechten oberen Bildteil erhellt. Da sie hinter den Jugendlichen steht bildet sie ein Gegenlicht, welches um die Köpfe der oberen zwei Jugendlichen eine »Aureole« bildet.

KOMPOSITION


 Abb. 1.3 Die um die Jugendlichen gebildete »Aureole«, die vor allem den thronenden Jugendlichen mit der Zigarette umgibt, bewirkt beim Betrachter das Gefühl, einen nicht von dieser Welt stammenden Menschen zu sehen, einen Übermenschen bzw. eine engelsgleiche Figur. Da wir durch unsere Kultur den Heiligenschein nur aus Heiligendarstellungen kennen, assoziieren wir diese mit etwas Übermenschlichen. Für das Foto heißt das, dass der Jugendliche als der unumstrittene, gewissermaßen unsterbliche Chef der Bande dargestellt wird. Zudem ist er der einzige der sitzt, was an das Thronen eines Kaisers/Königs erinnert. Die Bande wurde offensichtlich von Davidson um Erlaubnis gebeten und

setzt sich fü r ihn halbstark in Szene. Sie können durch ihre einheitliche Kleidung (Weste, politische Symbole) einer »Gang« zugeordnet werden. Der Schriftzug »REBEL« auf dem Rückenaufnäher könnte eventuell ihr Gangname sein. Die politischen Symbole beinhalten rechtsradikales Gedankengut wie ein SS-(Schutzstaffel)-Aufnäher bzw. das Eiserne Kreuz. Durch diese Symbole und ihre einheitliche Kleidung kann man die Gruppe eindeutig in die in New York im Laufe der Siebzigerjahre aufkommende Street-Gang Szene einordnen. Die Tätowierung »HATE« sowie die zahlreichen Verletzungen der Jugendlichen deuten auf eine erhöhte Gewaltbereitschaft der Jugendlichen hin.  Abb. 1.4

