Ruhrbarone #3

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Ich fragte den Storekeeper, der für die Vorräte zuständig war, doch auch er wusste keine Antwort. „Wir haben nur einen Käfig mit Geflügel an Bord“, sagte er. Entweder besaß Shang also die Gabe, Hühner auf wundersame Weise zu vermehren, oder etwas ging nicht mit rechten Dingen zu. Ich zählte die Hühner und wartete ab. Einen Tag später servierte der Smutje ein Ragout, ein Hühnchenragout, doch meine Kontrolle hinter Maschendraht ergab: kein Huhn fehlte. Ich bekam keinen Bissen mehr herunter: Hatte die Rattenplage nicht stark nachgelassen?

Von Stefan Krücken Illustrationen: Salle Neben einer gut sortierten Pornosammlung ist die Qualität der Mahlzeiten wichtig während einer langen Reise auf See. Je schlechter das Essen, desto schlechter ist die Laune der Mannschaft, das ist die Regel. Auf meiner ersten Fahrt als Leichtmatrose, es ging auf einem Frachter von Bremen nach Hongkong, hatten wir noch nicht den Suezkanal erreicht, als eine Meuterei drohte. Was unser „Smutje“, ein stämmiger, etwas dösiger Kerl namens Fidus zusammenrührte, stellte unsere Geschmacksknospen vor unlösbare Probleme. Selbst die simpelsten Reisgerichte rochen säuerlich, und wenn die Tür zu seiner Kombüse offen stand, erinnerten die Dünste, die heraus- waberten, an einen ungelüfteten Schweinestall. An wenig luxuriöse Lebensbedingungen waren wir gewöhnt. Eine Rattenplage setzte unserer Moral zu, und die Kakerlaken krabbelten in Scharen durch die Unterkünfte. Zum Zeitvertreib veranstalteten wir Rennen, indem wir die Schaben mit Feuerzeugen über Glasplatten laufen ließen. Fidus Fraß gab uns den Rest. Im Namen der Matrosen beschwerte sich der Bootsmann bei der RUHRBARONE AUSGABE 01/2011

Schiffsführung. Nach einem Probeessen – Fidus servierte eine Erbsensuppe, die gegen die Biowaffenkonvention der Vereinten Nationen verstieß – entband man den Smutje von seinen Aufgaben. Wie sich herausstellte, war er ein gelernter Mechaniker, dessen kulinarische Qualifikation darin bestand, dass er in der Kantine einer Werft Kessel gewartet hatte. Wie so oft hatte die Reederei Kosten gespart, und wie so oft auf Kosten der Seeleute. In Hongkong, das versprach uns der Kapitän, sollte ein echter Koch gemustert werden. Die Wahl fiel auf Shang, einen klein gewachsenen, leisen Chinesen, der samt seiner Familie und drei kleinen Kindern an Bord kam. Gleich seine erste Mahlzeit begeisterte uns: Ein wunderbares Curry, perfekt zubereiteter Reis, Gemüse, dazu dieses weiße, zarte Fleisch. Shangs Gerichte wurden zum Höhepunkt jeden Tages. Besonders das Geflügel war eine Sensation. Die Laune an Bord stieg mit jedem Essen. Nach einer Woche auf See aber begann ich mich zu wundern: Woher kam diese große Menge Hühnchen, die auf dem Speiseplan stand? Die Reederei, bekannt für ihren Geiz, hatte dies gewiss nicht angeordnet. MÄNNERWELTEN

Geheimnisse bleiben an Bord eines Schiffes niemals lange geheim. Einige Matrosen stellten Shang zur Rede. Der Chinese, völlig verängstigt, gab schließlich zu, mit einer Art Fangnetz täglich einige Ratten erbeutet und in die Pfanne geschnibbelt zu haben. Einige Seeleute wurden so wütend, dass sie Shang verprügeln wollten, was der Erste Offizier im letzten Moment verhinderte, indem er Shang unter seinen persönlichen Schutz stellte. In Indien mussten der Smutje und seine Familie das Schiff verlassen. Ich war der Jüngste an Bord und überrascht, als mich der Erste fragte, ob ich die Küche übernehmen könnte. Schlimmer als unter Fidus dem Fürchterlichen konnte es nicht schmecken, Ratte war Tabu – was sollte schiefgehen? Ich gestaltete einen Speiseplan auf Basis von Bratkartoffeln mit Speck. Die Hausmannskost, die ich mir bei meiner Mutter abgeschaut hatte, schien meinen Gästen zu schmecken. Als wir in Bremen einliefen, beförderte man mich vom Leichtmatrosen zum Matrosen. Kapitän „Schorse“ war als Mann mit einem Faible für deftige Scherze bekannt. Einmal, als wir nach einer langen Reise in Bremen festmachten und mit der Straßenbahn in Richtung Innenstadt ratterten, trieb er es auf die Spitze. Es war ein grauer Herbsttag, es hatte zu nieseln begonnen und die Scheiben der Tram waren beschlagen wie in einer ungelüfteten Waschküche. Ein Fahrgast erkundigte sich: „Wo sind wir?“ Käpten Schorse öffnete ein Fenster. Er nahm sein Glasauge heraus, hielt es hinaus und rief: „Nächste Station: Finndorf!“ Humor ist ein Begleiter, der einem durch dunkle Stunden hilft, aber dass der richtige Scherz im falschen Moment Probleme bereitet, bekam ich aus der Kanone eines russischen Kriegsschiffs zu spüren. Als Erster Offizier fuhr ich auf der „Admiral Luckner“ von Bremerhaven durch die Barentssee, um Holz zu holen, und uns kam im Nebel nahe

