infosantésuisse Nr.11/2006 deutsch

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infosantésuisse Magazin der Schweizer Krankenversicherer Nr. 11, November 2006

Das Geschäft mit der Angst Seite 9

Marc-André Giger nimmt Abschied von santésuisse Seite 16

IM FOKUS:

Patienten und Versicherte


INHALT

infosantésuisse  Nr. 11, November 2006

SCHWERPUNKT 4 6 7 8 9 10 12 14 15

Gibt es das Beste für Patientinnen UND Prämienzahler? Erika Ziltener: Patientinnen und Patienten setzen auf die Grundversorgung Margrit Kessler: Gut informierte Patienten haben bessere Heilungschancen Jacqueline Bachmann: Bessere Akzeptanz für Managed Care? Ihr sollt sein ein einig Volk von Patienten: Das Geschäft mit der Angst Chronisch Kranke: Entspricht unser Gesundheitssystem ihren Bedürfnissen? Information und Transparenz: Das wünschen und brauchen die Patienten der Zukunft Buchtipp: Kreuzverhör Gesundheitskosten von Urs P. Gasche Buchtipp: Arbeitsplatzerhalt und Wiedereingliederung

Patientinnen und Prämienzahler im Spannungsfeld der Interessen Seite 4

KRANKENVERSICHERUNG 6 santésuisse-Direktor Marc-André Giger nimmt Abschied – Ein Gespräch 1 18 Presseschau: Einheitskasse fällt bei den Zeitungen durch 20 Aktualitätenseminar 2006 des Ressorts Ausbildung Westschweiz

GESUNDHEITSWESEN 22 Drei Fragen an: Walter Schneider, Landrat des Landkreises Lörrach

SERVICE 3 2 23 23 24 24 24 25 25

News aus aller Welt Antwort des Bundesrats auf das Postulat Robbiani Recherche leicht gemacht auf www.santesuisse.ch Pflegeberufe erstmals an der Fachhochschule Mit positiver Psychologie gegen den Stress Wie soll ich mein Kind impfen lassen? Veranstaltungskalender

Information und Transparenz: Die Bedürfnisse des «Future Patient» Seite 12

Presseschau: Einheitskasse fällt bei den Zeitungen durch Seite 18

Nr. 11, November 2006 Erscheint zehnmal jährlich

Layout: Henriette Lux

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EDITORIAL

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Doppelrolle als Prämienzahler und Patient – Dilemma oder Chance?

D Michael Rindlisbacher Verwaltungsrat santésuisse

as Dilemma ist uns allen bestens bekannt: Als Prämienzahler sind wir in erster Linie an möglichst tiefen Prämien interessiert. Werden wir hingegen zum Patienten oder zur Patientin, so konsumieren wir die angebotenen medizinischen Leistungen oftmals ohne Rücksicht auf die Kostenfolgen. Diese divergierenden Interessen und Verhaltensweisen sind Teil eines jeden Gesundheitssystems. Gerade weil wir uns dieser Doppelrolle bewusst sind, lohnt sich die Frage, ob diese Situation nicht auch Chancen bietet. Eine Studie belegt, dass die Schweizer Patientinnen und Patienten in Zukunft mehr Information, mehr Mitspracherecht und mehr Mitverantwortung fordern. Damit diese Forderung als Chance genutzt werden kann, fehlt heute aber eine wichtige Voraussetzung: Transparenz bei den Leistungserbringern. Mehr Transparenz ist dabei nicht nur während des Behandlungsprozesses erforderlich. Bereits die Auswahl des gewünschten Leistungserbringers muss in Zukunft bewusst und aufgrund von klaren Fakten erfolgen können. Eine freie Arzt- und Spitalwahl macht grundsätzlich nur dann Sinn, wenn die Leistungserbringer bereit sind, sich systematischen Qualitätsvergleichen zu unterziehen und die Ergebnisse dieser Vergleiche für die Patienten nachvollziehbar und einfach zugänglich sind. Mit einem Qualitätsrating bei den Leistungserbringern wird gleichzeitig auch ein Wettbewerbselement geschaffen. Elemente des Qualitätsvergleichs sollten dabei nicht nur medizinische Kriterien sein. Als Patient muss ich mir auch über das Informationsverhalten des Leistungserbringers ein Bild

machen können. Weitere Informationen von Interesse sind beispielsweise, ob mir der Leistungserbringer verschiedene Behandlungs- und Therapiemöglichkeiten zur Auswahl unterbreitet, und mit welchen anderen Leistungserbringern er zusammen arbeitet. Unsere Doppelrolle als Prämienzahler und Patient legitimiert uns, bei den Leistungserbringern diese Transparenz einzufordern. Damit wir als Patient ebenfalls in der Verantwortung stehen, wird es notwendig sein, unser Versicherungssystem zu optimieren. Patienten und Leistungserbringer müssen in Zukunft gleichsam Anreize haben, das medizinische Angebot mit grösstmöglicher Effektivität und Effizienz zu nutzen.


