infosantésuisse Nr. 10/2009 deutsch

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info santĂŠsuisse

100 Jahre infosantĂŠsuisse

Das Magazin der Schweizer Krankenversicherer


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«Glückauf, du starkes Konkordat»: Die KrankenkassenZeitung von 1909 bis 1938

Visionen von sozialer Gerechtigkeit mitten im Zweiten Weltkrieg: Die KrankenkassenZeitung von 1939 bis 1964

«Damals tränkten selbst Ärzte ihr Brot mit Desinfektionsmitteln»: Gespräch mit der Medizinhistorikerin Silvia Berger

Inhalt Im Fokus 4 Glückauf, du starkes Konkordat: Die Krankenkassen-Zeitung von 1909 bis 1938 9 Visionen von sozialer Gerechtigkeit mitten im Zweiten Weltkrieg: Die Krankenkassen-Zeitung von 1939 bis 1964 14 Die 90er-Jahre: Der grosse Umbruch Gesundheitswesen 16 Ein Klassiker zwischen Kunst und Wissenschaft: Gray’s Anatomy 18 «Damals tränkten selbst Ärzte ihr Brot mit Desinfektionsmitteln»: Gespräch mit der Medizinhistorikerin Silvia Berger 20 Die Gesundheitssysteme der Schweiz und der Niederlande im Vergleich: Teil II von III Krankenversicherung 22 Kommt die neue Versichertenkarte anfangs Jahr in alle Schweizer Briefkästen? 23 Seit 2006 immer bessere Prüfungsresultate: Woran liegts? 24 Drei Fragen an: Konstantin Beck, Leiter CSS-Institut für empirische Gesundheitsökonomie 25 Studie illustriert die zentrale Bedeutung der familialen Pflege 26 Grafik des Monats: Spital ambulant gewinnt auf Kosten der Ärzte 27 Bild des Monats: Das Ur-EKG Service 28 infosantésuisse Dossier: Noch mehr Infos für unsere Abonnenten 28 News aus aller Welt 29 Veranstaltungen 29 Mr Raoul 30 Krebs: Französische Zeitung veröffentlicht Hitliste der Spitäler 30 Verein Gesundheitsnetz 2025: Akteure des Zürcher Gesundheitswesens spannen zusammen

Nr. 10, dezember 2009. Erscheint zehnmal jährlich Abonnementspreis Fr. 69.− pro Jahr, Einzelnummer Fr. 10.− Herausgeber und Administration santésuisse, Die Schweizer Krankenversicherer, Römerstrasse 20, Postfach, 4502 Solothurn Verantwortliche Redaktion Peter Kraft, Abteilung Politik und Kommunikation, Postfach, 4502 Solothurn, Tel. 032 625 42 71, Fax 032 625 41 51, E-Mail: redaktion@santesuisse.ch Herstellung: Rub Graf-Lehmann, Murtenstrasse 40, 3001 Bern Gestaltungskonzept: Pomcany’s Layout: Henriette Lux Anzeigenverwaltung: Alle Inserate − auch Stelleninserate − sind zu richten an: «infosantésuisse», Römerstrasse 20, Postfach, 4502 Solothurn E-Mail: redaktion@santesuisse.ch Abonnementsverwaltung Tel. 032 625 42 74, Fax 032 625 41 51 Homepage: www.santesuisse.ch Titelbild: Heiner Grieder, Langenbruck (BL) ISSN 1660-7228


Alles neu oder doch alles beim Alten?

Man kann so weit zurückgehen wie man will: immer wieder ist in den Protokollen der Generalversammlungen von santésuisse zu lesen, dass das Kostenwachstum – und damit natürlich auch die Prämienentwicklungen – der Hauptgrund zur Sorge sind. Daran haben weder das KVG noch all die vielen «Notinterventionen» ernsthaft etwas ändern können, und man muss leider festhalten: Es bleibt beim Alten! Und dennoch hat es in den vergangenen 23 Jahren, welche ich aus nächster Nähe bei santésuisse miterleben konnte, einige bemerkenswerte Veränderungen gegeben. Mit den betriebswirtschaftlich gerechneten Tarifen und der damit verbundenen Transparenz wurde die Hoffnung verbunden, die Kosten im Gesundheitswesen könnten positiv beeinflusst werden. Echte Transparenz wurde dann mit der Leistungsorientierten Abgeltung der Apotheker (LOA) eingeführt. Was ist passiert? Ausgerechnet die KonsumentenvertreterInnen haben am lautesten über die offen gelegten und berechneten Kosten reklamiert. Und die betriebswirtschaftlich gerechneten Tarife? Sie führten hüben wie drüben zu Ernüchterung, Frustration und einer noch nie da gewesenen Flut von Beschwerden, zunächst an den Bundesrat, ab 2007 dann an das Bundesverwaltungsgericht. Auch hier sind die Grundprobleme geblieben, die Hoffnungen nicht erfüllt worden! Auch von der Qualitätssicherung hat man sich einiges erwartet. Die Leistungserbringer sahen darin ein Argument zur Erhöhung der Tarife und Preise, dann wurde fleissig die Opposition geübt und heute, nach bald 15 Jahren seit Einführung des KVG, muss der Bund in einem über 100-seitigen Papier bekannt geben, was die Ziele sind. Und die Versicherer wollten eine Verstärkung des Wettbewerbs und die Sicherheit, die Prämien in effiziente und gute Leistungserbringer zu investieren. Bis dieses Ziel erreicht wird, bleibt noch viel zu tun. Mit den steigenden Prämien mutiert die soziale Krankenversicherung in den Augen der Prämienzahlenden immer mehr zu einem Selbstbedienungsladen nach dem Kapitaldeckungsverfahren. Es gilt das Motto: «Jetzt habe ich jahrelang Prämien bezahlt, sparen kann ich, wenn ich gesund bin!». Trotz all der angestrebten und erhofften Verbesserungen ist das Grundübel geblieben: gemeinsame Vorgehensweisen mit echten Sparanreizen fehlen. So werden wir voraussichtlich auch in den nächsten GV-Protokollen von den Kostenentwicklungen lesen.

3 | Editorial 10/09

Daniel Wyler Leiter SVK, stv. Leiter Abteilung Ausbildung von santésuisse


100 Jahre infosantésuisse: Die Krankenkassen-Zeitung von 1909 bis 1938

«Glückauf, du starkes Konkordat» Als die Krankenkassen-Zeitung, die Urform des infosantésuisse, 1909 zum ersten Mal erschien, schlug auch die Geburtsstunde des geregelten Gesundheitswesens in der Schweiz: Die Beratungen zum Kranken- und Unfallversicherungsgesetz waren in der Endphase. Die erste Periode in der Geschichte der Krankenkassen-Zeitung ist wohl die ereignisreichste – und zudem gespickt mit Zitaten und Anekdoten, die interessante Aufschlüsse über den Zeitgeist von damals zulassen.

«Wie ein Gast, der in Ihr Zimmer tritt, so entbietet heute die Krankenkassen-Zeitung Ihnen einen herzlichen Gruss des Zentralvorstandes der Schweizerischen Krankenkassen.» Mit diesem Satz begann vor hundert Jahren eine Geschichte, die noch immer weitergeht. Die Krankenkassen-Zeitung bezeichnete sich 1909 als «Offizielles Organ der schweizerischen Konkordatsverbände». Das ist die Vorgängerorganisation des Konkordats Schweizerischer Krankenversicherer und damit auch von santésuisse. Die Krankenkassenzeitung vom 15. Januar 1909 ist also das allererste infosantésuisse.

definierten Umständen einen problemlosen Kassenwechsel zu ermöglichen. Im Vordergrund stand dabei der Wohnortswechsel: Die Krankenkassen waren damals regional oder sogar kommunal organisiert. Wer also in eine andere Gemeinde zog, lief Gefahr, von den Kassen am neuen Wohnort nicht aufgenommen zu werden und damit seinen Versicherungsschutz zu verlieren. Die Kassen des Konkordats verpflichteten sich, Versicherte der anderen Konkordatsmitglieder aufzunehmen, wenn äussere Umstände sie zum Kassenwechsel zwangen. Allerdings konnten damals nur wenige SchweizerInnen von diesen Vorzügen profitieren: Das Konkordat umfasste 1909 bei einer Bevölkerung von 3,5 Millionen gerade einmal 120 000 Mitglieder. Kassen wollten umfangreichen Leistungskatalog

Gleich im ersten Artikel (siehe Abbildung Seite 6) machte die Krankenkassen-Zeitung klar, was sie will: Nämlich «ein Band schlingen um unsere Konkordatssektionen, die einander trotz 16-jähriger Vereinigung ziemlich fremd sind.» Dazu muss man wissen: 1891 haben sich Krankenkassen aus Zürich, Thurgau, St. Gallen und Appenzell zu einem «Freizügigkeitsverband» zusammengeschlossen. Bis 1909 folgten ihm Krankenkassenverbände aus fast allen Deutschschweizer Kantonen. Damals gab es in der Schweiz weder ein Versicherungsobligatorium noch die Aufnahmepflicht der Krankenversicherer. Der Freizügigkeitsverband – bald einmal «Konkordat» genannt – hatte als Hauptzweck, den Mitgliedern der angeschlossenen Krankenversicherern unter klar

Doch bereits im Gründungsjahr der Krankenkassen-Zeitung erhielten die Ziele des Konkordats politische Unterstützung. National- und Ständerat arbeiteten an einem neuen «Kranken- und Unfallversicherungsgesetz» (KUVG). In den ersten drei Jahrgängen war dieses Gesetz denn auch das dominierende Thema in der Krankenkassen-Zeitung. In einer ersten Positionierung forderte sie vom Parlament, den freien Kassenwechsel (die sogenannte Freizügigkeit) ins Gesetz aufzunehmen. Die Zeitung äusserte sich positiv zum Obligatorium, konnte sich aber auch mit dem Vorschlag des Nationalrates anfreunden, den Kantonen und Gemeinden lediglich die Möglichkeit zu geben, die Krankenversicherung für obligatorisch zu erklären. Auf den ersten Blick erstaunlich ist, dass sich die Krankenkassen-Zeitung für eine grosszügige Auslegung des Leistungskatalogs stark machte. Unter anderem forderte sie, frisch gebackenen Müttern eine Unterstützung während der ersten sechs Wochen nach der Geburt auszurichten. Angesichts der geballten Opposition gegen die Mutterschaftsversicherung auch noch fast 100 Jahre später war das eine ziemlich progressive Haltung. Die Krankenkassen-Zeitung hatte für ihre Positionen interessante Begründun-

PREIS EINES JAHRES-ABONNEMENTS DER SCHWEIZERISCHEN KRANKENKASSENZEITUNG 1909 − 1939

MITGLIEDER DES KONKORDATS DER SCHWEIZERISCHEN KRANKENKASSEN 1909 − 1934

Am Anfang war die Freizügigkeit

IN FRANKEN

3,50 3,00 2,50 2,00 1,50 1,00 0,50

1600000

QUELLE: KRANKENKASSEN-ZEITUNG 1909 − 1938

QUELLE: KRANKENKASSEN-ZEITUNG 1909 − 1938

4,00

1400000 1200000 1000000 800000 600000 400000 200000

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1909 kostete ein Jahres-Abo der Krankenkassen-Zeitung 1.50 Franken. 1934 waren es bereits 3.50 Franken.

1934'

0 1909'

1914'

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1924'

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1934'

Zwischen 1909 und 1934 kletterte die Anzahl Versicherte der Konkordats-Kassen von 120 000 auf 1,35 Millionen. 1934 lebten in der Schweiz etwa vier Millionen Menschen.

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Ausgabe 5/1909 – Der übermässige Alkoholgenuss Interessante Argumente hat die Krankenkassen-Zeitung gegen das Trinken von Alkohol: «Man kann als Chemiker hinweisen auf die Nährwerte, die durch den Alkoholkonsum vernichtet, auf die Unmenge von Getreide und Früchten, die auf dem Wege der Destillation ihrem gottgewollten Zweck entfremdet werden und dann statt Nutzen Schaden stiften.» Und was wird aus dem, der solche zweckentfremdeten Nährwerte zu sich nimmt? «Er wird zum Lüstling, zum Verbrecher, zum herzlosen Gatten, zum pflichtvergessenen Vater. Er verliert die Scham, die Aufrichtigkeit, die Treue, das Gewissen.»

Ausgabe 6/1909 – Informationsbedürfnis der Parlamentarier «Die ständerätliche Kommission bewahrt gänzliches Stillschweigen über das Ergebnis ihrer Beratungen. Heute ist man solches nicht mehr gewohnt, sondern man macht Bestrebungen und Beschlüsse gerne möglichst weit herum bekannt und benutzt die Zeitungen häufig.»

Ausgabe 9/1909 – Arbeitstempo des Parlaments «Die Angelegenheit (KUVG) lag also ca. sieben Vierteljahre beim Nationalrate und dessen Kommission. Die ständerätliche Kommission erhielt das vollständige Material erst im Januar 1909, denn der Druck des nationalrätlichen Protokolles konnte nicht vorher beendet werden.»

gen. So schrieb sie in der Mai-Ausgabe 1909: «Merkwürdig ist es, wie gewisse Kreise ängstlich sind, der Bund könnte sich in dieser sozialen Frage finanziell überlupfen. während das neue Gesetz doch nicht gleich 20 Millionen kostet wie das neue Gewehr.» Die Krankenkassen-Zeitung unterstützte die Positionen des Ständerats, wonach die Versicherten im Krankheitsfall Anrecht auf 180 Taggelder hatten und auch die Behandlungen durch Ärzte und Spitäler gedeckt sein sollten. Das war nicht selbstverständlich: Viele Krankenkassen beschränkten sich damals auf die Taggeldversicherung, und auch die Unterstützungsdauer war sehr unterschiedlich: Sie reichte von wenigen Tagen bis zu einem Jahr. 1909: Die wahre Geburtsstunde des SVK?

In der Juli-Ausgabe forderte die Krankenkassen-Zeitung ein stärkeres Engagement der Konkordats-Mitglieder in der Tuberkulose-Prävention, und sie stellte fest: «Noch wenige Krankenkassen haben sich darum bekümmert, ob der Kranke in der Lage ist, sich alles zu verschaffen, was zur richtigen Krankenpflege nötig ist.» Die deutsche Krankenversicherung gewähre längst Eisbeutel, Inhalationsapparate und Brillen – «und das zu leisten werden auch unsere Krankenkassen in die Lage kommen.» Die Zeitung zeigt auch gleich den Weg dazu auf: «In Orten mit mehreren Krankenkassen sollen letztere gemeinsam Krankenpflegeutensilien anschaffen und sie leihweise ihren Mitgliedern zur Verfügung stellen.» Ist das die geistige Geburtsstunde des SVK? Geheimtreffen zum Knackpunkt «Ärztefrage»

Ausgabe 7/1909 – Leistungskatalog der Krankenversicherer «Die Krankenkassen sollten die Kosten für die vom Arzte verordneten Heil- und Hilfsmittel bezahlen. Ich erinnere daran, dass im Jahre 1901 vier Krankenkassen in Frankreich, Dresden und Berlin 400 000 Liter Milch an kranke Mitglieder abgegeben haben.»

Ausgabe 3/1911 – Die Gefährlichkeit des Benzins Die Krankenkassen-Zeitung berichtete von einem Fall, in dem eine Mutter ihrer Tochter nach damals gängiger Praxis mit Benzin die Haare wusch. «Plötzlich zuckte aus dem Haare ein Flämmchen empor und im Nu brannte das prächtige Haar der Tochter lichterloh.» Das Mädchen starb an den Brandwunden, und die Mutter wurde wegen fahrlässiger Tötung verzeigt. Sie wurde jedoch freigesprochen – wegen neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, wonach der Funke von elektrisch geladenen Haaren genügt, um Benzin in Brand zu setzen.