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der Stadt Murmansk ein Zerstörer der Roten Flotte entgegen. „Wie heißt ihr Schiff? Wo fahren sie hin?“, morste man, was ich sofort erwiderte. Die Fragen wurden wiederholt, noch zwei weitere Male. Und wieder. Und wieder. Ich wunderte mich, aber ich wiederholte artig meine Antworten. Nach der fünften Frage wurde mir dieses Quiz langweilig. „Wie heißt ihr Schiff? Wo fahren sie hin?“, morsten die Russen, und diesmal gab ich zurück: „Agathe Hackbrett auf dem Weg von Tampico nach Arizona!“ Keine Antwort. Dann signalisierte das Kriegsschiff: „Maschine stoppen, oder wir eröffnen das Feuer!“ Ich dachte: „Ihr tickt doch nicht richtig!“, und fuhr weiter. Bis ein Schuss vor dem Bug einschlug. Von der Detonation geweckt, erschien Käpten Schorse auf der Brücke: „Hahn! Was ist los?“ Meine Erklärung, in einem Akt humoristischer Notwehr gehandelt zu haben, überzeugte ihn wenig. „Hahn, sind sie verrückt geworden?“, stieß er hervor, und dann beobachteten wir, dass der Zerstörer ein Motorboot zu Wasser ließ. Mit vorgehaltenen Maschinenpistolen und unter schwarzen Masken brauste eine Einheit auf uns zu und ging an Bord. Die Russen – sie sahen nicht aus, als lachten sie gerne und ausgiebig – übernahmen die Brücke. Wir liefen Murmansk an. In den Verhören, die nun folgten, stellte sich heraus, dass Kadetten auf der Brücke des Kriegsschiffs ihre Morsetechnik üben wollten, weshalb einer nach dem anderen die Fragen

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absetzte. Über meine Frechheit war man wenig amüsiert, und die Frage, wie der Stolz der „Roten Flotte“ wiederhergestellt werden konnte, drohte eine zähe Angelegenheit zu werden. Kostbare Zeit. „Mein Erster Offizier ist ein Flegel“, entschuldigte sich Kapitän Schorse. Ich spielte den Zerknirschten und bot als Geste tief empfundener Reue an, die Offiziere zu einem Drink einzuladen. Eine Idee, die sofort auf Begeisterung stieß. Wenig später saßen wir mit mehr als 30 russischen Militärs unter einem Roten Stern im Offizierskasino und stießen an: „Na Sdarówje!“ Die erste Runde, bis zum Rande mit Wodka gefüllte Wassergläser, ging, wie mir Schorse zuraunte, auf meine Rechnung. Oweija, dachte ich, als ich sah, mit welcher Zielstrebigkeit die Offiziere den Schnaps herunterspülten und schon die nächste Bestellung aufgaben. „Zum Zeichen des Friedens wollen auch wir Sie einladen“, sprach nun einer von ihnen auf Englisch, und ich behaupte, ein leises, diabolisches Lächeln bemerkt zu haben. Jeder einzelne von ihnen lud mich ein, und die Einladung eines russischen Offiziers auszuschlagen, galt als unfeiner als mein „AgatheHackbrett“-Affront. Zum Wohle der Reederei gab ich also mein Bestes, merkte aber, dass mir bereits nach dem dritten Glas schummrig zumute wurde. Ich eilte zur Toilette, um die erste Bestellung zurückzugeben, doch ich spürte, dass dies nicht ausreichen würde, um die nächsten Stunden zu überstehen. Wenig später wurde es dunkel.

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Zwei Tage später kam ich im Militärkrankenhaus von Murmansk wieder zu mir. Mit einem Gefühl, als tobten Eichhörnchen durch meinen Schädel. Ohne eine Sonde, mit der man mir eilig den Magen auspumpte, wäre ich womöglich gar nicht wieder aufgewacht. Kapitän Schorse ließ mich abholen und gestattete mir gnädigerweise, bis zum nächsten Tag zu ruhen. Ich fühlte mich elend, eine Woche lang spürte ich eine furchtbare Übelkeit, aber zum Wachdienst musste ich antreten. „Das ist die gerechte Strafe“, raunte mir Schorse zu, „und Hahn: Erwähnen sie nie wieder den Namen ‚Agathe Hackbrett‘ auf meiner Brücke.“ Kommen Seeleute zusammen und sprechen über alte Zeiten, dauert es nicht lange, bis die sagenhafte Loyalität auf See zur Sprache kommt: Kameradschaft! Zusammenhalt! Männerwelt! Ich verschwinde in diesem Moment, denn ich kann mit diesen Mythen, die man sich Jahrzehnte später ausdenkt, wenig anfangen. Was damit zusammenhängen mag, dass mich meine sogenannten Kameraden einmal betrunken in der „Melody Bar“ auf Aruba zurückließen. Die Erinnerungen an den Abend handeln von karibischen Schönheiten, von karibischen Drinks und von deutschen Seemannsliedern. Ich bin ein passabler Akkordeonspieler und schleppte mein Instrument auf jeder Reise mit. „La Paloma“, „Hamburger Veermaster“ oder das „Helgolandlied“ gehörten zum Repertoire und sorgten auch in der „Melody Bar“, einer Spelunke mit angeschlossenem

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„diE Mit dEn FEttEStEn KarrEn habEn diE drECKiGStEn SChWänzE“

Über das Leben als Nutte am Straßenstrich. Ein Gespräch mit Eva X., die in Dortmund hinter dem Hornbach arbeitet. Von Janina Kraack. Das Objekt besteht aus drei Etagen: unten die Bar, oben die Betten. Die Bar ist sauber, etwas spartanisch eingerichtet und ca. 70 qm groß. Ein Tresen, vier kleine Tische mit Cocktail-Sesseln drumherum, alles in Dunkelbraun furniert. Drei Arcade-Spielautomaten, angestaubte Plastikblumen, vier Überwachungskameras mit Schwenkköpfen. Kein Rotlicht. Keine Bilder an den Wänden. Schnuckelig.