SCHWERPUNKT

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Divergierende Interessen und die eigene Doppelrolle führen zu Schwierigkeiten für Prämienzahlende und Patientinnen

Gibt es das Beste für Patientinnen und Prämienzahler? Wer Prämien bezahlt oder einzieht, sieht die Kosten. Wer krank ist oder einen Kranken behandelt, sieht die Leistungen. Dass die Interessen von Leistungserbringern und Krankenversicherern manchmal auseinander gehen, ist bekannt. Zuweilen geraten die Patientinnen und Patienten zwischen die Fronten. Hinzu kommt, dass sich auch jeder von uns in einer scheinbar widersprüchlichen Doppelrolle befindet.

Fotos: Prisma

mien spürbar sinken. Grundsätzlich wollen wiederum 69 Prozent der Befragten keinerlei Qualitätseinbussen in Kauf nehmen. Für die Mehrheit der Bevölkerung spielen die Kosten im Krankheitsfall keine Rolle, während gerade einmal 17 Prozent von sich sagen können, dass die Grundversicherungsprämie für sie kein Problem darstellt. Diese scheinbar widersprüchlichen Haltungen lassen sich nur mit den unterschiedlichen Rollen erklären, in die wir uns beim Beantworten solcher Fragen hineindenken: Geht es um die Kosten, sind wir die immer stärker gebeutelten Prämienzahlenden. Geht es aber um Leistungen, sind wir die potenziellen Patienten, die jede Möglichkeit zum Gesundwerden nutzen möchten.

Unterschiedliche Interessen und die Doppelrolle Patient/Prämienzahler...

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rämienzahlende sind wir alle. Und als solche haben wir auch alle Interesse an möglichst niedrigen Krankenversicherungs-Prämien. Gerade Menschen, die einerseits gesund sind, andererseits aber nicht in komfortablen finanziellen Verhältnissen leben, fühlen sich den alljährlichen Prämienerhöhungen hilflos ausgesetzt. Sie berappen eine Entwicklung mit, zu der sie – bis anhin – nichts beigetragen haben. Grundlegend anders wird die Situation, wenn wir ernsthaft krank werden: Dann spielen die Kosten keine Rolle mehr, die hohen KrankenkassenBeiträge erscheinen – wenn überhaupt – als äusserst kleines Übel. Weil viele von uns bereits mehr oder weniger schwere Krankheiten durchlitten haben und wohl die wenigsten felsenfest an ihre immerwährende Gesundheit glauben, fällt es

Wahlfreiheit der Leistungserbringer? uns oft schwer, sich zu gesundheitspolitischen Fragen eine kohärente Meinung zu bilden.

Widersprüchliche Haltungen? Die Bevölkerungsumfrage sondage santé 2006 spiegelt dieses Dilemma klar wieder. Auf der einen Seite finden nur 45 Prozent der Befragten, die Grundversicherung solle mehr als die medizinisch notwendigen Leistungen übernehmen. Trotzdem möchten 78 Prozent, dass die Komplementärmedizin von derselben Grundversicherung gedeckt wird. 48 Prozent der Bevölkerung sind der Meinung, im Gesundheitswesen solle man nicht sparen. Jedoch sind gleichzeitig 57 Prozent bereit, auf bestimmte Leistungen zu verzichten, wenn dadurch die Prä-

Doch nicht nur die eigene, möglicherweise wechselnde Rolle führt zu eigenartigen Konstellationen. Die freie Wahl der Leistungserbringer ist ein von der Bevölkerung sehr geschätztes Merkmal unseres Gesundheitssystems. Doch wie gross ist diese Wahlfreiheit tatsächlich? Die Leistungserbringer haben einen grossen Wissensvorsprung und je nach Diagnose für die Patientinnen und Patienten eine lebenswichtige Bedeutung. Dies bringt die Patienten in ein Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Leistungserbringern. Doch nicht nur deshalb können die Patienten ihren Leistungserbringer nicht nach den relevanten Kriterien wählen oder wechseln. Es fehlen ihnen schlichtweg die Informationen dazu: In der Schweiz gibt es keine systematischen Qualitätsmessungen und -vergleiche unter den Leistungserbringern.