Die Krankenversicherer standen 1909 ganz am Anfang. Das entstehende Kranken- und Unfallversicherungsgesetz dachte ihnen eine viel grössere Rolle zu als bis anhin. Das mag die Erklärung sein, warum die Kassen damals ein Interesse hatten, ihre Leistungen auszubauen: Je umfangreicher das Gesetz sie festsetzte, desto grösser würde die Bedeutung der Kassen sein. So ist zu erklären, dass sich die Krankenkassen-Zeitung im Oktober 1909 entschieden gegen die Einführung von Selbstbehalten einsetzte – unter anderem mit der Begründung, unnötige Arztbesuche würden dank der Kontrolle der Versicherer zuverlässig verhindert. In einem anderen Streitpunkt waren die Kassen 1909 aber bereits mehr als nur auf der heutigen Linie: Die Zeitung wandte sich dezidiert gegen die freie Arztwahl, welche der Nationalrat den Versicherten gewähren wollte. Sie schrieb dazu: «Die einen Krankenkassen überlassen es ihren Mitgliedern, durch einen Arzt in der Umgebung oder einen Spezialarzt von Zürich oder Basel sich behandeln zu lassen. Andere Kassen treten mit bestimmten Ärzten in Rapport, mit denen sie Tarife vereinbaren und deren Rechnungen sie namens ihrer Mitglieder begleichen. Und noch andere setzten für die Ärzte eine Pauschalsumme aus gegen die Verpflichtung, ihre Mitglieder unentgeltlich zu behandeln.» So sollte es nach Meinung der Kassen auch bleiben, und so sah es auch der Ständerat.

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Diese so genannte «Ärztefrage» sollte der grosse Knackpunkt der Beratungen zum neuen Gesetz bleiben. Die Krankenkassen-Zeitung berichtet im März 2010 von einem vertraulichen Treffen von Ärzte- und Kassenvertretern mit den Ständeräten Usteri und Heer. Sie suchten nach einer Lösung, welche für alle Parteien und für beide Parlamentskammern annehmbar sein würde. Der Kompromiss nannte sich «bedingt freie Arztwahl»: Die Versicherten können jeden Arzt auf Kosten der Grundversicherung aufsuchen, der den zuvor ausgehandel-

ten Tarifverträgen beigetreten ist. Dieser Kompromiss von 1910 ist nicht anderes – als das heutige System. «Für einmal können wir uns wohl zufrieden geben»

Der Kompromiss fand schliesslich Eingang ins Gesetz. Sowohl National- und Ständerat stimmten der bedingt freien Arztwahl in der Schlussabstimmung zum KUVG in der Frühjahrssession 1911 zu. Die Krankenkassen-Zeitung dazu ganz unbescheiden: «Wir dürfen die Behauptung aufstellen, dass ohne die Krankenkassen-Zeitung die unbeschränkt freie Arztwahl für alle Kassen zur Vorschrift geworden wäre.» Die Freizügigkeit zwischen den Kassen wurde im Gesetz festgeschrieben und genau reglementiert: Wer wegen Orts- oder Arbeitsplatzwechsels gezwungen war, seine alte Kasse zu verlassen, durfte von einer neuen Krankenversicherung nicht abgelehnt werden. Das heisst: Wer einmal im System war, lief nicht mehr Gefahr, plötzlich unfreiwillig aussen vor zu stehen. Die Krankenkassen-Zeitung dazu: «So sind auch punkto Freizügigkeit die meisten unserer Wünsche berücksichtigt, und wir werden uns wohl für einmal zufrieden geben können.» Die Unfallversicherung wurde im Gegensatz zur Krankenversicherung für obligatorisch erklärt und sollte im Wesentlichen von einer bundesnahen Anstalt betrieben werden. Allerdings waren die Krankenversicherer verpflichtet, kleinere Unfälle bis sechs Wochen Behandlungsdauer zu übernehmen, wofür sie von der Unfallversicherungsanstalt einen Teil der Prämien erhielten. Wöchnerinnen erhielten von der Krankenversicherung während sechs Wochen Taggelder. Der Bund subventionierte die Kassen mit Fr. 3.50 pro versicherten Mann und vier Franken pro versicherte Frau. Die Subventionen in den Berggebieten waren deutlich höher.

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Ausgabe 2/1912 – Gedicht zur KUVG-Abstimmung «Zieht auf geschlossen, Männer – Frei, fest, in allen Gau’n – Es gilt heut unsern Kranken – Wer sollte da noch wanken – Ein gut Werk aufzubau’n! // Drum Schweizer, auf, zur Urne – Legt ein ein kräftig Ja – Das hehre Lied erschalle – Vom Rhein zum Alpenwalle – Heil dir, Helvetia!»

Ausgabe 1/1920 – Gedicht zum Neuen Jahr Es ruft in unserm Schweizer Land – Der Bund zum edlen Werke – Geloben wir einig, Hand in Hand – Dass jeder dies Hilfswerk stärke – Dann wächst es auf und wird zu Tat – Glückauf, du starkes Konkordat.

Ausgabe 2/1927 – Krankenkassen und Geschlechtskrankheiten «Eine Enquête hat ergeben. dass es nur einen gewissen Prozentsatz von Kassen gibt, welche die Behandlung von Geschlechtskrankheiten ohne Restriktionen übernehmen.» Das Krankenkassen-Konkordat sah diesen Zustand schon 1927 als veraltet an: «Es wäre vom praktischen, sozialen und menschlichen Standpunkte aus sehr wünschenswert, wenn die Kassen auf die Selbstverschuldungsklausel freiwillig verzichten würden.»

Ausgabe 4/1937 – Mutterschaftsversicherung «Die Krankenversicherung erreicht das zu erstrebende Ziel am Wochenbette nicht. Es muss vielmehr zu einer wohl ausgebauten Mutterschaftsversicherung kommen, mit der eine Frau im Wochenbett finanziell möglichst vollständig sichergestellt ist. Nur auf diese Weise wird die im Erwerbsleben stehende Frau nicht genötigt sein, im Wochenbett die Arbeit zu früh aufnehmen zu müssen, zum Schaden ihrer Gesundheit und derjenigen des Kindes.»

KUVG-Referendum: Reifezeugnis für die Demokratie?

Die Krankenkassen waren sehr zufrieden mit dem neuen Gesetz – doch nicht alle waren gleicher Meinung. Kurz nach der Abstimmung ergriffen mehrere Handels- und Industrievereine zusammen mit den privaten UnfallversicherungsGesellschaften das Referendum. Bereits im September 1911 waren die Unterschriften gesammelt – mehr als doppelt so viele wie nötig. Die Krankenkassen-Zeitung griff sofort in den Abstimmungskampf ein. Sie unterstellte den Gegnern des Gesetzes «Geldsackpolitik und Egoismus». Und weiter: «Patriotismus und christlicher Brudersinn sind da gänzlich ausgeschaltet.» Die Krankenkassen-Zeitung setzte laut eigenen Angaben auf Aufklärung. Wenn, so die Logik, die Bevölkerung den Inhalt des Gesetzes kennt und die sozialen Fortschritte vor Augen geführt bekommt, sei der Abstimmungskampf trotz der mächtigen Gegner zu gewinnen. Die Zeitung kündigte eine «Agitationskommission» an, das Aufrufe zur «Massenverteilung» verfassen werde. Das Konkordat sah den Kampf für das KUVG offenbar als patriotische Pflicht, wie der finale Aufruf an die Kassenmitglieder zeigt: «Wir wollen zusammen stehen als ein einig Volk von Brüdern. Das weisse Kreuz im roten Feld soll uns zum Siege leuchten und uns die Wege weisen in dem Kampfe für die Kranken und Notleidenden.» Im November und Dezember 1911 sowie im Januar 1912 erschien neben der regulären Ausgabe eine «Agitationsnummer» der Krankenkassen-Zeitung. Sie beschrieben die Vorteile des Gesetzes für verschiedene Bevölkerungsgruppen – Bauern, Fabrikarbeiter oder Frauen – und richtete teils dramatische Aufrufe an die Bevölkerung. Die Abstimmung, so heisst es in der Agitationsnummer vom Januar 1912, sei ein Prüfstein für Zivilisation und Demokratie: «Wird sich die Bevölkerung das Reifezeugnis ausstellen, über solche weittragenden Gesetze überhaupt abstimmen zu dürfen?» Zürcher und Berner «Gewalthaufen»

Mitteleuropäische Krankenkassen-Zeitung von Solothurn Die Krankenkassen-Zeitung durfte sich erst ab 1920 «Schweizerische Krankenkassen-Zeitung» nennen. Der Grund dafür ist kurios: Die kantonale Krankenkasse Solothurn hatte 1908 bereits eine Zeitschrift. Sie versuchte das Konkordat zu überreden, seine geplante Zeitschrift als Rubrik in dem Solothurner Blatt zu veröffentlichen. Darauf wollte das Konkordat nicht eingehen, worauf die Solothurner den Namen «Schweizerische Krankenkassen-Zeitung» schon 1908 für sich pachtete. Die Konkordats-Zeitung schlug in ihrer ersten Ausgabe der Solothurner Kasse vor, ihr Blatt doch in «Mitteleuropäische Krankenkassen-Zeitung von Solothurn» umzubenennen – ohne Erfolg. Erst als die Solothurner Zeitschrift 1919 verschwand, war der Weg für die Namensänderung frei.

In der März-Ausgabe 1912 durfte die Krankenkassen-Zeitung jubeln: «Vorbei ist der Kampf, Freude erfüllt unser Herz über den gewonnenen Sieg.» Dieser war mit 54 Prozent Ja-Stimmen denkbar knapp ausgefallen – was die KrankenkassenZeitung der «unerhörten Agitation» der Gegner zuschrieb. Interessant auch die Würdigung der Kantonsergebnisse: «Vom Thurgauer Volk hatten wir gehofft, es werde die Worte seines greisen Bundesrates besser beherzigen.» «Luzern und Solothurn haben sich am wackersten gehalten. Ihre Berichte können einem wirklich das Herz erfreuen.» «Zürich und Bern haben ihren alten Ruf als wackere Gewalthaufen wieder bewährt.» «Für den Kanton Aargau waren wir etwas bange, aber er hat sich brav gehalten.» Das KUVG war nun also Tatsache. 1914 trat der Teil zur Krankenversicherung in Kraft. Jener zur Unfallversicherung folgte wegen des ersten Weltkriegs erst 1918. Das Gesetz sollte sich als äusserst stabil erweisen. Mit nur einer Revision hatte es bis 1996 Bestand.

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Mit der Annahme des KUVG verlor die Krankenkassen-Zeitung ihr bisher dominierendes Thema. Sie widmete sich in ihren nächsten Jahrgängen vor allem den Berichten aus den Kantonalverbänden, Vergleichen mit ausländischen Versicherungssystemen, Veranstaltungsberichten, Presseschauen und Gastbeiträgen. Der Erste Weltkrieg ging praktisch spurlos an der Krankenkassen-Zeitung vorbei. Erst im Mai 1918 gab es die erste namhafte Erwähnung. Vor allem die Lebensmittelpreise seien wegen des Krieges derart gestiegen, dass die alten Krankentaggelder nicht mehr ausreichten. Die Krankenkassen-Zeitung forderte die Versicherungen deshalb auf, ihre Reserven anzutasten und die Taggelder vorübergehend zu erhöhen. Das Konkordat stellte auch einen Antrag an den Bundesrat, für die Frauen- und Wöchnerinnenversicherung einen ausserordentlichen Bundesbeitrag zu gewähren. Ab 1920 nannte sich das Konkordats-Blatt «Schweizerische Krankenkassenzeitung» (siehe Kasten Seite 7). Ab 1925 erschien es halbmonatlich. Ab der zweiten Hälfte der Zwanziger Jahre kam die Diskussion über eine allfällige KUVGRevision auf, an der sich auch die Krankenkassen-Zeitung beteiligte. KUVG-Revision: Bewusst verschleppt?

Der Anstoss für die Diskussionen waren die im Gesetz vorgeschriebenen Subventionen an die Krankenkassen. Sie reichten seit 1919 nicht mehr aus, und der Bundesrat musste jedes Jahr ausserordentliche Beiträge für die Kassen sprechen. Die Krankenkassenzeitung machte sich für die Erhöhung der Subventionen per Gesetz stark, und, wie in der Ausgabe vom 1. April 1927, für eine Revision des «Ärzte-Artikels»: Die Behandlungskosten durch die Ärzte waren viel stärker gestie-

MONATSAUSGABEN PRO MITGLIED EINIGER KRANKENKASSEN FÜR ARZT, MEDIKAMENTE UND SPITAL 1909 IN FRANKEN

KK GEBRÜDER BÜHLER UZWIL

KK INDUSTRIEGESELLSCHAFT NEUHAUSEN

1,06

KK MASCHINENFABRIK OERLIKON

1,02

KK ESCHER WYSS ZÜRICH

1,02

KK ZWEIFEL Wettingen

0,90

KK SCHWEIZERISCHE LOKOMOTIVFABRIK

KK SAURER AARBON

0,76

0,89

Die Ausgaben pro Versicherten variierten zwischen den Kassen 1909 noch stärker als heute. Im Kanton Zürich lagen die höchsten Ausgaben mehr als doppelt so hoch wie die niedrigsten.

peter kraft

AUSGABEN DES KONKORDATS 1912 IN FRANKEN 1800,00

QUELLE: KRANKENKASSEN-ZEITUNG 1910

1,66 1,44

KK SULZER WINTERTHUR

1,8 1,6 1,4 1,2 1,0 0,8 0,6 0,4 0,2 0

gen als bei der Einführung der KUVG-Revision erwartet. 1926 machten sie gemäss Zeitung mehr als 50 Prozent der Krankenversicherungs-Kosten aus. Allerdings lieferte die Krankenkassen-Zeitung keine konkreten Ideen. Das Engagement für eine KUVG-Revision war im Vergleich zu den Jahren 1909 bis 1912 doch sehr bescheiden. Es scheint, als hätte man die Missstände erkannt – sich aber mit den ausserordentlichen Subventionen einigermassen arrangiert. Diese Skepsis zeigte sich am klarsten im Leitartikel zur Ausgabe vom 1. April 1937: «Es ist unseres Erachtens kein Unglück, dass im Tempo der Revisionsarbeit eine gewisse Pause eingetreten ist. Revisionsarbeiten an einem Gesetz, das im eminenten Masse mit wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen verknüpft ist, sollten in solchen ausserordentlichen Zeiten (es herrschte Wirtschaftskrise, d. Verf.) nicht vorgenommen werden.» Hinzu kam, dass sich die Krankenversicherer sehr schwer taten mit der Revisions-Idee, die Subventionen künftig nur noch für finanzschwache Mitglieder auszubezahlen, während Gutverdienende die volle Prämie bezahlen sollten. Offenbar waren auch die anderen Akteure und grosse Teile des Parlaments skeptisch. Dafür spricht ein Artikel aus der Januar-Ausgabe von 1937. Die Krankenkassen-Zeitung forderte vom Ständerat, gleich wie der Nationalrat die ausserordentlichen Subventionen um weitere fünf Jahre zu verlängern. Der Ständerat wollte die Subventionen nur noch zwei Jahre lang ausrichten, um Anreize für eine schnelle Beratung der KUVG-Revision zu schaffen. Schliesslich folgte er aber dem Nationalrat. Die Diskussion um die KUVG-Revision plätscherte bis 1939 weiter vor sich hin. Dann setzte ihr der Zweite Weltkrieg ein jähes Ende.

1660,15

1600,00 1400,00 1200,00 1000,00 800,00 600,00 300

400,00 200,00

207,80

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SITZUNGSGELDER

REISESPESEN

61,10

0,00 PORTOKOSTEN

PROPAGANDA/ FLUGSCHRIFTEN KUVGABSTIMMUNG

GRATIFIKATION AN DEN ZENTRALVOSTAND

Das politische Engagement hatte für das Konkordat 1912 – im Jahr der KUVG-Abstimmung – ganz offensichtlich höchste Priorität.