ANALYSE

 Abb. 1.2



SUBWAY • NEW YORK CITY

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Gangs of New York

GANGS IN NEW YORK CITY

IM FALL DER NEW YORKER STREET-GANGS HANDELT ES SICH UM GRUPPIERUNGEN VON JUNGEN, MEIST HISPANISCHEN BZW. SCHWARZEN JUGENDLICHEN. GANGS HABEN IN NEW YORK CITY EINE WEIT ZURÜCK REICHENDE KULTUR. Perspektive. Ihre Eltern, falls der Vater vom Krieg Um das Problem der Jugendgangs* in New York City nach Hause gekommen war, waren arm, da es nicht der späten Sechzigerjahre bis in die Achtzigerjahre genügend Arbeitsplätze gab. Für die meisten war der zu schildern, ist es notwendig, die Bedeutung des Weg in eine Gang eine Alternative, bot diese finanWortes Gang zu erläutern. Das Wort Gang kann ziell wie zwischenmenschlich Halt. Die Gang gab verschieden definiert werden. Der Duden bezeichnet ein Gefühl von Zusammenhalt, wie sie viele in ihren eine Gang als [organisierten] Zusammenschluss von Familien vermissten. Verbrechern bzw. eine Bande von meist verwahrEin Zeitungsartikel in den New York Times aus losten Jugendlichen, die sich von der Gesellschaft dem Jahr 1973 berichtet, das 40 Prozent der in der nicht angenommen fühlen und deshalb zu GewaltenSouth Bronx lebenden Menschen auf Sozialhilfe teilungen neigen. Eine Gang muss aber nicht immer angewiesen waren und dass das Auftreten von Gangs kriminellen Handlungen nachgehen, sondern kann sich seit 1969 auffällig erhöht und sich in ganz New einfach eine Gruppe meist junger Leute sein, die sich York City ausgebreitet hat. treffen und zusammen Zeit verbringen. 1982 wurden 130 Gangs mit 10.300 Mitgliedern Im Fall der New Yorker Street-Gangs handelt es gezählt. Gangs beherrschten ganze Stadtteile. Sie sich um Gruppierungen von jungen, meist hispaniüberfielen Lastwagen, verübten Einbrüche und schen bzw. schwarzen Jugendlichen. lieferten sich Straßenschlachten. Man konnte die Gangs haben in New York City eine weit zurück verschiedene Gangs durch ihren auf den Rücken aufreichende Kultur. 1820 ließen sich die ersten irischen gestickten GangnaImmigranten in men voneinander Manhatten nieder, unterscheiden. genauer im »Five Die Black Spades, eine der größten Gangs der »Savarage Skulls«, Points district«. »Roman Kings«, Sie hatten mit Siebzigerjahre, unterteilten ihre Gang in Baby »Seven ImmorArmut, verwahrSpades (9 bis12 Jahre), Young Boys (12 bis 15 tals« um einige der losten Gegenden Jahre) und in die Black Spades welche (16 bis damaligen Gangs und Vorurteilen zu nennen. zu kämpfen. Dies 30 Jahre). Politische waren auch die Symbole, wie sie Gründe, weshalb auch die jungen sich junge Männer Herren auf dem Foto tragen, hatten ihren Ursprung zu Hunderten in bewaffneten Gangs zusammenin der Outlaw Motorrad Club Szene, welche sich schlossen. Sie gaben sich verschiedene Namen wie nach dem zweiten Weltkrieg in den USA formierten. zum Beispiel »the Death Rabbits« oder »the Bowery Diese Symbole wurden von den Jugendlichen in New Boys«. Die Gruppierungen unterschieden sich auch York City meistens nicht wegen ihrer politischen durch ihre unterschiedliche Kleidung. Die verschieAbsicht getragen, vielmehr wollte sie damit ihre denen Gangs waren befeindet. Diese Feindschaft totale Rückweisung von sozialen Schranken deutlich endete in jahrzehntelangen Fehden. machen. Die Toleranz gegenüber der verschiedenen Es gibt verschiedene Theorien, wieso sich Gangs Hautfarben handhabte jede Gang anders. Die Gangs bilden. In New York City war es wohl den sozialen unterteilten ihre Mitglieder militärisch in verschiedeMissständen zuzuschreiben. Wie im Abschnitt »Vine Grade. Die Black Spades, eine der größten Gangs etnamkrieg« schon beschrieben, befanden sich die der Siebziger, unterteilten ihre Gang in Baby Spades USA Anfang der Siebziger in einer wirtschaftlichen (9 bis12 Jahre), young boys (12 bis 15 Jahre) und in Krise. die Black Spades (16 bis 30 Jahre). Stadtteile New Yorks, wie zum Beispiel die Bronx, Heute ist man der Ansicht, dass sich Gangs wie waren stark heruntergekommen. Ganze Häuserzüge die Black Spades Mitte der Siebziger allmählich waren verlassen, abgebrannt oder einsturzgefährauflösten und dass die so entstandene Lücke von den det. Schießereien auf offener Straße waren an der diversen HipHop-Aktivitäten ausgefüllt wurde. Tagesordnung. Für viele Jugendliche gab es keine

* Die Jugendlichen wurden von mir anfänglich fälschlicher Weise als Anhänger der New Yorker HardcorePunk Szene verwechselt. Da der New Yorker Punk das musikalische Stadtbild New Yorks prägte und eine bedeutende Rolle in der amerikanischen Musikkultur darstellt, hab ich mich entschlossen, den Artikel auf der folgenden Seite, in dieser Arbeit stehen zu lassen.


Blindtext

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SUBWAY • NEW YORK CITY

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New York Hardcore

NEW YORK

HARDCORE WÄHREND HIPHOP, AUF WELCHEN ICH IM NÄCHSTEN BILD EINGEHE, UM 1980 SCHON BEACHTLICHEN KOMMERZIELLEN ERFOLG HATTE, ENTWICKELTE SICH EINE WEITERE MUSIKRICHTUNG AUF NEW YORKS STRASSEN UND UNDERGROUND CLUBS, NÄMLICH DER HARDCORE-PUNK ABGEKÜRZT HARDCORE.

Hardcore war die Reaktion auf die Kommerzialisierung der Punk-Musik und deren Verweichlichung, wie man sie in neuen Punk-Genren wie dem »New Wave« vernehmen konnte. Bands wie »The Clash«, die Ende der Siebzigerjahre in Europa große Erfolge verzeichnen konnten, erhielten in Amerika nur moderate Chartplatzierungen und die von den Plattenlabels erhoffte Revolutionierung der amerikanischen Musikszene durch Punkmusik blieb aus. Punk wurde als ein Ding der Vergangenheit abgestempelt. Der wirtschaftliche US-amerikanische Boom der Vietnam Kriegsjahre und die niedrige Arbeitslosenrate machten aus der amerikanischen Punkmusik ein apolitisches Kunst-Rock-Phänomen. Solange, bis Amerika am Ende der Siebzigerjahre in einer Wirtschaftskrise steckte und die Kinder des Babyboom einer zweifelhaften Zukunft ohne Aussicht auf einen Job entgegen sahen. Diese düsteren Zukunftsaussichten waren Nährboden für den sogenannten Hardcore-Punk, einer politischen Form des Punkrocks. In kleinen Clubs, vor allem in Städten der amerikanischen Westküste, bildete sich eine neue, politisch geprägte Punkmusik. Die rohe Kraft der Songtexte sprach ihre