Unten an der Bar riecht es wider Erwarten nach nichts: keine schweren Parfums, welche die Damen wie Skandale hinter sich herziehen, kein Sex-Geruch. Es ist noch nicht einmal verqualmt. Die Musik läuft auf Zimmerlautstärke. Drei Bulgarinnen bespielen die Automaten. Wie hypnotisiert starren sie auf die bunt flackernden Bildchen und machen keinen Mucks. Ihre Umgebung scheint sie wenig zu beeindrucken.

Auf den oberen zwei Etagen befinden sich insgesamt zehn Apartments, in die man diskret durch einen kleinen Flur gegenüber dem Tresen gelangt.

Ein einzelner Gast sitzt an einem der kleinen Tische. Zwei Mädchen, die nicht älter als vierzehn aussehen, wärmen sich an der Heizung auf.

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Weil ich nicht genau weiß, was mich hier heute Abend erwartet, bin ich so mit Adrenalin vollgepumpt, dass mir jedes Geräusch, jede Stimme wie ein lautes Scheppern vorkommt. Ich bin im Club Escort, dem Laufhaus, das zum Dortmunder Straßenstrich hinterm Hornbach gehört. Nach drei Pinnchen Wodka stelle ich mich dem jungen Barkeeper als Clarissa vor und erzähle ihm, warum ich hier bin. Ich will wissen, warum Prostituierte das machen, was sie machen. Der Barkeeper – Anfang zwanzig, gelernter Restaurant-Fachmann – stellt sich mir als Andi vor und beugt sich über den Tresen. MÄNNERWELTEN


„Ich würde dir aber empfehlen, die Damen nicht zu laut und zu auffällig anzusprechen. Am besten, du versuchst zualler erst rauszufinden, ob sie alleine arbeiten oder einen Zuhälter im Nacken haben. Das könnte nämlich für alle Beteiligten hier unangenehm werden. Fremde sind nicht gern gesehen. Und erst recht keine Frauen.“ Die Tür fliegt auf. Betty kommt rein. Betty ist knapp 50, blondgesträhnte kurze Haare, starkes Make-up, rauchige Stimme und sehr in Eile. „Ich hab Durst und brauch ne Zigarette!“ Sie schnorrt sich eine Kippe von mir und befiehlt Andi, ihr welche am Automaten zu ziehen. „Ich muss gleich anfangen, bin erst seit vorgestern hier. Wie lange bist du denn schon hier?“ Etwas überrumpelt und verwirrt zwinkere ich ihr zu und sage: „Ähm. Erst 15 Minuten. Sektchen?“ „Jau.“ Lautes, versoffenes Lachen. Bis ihr Sekt da ist, trinkt sie meinen Wodka aus. Kein Problem. Ich will ja was von ihr. Der Wirt gießt mir neuen Wodka ins alte Pinnchen. In diesem Moment denke ich nicht an Herpes, sondern nur daran, wie ich sie ansprechen soll. Sie hört mir bis zum dritten Satz zu, lächelt schief, dreht sich um und geht einfach. Nicht, weil sie keine Lust hat. Sie ist einfach nur betrunken. Ich zahle den Deckel und wende mich wieder Andi zu. „Ach, schade, die wäre für dich schon gut gewesen, da hast du wohl zu lange gewartet.“ Eines der Automaten-Mädchen kommt zum Tresen. Als sie ihre Bestellung aufgegeben hat, spreche ich sie an. Ich stelle mich vor und erzähle, was ich will. Sie starrt mich genauso an wie den Automaten, nur noch eindringlicher. Böse. „Nein! Nix verstehn!“ Komisch. Ihren Tee konnte sie in fast einwandfreiem Deutsch bestellen. Um ihrem Blick auszuweichen und um klar zu machen, dass ich sie nicht weiter belästigen werde, drehe ich mich wieder RUHRBARONE AUSGABE 01/2011