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QUELLE: KRANKENKASSEN-ZEITUNG 1913

Erster Weltkrieg: Kaum erwähnt in der Krankenkassen-Zeitung


100 Jahre infosantésuisse: Die Krankenkassen-Zeitung von 1939 bis 1964

Visionen von sozialer Gerechtigkeit mitten im Zweiten Weltkrieg Der Zweite Weltkrieg stellte auch die Krankenkassen vor einige Probleme. Vor allem aber entwickelten sie unter dem Eindruck dieser zivilisatorischen Katastrophe Ideen für ein Sozialversicherungssystem, die aus heutiger Sicht geradezu visionär wirken: Zwischen 1939 und 1945 nahm die Krankenkassen-Zeitung einen guten Teil unseres heutigen Wohlfahrtsstaats vorweg. Nach 1945 dominierte dann wieder die Realpolitik: Während sich die anderen Sozialwerke rasch entwickelten, geriet die Krankenversicherung in eine lange Phase der Stagnation.

Ganz unabhängig vom Zweiten Weltkrieg war 1939 offenbar ein Jahr des Wandels bei der Krankenkassen-Zeitung. Die thematische Gewichtung änderte sich im Vergleich zu den Vorgänger-Jahrgängen stark. Erstmals nehmen 1939 medizinische Themen einen gewissen Raum ein. Unter anderem führte die Krankenkassen-Zeitung die Rubrik «Sozialhygiene» ein. Dort gab es Hintergrund-Informationen zu vielerlei Krankheiten und Gebrechen – und entsprechende Vorbeugetipps. Das Konkordat entdeckte 1939 offenbar auch die Prävention für sich. In der Ausgabe vom 1. März heisst es: «Wegen der Tatsache, dass die finanzielle Lage aller Krankenkassen als Folge passiver und aktiver Überarztung und der hohen Zahl von Bagatellfällen bei den Frauen gefährdet ist, muss das Problem der Krankheitsverhütung einer näheren Prüfung entgegengeführt werden.» Erstmals kamen 1939 die anderen Sozialversicherungen als gewichtiges Thema auf. So setzte sich das Konkordat unmissverständlich für die Einführung einer Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV) ein. Im Mai 1939 schrieb die Krankenkassen-Zeitung, der Kampf für die AHV sei Teil der geistigen Landesverteidigung. Im Mai präsentierte sie sogar einen Plan des Konkordats, via Krankenversicherung eine vorerst freiwillige AHV aufzubauen. Dieses Vorhaben scheiterte aber am mangelnden Interesse der einzelnen Kassen. Während des Kriegs: Einheitskasse auf Zeit?

Doch dann kam der Krieg, und damit war die Zeit der visionären Ideen erst einmal vorüber. Im Gegensatz zum Ersten beschäftigte der Zweite Weltkrieg die Krankenkassen-Zeitung in hohem Masse. In der Ausgabe vom 16. September 1939 mahnte das Blatt die Kassen zur Ruhe: Zwar würden durch den Krieg den Krankenkassen «neue, schwere Aufgaben erwachsen. Doch die Kassen werden in Verbindung mit den Behörden, dem Konkordat und seinen Verbänden diese

neuen Aufgaben mit ruhiger Besonnenheit zu meistern wissen.» In der folgenden Ausgabe gab die Krankenkassen-Zeitung den Versicherern detaillierte Handlungstipps. Die Reduktion der Leistungen in schwierigen Zeiten lehnte sie ab. Stattdessen sollten sich die Kassen «nicht scheuen, im Notfalle die Reserven anzutasten». Wenn Kassenfunktionäre oder Vorstandsmitglieder in den Militärdienst müssten, seien diese unverzüglich durch pensionierte oder anderweitig abkömmliche Vorgänger zu ersetzen. Die Kassen sollten ihre Mitarbeiter auch beim Einreichen von Diensturlaubs-Gesuchen unterstützen. Den Wehrmännern dürfe man die Krankenkassen-Prämien nicht einfach erlassen, weil der Leistungsumfang der Militärversicherung (damals, d. Verf.) längst nicht alle möglichen Fälle abdeckte. Hingegen seien Mitglieder in kriegsbedingter wirtschaftlicher Notlage ganz oder teilweise von der Prämie zu befreien. Ferner riet die Krankenkassen-Zeitung, die Rechnungen der Ärzte schärfer zu kontrollieren. Diese Empfehlungen veröffentlichte das Konkordat auch in den grossen Tageszeitungen der Schweiz. Die Krankenkassen richteten auch konkrete Forderungen an die Behörden. So sollten die ausserordentlichen Bundessubventionen, dank denen die Kassen die Wirtschaftskrise der dreissiger Jahre überstanden hatten, wieder fliessen. Die Krankenkassen-Zeitung begründete dies mit den kriegsbedingt gestiegenen Arztkosten. Die Behandlungen wurden länger, weil Stellvertretungen die Patienten ihrer militärabwesenden Kollegen länger in Behandlung behielten. Eine sehr gewagte Idee brachte das Konkordat in der Ausgabe vom 16. November aufs Tapet. Während der Dauer des Krieges sollten die Kantone die soziale Krankenversicherung zentral durchführen. Vermögen und Betrieb der Kassen würden solange eingefroren. Eine Einheitskasse auf Zeit also – das Konkordat hat diese Idee nicht weiterverfolgt, und es blieb bei dem einen Artikel. Die Situation spitzt sich zu – die Visionen bleiben

Die fast schon resignative Idee einer temporären Einheitskasse wich – zumindest in den Spalten der KrankenkassenZeitung – bald wieder Durchhalteparolen. Der Leitartikel der Neujahrsausgabe 1940 verglich die Krankenkassen mit den heldenhaften Finnen, die der grossen Sowjetunion im Winterkrieg entschlossen trotzten und die nicht gewillt waren, sich von den widrigen Umständen unterkriegen zu lassen. Anfangs 1940 beschloss der Bundesrat, die Militärversicherung auf alle dienstbedingten Krankheiten und Unfälle auszudehnen. Damit waren die Krankenkassen in der Lage, den aktiven Soldaten die Prämie zu erlassen. Auch in andere Sozialversicherungs-Zweige kam Bewegung: Die Diskussion um eine obligatorische AHV erhielt 1940 starken Auftrieb, wohl wegen der gut funktionierenden Erwerbsersatz-Versicherung für Dienstleistende. Die Krankenkassenzeitung bezeichnete das als Lichtblick in Kriegszeiten. Sie widmete sich in der Folge stark dem entstehenden Schwei-

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zer Sozialversicherungssystem. Im März 1941 plädierte sie für eine gemeinsame Rückversicherungsanstalt aller Sozialversicherungszweige. Gerade für die kleinräumig organisierten Krankenkassen waren einzelne grosse Schadensfälle eine reelle Gefahr. 1941 gab es laut Krankenkassen-Zeitung etwa 2250 Krankenkassen. Mehr als 2000 von ihnen hatten weniger als 1000 Mitglieder. Im April 1941 gab die Krankenkassen-Zeitung ihr bisher stärkstes Bekenntnis für die AHV ab: «Keine Krankenkassen-Versammlung und keine andere Gelegenheit soll ungenutzt bleiben, um die Mitglieder für die Altersversicherung zu begeistern.» Die Situation der Krankenversicherer selber wurde offenbar langsam ungemütlich. In einem offenen Brief forderte die Krankenkassen-Zeitung im Mai 1941 die Schweizer Ärzte auf, nur noch die nötigsten Behandlungen durchzuführen. Offenbar waren Medikamente kaum und nur noch zu stark gestiegenen Preisen importierbar, weshalb die Krankenkassen sowohl untragbare Kosten als auch einen Arzneimittel-Mangel befürchteten. Die Interessen der Leistungserbringer waren aber offensichtlich anders gelagert: Der Apotheker-Verband zum Beispiel reichte im September 1941 beim Bund ein Gesuch zur Erhöhung der Apotheker-Taxen ein – allerdings erfolglos. Beveridge-Plan und Mutterschaftsversicherung

Ende 1942 schlug der britische Minister William Beveridge die Errichtung eines Sozialversicherungssystem vor, das die gesamte Bevölkerung per Obligatorium umfasste. Die Krankenkassen-Zeitung nahm diese Vision auf und widmete dem «Beveridge-Plan» während der gesamten restlichen Kriegsjahre immer wieder begeisterte Berichte. «In schwerster Zeit entstanden und aus tiefster Not geboren, dürfte er den Übergang von nüchternem, seelenlosen Materialismus zu wahrer,

beglückender Menschlichkeit darstellen», heisst es etwa in der Januar-Ausgabe 1943. Im Mai des gleichen Jahres veröffentlichte die Krankenkassen-Zeitung einen möglichen Gesetzestext für eine obligatorische Mutterschaftsversicherung, welche das Konkordat dem Bundesamt für Sozialversicherung eingereicht hatte. Andererseits forderte die Zeitung in der gleichen Nummer höhere Prämien für die Frauen, weil sie für die Kassen deutlich schlechtere Risiken seien als die Männer. Neben sozialpolitischen Visionen versorgte die Krankenkassen-Zeitung ihre Leser aber auch mit interessantem Zahlenmaterial. So heisst es in der Dezember-Ausgabe 1943, die Kosten für Nervenleiden, Störungen des Verdauungstraktes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen hätten während des Krieges stark zugenommen. «Nur» eine leichte Steigerung gab es bei der Tuberkulose. Die Kosten für Erkältungen und Rheuma hingegen sanken. Einen richtiggehenden Einbruch erlebten die Krankenkassen-Kosten für Geschlechtskrankheiten. Lagen sie 1938 noch bei rund 71 000 Franken, betrugen sie 1942 noch knapp 27 000 Franken. Lob für die Sowjetunion

Auch gegen Ende des Kriegs – 1945 also – hielt sich die Begeisterung der Krankenkassen-Zeitung für einen Ausbau des Sozialversicherungssystems. In der Neujahrsausgabe liess sie sich sogar zu einem Lob des sowjetischen Sozialstaates hinreissen, der eine Versicherung biete, die «alle Arten von Arbeitsunfähigkeit umfasst, wie Krankheit, Verletzung, Invalidität, Alter, Mutterschaft, Witwen und Waisen sowie Arbeitslosigkeit.» Mit Blick auf Grossbritannien schrieb die Krankenkassen-Zeitung einen Artikel mit der Kernaussage: Wenn sich sogar die kriegsversehrten Briten mit dem Aufbau eines Sozialversicherungs-Systems befassen, dann

EFFEKTIVE KOSTEN IN FR. JE VERSICHERTE PERSON PRO VERSICHERUNGSMONAT NACH ALTERSGRUPPEN UND GESCHLECHT 2008

JAHRESKOSTEN PRO MITGLIED NACH ALTER UND GESCHLECHT IN DER ÖFFENTLICHEN KRANKENKASSE BASEL-STADT 1939

IN FRANKEN

IN FRANKEN QUELLE: SANTÉSUISSE-DATENPOOL

1400 1200 1000 800 600

100

QUELLE: KRANKENKASSEN-ZEITUNG 1943

1600

90 80 70 60 50 40 30

400 MÄNNLICH

200

WEIBLICH >90

86 – 90

81 – 85

76 – 80

71 – 75

66 – 70

61 – 65

56 – 60

51 – 55

46 – 50

41 – 45

36 – 40

31 – 35

26 – 30

0 – 18

19 – 25

0

20

MÄNNLICH

10

WEIBLICH

0 BIS BIS BIS BIS BIS BIS BIS BIS BIS BIS BIS BIS BIS BIS BIS BIS AB 4 9 14 19 24 29 34 39 44 49 54 59 64 69 74 79 80

ALTERSGRUPPEN

Heute steigen die Kosten im Alter viel schneller an. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern ist hingegen geringer geworden.

Ausser in der Kindheit und im hohen Alter verursachten die Frauen 1941 den Krankenkassen massiv mehr Kosten als die Männer. Im Alter nahmen die Ausgaben relativ moderat zu.

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ist dies für uns Schweizer geradezu Pflicht. Für die Krankenversicherung forderte das Konkordat im März 1945 vom Gesetzgeber den Ausbau auf das Niveau der Tuberkuloseversicherung. Diese sah eine Taggeld-Bezugsdauer von maximal 720 Tagen vor, während die Leistungspflicht der Krankenkassen nach 360 Tagen endete. Diese Opferbereitschaft der Krankenkassen mutet erstaunlich an, denn gleichzeitig stellte das Konkordat den Antrag an den Bund, die Kassensubventionen wegen der Kriegslasten massiv zu erhöhen. Ende des Kriegs – Rückkehr der Realpolitik

Erstaunlicherweise verflachte nach Kriegsende das visionäre Element in der Krankenkassen-Zeitung schnell. Das Konkordat blieb seiner Linie – Ausbau der Sozialversicherungen – weitgehend treu, forderte wiederholt das Obligatorium für die Krankenversicherung und unterstützte immer wieder wortreich die AHV. Allerdings gab es keine hochfliegenden Beiträge mehr zu Beveridge und Konsorten – vielleicht auch deshalb, weil nach Kriegsende die schweizerische Realpolitik wieder ihren Normalbetrieb aufnahm. 1946 machte das Konkordat eine erneute (erfolglose) Eingabe an das Bundesamt für Sozialversicherung, welche die Einführung des Obligatoriums verlangte. In den ersten Nachkriegsjahren war aber die geplante Einführung der AHV dominierendes Thema. Die Krankenkassen-Zeitung warb vehement für dieses «Manifest der Zivilisation», das am 6. Juli 1947 zur Abstimmung gelangte. Zu diesem Zweck benutzte das Blatt erstmals in seiner Geschichte gestalterische Elemente, beispielsweise indem es seine Pro-AHV-Aufrufe in riesigen Lettern präsentierte. Das Konkordat der Krankenkassen produzierte sogar eigens Flugblätter für die AHV. In der Juli-Ausgabe 1947 schrieb die Krankenkassen-Zeitung in einem finalen Aufruf: «Es wird sich zeigen, ob unser Volk die Idee der Sozialversicherung hochzuhalten fähig ist, oder

ob unsere Demokratie es nicht verhindern kann, dass Egoismus, Missgunst und Starrsinn ein grossangelegtes Werk wahrer Volkssolidarität zu Fall bringen.» Nun, in der nächsten Nummer konnte die Zeitung verkünden: «An jenem denkwürdigen 6. Juli verkündeten Freudenfeuer auf den Höhen des Jura und auf andern Bergen unseres Landes, dass sich das Schweizer Volk ein selten schönes Denkmal gesetzt hat.» Das Volk hatte die AHV mit einem Ja-Stimmen-Anteil von 80 Prozent angenommen. Fünfzehn Jahre lang Stillstand

Was nun folgte, waren lange Jahre des Stillstandes und der fruchtlosen Beratungen. Im November 1947 begrüsste die

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Krankenkassen-Zeitung «freudig den ersten Vorstoss» zur anstehenden KUVG-Revision. Fast zehn Jahre später, im Januar 1956, schrieb die Krankenkassen-Zeitung: «Es ist auffällig still geworden um die KUVG-Revision». Das Blatt sah die Gründe dafür einerseits in den schwer miteinander vereinbaren Einzelinteressen, welche eine mehrheitsfähige Gesetzesrevision praktisch verunmöglichten. Andererseits beherrschte seit einiger Zeit die Einführung der Invalidenversicherung (IV) die Sozialpolitik, so dass die KUVG-Revision zur kaum mehr beachteten Nebensache verkam. Die Position der Krankenkassen war unverändert: Die KUVG-Revision sollte einen Ausbau der Leistungen bringen. Weiterhin liebäugelten die Kassen mit einer obligatorischen Mutterschaftsversicherung. Dass es den Versicherern damit ernst war, bewiesen sie mit einer Reihe von freiwilligen Leistungsausweitungen. Unter anderem hatten sie in den letzten Jahren umfassende Versicherungen gegen Kinderlähmung und Rheuma eingeführt. 1954 gründete das Konkordat zusammen mit seiner Westschweizer Partnerorganisation den Schweizerischen Verband für erweiterte Krankenversicherung (SVK) zur besseren Bekämpfung der Kinderlähmung – vor allem dank dem gemeinsamen Einkauf von Medikamenten und Geräten. 1956 war aus Sicht der Krankenkassen nach einer Periode der Eigeninitiative nun wieder politisches Handeln angesagt: Die Krankenkassen-Zeitung veröffentlichte im März eine Eingabe an den Bundesrat, in der sie ihn aufforderte, die Arbeiten an der KUVG-Revision wieder aufzunehmen und den Räten schnellstmöglichst eine Vorlage zu präsentieren. Das Gesetz aus dem Jahre 1914 sei definitiv nicht mehr zeitgemäss, die Behebung der schlimmsten Missstände durch dauernd neue dringliche Beschlüsse nicht mehr

zumutbar. Doch es sollten weitere fünf Jahre vergehen, bis endlich etwas passierte.