Die Versicherten, die Patientinnen sind deshalb nicht selber in der Lage, aus der Vielzahl der Leistungserbringer jenen auszuwählen, der für ihr Problem am besten geeignet ist. Die freie Wahl der Leistungserbringer ist heute in der Schweiz mit einer starken Abhängigkeit der Patienten verknüpft – weil die entscheidenden Informationen fehlen.

Wahlfreiheit des Versicherers? Weit weniger ausgeprägt ist die Abhängigkeit der Patienten und Prämienzahlerinnen von den Versicherern. Halbjährlich kann der Grundversicherer ohne Aufhebens gewechselt werden. Die dazu notwendigen Informationen wie Prämienhöhe, finanzielle Situation des Versicherers, sein Versichertenprofil oder die Höhe von Leistungs- und Verwaltungsausgaben sind über das Bundesamt für Gesundheit und über die Versicherer selber frei zugänglich. Schwierig wird es unter Umständen nur, wenn ein Versicherter mit seiner Grundversicherung nicht mehr zufrieden ist, seine Zusatzversicherung nicht wechseln möchte und gleichzeitig Grund- und Zusatzversicherung beim gleichen Anbieter abgeschlossen haben möchte.

SCHWERPUNKT infosantésuisse  Nr. 11, November 2006

erbringer auf die Rechnung setzt. Leidtragende können die Patientinnen und Patienten sein. Dasselbe ist der Fall, wenn die Interessen von Leistungserbringern und Krankenversicherern aufeinander treffen. Ein Arzt will – trotz kleinster Erfolgsaussichten – eine teure Therapie durchführen, der Krankenversicherer gibt die entsprechende Kostengutsprache nicht. Bis das Dossier bearbeitet ist, vergeht Zeit – Zeit, in der sonst möglicherweise eine bessere und zugleich wirtschaftlichere Lösung gefunden worden wäre. Solche Situationen sind keineswegs selten: Beim Ombudsman der sozialen Krankenversicherer gehen jährlich über 3000 Anfragen wegen Versicherungsleistungen ein.

Was tun? Ob die Patientinnen und die Prämienzahler mehr medizinische Leistungen oder vor allem tiefere Prämien brauchen, ist umstritten und wird heiss diskutiert. Sicher aber ist eins: Die Patientinnen und Patienten brauchen mehr Klarheit. Wenn der Leistungskatalog der Grundversicherung deutlicher formuliert wäre, würden die Auseinandersetzungen zwischen Versicherern und Leistungserbringern weniger. Heute ha-

Im Spannungsfeld der Interessen Die Patientinnen und Patienten laufen – allen Wahlfreiheiten zum Trotz – Gefahr, ins Spannungsfeld von widersprüchlichen Interessen zu geraten. So haben die Leistungserbringer Interesse sowohl an einer optimalen Behandlung als auch – verständlicherweise – an einem guten Einkommen. Das kann zu Konflikten führen: Etwa dann, wenn die Entscheidung über eine Therapie ansteht, die kaum einen Zusatznutzen, dafür aber erhebliche Mehrkosten bringt. Entscheidet sich der Leistungserbringer für die Therapie, hat das nicht nur für die Prämienzahlenden negative Folgen: Der Patient muss sich unter Umständen einer langwierigen und mühsamen Behandlung unterziehen – mit dürftigem Erfolg. Auch bei den Krankenversicherern gibt es widerstrebende Interessen: Einerseits sind Unternehmen im Markt und wollen ihren Kunden gute und zuvorkommende Dienstleister sein. Andererseits haben sie die gesetzliche Aufgabe, die verrechneten Leistungen vor der Vergütung auf Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit hin zu prüfen. Nicht immer wird alles bezahlt, was ein Leistungs-

...können zu starken Spannungen führen.

ben wir in der Schweiz eine Negativliste, die hauptsächlich festsetzt, was sicher nicht bezahlt wird. Klarer wäre, wie in anderen Ländern längst eingeführt, eine Positivliste mit allen versicherungspflichtigen Leistungen. Vor allem aber brauchen die Patientinnen und Patienten verlässliche Informationen über die Therapien, die sie erwarten, und über die Leistungserbringer, die diese durchführen. Nur mit verbindlichen Qualitätsmessungen, die Vergleiche erlauben, können die Versicherten die freie Wahl der Leistungserbringer wirklich wahrnehmen. Schliesslich würden solche Messungen für die Leistungserbringer stärkere Anreize setzen, eine optimale und keine maximale Medizin zu betreiben. Die Folge wäre eine bessere und preiswertere Medizin – zum Wohl von Patient und Prämienzahlerin. Wichtig ist bei all dem, dass die Akteure im Gesundheitswesen gemeinsam nach Lösungen suchen. Wenn alle Seiten behaupten, das Beste für die Prämienzahlenden zu wollen, einander aber mit völlig gegensätzlichen Vorschlägen öffentlich bekämpfen, werden keine sinnvollen Reformen das Resultat sein. Dieser Weg würde lediglich das Vertrauen der Bevölkerung in unser Gesundheitssystem zerfallen lassen.  Peter Kraft