16–20 jährigen Zuhörer, die vorwiegend aus Vorstadtfamilien der Mittelschicht kamen, direkt an. »[The 1970s and 1980s] saw a series of damaging economic leadership, erosion of public confidence in governmental and corporate benevolence, cruel entrenchment of social programs along with policies that favored the wealthy, a temestuous contestation of social institutions and representations, involving formations that had been thought to be stable, such as gender roles and the family, providing the context within which heavy metal became meaningful for millions of people.« Erklärt Robert Walser, ein amerikanischer Musikwissenschaftler, über Heavy Metal Musik, was aber auch auf Hardcore angewendet werden kann. Der Anfang der Achtzigerjahre aufkommende New Yorker Hardcore war politischer geprägt als der an der Westküste. Er kam nicht wie dort aus der Vorstadt sondern entwickelte sich direkt in Stadtteilen, vor allem Manhattan. Der anfänglich noch linksgerichtete Punk verlagerte sich bis Mitte der Achtzigerjahre immer mehr in die rechte Szene.

»[The 1970s and 1980s] saw a series of damaging economic leadership, erosion of public confidence in governmental and corporate benevolence, cruel entrenchment of social programs along with policies that favored the wealthy, a tempestuous contestation of social institutions and representations, involving formations that had been thought to be stable, such as gender roles and the family, providing the context within which heavy metal became meaningful for millions of people.«


Capital of HIPHOP

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SUBWAY • NEW YORK CITY

CAPITAL OF

HIPHOP

DAS FOTO ZEIGT EINEN JUNGEN AFROAMERIKANISCHEN MANN IN ROTEM TRAININGSANZUG, DER IN RICHTUNG EINER VON GRAFFITI BEDECKTEN U-BAHN BLICKT. Auf dem Foto (Abb. 2) ist ein junger Afroamerikaner zu sehen, der in Richtung einer, mit Graffiti übersäten U-Bahn blickt. Er stützt sich lässig mit seinem rechten, angewinkelten Arm an einem, aus Holz gefertigten Geländer einer oberirdischen U-Bahn-Station ab. Sein Becken lehnt an diesem und während sein Körper leicht schräg nach vorne gedreht ist, ist sein Kopf im Gegensatz dazu dem Betrachter nach hinten abgewendet. Seinen linken Fuß stützt der junge Mann auf einem, unterhalb des Handlaufs auf Kniehöhe verlaufenden Querbalken ab, wodurch sein linkes Bein angewinkelt ist und der linker Unterschenkel quasi parallel zu der unteren Bildkante verläuft. Das rechte Bein fungiert als Standbein und wird am Oberschenkel durch den untere Bildrand abgeschnitten. Er trägt weiße Basketballschuhe, auf denen ein rotes Converse-Logo zu erkennen ist. Er hat einen rubinroten Trainingsanzug an, auf welchem seitlich zwei weiße Längsstreifen verlaufen. Ein weißer, bis zum Brustbein geöffneter Reißverschluss verbindet den aufgeschlagenen Kragen der Trainingsjacke. Auf seinem Kopf trägt er einen olivgrünen Fischerhut, welcher zum größten Teil von der oberen Bildkante abgeschnitten wird. Er trägt eine, für die am Ende der Achtzigerjahre der HipHopSzene typische Brille der Firma »Cazal«, welche sich durch ihren dicken Rahmen und ihrer partikulären Form auszeichnet. Er schaut einer U-Bahn nach, welche die rechte Bildhälfte einnimmt. Dadurch,

dass sie das einzige unscharfe Element im Bild ist, kann man darauf schließen, dass sie in Bewegung aufgenommen wurde. Sie ist bis zu den unteren Kanten der Fenster vollständig mit Graffitis besprüht.