AUFTEILUNG SPITALÄRZTE / SPEZIALISTEN / HAUSÄRZTE 1941 UND 2008

ANZAHL KASSEN NACH ANZAHL MITGLIEDER 1954

80%

60%

14104

1604

40%

20%

6993 1876 6775

712 700 600 500 400 ASSISTENZÄRZTE SPITALÄRZTE SPEZIALÄRZTE AMBULANT ALLGEMEINÄRZTE AMBULANT

0% 1941'

QUELLE: KRANKENKASSEN-ZEITUNG 1956

1364

1961 unterbreitete der Bundesrat dem Parlament einen Revisionsentwurf. Es war allerdings eine Minimalversion. Der Leistungskatalog der Krankenkassen sollte erweitert, die Bundesbeiträge entsprechend erhöht werden. Strukturelle Reformen klammerte der Bundesrat aus, ebenso wie die Mutterschaftsversicherung, welche die Krankenkassen gerne mit der KUVG-Revision verknüpft hätten. Der Hintergedanke war, die unbestrittenen Punkte im Schnellverfahren durchs Parlament zu bringen und die heikleren Fragen im Anschluss zu debattieren. Auf einen – laut Krankenkassenzeitung «überfallartigen» – Antrag der Verbindung der Schweizer Ärzte (heute FMH) nahm der Bundesrat aber auch noch das Ärzterecht mit in die Revision. Die bundesrätliche Vorlage war aber durchaus nicht im Sinne der Ärzte. Sie umfasste einen Behandlungszwang – die Ärzte durften also keine Kassenpatienten mehr ablehnen und sich auf die lukrativeren Privatpatienten konzentrieren – sowie die Vollmacht der Kantone, im vertragslosen Zustand zwischen Ärzten und Kassen die Höchsttarife festzusetzen. Obwohl die Krankenkassen-Zeitung diese Bestimmungen für richtig hielt, warnte sie vor den Verzögerungen, welche der zu erwartende Protest der Ärzte zur Folge haben würde. Und tatsächlich: Die Ärztevereinigung protestierte heftigst. Die Krankenkassenzeitung reagierte im April 1962 zunächst höhnisch: «Etwas ganz Schreckliches ist passiert: Die vorberatende ständerätliche Kommission für die Revision des KUVG hat sich erlaubt, das so genannte Arztrecht anders zu ordnen, als dies

800

QUELLE: KRANKENKASSEN-ZEITUNG 1941 FMH-STATISTIK 2008

100%

Der harte Kampf um die KUVG-Revision

2008'

1941 war die grosse Mehrheit der Ärzte in freier Praxis tätig. Heute arbeitet mehr als die Hälfte der Ärzte in den Spitälern.

306

300 200 100

84

41

0 BIS 100

BIS 1000

BIS 10 000

ÜBER 10 000

Der grösste Teil der Krankenkassen hatte 1954 weniger als 1000 Mitglieder. «Grosskassen» mit über 10 000 Mitgliedern waren klar in der Minderheit.

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Ausgabe 15/1939: Ewiges Fieber?

Kosten einer Blinddarmoperation

die Verbindung der Schweizer Ärzte vorgeschlagen hatte.» Die Häme verging der Zeitung aber, als sich der Ständerat während der folgenden Detaildebatten mehr und mehr auf Seiten der Ärzte schlug: Unter anderem wollte er den Tarifschutz im vertragslosen Zustand für die gutsituierten Kassenmitglieder aufheben und den Tiers garant einführen – also das heute bekannte System, wonach der Versicherte die Rechnung zuerst selbst bezahlt und erst dann der Kasse zur Vergütung vorlegt. Der Nationalrat blieb beim bundesrätlichen Vorschlag, und so wogten die Einigungskonferenzen bis 1964 hin und her. Schliesslich setzte sich der Ständerat durch. Er erwirkte die Zustimmung des Nationalrates, indem er ihm in der Chiropraktoren-Frage folgte: Diese durften nun, gleich wie die Ärzte, selbstständig zu Lasten der sozialen Krankenversicherung tätig sein.

1941 kostete eine Blinddarm-Operation laut Krankenkassen-Zeitung 39 Franken. Heute sind es im Durchschnitt etwa 2500 Franken.

«Unsinn mit Methode»

Die Krankenkassen-Zeitung schreibt 1939 über neue medizinische Erkenntnisse, wonach die Körpertemperatur des modernen Menschen von Generation zu Generation zunehme. Bereits lasse sich eine Erwärmung von 0,2 Grad feststellen. Grund dafür sei der «beschleunigte Rhythmus des Lebens und die dauernde Erregung, in welcher der Mensch unserer Tage lebt.»

Die holde Weiblichkeit Aus der Ausgabe 22/1939: «Bekanntlich geben die Frauen nicht nur allgemein, sondern auch in der Krankenversicherung viel zu reden.» Und warum? Die Antwort lieferte die Krankenkassen-Zeitung schon in der Ausgabe 5/1939: «Durch die erfolgte planmässige Loslösung der weiblichen Jugend von den traditionellen hauswirtschaftlichen Aufgaben wie Kochen, Haushalten und Krankenpflege erwachsen den Krankenkassen indirekt grosse Belastungen.»

Die uralte Idee des Datenpools Im August 1941 schrieb die Krankenkassen-Zeitung: «Könnte eine Statistik alle Bezüge eines Arztes für alle Krankenversicherten ermitteln und zweckmässig zergliedern, so müsste sich mit der Zeit bestimmt zeigen, inwieweit die Patienten und inwieweit der einzelne Arzt den Kostenaufwand beeinflusst.»

Kampf den Fliegen Im Mai 1945 ruft die Krankenkassen-Zeitung zum Kampf gegen die Krankheitsüberträgerin Stubenfliege auf. Sie weiss auch schon von Erfolgen: «Im Wallis nahmen die Biester letztes Jahr ab, man konnte auch in den Küchen der Bauernhäuser ruhig essen, ohne von Fliegenschwärmen belästigt zu sein.»

Medikamentenprobleme anno 1947 «Der wichtigste verteuernde Faktor ist unzweifelhaft der, dass ganz allgemein viel mehr Medikamente verschrieben werden als in früherer Zeit und zudem eine deutliche Verschiebung von einfachen, relativ billigen zu komplizierten, teuren Präparaten stattgefunden hat. Diese Erscheinung läuft parallel mit dem Ausbau der chemisch-pharmazeutischen Industrie und dem Vorherrschen der markengeschützten Medikamente.» Viel gibt es dem heute, mehr als 60 Jahre später, nicht hinzuzufügen.

Krankenkassen und Public Relations 1963 veröffentlichte die Krankenkassen-Zeitung einen Beitrag, wonach die Versicherer die Public Relations (so formuliert!) bisher sträflich vernachlässigt hätten. Zwei Standbeine habe diese: Aufklärung der Kassenmitglieder und Aufklärung der Öffentlichkeit. Die Krankenkassen-Zeitung plädiert für einen Ausbau des Pressedienstes – aber auch für Ehrlichkeit: «Es gibt Meinungsfabriken, die Journalisten beauftragen, Artikel zu verfassen und diese unter ihrem Namen in der Presse unterzubringen. Gegen eine solche Verwilderung der journalistischen Sitten gilt es sich zu wehren, wenn man überhaupt noch für eine saubere Demokratie einstehen will.»

Die Krankenkassen-Zeitung zeigte sich einerseits zufrieden damit, dass Leistungen und Bundesbeiträge nun endlich den Erfordernissen der Zeit angepasst waren. Sie war jedoch enttäuscht über die Zugeständnisse an die Ärzteschaft: «Selten noch ist eine unsaubere politische Taktik so gut vom Parlament honoriert worden wie bei der Beratung des Arztrechts durch den Ständerat», hiess es in der Ausgabe vom März 1964. Die Krankenkassen-Zeitung meinte damit den unangekündigten Antrag der Ärzteschaft auf Miteinbezug des Ärzterechts in die KUVG-Revision und die intensive Pressekampagne, die nichts als «Unsinn mit Methode» und «blöde Behauptungen» verbreitet habe. Fragt sich bloss, warum sich die Krankenkassen dermassen für den Behandlungszwang und den Tarifschutz für die Versicherten einsetzten. Die Vorteile für sie lagen nicht unmittelbar auf der Hand. Um das zu verstehen, muss man sich die Organisationsform der damaligen Kassen vor Augen halten: Es waren fast ausschliesslich Vereine und Genossenschaften – wie einige Krankenkassen es noch heute sind. Solche Organisationen tendieren dazu, vor allem im Sinne ihrer Mitglieder zu handeln. Die Krankenkassen-Zeitung schreibt im Februar 1964: «Die Ärzte verteidigen ihr persönliches Interesse. Wir verteidigen das unserer Mitglieder. Darin liegt der ganze Unterschied.» peter kraft


100 Jahre infosantésuisse

Die 90er-Jahre – der grosse Umbruch Die 90er-Jahre haben in der Gesundheitspolitik, beim Branchenverband der Schweizer Krankenversicherer und seinen Publikationen tief greifende Spuren hinterlassen. 30 Jahre nach der letzen Reform wurde die Krankenversicherung umfassend revidiert. Die Krankenversicherer begannen ihren Verband gründlich umzubauen. Auch in der Kommunikation begann ein neues Zeitalter.

1990 betrugen die Ausgaben für das schweizerische Gesundheitswesen 27 Milliarden Franken oder acht Prozent des Bruttoinlandproduktes (BIP). Heute sind es 57 Milliarden Franken oder rund 11 Prozent des BIP. Die Kosten der Krankenversicherung (Grundversicherung) beliefen sich auf knapp neun Milliarden Franken oder 1300 Franken pro versicherte Person. Heute sind es 23 Milliarden Franken oder gut 3000 Franken pro Person. Die Zahl der Ärzte in freier Praxis pro 10 000 Einwohner stieg in der gleichen Periode von 15 auf 20. Besonders beeindruckend ist die Zunahm der medizintechnischen Geräte, zum Beispiel der MRI: Waren 1990 erst ein gutes Dutzend Geräte im Betrieb, so sind es heute rund zehnmal mehr. Mit den neuen Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten sind auch die Ansprüche der Versicherten gestiegen. Trotzdem standen die Kosten neben den Leistungslücken und den Fragen rund um die Solidarität schon vor 20 Jahren im Mittelpunkt der Diskussion. Vor allem die Steigerungsraten von gegen 10 Prozent zu Beginn der neunziger Jahre gab zur Sorge Anlass. Bundesrat und Parlament begegneten dieser Entwicklung Ende 1991 mit dringlichem Bundesrecht. Sie limitierten Tarife und Prämien und führten einen Risikoausgleich unter den Krankenkassen ein. Kurz zuvor hatte der Bundesrat dem Parlament den Entwurf für das neue Krankenversicherungsgesetz (KVG) unterbreitet und damit eine Periode von Reformen und noch mehr von gescheiterten Reformvorschlägen eingeleitet, die bis heute andauert. Als erstes verwarfen (1992) Volk und Stände die Krankenkasseninitiative, die eine starke Erhöhung der Bundesbeiträge und eine rasche Reform der Krankenversicherung erzwingen wollte. KVG im Mittelpunkt

Damit war der Weg frei für die parlamentarische Beratung des KVG, der ersten umfassenden Reform der Krankenversicherung seit Mitte der sechziger Jahre. Das Gesetz wurde – vergleicht man die mühsamen Reformdebatten von heute – in erstaunlich kurzer Zeit beraten und verabschiedet. Es war aber in weiten Kreisen umstritten und nahm deshalb im Dezember 1994 die Hürde der Volksabstimmung nur äusserst knapp. Mit der Einführung des Versicherungsobligatoriums, des einheitlichen Leistungskatalogs, eines neuen Prämien-

systems (Einheitsprämie für Erwachsene pro Kasse und Region), des Kassenwechsels ohne Vorbehalte, der Unterstellung der Zusatzversicherungen unter das Privatrecht und der Einführung der individuellen Prämienverbilligung an Stelle der Krankenkassensubventionen erhielt die Krankenversicherung ein neues Fundament. Zudem wurden bestehende Leistungslücken geschlossen. Zu erwähnen ist vor allem die Übernahme der Kosten für die Pflege in Pflegeheimen und zu Hause. Nach dem Inkrafttreten der Reform beruhigten sich die Gemüter keineswegs. Denn die neuen Leistungen verursachten mehr Kosten als erwartet. Viele Kantone richteten nur eine minimale Prämienverbilligung aus. Es fehlten nach wie vor Anreize für wirtschaftliches Verhalten von Leistungserbringern, Versicherern und Versicherten. Deshalb kam schon bald die Diskussion um neue Reformen auf. Eine Flut von parlamentarischen Vorstössen setzte ein, und schon drei Jahre nach Inkrafttreten des KVG waren bei der Bundeskanzlei sechs neue Volksinitiativen zur Krankenversicherung deponiert. Die Vorstösse waren zwar an der Urne chancenlos, aber die Diskussion über Fragen der Kostendämpfung, der Finanzierung oder der Versicherungsaufsicht riss nicht mehr ab. Gegen Ende des Jahrzehnts schickte der Bundesrat Vorschläge für eine erste KVG-Revision in die Vernehmlassung. In den Mittelpunkt der Debatten rückte derweil immer mehr die Grundsatzfrage mehr Wettbewerb (Aufhebung des Vertragszwangs) oder mehr Staat (Einheitskasse), die bis heute nicht entschieden ist. Verbandsreform

Was für ein Wandel dem Konkordat der Krankenversicherer (heute santésuisse) in den folgenden Jahren bevorstehen würde, ahnte 1991, im Jubiläumsjahr (100 Jahre KSK) wohl kaum jemand. Das Konkordat war damals ein föderalistisch gegliederter, eher schwerfälliger Verband mit grossen Leitungsgremien. Klein war hingegen sein Sekretariat in Solothurn mit seinen erst 30 Angestellten. Die Kantonalverbände, die zugleich als Vertreter der zahlreichen regionalen Krankenkassen fungierten, hatten im 50-köpfigen Vorstand gleich viele Sitze wie die schweizweit tätigen Krankenversicherer. Sie führten eigenständige Kantonalsekretariate für die Vertragsverhandlungen mit Ärzten und Spitälern. Ausdruck für den ausgeprägten Föderalismus waren die zahlreichen, nicht miteinander vergleichbaren kantonalen Arztverträge und -tarife. Die Strukturen des Verbandes waren je länger je weniger geeignet, um die neuen Herausforderungen zu bewältigen. 1992 wurde deshalb eine Reform des Konkordats beschlossen und der Verband in der Folge in zwei Etappen (1993/1994 und 1999) gründlich umgestaltet. Mit der Schaffung eines Verwaltungsrates und einer Verbandsdirektion entstanden straffere Leitungsorgane. Die Geschäftsstelle mauserte sich zu einem leistungsfähigen Kompetenzzentrum. Die kleinen Kassen wurden Direktmitglieder des Verbandes, die Kantonalverbände schrittweise in regionale Einheiten überführt und ihre Sekretariate als Aussenstellen der Verbandsdirek-

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tion unterstellt. Die neue Struktur trug zudem dem starken Rückgang der Krankenkassen (von 250 auf 90 zwischen 1990 und 2000) und der verstärkten Konzentration der Versicherten auf die grossen Versicherer Rechnung. Revolution in der Kommunikation

Die grafische Industrie hatte zwar 1990 längst vom Bleisatz Abschied genommen, aber auch das Fotosatzsystem, mit dessen Hilfe die Krankenkassen-Zeitung damals produziert wurde, mutet heute fast urzeitlich an. Der Redaktor stellte die Texte der Druckerei zu. Dort wurden sie neu erfasst, als einspaltige Satzfahnen auf Fotopapier produziert und nach Vorgaben des Redaktors zu einer Ganzseite zusammengeklebt. Innert weniger Jahre änderte sich dann aber die Produktion grundlegend und gleichzeitig auch das Gesicht der beiden bisher getrennt herausgegebenen Zeitschriften des Konkordats. «Die Schweizerische Krankenkassen-Zeitung»

(SKZ) und das «Journal des caisses-maladie suisses» (JCMS) fusionierten zum «KSK-Aktuell» («CAMS-Actuel»). Das redaktionelle Konzept wie das Layout wurden den neuen Erfordernissen angepasst. 1997 erhielt die Zeitschrift mit der Gratispublikation «Brennpunkt Gesundheitspolitik» eine wichtige Ergänzung. Nachdem noch bis weit in die 90er-Jahre das Faxgerät als Wundermittel für die schnelle Kommunikation galt, begann Ende der 90er-Jahre auch beim Konkordat der Krankenversicherer ein neues Kommunikationszeitalter. Alle Arbeitsplätze erhielten neue elektronische Geräte und waren miteinander vernetzt. Intranet, Extranet und Homepage bestimmten von nun an die Kommunikation, und das Internet vollendete mit dem Übergang zum neuen Jahrtausend seinen Siegeszug definitiv. Walter Frei, Redaktor 1992 – 1998

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Buchtipp: Gray’s Anatomy, ein Standardwerk für das Medizinstudium

Ein Klassiker zwischen Kunst und Wissenschaft «Henry Gray’s Anatomy of the Human Body», meist nur Gray’s Anatomy genannt, ist ein englischsprachiges Standardwerk über die menschliche Anatomie und gilt in der Medizin als Klassiker. Seit der Ersterscheinung im Jahr 1858 wurde der Bestseller vierzig Mal neu aufgelegt und ständig aktualisiert. Das Werk von Doktor Henry Gray steht für die Entwicklung des chirurgischen Wissens und ist für das Medizinstudium unverzichtbar. Berühmtheit erlangte die Publikation vor allem auch durch Hunderte von detaillierten Illustrationen des menschlichen Körpers.