um und bestelle noch einen Wodka. Völlig frustriert und angespannt rauche ich eine nach der anderen und überlege mir, wieder nach Hause zu gehen, die Sache aufzugeben. Was habe ich mir eigentlich dabei gedacht, hier einfach reinzuspazieren, alleine und aufgebrezelt ohne Ende? Plötzlich geht die Tür wieder auf. Eva kommt herein und lässt sich in einen der Cocktail-Sessel direkt neben dem Tresen plumpsen. Eva ist klein, zart, engelsgleich. „Fistfuck, Analsex oder Gesichtsbesamung mache ich nicht. An meinem zweiten oder dritten Arbeitstag hat mich ein Freier aus dem Auto heraus gefragt, ob ich mir ins Gesicht spritzen lasse. Als ich nein sagte, wurde ich von diesem Wichser aufs Übelste beschimpft, was ich für ne verklemmte Hure wäre und wie ich hier Geld verdienen will, wenn ich noch nicht mal das mache, was sogar seine Alte zu Hause macht.“ Ich biete ihr Sekt und Wodka an, sie mir den Sessel neben sich. Jetzt keinen Fehler machen. Am besten versuche ich erst mal, Vertrauen aufzubauen. Ganz beiläufig hole ich mein Portemonnaie aus meiner Handtasche und stecke es in die Jacke. Ich bitte sie kurze Zeit später, auf meine Tasche aufzupassen, während ich zum Klo verschwinde. Als ich wieder zu ihr an den Tisch komme, telefoniert sie gerade mit einer Freundin. „Hier ist eine, die will ein Interview mit mir machen. Ich hab gerade fürs Blasen siebzig Euro gekriegt, is schon in Ordnung, wenn ich mir jetzt ne Stunde Zeit für sie nehme.“ Eva kam als Zehnjährige mit ihren Eltern und zwei jüngeren Brüdern aus Sibirien nach Deutschland. Die ersten Jahre haben sie in Thüringen gewohnt, jetzt in Nordrhein-Westfalen. Sie ist 27. „Wir wurden streng katholisch erzogen. Bei uns gab es keinen Alkoholmissbrauch, Gewalt oder Sonstiges, was erklären würde, warum ich ‚auf die schiefe Bahn‘ geraten bin. Das war der Freundeskreis. Ehe ich nachdenken konnte, wurde ich zu zwei Jahren und vier Monaten wegen Beihilfe zu schwerer räuberischer Erpressung verurteilt. Ich hab’ den Fluchtwagen gefahren. Dann war ich erst mal in Köln im Knast. Offener Vollzug.“ MÄNNERWELTEN

Ihr übertriebenes Kichern und ihre zum Boden gesenkten Augen verraten mir, dass sie darauf nicht besonders stolz ist. „Nach meinem Fachabitur in Design hab ich ne Lehre zur Frisörin angefangen. Während der Haft bin ich noch weiter arbeiten gegangen. Eine Arbeitskollegin von mir wusste aber, dass ich eigentlich eingebuchtet bin, und die alte Fotze hat das meinem Chef erzählt. Nach einem kurzen Gespräch mit ihm war dann klar, dass er mich nicht mehr weiterbeschäftigen wird. Im Knast kannte ich ne Perle, die zu dieser Zeit in Dortmund auf dem Strich gearbeitet hat. Sie hat mir davon erzählt, ich hab mich mehr dafür interessiert und dachte: Oh, das hört sich gut an, das probier ich mal aus. Verlieren kann ich eh nichts mehr. Also habe ich einen Freigang genutzt, um mit ihr hier hinzufahren. Für mich war das alles neu und ungewohnt. Ich hatte Angst und hab mich geekelt. Ich weiß nicht mehr, ob ich mich mehr vor mir oder vor dem geekelt habe, was mir bevorstand. Also hab ich erst mal was getrunken, damit ich das alles besser verarbeiten kann. Nach dem ersten Freier dachte ich mir: „Ich will weg hier, ich will nach Hause! Bis dahin sollte das eine einmalige Sache gewesen sein.“ In der Zwischenzeit kommen noch drei junge Bulgarinnen in den Club und setzen sich an den Tisch neben uns. Misstrauische Blicke treffen mich und ich denke daran, was Andi mir zu Anfang gesagt hat. Eva erzählt weiter. „Ich war so enttäuscht von meinem damaligen Chef, hatte keine Erwartungen nach dem Knast. Ich bin auch nicht mit der Freiheit nach der Entlassung klargekommen und hatte keine Perspektiven. Da hab ich mich dazu entschlossen, es nochmal auf dem Strich zu versuchen.. Ohne Planung, ohne darüber nachzudenken, wie lange ich das machen will oder so. – Hier!“ Eva deutet mit einem Kopfnicken auf die eben eingetroffenen Bulgarinnen. „Die versauen uns seit Monaten das Geschäft mit ihrem abgefuckten Benehmen. Ziehen die Leute ab und verprügeln sich gegenseitig am helllichten Tag. Auf offener Straße. Die eine da ist die Zuhälterin der beiden anderen. Die versuchen hier alles unter Kontrolle zu halten. Wenn sie irgendein Mädchen nicht kennen, wird die erst mal angemacht. Je nach dem, wie sie sich verhält, wird sie respektiert oder verprügelt. Sofort.“

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natural born thrillErS Illustrationen von Volker Dornemann

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Von der Liebe zu einer Frau Von Ralf Grauel Illustrationen: David Latz