Er trägt eine, für die am Ende der Achtzigerjahre der HipHop-Szene typische Brille der Firma »Cazal«, welche sich durch ihren dicken Rahmen und ihrer partikulären Form auszeichnet. Man kann durch die stark flüchtenden Linien und der Unschärfe der Schriftzüge nicht erkennen was sie bedeuten. Die Plattform auf der sich der junge Mann befindet ist, wie die U-Bahn, schon etwas in die Jahre gekommen, da der Lack bereits vom Geländer geblättert ist und der getäfelte Fußboden auch schon recht verwittert wirkt. Die linke Bildhälfte nimmt eine Häuserfront ein. Die Häuser sind nicht verputzt und man kann so die Ziegel sehen. Es scheint sich um eine etwas heruntergekommene Gegend zu handeln, da die Häuser nicht gepflegt erscheinen und die Straßen mit Unrat verschmutzt sind.

TECHNISCHE HINTERGRÜNDE MASSE: Im Fotoband hat es die Maße 245 x 131 mm PROPORTIONEN: Dies entspricht einer annähernden Proportion von 3:2 Die stark flüchtenden Linien lassen darauf schließen, dass das Bild mit einem Superweitwinkelobjektiv aufgenommen wurde. Zudem ist in diesem Bild eine hohe Tiefenschärfe zu erkennen. Die Kameraposition lässt darauf schließen, dass das Foto im Stehen aufgenommen wurde. Die Farbtemperatur ist vorwiegend kalt.



 Abb. 2.2

 Abb. 2.1

Der Betrachter wird durch die stark flüchtenden Linien, welche etwas rechts der Bildmitte (Abb. 2.1), auf Höhe der Kehle des Mannes zusammenlaufen, förmlich in das Bild hineingezogen (Abb. 2.4). Die obere Kante der U-Bahn, sowie die der Häuserfront verlaufen auf gleicher Höhe (Abb. 2.3). Es entsteht ein Effekt der einer Spiegelung nahe kommt, bei welcher sich die Spiegelkante und die Mittelachse den gleichen Platz teilen. Es entsteht so Dynamik im Bild und es wird der Eindruck erweckt, etwas Überirdisches zu betrachten. Dadurch, dass der Mann im Mittelpunkt dieser Bewegung steht, hat es den Anschein, dass ihm der Hintergrund, von den oberen Kanten der Fluchtlinien begrenzt, als eine Art Flügel dient und er so zur Ikone erhoben. Wird Diese Behauptung wird durch den Fakt gestützt, dass sich die Silhouette des nach hinten gedrehten Kopfes auffallend gegen den fast weißen Himmel abhebt, und, so ähnlich wie bei dem Foto der »Gang«, sich der Eindruck des Majestätischen einschleicht. Der optische Schwerpunkt liegt auf dem jungen Mann nicht nur durch den hinter ihm liegenden Fluchtpunkt, sondern auch weil das Auge durch die kräftigen Farben des Trainingsanzugs auf ihn gelenkt wird. Die Streifen am Oberarm der Trainingsjacke folgen der Richtung der Fluchtlinien. Es macht Sinn das Foto der Breite nach zu dritteln (Abb. 2.2). Das linke Drittel nimmt die Häuserfront ein, das rechte Drittel die U-Bahn, und das Drittel in der Mitte der junge Mann. Der Kopf des Mannes liegt rechts neben der Bildmitte. Die Kante des Fischerhuts bildet zusammen mit den Streifen an der Hüfte des Mannes und dessen weißen Schuhen eine vertikale, welche zugleich die Bildmitte ist (Abb. 2.1). Diese Fotografie kann, dank der fast religiösen Sicht auf einen ihrer Jünger, für die Ikone des HipHops, welcher die Gangkultur in den Bronx ablöste, gesehen werden.

KOMPOSITION


 Abb. 2.3

 Abb. 2.3


Back in the Days

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SUBWAY • NEW YORK CITY

DIE VÄTER DES HIP HOP WAREN DIE KINDER DER BÜRGERRECHTSBEWEGUNG. SIE WUCHSEN IN DER BRONX AUF, EIN STADTEIL NEW YORKS, DER MITTE DER 70ER JAHRE ZU EINEM GHETTO MUTIERT WAR. DIE ETHNISCHE VIELFALT UND DER FAKT, DASS SIE VOM REST NEW YORKS RELATIV ISOLIERT WAR, SCHUFEN DEN NÄHRBODEN FÜR DIE AUSDRUCKSFORMEN, DIE WIR MIT HIPHOP-KULTUR ASSOZIEREN: GRAFFITI-KUNST, BREAKDANCE, RAPPEN UND MIXEN.