Die Ersterscheinung des Buches in Grossbritannien trug 1858 den Titel: Gray’s Anatomy: Descriptive and Surgical Theory. Ein Jahr später wurde das Werk in den USA veröffentlicht. Während seiner Forschungsarbeiten zu den Folgen von Infektionskrankheiten erkrankte Henry Gray an den Pocken und starb mit vierunddreissig Jahren, drei Jahre nach Erscheinen des Buchs. Aufgrund der grossen Nachfrage lebte sein Werk aber weiter: Am 26. September 2008 erschien das Wert in englischer Sprache in seiner 40. Auflage. Neu hinzugekommen ist eine Internetsite. Das ganze Standardwerk ist neuerdings ganz legal übers Internet verfügbar. Für Studierende zugänglich und erschwinglich

Der britische Anatom Henry Gray wurde 1827 geboren und galt unter seinesgleichen als äusserst methodisch. Bereits in jungen Jahren vertiefte er seine anatomischen Kenntnisse durch zahlreiche Sezierungen. 1853 wurde er zum Assistenzprofessor für Anatomie an der St George’s Hospital Medical School in London ernannt. 1855 überzeugte er seinen Freund und Kollegen Henry Vandyke Carter von der Idee, ein für alle Medizinstudenten zugängliches und kostengünstiges Referenzwerk zu veröffentlichen. Während

achtzehn Monaten widmeten sich beide dieser Herkulesaufgabe. Auf der Basis eines Gesetzes aus dem Jahre 1832 sezierten sie Leichen, die in Hospizen und Leichenschauhäusern nicht abgeholt worden waren. Diese Arbeiten bildeten die Grundlage für ihr Werk. Gray verstarb drei Jahre nach der Erstveröffentlichung. Die erste Ausgabe umfasste 750 Seiten und 363 Illustrationen. Sie enthielt eine didaktische Einführung zur Anatomie und zu den verwendeten Methoden. Die Arbeiten konzentrierten sich zunächst auf den Embryo, danach folgten Studien der Knochen, Gelenke und Muskeln, Gefässe, Arterien und Venen, Nerven und Lymphbahnen, der Neurologie, der Sinne, der Organe und Oberflächenanatomie. Es war, als hätte man den menschlichen Körper von Kopf bis Fuss gescannt. Jedes dieser Themen hatte ein eigenes Kapitel mit rund zweihundert Seiten, sorgfältig beschrieben, illustriert und kommentiert. Ästhetik der Illustrationen von Henry Vandyke Carter

Das Werk Grays verdankte seinen Erfolg mit Sicherheit auch den Illustrationen des Arztes und Zeichners Henry Vandyke Carter, Sohn des Künstlers Henry Barlow Carter. Die 363 Zeichnungen des Werks, anhand derer später Gravuren realisiert wurden, gehen auf ihn zurück. Eine neue künstlerische Richtung schien geboren: Die anatomische Illustration. Die Zeichnungen bestechen durch ihren Realismus und sind von erstaunlicher Feinheit. Schwer vorstellbar, dass die menschlichen Organe mit einer solchen Präzision dargestellt werden können. Das Werk enthält Schnittbilder und Ansichten verschiedenster Teile des menschlichen Körpers: Fingerglieder, Herz, Eizelle, Neuralrohr, Schädel, unzählige Knochen und Gefässe. Deshalb wollten die Herausgeber in der Erstausgabe Henry Vandyke Carter auch als Mitautor auf dem Buchumschlag erwähnen, da die Illustrationen mindestens genauso wertvoll waren wie der Text. Henry Vandyke Carter lehnte jedoch ab. Die alten Ausgaben werden heute immer noch gedruckt und herausgegeben (vor allem jene von an-

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fangs des 20. Jahrhunderts). Abnehmer sind vor allem Bücherliebhaber, die sich an der Schönheit der Illustrationen und den berühmten, aber mittlerweile veralteten Schnittbildern erfreuen. Sie reflektieren den Kenntnisstand dieser Zeit, widerspiegeln allerdings nicht die heutige Wahrnehmung der Anatomie. Spiegel des medizinischen und technischen Fortschritts

Die 40. Ausgabe von Gray’s Anatomy wurde im September 2008 auf Papier und elektronisch veröffentlicht. Die 39. Ausgabe stammte aus dem Jahr 2004 und enthielt eine CD-ROM. Die technische Entwicklung geht weiter, aber das Ziel bleibt gleich, nämlich ein möglichst breiter Zugang zum Standardwerk für Medizinstudierende. Die Originalfassung richtete sich hauptsächlich an Medizinstudierende, Ärzte und Chirurgen. Mehrere Jahrzehnte stand vor allem die Bestrebung im Vordergrund, das Werk Grays als medizinisches Standardwerk weiter zu etablieren. Gleichzeitig sollten die Informationen verständlich und immer auf dem neuesten Stand sein. Das 20. Jahrhundert brachte einen eigentlichen Entwicklungsschub in der Medizin, wodurch auch Gray’s Anatomy immer voluminöser wurde. In den neusten Ausgaben kehrte man die Tendenz wieder um und begrenzte sich auf eine angemessene Anzahl Seiten, damit das Werk für Studierende weiter lesbar bleibt. Nichtsdestotrotz enthielt die 38. Ausgabe 2092 Seiten im Grossformat. Nach mehr als 150 Jahren gilt das Werk noch immer als Referenz – trotz des gewaltigen medizinischen Fortschritts. Die 40. Ausgabe leitete Susan Standring, Professorin für Anatomie am King’s College in London. Es gibt zwischenzeitlich auch zahlreiche Abhandlungen und Studien von Gray’s Anatomy. Es ist bemerkenswert, dass sich das Werk über die Jahre anpassen konnte, jedoch der ursprüngliche Zweck nie verloren ging. Die heute verwendeten computergestützten Illustrationen haben zwar nicht den Charme von damals, aber der didaktische und «populäre» Ansatz ist erhalten geblieben.

Von der wissenschaftlichen Arbeit ins Kino

Der Titel des Werks findet sich, teilweise in abgewandelter Form, in zahlreichen Romanen wieder. Auch eine erfolgreiche amerikanische Fernsehserie oder zahlreiche Autorenfilme liessen sich davon inspirieren. Unter der Leitung von Steven Soderbergh lief 1996 der Dokumentarfilm Gray’s Anatomy. Im Mittelpunkt steht ein Monolog des Schauspielers und Schriftstellers Spal-

ding Gray, der unkonventionelle Behandlungsmethoden wählt, um seine Krankheit zu heilen. Gray’s Anatomy konnte den Erfolg über die Jahrhunderte erhalten. Die zahlreichen Neuauflagen und Nebenprodukte widerspiegeln nicht nur den medizinischen Fortschritt, sondern auch die Entwicklung der Medien- und Bilderwelt der letzten hundertfünfzig Jahre. maud hilaire Schenker

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Im Gespräch: Dr. Silvia Berger, Medizinhistorikerin an der Universität Zürich

»Damals tränkten selbst Ärzte ihr Brot mit Desinfektionsmitteln» Die Medizinhistorikerin Silvia Berger hat in ihrer Dissertation die Ursprünge der modernen Bakteriologie untersucht. Sie spricht im Interview über grenzenlosen Optimismus und Kriegsrhetorik im Kampf gegen Krankheitserreger. Um 1900 erhofften sich die Wissenschaftler nämlich, die Bakterien ein für alle Mal eliminieren zu können. Seuchen und Epidemien wurden damals politisch ausgeschlachtet – und sie werden es noch heute.

Sie schreiben in Ihrem Buch vom übertriebenen Optimismus, der nach bahnbrechenden Forschungsergebnissen Ende des 19. Jahrhunderts oder in den frühen achtziger Jahren herrschte. Jedes Mal wähnte man sich kurz vor dem Ende der Infektionskrankheiten. Geht unser Umgang mit Seuchen mit der Konjunktur?

Die Gleichung wirtschaftlicher Aufschwung = Optimismus in Seuchenfragen ist mir zu einfach. Richtig ist: In guten Zeiten steht mehr Geld für die Forschung zur Verfügung. Robert Koch zum Beispiel, der 1884 den Cholera-Erreger entdeckte, erhielt massive staatliche Förderung. Bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs herrschten Hochkonjunktur, Aufbruchstimmung und Fortschrittsglaube, was die Bakteriologie sicher in ihrem Siegeszug unterstützte. Es gab aber noch andere Gründe. Deutschland befand sich mit England und Frankreich im Kampf um die Vorherrschaft in Europa und in den Kolonien. Ein grosser Seuchenforscher wie Robert Koch war ein wertvolles Aushängeschild für die Nation. Dementsprechend hat man seine Entdeckungen auch kommuniziert, die ersten Bilder von Bakterien gingen um die Welt. Das Unfassbare wurde plötzlich sichtbar, hatte seine Tarnung verloren, konnte bekämpft werden. Die Menschen waren begeistert. In den achtziger Jahren war es ganz anders. Zwar konnte die WHO 1980

die Ausrottung der Pocken verkünden. Doch dann kam AIDS. Diese Krankheit setzte den Siegeshoffnungen der Mikrobiologen ein endgültiges Ende. War diese Siegesgewissheit vor allem in der Bevölkerung verbreitet – oder auch unter den Wissenschaftlern selbst?

Auch die Wissenschaftler selbst glaubten an diese Möglichkeit, ebenso wie Behörden und Ärzte. Welche Denkfehler haben die Bakteriologen von damals aus heutiger Sicht gemacht, als sie das Ende aller Seuchen verkündeten?

Jede wissenschaftliche Erkenntnis hat einen Zusammenhang mit dem bereits vorhandenen Wissen und dem soziokulturellen Umfeld. Ende des 19. Jahrhunderts gelang es den Bakteriologen erstmals zu beweisen, dass kleinste Lebewesen, die Bakterien, für die Auslösung von Krankheiten verantwortlich sind – ein fundamentaler Umschwung im Krankheitsverständnis. Denn zuvor glaubte man an ein ganzes Bündel verschiedenster Ursachen. Deshalb ist die Annahme verständlich: Endlich kennen wir den singulären Verursacher der Krankheiten – also wird ihm wohl auch beizukommen sein. Dass man die Komplexität der Beziehungen zwischen Menschen und Bakterien oder die Dynamik von Epidemien damals nicht im Blick hatte, ist nachvollziehbar. Hinzu kommt die Kriegsrhetorik: Die Bakterien waren der angreifende Feind, und die Menschheit musste sich verteidigen. Mit solchen Denkschablonen konnte es nur ein Ziel geben: Die Krankheitserreger für immer zu vernichten. Wie ging die Wissenschaft mit der Tatsache um, dass der sicher geglaubte Sieg gegen die Infektionskrankheiten doch nicht Tatsache wurde?

Die Spanische Grippe hat 1918 dem Siegesglauben einen jähen Dämpfer versetzt. Der Erreger war mit den damaligen Mitteln nicht zu finden: Er war ein Virus und damit zu klein. Es starben vor

allem junge Menschen, was völlig unerklärlich war. Plötzlich wurden die grossen Helden der Wissenschaft kleinlaut und mussten zurückbuchstabieren. Die Wahrheit über die Infektionskrankheiten war offenbar komplexer als angenommen, und so öffneten sich die Bakteriologen Ansätzen aus anderen Wissenschaften und Fächern der Medizin. Auch von der Ausrottungsrhetorik und dem Feindbild Bakterium nahmen die Forscher Abstand. War das die Geburtsstunde der Prävention?

Das begann schon vor der Bakteriologie. Man hatte zwar andere Erklärungsansätze für die Krankheiten – üble Dämpfe aus verseuchtem Boden oder verunreinigtes Wasser zum Beispiel. Sie führten aber zu hygienischen Verbesserungen, die auch aus Sicht der Bakteriologie folgerichtig gewesen wären. Auch die Ernährung hat sich schon vor der Bakteriologie verändert.

«Man unterstellte Bakterien ein Ziel, sogar eine Taktik, um Menschen zu töten.» Sie beschreiben auch die martialische Sprache, die im Kampf gegen Krankheitserreger oft verwendet wurde und weiterhin wird. Wieso benutzen wir diese Ausdrücke ausgerechnet hier – und weniger im Kampf gegen Naturkatastrophen oder humanitäres Elend?

Die Bakteriologie entstand im wilhelminischen Deutschland. Das war eine sehr militarisierte Gesellschaft. Im Vergleich zu Naturkatastrophen, die als schicksalhaft empfunden werden, unterstellte man Bakterien ein Ziel, sogar eine Taktik, um Menschen zu töten. Es gab Comics von Bakterien-Kongressen, bei denen Robert Koch als Held zu Pferde erscheint und für Unruhe sorgt. Die Bakterien eignen sich gut zur Vermenschlichung. Man kann sie besser als zum Beispiel eine Lawine zum hinter-

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Foto: ZVG

Das BAG nutzt die Schweinegrippe als willkommene Gelegenheit um zu zeigen, wofür es eigentlich da ist?

Das würde ich nicht so sagen. Das BAG muss ja reagieren, heute ist schnelle Information eine Pflicht. Es ist allerdings schon interessant, wie sich das BAG auf Pressekonferenzen live auf SF1 präsentiert. Ist die Angst vor Seuchen in Krisensituationen grösser als in guten Zeiten?

Nicht unbedingt. Als die Bakteriologie aufkam, herrschte keine Krise. Doch damals tränkten selbst Ärzte ihr Brot mit Desinfektionsmittel und trockneten es danach im Ofen. Kommt hinzu: Bei wirklich schweren Krisen, wie etwa Kriegen, tritt die Angst vor Seuchen doch in den Hintergrund. «Gefahren können auch inszeniert sein.»

hältigen «Feind» erklären. Dazu beigetragen hat auch die grässliche Erscheinungsform von Krankheiten wie Cholera. Das weckt die Wut und erleichtert es, dahinter eine Form von Bösartigkeit zu vermuten. Das Bild des edlen Kämpfers hat den Wissenschaftlern wohl gefallen. Darum haben sie nicht viel dagegen unternommen.