SCHWERPUNKT

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Standpunkt von Erika Ziltener, Präsidentin des Dachverbands der Schweizer Patientenstellen

Patientinnen und Patienten setzen auf die Grundversorgung Die ideale Grundversorgung bedeutet für die Patientinnen und Patienten individuell eine qualitativ hochstehende Gesundheitsversorgung, Chancengleichheit zu deren Zugang, soziale Sicherheit und schliesslich Schutz vor Überversorgung, Unterversorgung und vor der Ausbreitung ansteckender Krankheiten. Kollektiv wirkt sie über die Solidarität zwischen gesunden und kranken, jungen und alten Menschen integrativ und sinnstiftend für die gesamte Gesellschaft.

Auf den folgenden Seiten legen die Repräsentantinnen der wichtigsten Schweizer Patientenorganisationen frei ihren Standpunkt und ihre Prioritäten dar.

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it einer Grundversorgung, die sich an der Gesundheit des Individuums und an der Gesellschaft orientiert, soll insbesondere die Gefahr der Unterversorgung eliminiert werden – nicht nur zum Schutz der Einzelnen, sondern auch zum Schutz der Gesellschaft. Wenn Menschen in wirtschaftlich bescheidenen Verhältnissen aus finanziellen Gründen auf einen Arztbesuch verzichten oder den Arzt zu spät konsultieren, erfolgen notwendige Behandlungen oft zu spät. Möglicherweise erhalten damit verschiedene Krankheiten Raum zur Ausbreitung und dehnen die Ansteckungszeit aus. Mit dem Wiederauftritt der Tuberkulose in den osteuropäischen Staaten nach der Auflösung der gesicherten und kostenlosen Grundversorgung wird deren Bedeutung eindrücklich belegt. Auch aus ökonomischer Sicht müssen solche Risiken ernst genommen werden und bei der Bestimmung der Leistungen der Grundversorgung – z.B. der Gesundheitsförderung und Prävention – berücksichtigt werden. Individuell kann eine Unterversorgung auch dazu führen, dass Krankheiten wie Diabetes zu spät entdeckt und behandelt werden. Eine Unterversorgung bedeutet letztlich eine Rationierung der medizinischen, pflegerischen und therapeutischen Leistungen. Deshalb lehnen wir die Rationierung aus ethischen Überlegungen entschieden ab.

Grosse Bedeutung der Hausarztmedizin Auch in der Grundversorgung werden zu oft unnötige Eingriffe vorgenommen, Untersuchungen mehrfach angeordnet und unnötige Behandlungen durchgeführt. Mit der Medikalisierung werden Therapien und Behandlungen verordnet, deren Nutzen wissenschaftlich nicht oder nur mangelhaft nachgewiesen sind, deren Nebenwirkungen nicht bekannt sind und die schliesslich zur kostentreibenden Mengenausweitung führen. Die Grundversorgung hat dabei auf die Hausarztmedizin als Basis eines sorgfältigen Behandlungsprozesses zu gründen, in dem sowohl die ärztlichen wie nichtärztlichen Gesundheitsberufe eng zusammenarbeiten. Die Aufklärung der Patientinnen und Patienten, die Information über die Chancen und Risiken der Therapie und das Vertrauensverhältnis zwischen der Ärztin und der Patientin sowohl auf fachlicher als auch auf persönlicher Ebene bilden dabei die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung. So lässt sich im Gespräch eine ungesunde Mengenausweitung bis zu einem gewissen Grad eindämmen.

Schuld für seine Krankheit und soll somit aus der Grundversorgung ausgeschlossen werden? Wertfreie Antworten zu finden, dürfte schwer fallen. Immerhin sind die Begriffe «gesund» und «krank» nicht naturwissenschaftlicher Fakt, sondern werden erst im Zusammenhang mit den Wertbegriffen und Wertstruktur der Gesellschaft deutlich. Diese Werthaltung wird mit den Leistungen der Grundversorgung aufgezeigt, die wiederum für die Patientinnen und Patienten einen integrierenden und sinnstiftenden Charakter auf der kollektiven Ebene hat. Die Aufkündigung des Solidaritätsgedankens ist deshalb aus Sicht der Patientenstellen fatal, nicht zuletzt weil dadurch das Gesundheitswesen in eine für die wirtschaftlich schwächeren Menschen ungesunde Richtung gesteuert wird. Dabei könnte gerade die soziale Grundversorgung mithelfen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu manifestieren. Erika Ziltener