Blindtext

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SUBWAY • NEW YORK CITY


SUBWAY • NEW YORK CITY

Back in the Days

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JUST WRITIN’ MY NAME FÜR VIELE WAR DIE IDEE, IHREN NAMEN MITTELS SPRÜHDOSEN AUF U-BAHN WAGONS ZU VEREWIGEN, UM SO EINEN TRÄGER FÜR IHRE KUNST ZU HABEN, DER WIE EINE MOBILE GALERIE GANZ NEW YORK DURCHQUERT, EIN MEILENSTEIN IN SACHEN URBANEM KULTURSCHAFFEN.

Für die Stadtverwaltung war Graffiti wie eine Seuche, die um sich schlug wie ein Lauffeuer. Bis in die späten Sechziger kam Graffiti in New York meist nur in Form von politischen Parolen vor. Später entwickelte sich das »identification tagging«. Teenager begannen mit Filzmarkern ihre Pseudonyme in der ganzen Stadt zu verbreiten.

Sich durch einen einzigartigen Stil von seinen Mitstreiter zu unterscheiden wurde Anfang der Siebzigerjahre neben dem anfänglichen »getting up« immer wichtiger.

Was als kleines städtisches Ärgernis begann, verbreitete sich in den späten Siebzigern explosionsartig. In dieser Zeit begannen sich die Sprayer als Künstler zu sehen, im Gegenteil zu manchen UBahnbenutzern, die in den Schriftzügen oft Gangzeichen vermuteten und diese

so indirekt die Städteflucht begünstigten. Für die ersten Maler in New York City Ende der Sechzigerjahre, die meist Weiße oder Puertorikaner waren, wurde das sogenannte »getting up« immer wichtiger. Das Ziel war es, so oft ihren Namen zu verbreiten, dass ihre Tags (Signaturkürzel) von jedem gesehen werden konnten. Diese Form des Graffiti entwickelte sich weiter und mündete im »Stylewriting«. Sich durch einen einzigartigen Stil von seinen Mitstreiter zu unterscheiden wurde Anfang der Siebzigerjahre neben dem anfänglichen »getting up« immer wichtiger. Auch der erbitterte Kampf gegenüber dem »Subway-Graffiti« von Seiten der Polizei Ende der Siebzigerjahre konnte der Verbreitung dieser urbanen Kunstform nichts anhaben und sie besteht bis heute fort und ist auch in das kleinste 100 Seelendorf vorgedrungen.


The hispanic Martyr

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SUBWAY • NEW YORK CITY

THE HISPANIC

MARTYR DAS DRITTE DER VON MIR AUSGEWÄHLTEN FOTOS ZEIGT DEN SCHAUPLATZ, IN DEM EINEM JUNGEN MANN ERSTE HILFE GELEISTET WIRD.

Mit ausgestreckten Armen, auf dem Boden liegend, dominiert er das Bildgeschehen. Da er äußerlich keine Verletzungen aufweist, kann man nur Vermutungen anstellen, was dem jungen Mann widerfahren ist.

Seine hellbraune Lederfransenjacke und sein schwarzweiß gestreiftes Hemd wurden zur Stütze unter seinen langhaarigen Kopf gelegt.

Durch die Position der Kamera, liegt der Kopf des Bewusstlosen knapp über dem unteren Bildrand, diagonal nach links oben sein Körper. Der freigemachte Oberkörper enthüllt zwei Tätowierungen. Seine hellbraune Lederfransenjacke und sein schwarz-weiß gestreiftes Hemd wurden zur Stütze unter seinen langhaarigen Kopf gelegt. Auf seinem bärtigen Gesicht eine Atemmaske. Die Augen geschlossen. An seiner rechten Armbeuge eine Nadel, deren Schläuche zu zwei Tropfinfusionen führen, die unscharf im Vordergrund der oberen Bildkante zu erkennen sind. An seinem anderen Arm misst ein Sanitäter, der sich im linken unteren Bildeck befin-