Ja, sie konnten sich selber so aufbauen. Die Bakteriologen waren Taktiker und Strategen, Krieger, die gegen die Seuchenhydra ankämpften. Das ist natürlich ein gutes Image, um seine eigenen Projekte voranzubringen. In der Vergangenheit haben die Regierungen die Leute aus politischen Gründen nicht oder erst spät über Seuchen informiert – etwa während der Cholera in Hamburg, um den Ruf der Handelsstadt nicht zu schädigen. Heute informieren die Behörden sehr offensiv. Sind Seuchen und die Information darüber auch heute noch ein politisches Instrument?

Seuchen und die damit verbundenen Ängste sind enorme Herausforderungen für die Behörden. Sie haben grosses Interesse daran, diesbezüglich gut dazustehen. Deshalb stossen wir in diesem Zusammenhang oft auf Erfolgsgeschichten, die eigentlich keine sind. Beispiel Spanische Grippe: Die deutschen Behörden haben erst dann informiert, als bereits zehntausende Grippe-Tote zu beklagen waren und sich die Epidemie definitiv nicht mehr leugnen liess. Auch im Fall SARS übten sich die chinesischen Behörden in Geheimnistuerei und versuchten, Informationen zurückzuhalten. Andererseits spielte man auch immer wieder auf der Klaviatur der Angst. Wenn die Gesundheit in Gefahr ist, nimmt man schneller einmal Einschränkungen der persönlichen Freiheit in Kauf. Gefahren können auch inszeniert sein. Auch bei der Schweinegrippe wurde medial ein Ausnahmezustand aufgebaut, lange bevor er da war. Das ermöglicht es den politischen Akteuren, sich als unentbehrlich darzustellen und sich selber Legitimität zu verschaffen.

«Wenn die Gesundheit in Gefahr ist, nimmt man schneller einmal Einschränkungen der persönlichen Freiheit in Kauf.» Welche Rolle spielt die immer grössere Mobilität der Menschen bei der Verbreitung von Seuchen?

Heute gibt es Flugzeuge, vor hundert Jahren fuhren einige wenige mit der Eisenbahn. Das spielt sicher eine Rolle. Andererseits ist die Welt heute auch besser vernetzt. Informationen kursieren schneller, es gibt die Überwachungsinstrumente der WHO, die Staaten können zusammen arbeiten. Hinzu kommen bessere Medikamente und Impfstoffe. Wir sind heute besser vor Seuchen geschützt als noch vor hundert Jahren. Trotzdem hinken wir den Viren auch heute immer einen Schritt hinterher – und das wird wohl auch so bleiben. interview: peter kraft Silvia Berger: Bakterien in Krieg und Frieden. Eine Geschichte der medizinischen Bakteriologie in Deutschland, 1890–1933, Göttingen: Wallstein 2009.

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Vergleich des schweizerischen und des niederländischen Gesundheitssystems, Teil II: Die Gemeinsamkeiten

Regulierter Wettbewerb und Qualitätsbewusstsein

Das niederländische und das schweizerische Gesundheitssystem* ähneln sich in vielerlei Hinsicht. Auf dem Prinzip der Versicherungspflicht aufbauend, führen beide einen breit gefächerten Leistungskatalog für die Grundversicherung. Beide kennen einen Risikoausgleich. Qualität wird in beiden Systemen, die auf der freien Wahl des Patienten beruhen, gross geschrieben. Doch wie und durch wen wird sie evaluiert? Stösst man hier an die Grenzen dieser Systeme, die oftmals und insbesondere durch die amerikanische Presse als die besten der Welt gerühmt werden? Versicherungspflicht...

Die Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz und der Niederlande sind verpflichtet, eine Krankenversicherung abzuschliessen. Obwohl keine offiziellen Daten vorliegen, wird die Zahl der Nichtversicherten in der Schweiz als sehr tief eingeschätzt (weniger als ein Prozent). In den Niederlanden sind 1,5 Prozent der Bevölkerung nicht versichert. Dieser Unterschied lässt sich dadurch erklären, dass die Schweiz eine aktive Politik zur Identifizierung der nicht versicherten Personen führt. Artikel 6 des KVG teilt diese Aufgabe den Kantonen zu, die für die Einhaltung der Versicherungspflicht sorgen. Ist eine Person erst einmal versichert, muss ihre Krankenkasse sie solange registriert lassen, bis dieser bestätigt wird, dass die betreffende Person bei einem anderen Versicherer angeschlossen ist oder nicht mehr der Versicherungspflicht untersteht (Art. 7 KVG). Beide Länder haben allerdings das Problem, dass einige Versicherte ihre Prämien nicht bezahlen. In der Schweiz sind dies 120 000, in den Niederlanden (mit doppelt so vielen Einwohnern) 240 000 Personen. Die beiden Länder versuchen, die Versicherten vom Nichtbezahlen ihrer Prä-

mien abzuschrecken (mittels Aufschub der Übernahme der Leistungen, Artikel 64a KVG) oder säumige Zahler daran zu hindern, von einem Versicherer zum anderen zu wechseln (parlamentarische Initiative zur Schaffung einer schwarzen Liste). Die Niederlande sind sich unlängst dieser Problematik bewusst geworden und werden wohl in naher Zukunft entsprechende Massnahmen treffen müssen. …und obligatorische Grundversicherung

Die medizinischen Leistungen sind in den Niederlanden und in der Schweiz ähnlichen Kontrollkriterien unterworfen: WZW-Kriterien (Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit) für die Schweiz – Notwendigkeit, Wirksamkeit und Kosten-Nutzen-Verhältnis für die Niederlande. Bei der Definition des Katalogs und der Einführung neuer Leistungen gibt es allerdings in keinem der beiden Länder ein systematisches Evaluationsverfahren. Einzig die Medikamente, die Laboranalysen und die Präventionsmassnahmen sind einer systematischen Kontrolle unterworfen und werden auf einer Positivliste aufgeführt (siehe infosantésuisse 6/09, S. 8). In den Niederlanden muss die Institution, welche die Medikamente systematisch kontrolliert, jetzt auch jede von einem Spezialisten erbrachte Leistung kontrollieren. Der Leistungskatalog umfasst die Grundversorgung der Allgemeinärzte (Sprechstunden, Visiten und Medikamente), die Untersuchung durch einen Spezialisten und die kleineren Eingriffe. Es gibt auch eine Positivliste für die kassenpflichtigen Medikamente ohne Kostenbeteiligung. Ein grosser Unterschied zur Schweiz ist die Deckung zahnärztlicher Leistungen. Die paramedizinischen Leistungen (wie Physiotherapie oder Logopädie) sind begrenzt. Der Katalog ist eher implizit gehalten, eine kurze Negativliste schliesst gewisse Leistungen aus. Der Grundversicherungsmarkt

Der Grundversicherungsmarkt ist in beiden Ländern sehr ähnlich. Die Versicherten können zwischen den Anbie-

tern wählen und sie jedes Jahr wechseln, ohne dass sie von einem Versicherer abgelehnt werden können. In letzter Zeit wurden in keinem der beiden Länder auf dem Krankenversicherungsmarkt neue Anbieter verzeichnet. Dies ist nicht weiter erstaunlich, da die Grundversicherer keinen Profit machen können – oder konnten: In den Niederlanden ist das mittlerweile erlaubt, und es wird interessant sein, die Entwicklung dieses Marktes zu beobachten. Eine Besonderheit der Niederlande ist das Angebot an Kollektivversicherungen. Die Arbeitnehmenden eines grossen Unternehmens oder spezifische Patientengruppen können Prämienvergünstigungen aushandeln. Zur Förderung des Wettbewerbs setzen die Niederlande auf eine grössere Vertragsfreiheit der Versicherer, die selbst entscheiden können, welche Leistungsanbieter sie vertraglich an sich binden. Die Ver-

Foto: Prisma

Der zweite Teil unserer Artikelserie über das niederländische Gesundheitswesen beschreibt die Gemeinsamkeiten mit dem schweizerischen System. Beide befolgen dieselben Grundregeln: Versicherungspflicht, Wettbewerb und Qualität.

Guter Käse ist nicht die einzige Gemeinsamkeit zwischen der Schweiz und den Niederlanden. Auch im Gesundheitswesen gibt es erstaunlich viele Parallelen.

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sicherer sind nur noch verpflichtet, im Interesse des Versicherten ausreichende Pflegeleistungen zu führen.

züglich Kosten zusätzlich zur Effizienz zwingt.

Der Risikoausgleich

Die alternativen Versicherungsmodelle

Der Wettbewerb wird auch durch den Risikoausgleich ermöglicht. In den Neunzigerjahren bauten die beiden Länder den Risikoausgleich auf den zwei demografischen Kriterien Alter und Geschlecht auf. Seither haben die Niederlande ihre Variablen jedoch mehrmals revidiert und zusätzlich den Arbeitsmarktstatus, den Wohnort, 20 pharmazeutische und 13 diagnostische Kostengruppen aufgenommen. Die Schweiz ihrerseits hält an ihrem demografischen Schema fest, wird jedoch 2012 einen neuen Indikator einführen: «Aufenthalt in einem Spital oder Pflegeheim im Vorjahr». In den Niederlanden wird der Risikoausgleich prospektiv und retrospektiv berechnet, was die Versicherer be-

Zur Förderung des Wettbewerbs bieten die Versicherer auch alternative Versicherungsmodelle an. In diesem Bereich gibt es zwischen den Vergleichsländern jedoch grosse Unterschiede. Während in der Schweiz 12 Prozent der Versicherten ein alternatives Versicherungsmodell gewählt haben, steckt diese Entwicklung in den Niederlanden noch in den Kinderschuhen. Ein anderer Unterschied liegt darin, dass der Arzt für Allgemeinmedizin in den Niederlanden die Rolle eines Gatekeepers einnimmt. Der Zugang zu Spezialisten ist nur durch Überweisung des Hausarztes möglich. In der Schweiz hingegen erlaubt die Grundversicherung einen direkten Zugang zu den Spezialisten.

Präzisierung zur Finanzierung (siehe infosantésuisse 9/2009) Der Teil der über die Steuern gewährleisteten Finanzierung beläuft sich in den Niederlanden auf fünf Prozent und in der Schweiz auf 30 Prozent. In den Niederlanden erfolgen 50 Prozent der Finanzierung über risiko­ unabhängige Pauschalprämien und 45 Prozent über einkommensabhängige Prämien in Form von Lohnabzügen (7,2 Prozent für Arbeitnehmer bzw. 5,1 Prozent für Pensionierte und Selbstständige bis 31 000 Euro).

In den Niederlanden können die Versicherer auch Apotheken oder Spitäler kaufen, was in der Schweiz unvorstellbar wäre. Die Qualität

Oberstes Gebot dieser beiden Länder ist Qualität. In den Niederlanden gibt es landesweite Indikatoren, die je länger je mehr zur Anwendung kommen. Die Qualitätskontrollen werden auf interne und externe Weise durchgeführt. Zuständig dafür sind die Gesundheitsfachpersonen, aber auch die Versicherer und die Überwacher aus der Regierung. In der Schweiz gibt es noch keine Qualitätskontrollen. Die Berichte der OECD und der WHO regen die Schweiz jedoch an, sich in diese Richtung zu bewegen. Noch gibt es kein nationales Schema, sondern nur vereinzelte Projekte. Die Systeme der Niederlande und der Schweiz sind sich hierbei in vielen Punkten ähnlich. Der grundlegende Unterschied besteht darin, dass die Projekte in den Niederlanden national koordiniert werden, während sie in der Schweiz kantonal organisiert sind. Die grösste Qualität der beiden Systeme sehen die Experten und die internationale Presse im Gleichgewicht zwischen reguliertem Wettbewerb und massvollem Eingreifen des Staates. maud hilaire schenker

* Die drei Artikel stützen sich auf das Buch von Robert E. Leu, Frans Rutten, Werner Brouwer, Christian Rütschi und Pius Matter, The Swiss and the Dutch health care systems compared, Gesundheitsökonomische Beiträge, Band 53, Nomos, 2008.

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Auf das neue Jahr wird die bestehende Versichertenkarte des VeKa-Centers den neuen gesetzlichen Vorschriften angepasst

Seit 2004 steht die Versichertenkarte im KVG im Artikel 42a. Nun wird sie gemäss der Verordnung Versichertenkarte (VVK) per 1.1.2010 offiziell eingeführt. In der Zwischenzeit hat das VeKa-Center für die über 70 teilnehmenden Versicherer genau 15 Millionen der bewährten Versichertenkarten produziert.

Was ändert sich mit der neuen Versichertenkarte? Die Meinungen gehen auseinander: Zu wenig für die einen und zu viel für die anderen. Aber seit dem Bundesratsbeschluss vom 14.2.2007 muss man darüber nicht mehr diskutieren. Die Versicherer sind verpflichtet, diese Karte herauszugeben und ihre bewährte Kundenkarte anzupassen. Die Versicherten stecken sie in die Brieftasche für den Fall, dass ein Krankheitsfall eintrifft. Wie kommt das Schweizerkreuz auf die Versichertenkarte?

Auf der Vorderseite ist die bestehende Kundenkarte des Krankenversicherers mit dem Schweizerkreuz ergänzt worden. Zudem findet man dort ähnlich einer Kreditkarte auch die offizielle Kartennummer und die neue AHV-Nummer. Das soll die administrative Identifikation des Versicherten und die Rechnungsstellung des Leistungserbringers erleichtern. Auf der Rückseite gibt es keine Änderungen. Dort ist wie bisher die europäische Krankenversicherungskarte abgebildet. Sie dient weiterhin dem Bezug von Leistungen im europäischen Ausland. Der Magnetstreifen auf der Rückseite bleibt auch unverändert. Er dient den bestehenden Lesegeräten der Leistungserbringer zum Auslesen der VeKa-Kartennummer und (für die Übergangszeit) auch noch der auslaufenden CovercardNummer. Neu befindet sich auf der Vorderseite der Mikroprozessor. Er wird nach der abseh-

Foto: ZVG

Kommt die neue Versichertenkarte anfangs Jahr in alle Schweizer Briefkästen?

baren Einführung von Chip-Lesegeräten den Magnetstreifen auf der Rückseite ersetzen. Inhaltlich sind auf dem Mikroprozessor die gleichen Angaben elektronisch abgespeichert, welche auf der Vorderseite aufgedruckt sind. Dazu gehören neben dem Namen, dem Geburtsdatum, dem Geschlecht und dem Versicherer auch die erwähnte VeKa- und AHV-Nummer. Mit diesem Ausweis kann sich der Patient beim Leistungserbringer leichter identifizieren. Die damit verbundenen administrativen Abfragedienste beim Leistungserbringer können elektronisch prüfen, ob die Karte noch gültig ist und ob der Versicherte immer noch beim Kartenherausgeber versichert ist. Mit dieser Funktion wird der Patient von grosser Administration befreit, und der Leistungserbringer kann direkt mit dem Versicherer die anstehenden administrativen Massnahmen optimieren. Das VeKa-Center ist sehr erfreut darüber, dass in den vergangenen Monaten viele Leistungserbringer- und Software-Organisationen mit dem VeKa-Center leistungsfähige Lösungen vorbereitet haben. Was bringt der neue Mikroprozessor?

Eine umstrittene Funktion auf dem Mikroprozessor ist die mögliche elektronische Abspeicherung von medizinischen Notfalldaten und die Verwendung dieser Karte für kantonale Modellversuche. In den Vernehmlassungen hat sich der Krankenkassenverband santésuisse jah-

Die Produktion ist angelaufen: Ab 2010 kommt die neue Versicherten-Karte zum Einsatz.

relang und erfolglos gegen diese Funktionen ausgesprochen. Der medizinische Nutzen ist umstritten, und es fehlen wichtige Rahmenbedingungen rechtlicher, operativer und wirtschaftlicher Natur zur Umsetzung solcher Vorhaben. Diese Funktion ist fakultativ sowohl für den Versicherten wie auch den Leistungserbringer. Die Versicherer des VeKa-Centers werden als Herausgeber dieser Karte keine medizinischen Daten auf der Karte anbringen und auch nicht auslesen können. Die Versicherten werden informiert, dass sie solche Funktionen unter ihrer eigenen Verantwortung zusammen mit dem berechtigten Leistungserbringer aktivieren und bewirtschaften müssten. Die Krankenversicherer müssen nun im kommenden Versand allen Versicherten einen PUK-Code übergeben, mit welchem sie dann selber beim Leistungserbringer einen PIN-Code erstellen können, um ihre medizinischen Daten oder Zugriffe schützen zu können. Das ist eine schwierige Aufgabe. Ist die neue AHV-Nummer nun verfügbar?