Sinnstiftender Charakter Die Bedeutung der Grundversorgung für die Patientin oder den Patienten ist nicht nur individuell sehr gross: Auf der gesellschaftlichen Ebene definiert sie sich über die Solidarität, die zwischen jungen und alten sowie zwischen gesunden und kranken Menschen zum Tragen kommt. Ein Aufkünden der Solidarität etwa durch Risikoprämien drängt der Gesellschaft eine ethische Entscheidung auf: Wer ist ein würdiger kranker Mensch? Wer trägt die

Erika Ziltener.


SCHWERPUNKT

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Standpunkt von Margrit Kessler, Präsidentin der Schweizerischen Patientenorganisation

Gut informierte Patienten haben bessere Heilungschancen Seit 25 Jahren setzt sich die SPO (Schweizerische Patienten-Organisation) erfolgreich für die Rechte der Patienten ein und ist mit ihren Anliegen heute aktueller denn je. Gegen 4000 Bürger und Bürgerinnen suchen pro Jahr Rat und juristischen Beistand bei den fünf Beratungsstellen der SPO.

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ie SPO ist eine vom Bund anerkannte Stiftung, die den Patienten und Patientinnen hilft, ihre Rechte wahrzunehmen und durchzusetzen. Die Tätigkeit der SPO wird ideell und finanziell durch den Gönner-Verein unterstützt. Seit ihrer Gründung im Jahr 1981 hat die SPO mehr als nur einen Stein ins Rollen gebracht und auch auf politischer Ebene wichtige Erfolge erzielt. Bei der Schaffung neuer Gesetze oder Verordnungen sorgt die SPO dafür, dass die Versicherten- und Patienteninteressen wahrgenommen werden, und sie vertritt die Versicherten und Patienten in kantonalen und eidgenössischen Expertenkommissionen.

Im Zentrum steht die Patientenberatung Die SPO ist in der Schweiz mit insgesamt fünf Beratungsstellen in Bern, Lausanne, Olten, St. Gallen und Zürich präsent. Die­se Beratungsstellen stehen allen Ratsuchenden für telefonische Auskünfte oder für eine persönliche Beratung zur Verfügung. Die meisten Fragen werden den Beraterinnen der SPO rund um medizinische Leistungen gestellt, gefolgt von Fragen zu den Krankenkassen. Das medizinische Fachwissen der Beraterinnen, die gute Zusammenarbeit mit den spe­ zialisierten Anwälten und das Beziehungsnetz zu Fachspezialisten tragen dazu bei, dass rund 70 Prozent aller Haftpflichtfälle, die von der SPO abgeklärt werden, positiv abgeschlossen werden können. Besonders heikel ist die Frage, ob es sich bei einem Vorkommnis um eine Komplikation oder um einen Behandlungsfehler handelt. Mit Komplikationen müssen Patienten rechnen, auch wenn sie noch so gravierende Folgen haben. Diese Differenzierung und die entsprechende Er-

Bundesgericht stösst «Maulkorb-Urteil» um Der Einsatz der SPO entpuppte sich als eine gefährliche Arbeit, als sie ein Operationsprogramm von einem einflussreichen finanzstarken Chefarzt hinterfragte, das laut Gutachter über 24 Stunden dauerte. In vier Operationssälen wurde gleichzeitig operiert, und die Privatpatienten waren informiert, dass sie vom Chefarzt persönlich operiert werden. Weil die SPO-Präsidentin meinte, das sei nicht möglich, wurde sie wegen Ehrverletzung angeklagt. Das St. Galler Kantonsgericht verbot ihr, über das Operationsprogramm in der Öffentlichkeit zu sprechen. Sie hätte nur Fachverbände und Gesundheitsdepartement, aber nicht die Medien informieren dürfen. Die SPO sollte Schadenersatz, Entschädigung und Genugtuung von gegen 10 000 Franken bezahlen. Dazu kamen

fahrung sind bei den Abklärungen ausschlaggebend, damit zum entstandenen Schaden nicht noch hohe Anwaltskosten hinzukommen. Die Mitgliedschaft bei der SPO bedeutet eine Vorsorge für Rat und Beistand bei Krankheit, Unfall und Altersbeschwerden. Die SPO bietet in ihrer Mitgliedschaft von 50 Franken für Einzelpersonen und von 80 Franken für die ganze Familie eine Patientenrechtschutzversicherung an, die Anwalts- und Gerichtskosten bis 250 000 Franken übernimmt.