det und von diesem teilweise abgeschnitten wird, Puls und Blutdruck. Oberhalb desselben ein weiterer Sanitäter von dem nur sein linker Ärmel mit dem Sanitäterabzeichen sichtbar ist. Da er durch die linke Bildkante abgeschnitten und dadurch nur zum Teil auf der Fotografie zu sehen ist, ist es nicht möglich festzustellen was er gerade macht. Beide Sanitäter sitzen in der Hocke. Rechts von dem oberen Sanitäter beugt sich eine Frau in weißem Blazer und schwarzen Faltenhosen über den Bewusstlosen. Mit leicht gebeugten Armen hat sie ihre Hände stützend auf ihre Knie gelegt. Ihr Gesicht ist von ihrem offenen Haar bedeckt. Durch den rechten Arm des Bewusstlosen, an dem die Infusion gelegt wurde, von der Frau getrennt steht ein Polizist, welcher wegen seiner Position mit ziemlicher Sicherheit die beiden Infusionsbeutel hält, die durch die obere Bildkante abgeschnitten sind. Nachdem er nur von der Brust abwärts zu sehen ist, kann man ihn ausschließlich an seinem Dienstgürtel mit Handschellen, Funkgerät und Schlagstock identifizieren. Unmittelbar hinter dem Polizisten steht parallel zur Bilddiagonale eine kirschholzbraune Bank an der Wand. Auf dem weiß gefliesten Boden liegen neben dem Bewusstlosen medizinische Instrumente und ein Erste-HilfeKoffer.

TECHNISCHE HINTERGRÜNDE

MASSE: Im Fotoband hat es die Maße 245 x 131 mm

PROPORTIONEN: Dies entspricht einer annähernden Proportion von 3:2

Davidson verwendete einen 30 Magenta Filter über der Linse und einen grünen Photogel über dem Blitz.



Bruce Davidson hat einen Bildausschnitt gewählt, der sich als besonders wichtig entpuppt. In der Bildmitte etwas links vom Kreuzungspunkt der Bilddiagonalen befindet sich die Infusionsnadel und so das einzige Blut im Bild. Zusätzlich der Tatsache, dass der am Boden Liegende als einziges farbiges Element auffällt, ist er der Einzige, dessen Gesicht sich im Bild befindet. Zudem bildet er, gemeinsam mit dem weißen Fliesenboden, die größte helle Fläche im Foto. Sein Körper nimmt ausschließlich den Platz der linken Bildhälfte ein und seine Hand berü hrt die mittlere Bildachse (Abb. 3.1). Durch die Lage seiner Haltung wird Bewegung im Bild erzeugt, denn er liegt nicht nur exakt auf der Diagonalen, welche sich vom linken oberen Eckpunkt zur unteren in der Hälfte geteilten Bildkante erstreckt (Abb. 3.2), sondern die vom Körper abgespreizten Arme bilden mit diesem einen Pfeil, dessen Spitze in Richtung der Basis der Bildachse deutet (Abb. 3.3). Durch diese Position und die Perspektive scheint der Körper in die Tiefe zu stürzen. Weiteres bewegungserzeugendes Element bildet die rote Sitzbank, welche parallel zu der vom linken Bein zum Kopf erstreckenden Linie steht (Abb. 3). Die linke, obere Ecke der Sitzfläche berührt wie die ein wenig darunter liegende Hand des Bewusstlosen die mittlere Bildkante. In der rechte Bildhäfte befindet sich nur der Polizist und die gerade erwähnte Bank (Abb. 3.1) und bildet so einen Kontrast zu der rechten Bildhälfte, auf der sich die beiden Sanitäter der am Boden liegende Mann und die Frau befinden. Der Raum in dem sich die Handlung abspielt, scheint – vielleicht auch nur durch den nahen Standpunkt des FotoDas Hauptlicht kommt aus der Richtung des Betrachters, denn es wird vom Blitz erzeugt, der das Szenario indirekt beleuchtet und die Umgebung in ein hartes Licht taucht. Davidson benutzte fü r diese Aufnahmen einen Blitz mit niederer Intensität, welcher es ihm erlaubte, eine weit offene Blende und eine lange Belichtungszeit zu benutzen. Auf diese Weise gelang es ihm auch das Hintergrundlicht der Neonröhren einzufangen. Wahrscheinlich bildet eine Neonröhre eine zweite Lichtquelle. Die ganze Szenerie wirkt kalt. Einzig die warmen Farbtöne des entblößten Brustkorbs bilden einen Kontrast zu der Distanziertheit der farblosen Umgebung. Helfer bilden mit ihren schwarzen und weißen Kleidungsstücken einen kontrastreichen Hintergrund. Der Fotograf unterstreicht den Kontrastreichtum noch durch ein massives hell-dunkel Spiel. Im Gegensatz zu den hellen Stellen fehlt den dunklen jedes Detail. Aus dem Bildausschnitt ist zu erkennen, dass Davidson die Kamera auf Brusthöhe hielt.