Stacey* war Lohnbuchhalterin in San Francisco, ich war dort Fahrradkurier. Der Dispatcher hatte mich zu einer falschen Adresse geschickt, dort saß sie zufällig hinterm Tresen, weil sie für eine kranke Kollegin eingesprungen war, und strahlte mich an. „Schicksal“, sagten wir später immer, wenn Freunde uns fragten, wie wir uns kennengelernt hätten. Zu unserem ersten Date trafen wir uns an einem Sonntagabend in Berkeley, dort war sie geboren und aufgewachsen, dort wohnten auch noch ihre Mutter und Staceys zwölfjährige Tochter. Als wir uns kennenlernten, war ich 24 Jahre alt, sie war 28. Am Montag nach unserem Date holte ich sie aus ihrem Büro im Financial District ab und nahm sie mit in mein Hotel. Wir gingen in mein Zimmer, zwölf Quadratmeter groß, draußen unter dem Fenster gab es einen rot blinkenden Neonschriftzug, der erst um zwei Uhr nachts ausgeschaltet wurde. Stacey blieb über Nacht, holte am nächste Tag Kleidung nach und zog sofort bei mir ein. Ich fand das romantisch. Das Hotel lag in der Ellis Street, Ecke Mason Street. Gegenüber von meinem Hostel war das Hilton, auf meiner Straßenseite aber begann das Downtown-Ghetto von San Francisco, Tenderloin genannt. Ein paar Schritte die Straße runter lag die Glide Memorial Church, dort standen ab 16.00 Uhr die Obdachlosen der Stadt für eine warme Mahlzeit und ein Bett an, die Schlange ging um den ganzen Block. Der Park gegenüber der Kirche war dann schon verseucht mit Dealern und mit Crackheads. Es dauerte zwei Wochen, bis ich merkte, dass sie Crack-süchtig war. Wiederum eine Woche später verprügelte sie aus Eifersucht eine Frau, die ebenfalls in dem Hostel wohnte, und wir mussten ausziehen. Ich besorgte uns ein kleines kaputtes Motorboot, das am Pier 39 im RUHRBARONE AUSGABE 01/2011

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Hafen von San Francisco lag, dort wohnten wir die nächsten anderthalb Jahre. Nachts konnten wir Alcatraz und die Bay Bridge sehen. „Wenn wir uns hier streiten“, dachte ich, „landen meine Klamotten im Wasser.“ Es kam schlimmer. Stacey war eine auffällig schöne schwarze Frau. Wenn wir im Bus irgendwo hinfuhren und uns in die letzte Reihe setzten, gab es oft böse Blicke von „homeboys“, die sich demonstrativ uns gegenüber setzten und mich, den „white boy“, oder sie anstarrten. Wenn ich darauf reagierte, zog mich Stacey aus dem Bus, schimpfte mich aus, weil ich wohl die Waffe im Hosenbund eines der Jungs nicht gesehen hatte. Ich lachte, sie solle mich mit dem Ghettokram in Ruhe lassen. Stacey war impulsiv, lebendig – und sie war sehr süchtig. Unter der Woche ging sie ins Büro, trug teure Kostüme, sie hatte sogar eines von Chanel. Alle zwei Wochen, wenn sie ihren Paycheck hatte, kam sie freitags nach Hause, zog sich, noch bevor ich von der Arbeit kam, um. Sie hatte eine bestimmte Kappe, die sie aufsetzte, und bestimmte Kleidungsstücke, die sie anzog, bevor sie in irgendein Crackhaus in irgendeinem Ghetto ging, und ihr Geld und später unsere Ersparnisse verrauchte. Meistens kam sie am Sonntag nach Hause, manchmal aber auch erst Dienstag oder Mittwoch. Ihre Kleidung war dann völlig verdreckt, sie stank, war ausgezehrt und sah furchtbar traurig aus und verloren. Stacey hat diese Kleidungsstücke nie weggeschmissen. Sie hat sie ein paar Tage später gewaschen und zu den anderen Sachen gelegt. Natürlich haben wir immer wieder versucht, gegen ihre Sucht anzukämpfen. Noch bevor wir auf das Boot zogen, habe ich ihr gesagt, dass sie sich entscheiden soll. Die Drogen oder ich. Sie hat mir nach jedem Exzess versprochen, aufzuhören. Sie ging auch irgendwann zu Cocaine Anonymous. Die Selbsthilfegruppen fanden mehrmals in der Woche statt, sie kam dann abends spät nach Hause, mit dem

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raCE With thE dEVilS Rockabilly im Ruhrgebiet, Fotos von Marina Lukic.

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Warum Frankreich die Atomenergie liebt und nichts dabei findet, direkt neben einem Kernreaktor zu picknicken.

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Monique Labarthe

Von Annika Joeres

Als die bedrohliche Tschernobyl-Wolke auf Südeuropa zusteuerte, machte sie offiziell Halt an der französischen Grenze. Medien und Regierung des Nachbarlandes behaupteten, die radioaktive Luft käme nicht ins Nachbarland – und wenn, sei sie ungefährlich. „Für die französische Bevölkerung besteht keinerlei Gefahr“, sagte die damalige Regierung unter François Mitterand. Während Deutsche, Italiener, Engländer und übrige Europäer vor radioaktiven Gemüsen gewarnt wurden und Jodtabletten schluckten, lehnte der Elyséepalast jede Vorsicht ab. Selbst als die korsische Lämmermilch mit zehntausend Becquerel pro Liter verstrahlt war, konnte sie in Frankreich weiter verkauft werden. Das Land erliegt einem kollektiven Glauben an die Atomkraft. Wie kein anderer europäischer Staat hat jede Pariser Regierung radioaktive Strahlenwerte manipuliert, Krankheiten verschwiegen und das Volk angelogen. Ministerinnen und Minister, Präsidenten und Premierminister stehen soldatisch zu der todbringenden Atomkraft. Daran hat auch die japanische Tragödie nichts geändert. Nach Tschernobyl hieß es, die russischen Atomkraftwerke seien unsicherer als die französischen. Heute heißt es, die japanischen Reaktoren seien unsicherer als die heimatlichen. „Wir kommen ohne Atomenergie nicht aus“, behauptet Staatspräsident Nicolas Sarkozy. Und die meisten Franzosen stehen wie ihr hochgesohlter Präsident noch immer treu zu ihren 59 Kernkraftwerken. RUHRBARONE AUSGABE 01/2011