Es gibt noch viel zu tun Von Anfang an hat die Öffentlichkeitsarbeit der SPO einen grossen Raum eingenommen. Erste Resolutionen wurden schon in den 80er-Jahren verfasst, und bereits in den 90er-Jahren zogen die

die Hälfte der angelaufenen Gerichtskosten von 32 000 Franken und die eigenen Anwaltskosten von gegen 100 000 Franken. Das Bundesgericht hob das Maulkorb­ urteil im Mai 2006 auf und gab der SPO zu 100 Prozent Recht, dass sie auch die Medien hätte informieren dürfen. Laut Bundesgericht ist ein zweifelhaftes Operationsprogramm von öffentlichem Interesse. Es sei unerheblich, ob Informationen darüber nur an Fachkreise oder auch an die Medien weitergeleitet würden – insbesondere, weil «die von der Frage Betroffenen vor allem auch unter den Adressaten der Medien zu finden sind». Die Beklagte sei auch nicht unverhältnismässig früh an die Medien gelangt, weil die zuständigen Behörden und Fachstellen seit fast zwei Jahren Kenntnis von dem Fall hatten.

Bundesämter für Gesundheit (BAG) und Sozialversicherung (BSV) die SPO bei der Bearbeitung von Publikationen und neuen Themen zu. In eidgenössischen Fachkommissionen, Fachverbänden, Berufsorganisationen und Stiftungen setzt sich die SPO für die Rechte der Patienten ein und nimmt Stellung zu Gesetzesentwürfen, Vernehmlassungen und Verordnungen. Obwohl die SPO bereits viel bewegt und einiges erreicht hat, bleibt weiterhin mehr als genug zu tun. Um auch künftig wirkungsvoll handeln zu können, ist sie auf breite Unterstützung angewiesen: Je mehr Mitglieder die SPO zählt, desto mehr Gewicht erhält die Stimme der Patienten in der Politik und in den verantwortlichen Gremien. Margrit Kessler, Präsidentin SPO


SCHWERPUNKT

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Standpunkt von Jaqueline Bachmann, Geschäftsführerin der Stiftung für Konsumentenschutz

Managed Care – bessere Akzeptanz bei Patientinnen und Versicherten Der Durchbruch von Managed Care kann nur mit einer verständlichen Kommunikation durch die Versicherer gelingen, welche die Vorteile dieser Modelle ins Zentrum stellt. Die Qualitätsdiskussion und Einbezug der Patientinnen und Patienten müssen verstärkt werden: Die Versicherten brauchen mehr Informationen über die Möglichkeiten und Chancen der Patienten-Mitbestimmung. Ebenso wichtig ist die Bereitschaft und Fähigkeit der Ärztinnen und Ärzte, mit anderen Leiungserbringenden kollegial zusammenzuarbeiten. Einfach nur «nein» zur Aufhebung des Kontrahierungszwanges zu sagen, genügt nicht: Es braucht ein Bekenntnis für eine vernetzte Medizin als Zukunftsmodell für unser Gesundheitswesen.

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Foto: ZVG

ommunikation ist ein zentrales Instrument, um Überzeugungsarbeit zu leisten. Beim Verkauf von Zusatzversicherungen setzen die Krankenversicherer geradezu virtuos an, während es beim Anpreisen von Managed-Care-Modellen ziemlich hapert. Das Wortgebilde «Managed Care» ist unbegreiflich. Und wer versteht schon den Begriff «HMO» beziehungsweise «health maintenance organization»? Auch der Begriff Gruppenpraxis lässt immer noch Bilder von Jacqueline Bachmann. Wohngemeinschaften oder noch Schlimmerem aufkommen. Überhaupt wollen wir als Menschen Fehlende Qualitätsdiskussion wahrgenommen werden, nicht als «Fälle ». Unsere Gesellschaft und die gesundheitsWer möchte im Krankheitsfall schon einem politische Diskussion sind massgeblich Manager in die Hände fallen? Viel lieber geprägt von der Überzeugung, dass nur wendet man sich an eine Vertrauensärztin eine teure Medizin eine gute Medizin oder einen Hausarzt. Die machen ja bei Be- ist – dass jeder Versuch, eine kostendarf vielleicht sogar einen Hausbesuch, was bewusste Medizin zu betreiben, autoein Manager bestimmt nie tun würde. matisch mit Rationierung und schlechter Wenn ein Versicherer in seinem Prospekt Qualität einhergeht. Die fehlende Qualials erstes schreibt, dass in diesen Model- tätsdiskussion und die fehlenden Kenntlen die «freie Arztwahl» nicht mehr mög- nisse über die Möglichkeiten und Chanlich sei, dann hat er 80 Prozent der Versi- cen der Patienten-Mitbestimmung macherten bereits abgehängt. Die «freie Arzt- chen eine Diskussion über Managed Care wahl» hat in unserem Land mittlerweile fast und eine breite Akzeptanz sehr schwierig. den Stellenwert eines Menschenrechtes. Ein Hindernis ist auch, dass die AusbilDas ist zwar absurd, wenn man bedenkt, dung der medizinisch tätigen Personen – dass viele Versicherte ihren Arzt oder Ärz- insbesondere der Ärztinnen und Ärzte tin mittels Telefonbuch auswählen. Den- – noch immer stark geprägt ist von Spenoch ist es bei der Werbung zu berück- zialistentum, Prestigedenken und Techsichtigen. nologieorientierung. Die «weichen» Fak-