grafen – ziemlich klein zu sein. Davidson hat sich zwischen Polizist und Sanitäter gestellt. Wir als Betrachter vervollständigen so den Kreis um den Bewusstlosen. Davidson hat dieses Foto im Stehen geschossen, dies ist aus dem Blickwinkel zu schließen. Diese aufgezwungene Position bewirkt beim Betrachter ein unangenehmes Gefühl. Zum einen liegt der Mann zum Betrachter hin verkehrt am Boden, zum anderen steht man direkt neben seinem Kopf.

KOMPOSITION

 Abb. 3.1

 Abb. 3.2


 Abb. 3.4

 Abb. 3.3

Wie die meisten Bilder in Subway ist auch dieses nicht gestellt, da Davidson nicht eine Erste-Hilfe-Leistung zwecks kompositorischen Gründen dirigieren konnte. Viel verblüffender ist so die Tatsache, dass dieses Foto trotz dieses Umstandes kompositorisch so gelungen ist. Die ethnische Abstammung des am Boden Liegenden können wir anhand einer der beiden Tätowierungen erschließen. Auf seiner linken Brust stehen in Großbuchstaben die Wörter »PAPI Y MAMI«. Das spanische Wort fü r »und«, Y, legt die Vermutung nahe, dass es sich bei dem Bewusstlosen um einen Mann hispanischer Herkunft handelt. Auf der rechten Brust erkennt man ein Herz mit einer Rose, die von einer Hand gehalten

werden. Diese Symbole schließen einen religiösen Inhalt nicht aus. Man könnte sogar behaupten, dass das ganze Bild an das Martyrium Simon Petrus erinnert. Die Haltung des leblosen, mit dem Kopf zur unteren Bildkante gerichteten Körpers, sein Haupt und die Szenerie lassen an die Kreuzigung Petrus denken. Es ist naheliegend, dass Davidson diese Fotografie unter Anderem wegen der aus diesem Grund resultierenden Kraft fü r sein Bildband gewählt hat.

ANALYSE


Das Resümee

43

DAS RESÜMEE NEW YORK WAR ENDE DER ACHTZIGER DER SCHMELZTIEGEL DER OSTAMERIKA-NISCHEN MUSIK UND KUNSTSZENE. WÄHREND IN DIESEN JAHREN IN GEWISSEN BEZIRKEN NEW YORK CITY, DISCO NOCH DAS GROSSE KOMMERZIELLE DING WAR, ZERFIELEN ANDERE STADTTEILE REGELRECHT. Arbeitslosigkeit, zerbrochene Familien und eine ausufernde Gang- und Drogenkultur kennzeichnete die Situation. Es ist wahrscheinlich diesen Umständen zu verdanken, dass sich in solchen Gegenden, wo Jugendliche in eine perspektivenlose Zukunft blickten, sich Ausdrucksformen wie die des HipHops in der Bronx und die der Punkmusik aus der Lower East Side bildeten. Beide teilen sich die Kraft und Energie ihrer Musik, welche ohne ein so morbides Umfeld nie so zustande gekommen wäre. Es gibt aber noch eine Verbindung, die U-Bahn. Obwohl immer weniger Menschen Anfang der Achtzigerjahre die U-Bahn benutzten, weil diese gefährlich war, verband sie doch die reichen mit den armen Stadtteilen und in ihre trafen sich Menschen aus allen erdenklichen Kulturen und gesellschaftlichen Schichten. Bruce Davidson schafft es mit seinem Fotoband Subway uns nicht nur ein dokumentarisches Werk zu hinterlassen, sondern auch die versteckte Schönheit in diesem für Menschen unangenehmen Ort zu finden. Auch wenn meine Bildwahl auf den ersten Blick das Gegenteil darzustellen scheint, verbirgt sich in den ausgewählten Bildern doch eine nicht beschreibbare Anziehungskraft. Vielleicht ist es eine Art von