Das VeKa-Center hat in intensiver Zusammenarbeit mit den teilnehmenden Versicherern alle Vorbereitungen getroffen, um die Produktion und den Versand von über fünf Millionen Chipkarten erfolgreich durchzuführen. Eine wichtige Voraussetzung war die erfolgreiche Erstzuteilung der neuen AHV-Nummer an alle Versicherten der Krankenversicherung. Das VeKa-Center hat als offizielle Ausgabestelle und unter Teilnahme aller zugelassenen Krankenversicherer diese Zuteilung organisiert. Es konnten bereits 99,69 Prozent der Versicherten zugeteilt und den Versicherern übermittelt werden. hans-peter schönenberger

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Eidg. Berufsprüfung Krankenversicherungs-Fachfrau oder -Fachmann Standortbestimmungen und Prüfungsresultate

Seit 2006 immer bessere Prüfungsresultate: Woran liegts? Die AbsolventInnen der «Eidgenössischen Berufsprüfung Krankenversicherungsfachfrau oder -fachmann» werden seit 2006 immer erfolgreicher – ohne dass das Niveau des Kurses oder der Prüfungen gesunken wäre. Der Schlüssel liegt im neuen Modularen Lehrgang, der auf verstärkten Präsenzunterricht und auf schriftliche Standortbestimmungen vor den Prüfungen setzt.

Die Prüfungsergebnisse lagen bis im Jahr 2006 bei einer Erfolgsquote von nur etwa 50 Prozent. Das konnte und durfte so nicht weitergehen, waren doch die Enttäuschungen bei allen Beteiligten – Teilnehmende, Experten, Referenten und Prüfungsverantwortliche – hoch. Den Schwierigkeitsgrad der Prüfung zu reduzieren kam von Beginn weg nicht in Frage, nicht zuletzt auch um die Aussagekraft der Diplome nicht zu schwächen und echte Vergleichsmöglichkeiten zu gewährleisten. Also brauchte es auf der Unterrichtsseite oder in der Auswahl der Teilnehmenden eine bessere Ausgangslage. Ein Auswahlverfahren von Teilnehmenden ist nicht nur aufwändig, sondern schafft immer auch eine Chancenungleichheit. Deshalb hat sich santésuisse entschlossen, den Unterricht zu überarbeiten. Umstellung auf Lernmodule

Im Jahr 2006 startete parallel zum laufenden Lehrgang der erste Modulare Lehrgang. In fünf Module eingeteilt, sind automatisch auch fünf in sich abgeschlossene Unterrichtsteile zu erarbeiten. Hintergedanke war dabei, diese Teile als einzelne Ausbildungsangebote anbieten zu können. Mit der Überarbeitung der Inhalte wurden gleichzeitig methodisch-didaktische Elemente mit einbezogen. Zusätzlich verlangte das BBT eine neue Prüfungsordnung sowie die Wegleitung dazu, welche den aktuellsten Rahmenbedingungen entsprechen mussten. Einführung der Standortbestimmungen

Mit der Umstellung auf den modularen Unterricht hat santésuisse themenspe-

zifische Standortbestimmungen eingeführt. Diese zählen zwar nicht für die Eidg. Prüfung, haben aber den Charakter einer schriftlichen Fachprüfung. Die Aufgaben sind themenspezifisch und die zur Verfügung gestellte Zeit entspricht in etwa einer Prüfungssituation. Die Korrekturen der Blätter erfolgen durch Experten und Referenten und sollen auch einen zusätzlichen Lerneffekt auslösen. Die Standortbestimmungen zeigen den Studierenden auf, wo sie im Augenblick in Bezug auf das Prüfungsniveau stehen. Studierende, welche vermehrt schwache Ergebnisse erreichen, werden durch die Abteilung Ausbildung kontaktiert. Mit Zusammenzügen von Standortbestimmungen sind die Ausbildungsverantwortlichen auch in der Lage, Klassenstärken oder gar Qualitätsmerkmale des Unterrichts abzuleiten. Erfolgreichere Prüfungsabschlüsse

Seit der Einführung des modularen Lehrganges haben sich die Prüfungsergebnisse kontinuierlich verbessert. Allerdings führt santésuisse das nicht nur auf die überarbeiteten Kursinhalte zurück, sondern auch auf den ausgeweiteten Präsenzunterricht. Nicht von der Hand zu weisen ist der Zusammenhang zwischen den Ergebnissen der Standortbestimmungen und dem erreichten Prüfungsergebnis. Die Tabelle zeigt die korrekt gelösten Aufgaben der einzelnen Kursteilnehmer in allen fünf Standortbestimmungen. Dabei legt santésuisse den Massstab so an, dass als gut vorbereitet gilt, wer 70 Prozent und mehr der gesamten Punktzahl erreicht. Liegt die Auswertung zwischen 60 und 69 Prozent bewerten die Ausbilder das Resultat mit «genügend» und erwarten eine zusätzliche Lernanstrengung der Kursteilnehmenden. Resultate, welche 60 Prozent nicht erreichen, sind ungenügend. Hier ist das Bestehen der Prüfung ohne zusätzlichen intensiven Lerneinsatz in Frage gestellt. Dem gegenüber steht das tatsächliche Prüfungsresultat der entsprechenden Kursteilnehmenden. Die Tabelle zeigt ebenfalls eine Anhäufung von Misserfolgen im Bereich, wo

eher schwache Standortbestimmungen abgelegt wurden. Richtige Einschätzung des Lernaufwandes und Vergleich mit ähnlichen Fachausweisen

Befragungen von Teilnehmenden zeigen immer wieder auf, dass der Lernaufwand im Bereich Selbststudium unterschätzt wird. So liegt der Präsenzunterricht im Bereich von 120 Stunden. Für das Selbststudium müssen zusätzlich mindestens 300 Lernstunden eingesetzt werden. Der Präsenzunterricht findet in Klassen mit maximal 15 Personen an Arbeitstagen statt, was den Vorteil hat, dass die Teilnehmenden gut konzentriert und aufnahmefähig sind. Im Vergleich zu den Ausbildungen der Sozialversicherungen oder der Privatversicherungen ist der Lernaufwand für die Berufsprüfung Krankenversicherungsfachfrau/Krankenversicherungsfachmann branchenintensiver. Die Lernzeiten sind aber deutlich niedriger veranschlagt. Das Anforderungsprofil für die Fachprüfung ist bei allen Berufsprüfungen etwa gleich hoch. Dementsprechend sind die Erfolgsquoten bei den Prüfungen in etwa gleich. Der Unterschied der Sozial- und Privatversicherungen liegt einerseits beim höheren Preis und andererseits dem umfangreicheren Präsenzunterricht, welcher meistens am Abend und oder an Samstagen stattfindet. Hans wohler, leiter Abteilung ausbildung, santésuisse

standortbestimmung im vergleich zum Prüfungsresultat

88,8% 81,8% 73,4% 73,0% 67,8% 67,4% 66,2% 64,3% 60,0% 58,6% 56,0% 55,8% 55,8% 51,2% 49,3%

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bestanden nicht bestanden bestanden bestanden bestanden bestanden bestanden bestanden bestanden bestanden bestanden nicht bestanden nicht bestanden bestanden nicht bestanden


Drei Fragen an: Konstantin Beck, Leiter CSS-Institut für empirische Gesundheitsökonomie

«Die soziale Krankenversicherung würde schon bald Defizite in Milliardenhöhe schreiben» Foto: ZVG

Der CSS-Gesundheitsökonom Konstantin Beck spricht Klartext: Eine Einheitskasse hätte fatale Folgen für Qualität, Kostenentwicklung und die Finanzierung der sozialen Krankenversicherung. Die wirklichen Probleme kann die Einheitskasse nicht lösen. Und das Suva-Modell ist laut Beck in der Krankenversicherung schlicht nicht praktikabel.

Die Diskussion um die Einheitskasse scheint durch die heftigen Prämienerhöhungen neue Nahrung bekommen zu haben. Wie würde eine Einheitskasse die Kosten- und Prämienentwicklung beeinflussen?

Die Kosten würden aus mehreren Gründen steigen. Einmal wären die Ursachen der Kostenentwicklung von der Einheitskassenlösung gar nicht tangiert: Konsumverhalten eines Teils der Bevölkerung, technischer Fortschritt, Ausbau des Leistungskatalogs, Mengenausweitung durch die Leistungserbringer, um nur die wichtigsten zu nennen. Es käme auch nicht zur erhofften starken Reduktion der Verwaltungskosten, weil heute schon ein Teil der Verwaltungskosten der Zusatzversicherung angelastet wird. Zudem sehe ich in meiner täglichen Arbeit, dass das fristgerechte Abrechnen einer steigenden Belegflut ein gehöriges Engagement der Mitarbeiter erfordert. Wenn wir aus diesen Mitarbeitern Staatsangestellte machen – zumindest aus dem Teil, der durch den Einheitskassenentscheid nicht auf die Strasse gestellt wird – fällt dieses Engagement sehr rasch weg. Deshalb kämen indirekte Kosten in Form verzögerter Leistungsabrechnungen, Liquiditätsengpässe für die tiefen Einkommen oder Verzögerungen bei den Kostengutsprachen im Spital dazu. Was aber passiert mit den steigenden Kosten? Entweder würgt die Einheitskasse den Kostenanstieg ab, worauf die Patienten längere Wartezeiten beispielsweise vor lebensnotwendigen Operationen in Kauf nehmen müssen. Dazu käme eine sinkende Qualität der Leistungserbringung, da die ärztliche Motivation als Folge der

«Die Einheitskasse tangiert die Ursache der Probleme nicht.»

Sparübungen auch leiden dürfte. Oder aber die Einheitskasse hat die Kosten so im Griff wie heute eine IV, so dass sich der Kostenanstieg sogar potenzieren könnte. Dann müsste auch das Prämienwachstum zunehmen. Das ist politisch aber nicht durchsetzbar. Die soziale Krankenversicherung würde in kürzester Zeit (sicher innert zwei Jahren) Defizite in Milliardenhöhe schreiben. Und das Problem der Finanzierung unserer Gesundheitskosten schieben wir gekonnt auf die Schultern unserer Kinder. Was halten Sie von der Idee, die Krankenversicherung nach Suva-Art zu betreiben?

Das Geschäft der Suva ist ein komplett anderes. Kaum jemand bricht sich freiwillig das Bein, um Suva-Leistungen beziehen zu können. Auf den Unfall folgen in den allermeisten Fällen Behandlungen, die standardisierbar und dadurch überprüfbar sind. Und die Suva kann relativ einfach Präventionsmassnahmen umsetzen. Wenn ich keinen Helm trage, dann trifft mich der Hammer, der vom Gerüst fällt, direkt auf die Schädeldecke. Das leuchtet jedem ein. Wie ist das nun bei der Krankenversi-

cherung? Krankheiten sind die Folge tausender einzelner Einflussfaktoren. Kommt mein Krebs vom Rauchen oder von meiner genetischen Prädisposition? Noch entscheidender ist der Punkt, dass die Medizin für bestimmte Krankheiten kein objektives Vorgehen festlegt. Es ist zum Beispiel so, dass eines der gängigsten Medikamente in Frankreich – zur Erweiterung zerebraler Blutgefässe – in den USA und England als wirkungslos angesehen wird. Alles ist verschwommener als bei Unfällen. Die Instrumente der Suva können sich im Krankheitsfall gar nicht gleich Kosten dämmend auswirken. Was können die Krankenversicherer tun, um die Vorteile des Systems – gesicherte Finanzierung, Wahlfreiheit, Qualität – überzeugender gegen populistische Angriffe zu verteidigen?

Die momentane Entrüstung der Politik bezieht sich auf die aktuellen Prämienerhöhungen. Diese wären nicht notwendig, wenn nicht der Politiker und Bundesrat Pascal Couchepin, den Prämienanstieg während drei Jahren praktisch verboten hätte. Heute reagieren die Prämien auf nichts anderes als auf einen seit 1914 anhaltendenen Kostenanstieg. Die Versicherer müssen nun die Prämienerhöhung dreier Jahre in ein Jahr verpacken, was für Unmut sorgt. Aber schon bald wird dieser Spuk wieder ein Ende haben. Kosten- und Prämienanstiege werden sich in geordneteren Bahnen bewegen. Das ist eben gerade das populistische an dieser Initiative: Die wirklichen Ursachen werden nicht tangiert. Dafür werden Ursachen erfunden, die es zu bekämpfen gilt. Und der Anlass für die Initiative ist ein kurzfristiger, von der Politik und von niemand anderem provozierter Prämienaufschlag. Was die Schweiz hingegen dringend nötig hätte, wäre eine rationale, kühle und professionelle Wettbewebsregulierung, wie sie beispielsweise die Niederlande seit über 25 Jahren kennt. interview: peter kraft

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Welche Rolle spielt die Angehörigenpflege wirklich?

Studie illustriert die zentrale Bedeutung der familialen Pflege Der Bericht über die Alterspflege in der Schweiz von François Höpflinger und Valérie Hugentobler von 2005 widmet sich auch intensiv der Angehörigen-Pflege. Diese ist umso wichtiger, weil in Zukunft weniger junge Menschen da sein werden, um eine zunehmende Zahl pflegebedürftiger alter Menschen zu unterstützen.

Bei der familialen Pflege zeichnet sich ein Wandel ab. Die Zahl der Einpersonen-Haushalte wird zunehmen, die gegenseitige Hilfe hingegen ab. Schwierig einzuschätzen ist, wie sich die Bereitschaft zur Pflege betagter Eltern durch ihre Kinder (bis heute weitgehend Töchter oder Schwiegertöchter) entwickelt. Eine qualitative Verbesserung der Pflegeheime dürfte dazu führen, dass Kinder eher bereit sind, die Pflege eines Elternteils einem Pflegeheim zu übertragen.

Wer hilft und pflegt?