toren und das Denken in systemischen und ökosozialen Zusammenhängen werden in der Medizinausbildung auch heute noch massiv vernachlässigt. Für Managed Care braucht es aber Ärztinnen und Ärzte, die dazu befähigt und bereit sind, mit anderen Leistungserbringenden kollegial zusammenzuarbeiten und ihre Patientinnen und Patienten in Therapieentscheidungen einzubeziehen. Der Bundesrat geht davon aus, dass mit der Aufhebung des Kontrahierungszwanges die Managed-Care-Modelle automatisch gefördert werden. Die Verunsicherung der Leistungserbringer wird zwar zunehmen, die Bildung von Netzen im Sinne von Verhandlungsorganisationen dadurch gefördert. Solche Netze führen aber nicht zwangsläufig zu einer besseren Zusammenarbeit zwischen den Leistungserbringern auf medizinischer Ebene. Es besteht sogar die Gefahr, dass monopolistisch organisierte Verhandlungsnetze entstehen, welche die Bildung «medizinischer Netze» behindern. Zudem besteht die Gefahr, dass sich die Versicherer aufgrund neuer Machtbefugnisse auf Kontrolle und Sanktionen konzentrieren, anstatt Anreize für eine koordinierte Betreuung zu setzen. Jacqueline Bachmann, Geschäftsführerin Stiftung für Konsumentenschutz


SCHWERPUNKT

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Wie uns das Geschäft mit der Angst krank macht

Ihr sollt sein ein einig Volk von Patienten Mehr Patienten = mehr Kunden: In dieser simplen Gleichung sieht die Pharmaindustrie ein grosses Potenzial fürs Umsatzwachstum. Und sie realisiert es mit einem ebenso simplen Dreipunkteplan: Man schaffe durch Werbung neue Patienten – man schaffe neue Krankheiten – man definiere alte Krankheiten neu.

E

nde 2004 verschickte der Pharmariese Pfizer an fast eine Million Schweizer Frauen eine Informationsbroschüre über Migräne. Getarnt als Aufklärungsschrift über die «Volkskrankheit», propagiert der Prospekt die Behandlung mit dem starken Schmerzmittel Triptan. Dieser Wirkstoff ist exklusiv im Pfizer-Präparat Relpax enthalten. Die Broschüre nennt das Medikament nicht beim Namen: So glaubte Pfizer, das Werbeverbot für rezeptpflichtige Arzneimittel umgehen zu können.

Verurteilt – na und? So nicht, fand die ansonsten nicht eben als pharmafeindlich bekannte Heilmittelbehörde Swissmedic: Sie verdonnerte Pfizer zum Versand eines Berichtigungsschreibens. Anfangs Oktober hat das Bundesgericht dieses Verdikt bestätigt. Pfizer fällt nicht zum ersten Mal durch solche Praktiken auf: Auf riesigen Plakaten hat man das «Tabu Reizblase» gebrochen, und die «Er will nicht – Ich kann nicht»-Aushänge werben immer noch für den Blockbuster Viagra. Doch Pfizer ist nicht allein: Novartis liess unlängst Plakate mit hippen Snowboardern aufhängen, die für mehr Energie dank dem altbekannten Medikament Gly-Coramin werben. Dass das Mittel auf der DopingListe steht, hat Novartis nicht davon abgehalten, die Plakate auch in der Nähe von Schulhäusern anbringen zu lassen – und zwar wild. Sowieso will man sich in Basel künftig den Umweg über die Ärzte sparen und mit dem Marketing direkt auf die Patienten abzielen: Die Sonntags-Zeitung machte im September das Novartis-interne Papier «Transforma» publik, in dem diese neue Strategie unmissverständlich beschrieben wird. Der Chief Marketing Officer von Novartis meint darin, die Konsumenten müssten erzo-

gen, motiviert und zu Selbstdiagnosen befähigt werden.