Ghettoromantik oder die bestechende Komposition die das berufene, fotografische Auge Davidsons eingefangen hat, auf alle Fälle dokumentiert der Fotoband Subway einen Zeitraum, in welchen die Saat für vieles, was wir heute aus der Musik und Populärkultur kennen und lieben, gesät wurde . New York City hat sich seit damals stark verwandelt. Nicht zuletzt wegen des 1977 gewählten Bürgermeisters Edward Irving „Ed“ Koch, der die Stadt nicht nur wieder aufbaute, sondern ihr auch ihren Geist zurück gab. Aus den Ghettos der damaligen Zeit sind heute Yuppie Wohnsiedlungen geworden. Die Stadt ist zwar sicherer geworden, hat aber dadurch an ihren Charme verloren. Auch die U-Bahn hat sich gewandelt, sie ist sicherer geworden. Sie ist nun nicht mehr mobiles Trägermaterial für unzählige Fame-suchende Jugendliche. Doch hat sich Graffiti in der ganzen Welt verbreitet, und hat es, ob man es gut heißen will oder nicht, in die Galerien der großen Kunsthäuser geschafft.

SUBWAY • NEW YORK CITY



Bibliografie

SUBWAY • NEW YORK CITY

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BIBLIOGRAFIE ➵ Davidson/Braithwaite/Geldzahler 2011 Subway, by Bruce Davidson Steidl, Göttingen

➵ Gassert/Häberlein/Wala 2008 Kleine Geschichte der USA Reclam, Stuttgart

➵ Kozloff, M. 2002 New York, Capital of Photography Yale University Press, New Haven

➵ George, N. 2006 XXX – Drei Jahrzehnte HipHop orange-press, Freiburg

KOLOPHON LAYOUT & TEXT Rubatscher Andreas FOTOS Bruce Davidson (aus dem Bildband Subway, 1986)

➵ Gladwell, M. 2002 6. Auflage Der Tipping Point – Wie kleine Dinge Großes bewirken können GGP Media, Pößneck

FONTS

➵ Berthold Akzidenz Grotesk ➵ ITC Century

➵ Fitzpatrick, T. 2009 Art and the Subway – New York Underground Rutgers University Press, New Brunswick

➵ Spergel A. I. 1995 The Youth Gang Problem – A Community Approach Oxford University Press, New York

➵ Taylor S. 2004 False Prophet: Field Notes from the Punk Underground Wesleyan University Press, Connecticut DOKUMENTARFILME

➵ 80 Blocks from Tiffany’s 1979 G. Weis (Regie), Dokumentarfilm Above Average Productions Inc., USA

➵ Flyin’ Cut Sleeves 2009 H. Chalfant (Regie), R. Fecher (Regie) DVD-Video, Mvd Visual

AUSBLICK Bei einem Vertiefen der Arbeit wäre es möglich, weitere Bilder mit einzubeziehen, um die verschiedenen Gesichter des Mikrokosmos Subway begreiflich zu machen. Um die soziale Situation um 1980 noch besser zu veranschaulichen, könnte man noch weitere Fotos analysieren. Interessant wäre das Thema Guardian Angels, eine am Anfang der Achtzigerjahre gegründete Bürgerwehr, die sich gut in den Abschnitt »New Yorks U-Bahn am Ende des 20. Jahrhunderts« einbringen ließen. Man könnte in der Arbeit die Themen Gangkultur, HipHopKultur, Graffiti und Einwanderung vertiefen und die Frage beantworten, welche Rolle der damalige Bürgermeister Edward Irving „Ed“ Koch bei der Entwicklung New York spielte.

»I BECAME ADDICTED TO THE SUBWAY.« Bruce Davidson



SUBWAY NEW YORK CITY New York war Ende der Achtzigerjahre der Schmelztiegel der ostamerikanischen Musik und Kunstszene. Während in diesen Jahren in gewissen Bezirken der Stadt New York, Disco noch das große kommerzielle Ding war, zerfielen andere Stadtteile regelrecht. Arbeitslosigkeit, zerbrochene Familien und eine ausufernde Gang- und Drogenkultur kennzeichnete die Situation. Es ist wahrscheinlich diesen Umständen zu verdanken, dass sich in solchen Gegenden, wo Jugendliche in eine perspektivenlose Zukunft blickten, sich Ausdrucksformen wie die des HipHops in der Bronx und die der Punkmusik aus der Lower East Side bildeten. Beide teilen sich die Kraft und Energie ihrer Musik, welche ohne ein so morbides Umfeld nie so zustande gekommen wäre. Es gibt aber noch eine Verbindung, die U-Bahn.


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