Atomkraft funktioniert in Frankreich wie eine kollektive Gehirnwäsche, sie gehört zum Alltag wie Autobahnen in Deutschland. Ein Franzose ist den AKW immer nah: Selten ist er weiter als 250 Kilometer vom nächsten Reaktor entfernt. Castortransporte, wie sie jährlich von der Atomaufbereitungsanlage in La Hague nach Deutschland stattfinden, gehören zum Alltag. Als im Dezember 2010 sechs Castoren vom südfranzösischen Cadarache nach Mecklenburg-Vorpommern transportiert wurden, kümmerte sich kein Franzose darum. Die Sonne schien auf den Güterbahnhof mitten in einem Industriegebiet, und die Arbeiter der Fabriken picknickten neben der strahlenden Fracht. Gelangweilt liefen ein paar leicht bewaffnete Polizisten auf und ab. Als der Zug um 20 Uhr abends abfuhr, fanden sich nur drei deutsche Atomkraftgegner ein. Sie trauten sich nicht, sich an die Gleise zu ketten, was ein Leichtes gewesen wäre. „Der Zugführer rechnet doch gar nicht damit, der fährt uns einfach um“, sagte ein junger Mann im schwarzen Kapuzenpullover. Ein dramatisches Ereignis hat die französische Antiatomkraftbewegung bis heute geschwächt: 2004 wurde ein Aktivist, der sich bei einem Castortransport in Ostfrankreich an Gleise gekettet hatte, von dem Konvoi überfahren. Der Zug fuhr ungewöhnlich schnell und kein Hubschrauber kreiste über der Szene, um den Lokführer zu warnen. Die Beine des Demonstranten wurden abgetrennt, wenige Sekunden später verlor der junge Mann sein Leben. In den französischen Medien wurde der Aktivist wie ein Terrorist behandelt, Mitleid kam nur wenig auf. MÄNNERWELTEN

Denn die französische Atompropaganda funktioniert simpel: Sie verspricht den Bürgern günstigen Strom – in keinem anderen europäischen Land ist es so billig, mit Radiatoren zu heizen und das Baguette zu toasten. Gleichzeitig gebietet es der Patriotismus, als Grande Nation unabhängig zu bleiben. Seit Frankreichs Staatspräsident Charles de Gaulle hat noch jeder behauptet, nur mit Atomwaffen und AKW könne das Land autonom und damit stark sein. Die Gefahren werden mafiös verschwiegen, es besteht eine große Omerta. „Hier herrscht ein großes Schweigen“, sagt Monique Labarthe. Die Anti-Atom-Aktivistin wohnt zehn Kilometer von Europas größtem Atomlabor im südfranzösischen Cadarache entfernt und hat von deutschen Freunden bei Greenpeace von den Castortransporten aus Cadarache erfahren. Die Anlage nutzt Atommüll aus vielen europäischen Kernkraftwerken für Experimente und schickt die radioaktiven Abfälle dann wieder zu ihren Entstehungsorten zurück. Die Anlage hat der Region Reichtum gebracht: Als de Gaulle 1959 Cadarache den Zuschlag gab, war die Region nördlich von Marseille ein relativ unterentwickeltes und wenig besiedeltes Bauernland. Die Menschen produzierten in der Talebene Oliven, Mandeln, Äpfel und viele Sorten Gemüse. Ihr Einkommen war bescheiden, die Straßen bestanden meist aus Schotter oder waren erdige Feldwege. Heute gehört die Region nach einer Erhebung des französischen Statistikamtes INSEE zum reichsten Viertel aller französischen Departements. Die Bauernhöfe sind nun Siedlungen von Einfamilienhäusern mit Swimmingpool gewichen.

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Ein dEutSChEr auFtraG Die Deutschen Soldaten stehen am Hindukusch. Aber warum und wozu?

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Von David Schraven

Andreas Schmidt ist 26 Jahre alt, kräftig, und seine raspelkurzen Haare sind blond. Andreas Schmidt ist Soldat. Eigentlich wohnt er in Gelsenkirchen. Nur gerade nicht. Denn Andreas Schmidt dient in Afghanistan, Region Masar-e-Sharif. Andreas Schmidt ist Feldjäger, so eine Art Polizist der Nato am Hindukusch. Sein Auftrag lautet, die afghanische Polizei auszubilden. Und das tut er. Gewissenhaft. An einem staubigen Morgen im Winter steht Andreas Schmidt vor einem grauen Betonblock im Camp Marmal, dem Hauptlager der Deutschen in Nordafghanistan direkt am Flughafen von Masar-eSharif. In der Luft hämmern die Rotoren von ein paar Kampfhubschraubern der Amerikaner. Es riecht nach Staub. Neben Schmidt warten sein Zugführer und die restlichen Männer des Kommandos. Zusammen stellen sie die Besatzung von zwei gepanzerten Dingos und zwei schusssicheren Mitsubishi Pajero Geländewagen. Jeder Zweite raucht. Andreas Schmidt liest den Geheimdienstbericht für den heutigen Einsatz vor, die tägliche Dosis Angst. Fünf Terroristen sind in der Gegend aktiv, heißt es. Sie planen Bombenanschläge auf Nato-Truppen. Wo genau, das weiß niemand. Irgendwo in den Bergen seien Aufständische gesichtet worden, dutzende Kilometer entfernt. Es gab keine Gefechte, heißt es. An einigen Straßen seien außerdem Sprengsätze gefunden worden. Und weiter steht im Bericht, es sei da noch ein Kind getötet worden. Gestern. Als es alte Munition in irgendein Feuer warf, irgendwo in den Bergen. So RUHRBARONE AUSGABE 01/2011