Ehe- und LebenspartnerInnen als Hauptpersonen stehen bezüglich Angehörigenpflege eindeutig an erster Stelle. Wegen der höheren Lebenserwartung von Frauen und der traditionellen Altersunterschiede in Paarbeziehungen sind es vor allem die Ehefrauen. An zweiter Stelle stehen die Töchter, und an dritter Stelle die Söhne. Auf dem vierten Platz rangiert die professionelle ambulante Pflege (Spitex) und auf dem fünften die Schwiegertöchter. Nachbarn, Freunde und Bekannte leisten zwar nicht selten Hilfe im Alltag und im Haushalt, sie sind jedoch bei der eigentlichen Pflege wenig vertreten. Eine deutsche Studie zur familialen Pflege kommt zu einigen zentralen Feststellungen, die auch für die Schweiz gültig sein dürften: • Der Schwerpunkt der familialen Pflege liegt bei Menschen mittleren Alters: Mehr als die Hälfte (53 Prozent) der Hauptpersonen sind zwischen 40 und 64 Jahre alt.15 Prozent sind unter 40 Jahre alt, 27 Prozent da-

Unverzichtbare Hilfeleistungen

Im hohen Lebensalter sind Hilfeleistungen von Angehörigen, Bekannten und Nachbarn oft eine wichtige Voraussetzung, um weiterhin in einem privaten Haushalt leben zu können. Gleichzeitig wird deutlich, dass ältere Menschen nicht nur Hilfe beanspruchen, sondern auch unentgeltliche Hilfeleistungen erbringen. Dies gilt vor allem für gesunde AHV-Rentner und -Rentnerinnen. Ältere Menschen mit gesundheitlichen Problemen schätzen besonders auch informelle Hilfen – wie die Hilfe beim Einkaufen oder Unterstützung im Haushalt. Im hohen Lebensalter gewinnen auch Hilfeleistungen bei administrativen Angelegenheiten (Steuererkärungen, Formulare usw.) an Bedeutung. Informelle Hilfeleistungen sind vor allem bei Personen mit niedrigem Einkommen und geringer Bildung sehr gefragt.

gegen im jüngeren Rentenalter (65 bis 79). Nur fünf Prozent der Hauptpflegepersonen sind 80 Jahre und älter, wobei es sich vor allem um Ehepartnerinnen handelt. • Am häufigsten werden Mutter oder Vater, am zweithäufigsten Partnerin oder Partner gepflegt. Etwa zwei Fünftel der pflegebedürftigen Männer zwischen 65 und 79 Jahren werden von ihrer Partnerin gepflegt, während nur ein Fünftel der pflegebedürftigen Frauen im gleichen Alter Hilfe von ihrem Partner erhalten. • Alle Studien zeigen übereinstimmend, dass vor allem bei chronischen Krankheiten oder in späteren Phasen der Pflegebedürftigkeit der zeitliche Aufwand von Hauptpflegepersonen sehr hoch sein kann. Etwa die Hälfte der Pflegenden muss den Nachtschlaf wegen Hilfs- und Pflegetätigkeit unterbrechen. Die Detailanalyse zeigt, dass sich Söhne vor allem bei der Vermittlung von Hilfe und bei administrativen Angelegenheiten stark engagieren. Motivation und Hilfe für die Pflegenden

Dass die Betagtenbetreuung nach wie vor stark von sozialen Vorstellungen und ethischen Werten geprägt wird, ist offensichtlich. Die familiale Solidarität gebietet, kranke alte Familienmitglieder tatkräftig zu unterstützen. Insgesamt lasse sich kaum sagen, so der Bericht, dass die Bereitschaft für die intergenerationelle familiale Pflege gesunken sei. Eine Abschwächung könnte sich jedoch ergeben, wenn sich wegen sinkender Kinderzahl die Pflege immer stärker auf ein oder zwei Angehörige konzentriert. Josef Ziegler

François Höpflinger, Valérie Hugentobler: Familiale, ambulante und stationäre Pflege im Alter. Perspektiven für die Schweiz. Verlag Hans Huber, 2005. (Bücherreihe des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums)

25 | Krankenversicherung 10/09


Grafik des Monats Dezember

Spital ambulant gewinnt auf Kosten der Ärzte Der Anstieg der ambulanten Spitalkosten sei eine gute Nachricht, hören wir immer wieder. Denn damit einher gehe ein Rückgang der teureren stationären Behandlungen. Dass diese These nicht haltbar ist, zeigt unsere aktuelle Grafik des Monats.

Die Grafik des Monats September zeigt auf, dass sich der «Kuchen» der Grundversicherungs-Kosten nicht mehr gleich zusammensetzt wie zu Beginn der KVGÄra 1998. Der Anteil der Medikamente ist sowohl in den Apotheken als auch in der Selbstdispensation leicht angestiegen. Gravierender sind aber die Verschiebungen bei den Arztbehandlungen und bei den ambulanten und stationären Spitalkosten. Der Anteil der ambulanten Spitalleistungen ist seit 1998 von 9,3 auf 14,3 Prozent gestiegen. Die stationären Spitalkosten machen aktuell 23,1 Prozent aus. 1998 waren es noch 25,5 Prozent. Bei den Arztkosten ist der Rückgang des Anteils deutlich ausgeprägter: Er ist von 26,7 auf 22,5 Prozent gesunken.

Systemwechsel löst Problem nicht

Das zeigt Folgendes: Die ambulanten Spitalkosten haben nicht, wie oft behauptet, hauptsächlich auf Kosten des stationären Sektors zugelegt. Die Ärztinnen und Ärzte haben bedeutend mehr eingebüsst. Die Grafik des Monats dokumentiert eine gewisse Leistungs-Verschiebung von den Arztpraxen in die Spitalambulatorien. Das ist eine kostentreibende Entwicklung, die wohl auch gesellschaftliche Ursachen hat. Um sie zu mildern, braucht es die richtigen Anreize – sprich sinnvolle Reformen. Ein Systemwechsel, wie aktuell wieder häufiger als Allheilmittel propagiert, würde hier gar nichts ändern. peter kraft

BRUTTOLEISTUNGEN OKP PRO VERSICHERTE PERSON 1998 − 2008 IN FRANKEN QUELLE: BAG

3200

11,8%

2800

7,9%

2400 2000 1600 1200 800 400

13,3% 11,3% 7,8% 12,7% 6,7%

7,1% 22,5%

26,7%

14,3%

9,3% 23,1%

25,5%

0 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 ÜBRIGES

ARZTPRAXIS BEHANDLUNGEN

PFLEGEHEIM

SPITAL AMBULANT

APOTHEKEN MEDIKAMENTE

SPITAL STATIONÄR

ARZTPRAXIS MEDIKAMENTE Der prozentuale Anteil der ambulanten Spitalkosten steigt – vor allem auf Kosten der Ärzte.

26 | Krankenversicherung 10/09


Monats

Foto: Prisma

Vor etwas mehr als hundert Jahren hatte der niederländische Arzt Willem Einthoven eine Idee, welche die medizinische Diagnostik für immer verändern sollte. Er erinnerte sich 1903 an einen Versuch seines englischen Kollegen Augustus Desiré Waller, der einige Jahre zuvor seinen Hund mit allen vier Pfoten in eine elektrisch leitende Flüssigkeit steckte. Er konnte so die Stromstösse registrieren, die vom Herzen des Hundes ausgingen. Diese Stromstösse sind so schwach, dass Mensch und Tier nichts davon spüren – aber stark genug, um den Herzschlag auszulösen. Sie sind auch an Händen und Füssen (respektive Pfoten) noch messbar. Einthoven verbesserte Wallers Apparatur, konstruierte eine selbstdrehende Papierrolle zur Aufzeichnung der Herzströme und machte das Elektrokardiogramm damit fit für die Anwendung beim Menschen. Zuerst wollte Einthoven die Stromstösse nur an den Händen messen, was aber nicht ausreichte. Deshalb mussten die Patienten beim UrEKG Hände und Füsse in Behälter mit der elektrisch leitenden Flüssigkeit tauchen. Die Behälter waren durch Kabel mit dem Apparat verbunden, der die Stromstösse des Herzens aufzeichnete. Mehr als dreissig Jahre lang war Einthovens Konstruktion in den Spitälern in Betrieb. Dann erfand der amerikanische Arzt Frank Norman Wilson die noch heute gebräuchlichen Stromableitungen an der Brust.

27 | Service 10/09

Bild

Auf zum Fussbade: Das Ur-EKG


infosantésuisse Dossier: Noch mehr Infos für unsere Abonnenten Neu stellen wir unseren Abonnenten umfassende Dossiers zu einzelnen infosantésuisse-Ausgaben oder anderen speziellen Themen zur Verfügung. Die Dossiers werden regelmässig aktualisiert, sind online lesbar und stehen zum Download bereit. Den Anfang macht ein Dossier zur sondage santé 2009, eine Bevölkerungsumfrage von santésuisse zu unserem Gesundheitssystem. Was halten die SchweizerInnen vom System, und welche Reformen sind sie bereit mitzutragen? Das Dossier umfasst die Pressematerialien der Jahre 2007 bis 2009. Damit können Sie die einzelnen Jahre direkt miteinander vergleichen. Vergleichen Sie auch mit den Resulten der anderen grossen Schweizer Gesundheitsumfrage (Gesundheitsmonitor) und mit Erhebungen aus anderen Ländern (Frankreich, Kanada). Schliesslich finden Sie auch noch die Resultate des Euro Health Consumer Index, der die Qualität der europäischen Gesundheitssysteme aus Sicht der Patienten analysiert. Die Dossiers finden unsere Abonnenten unter: www.santesuisse.ch/infosantesuisse.

Aus aller Welt

Service

Neue Rubrik bei infosantésuisse online

Kein Krankengeld wegen Facebook Fotos auf Facebook zeigen eine Kanadierin an Konzerten, Partys oder im Urlaub. Weil sie aber wegen einer Depression Krankentaggeld erhält, hat sie nun Ärger mit ihrer Versicherung: Sie will die Zahlungen aufgrund der Fotos einstellen. Die Frau gibt an, sie habe auf Anraten ihres Arztes versucht, etwas Spass zu haben.

50 Millionen Amerikaner hungern Rund 50 Millionen Amerikaner hatten während der Wirtschaftskrise nicht immer genügend zu essen. Für 14,6 Prozent der Haushalte fehlte zeitweise das Geld, um alle angemessen mit Nahrungsmitteln zu versorgern.

Pflichtimpfung vor Pilgerfahrt nach Mekka Die saudi-arabische Regierung hat die Schweinegrippe-Impfung für alle seine Bürger, die dieses Jahr nach Mekka wallfahrten wollen, zur Pflicht erklärt. Die tunesische Regierung hat die Mekka-Wahlfahrt sogar verboten.

Warnung vor Ketzerei Im Streit um die geplante Liberalisierung des Abtreibungsrechts in Spanien setzt die katholische Kirche das Parlament unter Druck. «Wer das neue Gesetz annimmt, macht sich der Ketzerei schuldig, begeht eine Todsünde und kann nicht länger die Kommunion empfangen», sagte der Generalsekretär der spanischen Bischöfe.

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Veranstaltungen Veranstalter

Besonderes

Datum/Ort

Weitere Informationen

20./21. Januar 2010 Olma-Hallen, St. Gallen

www.fachsymposium.ch

26. Januar 2010 Swissôtel Zürich

www.irp.unisg.ch

Fachsymposium Gesundheit Kantonsspital St. Gallen

Thema: Patientensicherheit

Tarifverhandlungen bei SwissDRGs Institut für Rechtswissenschaft Referenten u.a. Michael Jordi (GDK), und Rechtspraxis, Universität Simon Hölzer (SwissDRG AG), Otto St. Gallen Bitterli (Sanitas), Stefan Meierhans (Preisüberwacher), Stefan Kaufmann (santésuisse)

Zeichnung: Marc Roulin

Melden Sie uns Ihre Veranstaltungen an: redaktion@santesuisse.ch! Weitere Veranstaltungen unter www.santesuisse.ch

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Service

Grosse regionale Unterschiede bei der Krebs-Behandlung in Frankreich

Krebs: Französische Zeitung veröffentlicht Hitliste der Spitäler Kürzlich hat die französische Zeitung «Le Parisien» die erste Hitliste der in der Krebsbehandlung tätigen Spitäler und Kliniken veröffentlicht. Diese Klassierung stammt von der Gesellschaft Santéclair, die auf Gesundheitsrisikomanagement spezialisiert ist und für die Zusatzversicherungen arbeitet. Die Studie befasst sich mit vier verschiedenen Arten von Krebs (Prostata, Brust, Verdauungstrakt, Kopf/Hals), welche unter den jährlich diagnostizierten 350 000 Krebserkrankungen 51 Prozent ausmachen. Dabei zeigte sich: Es gibt wenige «ausgezeichnete Einrichtungen» (drei Sterne), einen hohen Anteil von «sehr guten Einrichtungen» (zwei Sterne) und grosse regionale Unterschiede. Nur sechs Prozent der Einrichtungen (54 von 855), die Patientinnen mit Brustkrebs behandeln, erhielten drei Sterne. Von den 896 Spitälern und Klinken, die Krebserkrankungen des Verdauungstraktes behandeln, erhielten 10 Prozent diese Note. Nur jede zweite Einrichtung, die in Frankreich in der Krebschirurgie tätig ist, hat eine ausreichend gute Pflegequalität. Die Ungleichheiten sind zudem enorm: Fast jedes vierte Departement

hat keine Einrichtung mit drei Sternen. Acht Departemente (Aveyron, Creuse, Gers, Jura, Lot, Lozère, Mayenne und Haute-Loire) haben nicht einmal eine mit zwei Sternen. In diesen Departementen müssen die PatientInnen bis zu 150 Kilometer zurücklegen, um zu einer Zwei-Sterne-Einrichtung zu gelangen. Die höchste Klassierung erreichen nicht nur öffentliche Spitalzentren. Auch private Einrichtungen bieten hervorragende Leistungen an. 130 davon erhielten drei Sterne. Bei den öffentlichen Einrichtungen waren es nur 85. Le Parisien betont jedoch, dass die Zahl der privaten Einrichtungen bedeutend grösser ist. Die Liste berücksichtigt die Einstufung des nationalen Krebsinstituts, den Personalbestand für jede Art von Krebserkrankung im Verhältnis zum nationalen Durchschnitt und die Qualitätskriterien der Haute autorité de santé (HAS). Kriterien zu den Ergebnissen der Krebstherapie, zur Information, zum Empfang, zur Lebensqualität oder zur Zufriedenheit der Patienten und ihrer Familien hinsichtlich Pflegequalität fehlen gänzlich.

Verein Gesundheitsnetz 2025 für mehr Teamwork und gemeinsame innovative Angebote

Foto: Prisma

Akteure des Zürcher Gesundheitswesens spannen zusammen 19 Organisationen aus dem Zürcher Gesundheitswesen haben den Verein Gesundheitsnetz 2025 gegründet. Der Verein will als Think-Tank und zentrale Plattform aller Beteiligten den gegenseitigen Austausch fördern. Daraus sollen gemeinsame innovative Angebote oder Zusammenarbeitsformen entstehen. Beteiligt sind unter anderem Spitäler, Krankenversicherungen, Ärzteorganisationen, Ärztenetze, die Spitex und der Apothekerverband. Mit der Notfallpraxis Waid, einer Kooperation zwischen dem Stadtspital Waid und dem allgemeinen Notfalldienst der Hausärzte und dem Projekt SiL, das Menschen mit Demenz und deren Angehörige im Alltag berät und begleitet, sind erste Projekte bereits in der Umsetzung. Weitere starten 2010. Mehr Informationen gibt es auf www.gesundheitsnetz2025.ch.

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Avis d’ouverture de l’examen professionnel pour spécialiste en assurance-maladie avec brevet fédéral 2010 L‘examen professionnel pour spécialiste en assurance-maladie avec brevet fédéral, organisé par santésuisse, se déroulera comme suit : Lieu :

Lausanne et Olten

Dates : Examen écrit : Examens oraux :

lundi 3 mai 2010 mardi 4 mai 2010 mercredi 5 mai 2010 jeudi 6 mai 2010

Admission :

L’examen selon le règlement 2008

Sont admis à l’examen les candidats qui

• sont détenteurs d’une formation d’au moins trois ans, sanctionnée par un certificat fédéral ou d’un certificat de même valeur (p.ex. diplôme reconnu d’une école de commerce, maturité fédérale) et justifient d’une pratique professionnelle d’au moins quatre ans dès la fin des études dont au moins deux ans dans le domaine de l’assurance-maladie selon la LAMal ; • justifient de six ans de pratique professionnelle dans le domaine de l’assurance-maladie selon la LAMal.

L’examen selon le règlement 2000

Les candidats/ candidates qui ont déjà passé, sans le réussir, l’examen professionnel selon le règlement de 2000 ou la répétition de l’examen selon le règlement de 2000, repasseront l’examen selon le règlement de 2000 et le guide, version 2001. Cette forme d’examen ne sera plus proposée qu’en 2010.

Coûts de l’examen : CHF 1050.–, payable dès confirmation écrite de l’admission Inscription :

sur formulaire adéquat, à demander auprès de l‘Office de formation de santésuisse, Römerstrasse 20, case postale, 4502 Soleure, Tél. 032 625 41 41, fax 032 625 41 51, E-mail ausbildung@santesuisse.ch

Délai d’inscription : vendredi 8 janvier 2010 (cachet de la poste) La commission d’examen décide de l’admission à l’examen. Les candidats / candidates sont informés par écrit des résultats. Veuillez vous adresser à l’Office de formation de santésuisse pour tout renseignement complémentaire.

31 | Service 10/09



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