Sachen eben, die Geheimdienstjungs der Truppe erzählen, damit diese weiß, wie die Lage ist. Heute ist die Lage normal, sagte Andreas Schmidt. Keiner hat Fragen. Jetzt redet der Zugführer des kleinen Trupps. Holger Müller aus Kiel. Er sieht ein wenig aus wie der Kapitän im Kinofilm „Das Boot“, genannt KaLeu. Schwarzer Sechstagebart, dunkel umrandete Augen, immer wachsam. „Wir gehen heute mit der afghanischen Polizei auf Streife. Wir wollen sehen, ob sie gelernt haben, was wir ihnen beigebracht haben. Wir fahren zur Station Sieben in Masar in offener Linie, mit wechselnder Geschwindigkeit. Bei einem Überfall stoßen wir durch. Sollte ein Fahrzeug angesprengt werden, sichern wir 360 Grad ab und ziehen das Fahrzeug aus der Gefahrenzone.“ Die Soldaten klettern in die gepanzerten Fahrzeuge, der MGSchütze lädt durch, krack, krack. Die Panzerweste presst die Luft ab. Es geht los. Die wenigen Kilometer durch die Wüste in die Stadt. Aus einem kleinen MP3-Recorder mitten im Dingo krächzt The Boss Hoss – „TNT Hot Stuff“. Masar-e-Sharif boomt. Entlang den Ausfallstraßen entstehen neue Wohnviertel. Große Häuser, mehrstöckig terrassenförmig hochgezogen, mit buntverspiegelten Glasfassaden in quietschenden Pastellfarben. In den Läden stapeln sich Waren, Orangen bergeweise, Fleisch und Brot im Überfluss. Holz und Kohle in großen Stößen. Schokolade, Snickers, Kaugummis und elektrische Teekocher. Willkommen im Schlaraffenland Ost. Die Station Sieben der afghanischen Polizei liegt am Rand eines Wohnviertels neben zwei Neubauten. Die Station selbst ist MÄNNERWELTEN

runtergekommen. Abgeplatzer Putz, Dreck im Hof, herausgebrochene Fenster und ein nach Schwefel stinkendes Klo. Andreas Schmidt ist in der Erwachsenenbildung geschult. Er erklärt den afghanischen Polizisten den Sinn der Übung: Gemeinsame Streife, Sicherung der Umgebung, Kontaktaufnahme zur Bevölkerung, Identifikation von Problemen. Die Afghanen sind vor ihm in einer Reihe angetreten. Sie hören zu. Nicken. Rauchen. Über ihren Schultern hängen AK-47, Kalaschnikow, geladen, gesichert. Die örtlichen Friedensschaffer, überlebende Mudschahedin, Russen-Killer, Taliban-Töter. „Alles verstanden?“, fragt Schmidt. Der Dolmetscher antwortet für alle: „Ja.“ Ansonsten nicken die afghanischen Polizisten und rauchen weiter. Sie haben dunkle, wetterharte Haut, hier und da ein paar Zähne zuwenig und Uniformen, die um ihre Schultern schlabbern. Jeder trägt feste Kampfstiefel. Bei der anschließenden Streife der deutschen Soldaten und der afghanischen Polizisten durch das Viertel steigt der Geruch von verbrannten Autoreifen in die Nase. Andreas Schmidt trägt sein automatisches G 36 von Heckler und Koch über der Brust, den Finger am Abzug, den Lauf auf den Boden gerichtet. Eine halbautomatische Pistole trägt er am Oberschenkel. Was er hier in Masar-e-Sharif auf seiner Streife sieht, kann man nicht so genau sagen. Seine Augen bleiben hinter einer schwarzen Splitterschutzbrille verborgen. In einem Laden werden Eier und Hühner verkauft. Die Hühner leben in einem Käfig und kratzen am Beton. Die Eier liegen darauf. In einem Baum hängt ein abgezogener Ziegenbalg. Das Fleisch blutigrot, auf dem Boden Fliegen, in dem Nass, das mit dem Staub zu schwarzem Schlamm verwest.

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FrESh Fruit For rottinG VEGEtablES Das Rottstr5Theater und die Folgen für mich und die Welt.

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Von Carsten Marc Pfeffer Fotos: Mathias Schumacher

In Bochum hat sich das Theater wieder einmal neu erfunden. Allerdings nicht im renommierten Schauspielhaus an der Königsallee, sondern in einer der abgefucktesten Ecken der Stadt: ein schäbiger Hinterhof an der Grenze zum Rotlichtbezirk jenseits der Peepshow Miami und dem völlig verwahrlosten 50er-Jahre-Hotel Eden. Ein runtergerocktes Tonnengewölbe unterhalb einer Bahntrasse, über das im 20-MinutenTakt die Glück-auf-Bahn donnert. Hier gibt Shakespeare den Fokker und Strindberg wird im Blut ertränkt. Herzlich willkommen im Rottstr5Theater. Mailboxnachricht, Donnerstag, den 24. Februar, 03.24 Uhr: „Ey Pfeffer, du Penner. Du kommst im roten Pulli, wenn ich den Werther spiele?! Im roten Pulli?! Ich bring dich um. Ich bring dich…“ – „Ende der Nachricht. Zum Speichern der Nachricht drücken Sie bitte die Zwei.“ Ich drücke die Zwei, koche Kaffee und drehe mir die erste Zigarette des Tages. Es geschieht nicht selten, dass mich der Intendant nach Mitternacht anruft, um mich mit Beleidigungen zu überschütten und mir die Pest an den Hals zu wünschen. Ein Grund, weshalb ich mein BlackBerry bereits am Abend auf stumm schalte. Es ist nicht leicht, mit Arne Nobel zusammenzuarbeiten, dennoch würde ich mit niemand anderem diesen Weg gehen. Denn Nobel besitzt zwei Fähigkeiten, die ich

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als Dramaturg überaus schätze: Er ist genial und dabei völlig authentisch. Was Nobel in der Rottstraße geleistet hat, geht weit über die geläufigen Machbarkeitsstudien hinaus. Mit weniger als drei Euro Flaschenpfand in der Tasche hat er die Kultur zurück nach Bochum gebracht und gleichsam das sogenannte Kulturhauptstadtjahr 2010 für die Stadt gerettet. Mittlerweile ist die kleine Off-Bühne mit ihren 66 Sitzplätzen regelmäßig ausverkauft. Die Kritiker überbieten sich mit Superlativen, und das bundesweit. Egal ob Theater Heute, Die Deutsche Bühne oder Theater Pur – den desperaten Hinterhof

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in Bochums Deadend konnte 2010 kaum jemand ignorieren. Nun setzt das Ensemble an, dem Nibelungenlied eine zeitgemäße Interpretation zu verpassen. Jeden Monat eine Premiere. Wir werden solange an der Dekonstruktionsschraube drehen, bis Tronje & Co. wieder für ein junges Publikum genießbar geworden sind. Schon wird in der Lokalpresse das Quartier rund um die Rottstraße als das neue In-Viertel gefeiert. Dabei hat das Projekt Kulturhauptstraße Rott2011 gerade erst begonnen. In ein paar Monaten werden wir alle schuldenfrei und sexy sein. Doch fangen wir ganz von vorne an.

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babY dEE Statt bruno KnuSt! Wegen zweier unerhörter Typen ist das Dortmunder Schauspielhaus zurzeit einer der spannendsten Orte in Deutschland. Sie heißen Paul Wallfisch und Kay Voges.

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RUHRBARONE AUSGABE 01/2011

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Hört auf das Small Beast: Paul Wallfisch, Exzentriker im Pelzmantel (Foto: Perik O’Loso)

Von Peter Erik Hillenbach

Sie zog sich aus, völlig beiläufig irgendwie, als Gabriel Sullivan vom Kontrabass zum E-Bass wechselte und Brian Lopez zu einem seiner flirrenden TexMex-Soli auf der EGitarre ansetzte. Hopplahopp und Höppeldipöpp galoppierte der Drummer davon, in den ruhigen Songs eher ein begnadeter besenswingender Maestro im schwarzen Anzug, und die Paris-verliebte Amerikanerin oder Tucson-Arizona-geschädigte Französin Marianne Dissard, unnahbare Diseuse, unverschämtes Gör, ordinäre Bordellschlampe, Mädchen zum Pferdestehlen, zog ihr enges schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck TUCSON noch ein bisschen enger um ihre kleinen Brüste, ließ den leuchtend roten mexikanischen Rüschenrock kreisen, schmiss die Beine in die Luft und sang sich die Seele aus dem Leib. Müßig zu erwähnen, dass sich Marianne Dissard, der Topact des Abends, den Tresen des etwa 80 Leute fassenden „Instituts“ im Dortmunder Schauspielhaus als Bühne auserkoren hatte und hoch über unseren Köpfen ihre Show abzog, während sich, wie gesagt, diese eigentlich eher unscheinbare RUHRBARONE AUSGABE 01/2011

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bis nahezu unattraktive, nicht mehr ganz junge Frau mit dem straßenköterblonden Strubbelkopf zwei Meter unter ihr bis auf die Unterwäsche auszog und dann mitten in diesem wunderbar lauten TexMex-Inferno, das die Band entfesselte, in Zeitlupe auf einem Skateboard vor den Füßen des eng vor der Band sitzenden Publikums herrollte, um dann nach einigen SloMo-Minuten ihren Kopf in einen riesigen, mit Stickereien verzierten Cowboystiefel-Solitär Schuhgröße 215 zu stecken und einen Kopfstand darin zu machen; unglücklicherweise direkt vor einem recht gefasst dreinschauenden jungen Herrn im Publikum, der nun zwei Songs lang mit ihrem Hintern im Gesicht leben musste.

das coole dortmunder slackerpuBlikum Später lernten wir, dass diese Frau Ami Garmon heißt, eine in Berlin und Frankreich lebende und lehrende Tänzerin und Performance-Künstlerin, aber das war uns eigentlich auch egal, denn wiederum zwei Songs später brach Ami, immer noch in Unterwäsche, ihren eigenen Rekord in der Disziplin Ich-stehe-mit-beiden-Beinen-in-

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Online gehT Offline. lange geschichTen für leuTe, lange geschichTen für leuTe, die lesen können. die lesen können. Die Herzenskrieger. Eine zur Männlichkeit – Die Rückkehr Herzenskrieger.

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