Ein weit verbreitetes Problem Swissmedic bestätigt, dass das immer dreistere Umgehen des Werbeverbots für rezeptpflichtige Arzneimittel ein grosses Problem ist: Eine erhebliche Anzahl der Bussen, die 2004 und 2005 ausgesprochen wurden, betreffen Werbeverstösse, steht im Geschäftsbericht. Was passiert, wenn die Pharmaindustrie freie Hand hat, zeigt das Beispiel USA: Hier sind die Marketingausgaben der Arzneimittelhersteller laut Berichten der New York Times höher als bei Coca Cola, Pepsi und Schweppes zusammen.

Neue Krankheiten gefällig? Ein weit verbreiteter Trick ist auch, mit grossem Aufwand neue Diagnosen und Krankheiten zu erfinden. Die «Female Sexual Dysfunction» (weibliche sexuelle Funktionsstörung) beispielsweise gibt es just, seit ein amerikanisches Pharmaunternehmen einen luststeigernden Nasenspray für Frauen erprobt. Auch die berühmte «Reizblase» ist keine medizinische Diagnose, sondern ein Beschwerden made by Pfizer. Lassen sich keine neuen Krankheiten finden, tun es auch alte, die angeblich epidemieartige Ausmasse annehmen. Um Platz zwei in der Riege der häufigsten Todesursachen buhlen je nach Statistik Brust-, Protasta- oder Darmkrebs. Schliesslich gibt es noch die Möglichkeit, die Behandlungsschwellen herunterzusetzen. Vor 15 Jahren wurde Bluthochdruck ab einem Wert von 160/100 behandelt. Inzwischen empfiehlt die Schweizerische Hypertonie-Gesellschaft, in deren Beirat vor allem Pharma-Firmen sitzen, medikamentöse Behandlung ab 140/90. Eine Million Schweizerinnen und Schweizer leiden folglich an Bluthochdruck. Dem

gegenüber stehen 2,5 Millionen potenziell Herzkranke, 1,4 Millionen mit chronischen Schmerzen, 900 000 mit Reizdarm und 500 000 mit Inkontinenz. Solche Statistiken findet man problemlos, nicht aber die genaue Definition dieser Leiden. Ihre Wirkung verfehlen die Zahlen trotzdem nicht.

Das Geschäft mit der Angst Experten wie der Fernsehdoktor Samuel Stutz verbreiten solche Angaben ungefiltert in der Öffentlichkeit. Davon profitiert nicht nur die Pharma-Industrie: Das Bundesamt für Kommunikation ist 2005 in einem Verwaltungsverfahren zum Schluss gekommen, dass in der Sendung «Gesundheit Sprechstunde» Sponsoren unerlaubterweise nicht als solche genannt wurden und dass das Werbeverbot für Arzneimittel mehrfach verletzt wurde.* Zuvor hatte der Beobachter publik gemacht, dass Stutz bis zu 150 000 Franken an Schmiergeldern für die Erwähnung von bestimmten Medikamenten kassiere. Dass Stutz in seiner Sendung den differenzierten Selbstbehalt für Generika frontal angriff, sei nur am Rande erwähnt. Der Ärzteverband FMH distanziert sich von all dem in aller Deutlichkeit. Präsident Jacques de Haller sagt in einem Interview mit der Luzerner Zeitung: «Die Ärzte brauchen weder Doktor Stutz noch die Werbung zum Thema Reizblase oder Impotenz. Beides ist problematisch. Ein guter Hausarzt sollte zum Beispiel von sich aus ältere Patienten auf eine allfällige Reizblase ansprechen. Das Problem an der Werbung ist, dass sie aus Angst zu mehr unnötigen medizinischen Behandlungen führt.»  Peter Kraft

* www.bakom.ch – Themen – Radio + Fernsehen – Aufsicht und Kontrolle – Aufsichtsentscheide 2005


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SCHWERPUNKT

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Fachleute fordern integrierte Versorgung statt Episodenbehandlung

Chronisch Kranke: Entspricht unser Gesundheitssystem ihren Bedürfnissen? Das Gesundheitssystem der Schweiz ist auf Akut-Patienen zugeschnitten, während die Bedürfnisse chronisch Kranker zu kurz kommen: Das vermutet das Gesundheitsobservatorium. Seriöse Fachleute fordern deshalb eine individuelle, integrierte Betreuung für chronisch Kranke. Derweil gibt es immer wieder Stimmen, die mit einer angeblichen Versorgungsgefährdung für schwerkranke Patienten unbegründete Ängste schüren.

Fotos: Prisma

Einseitige Ausrichtung auf Akut-Patienten

Unser Gesundheitssystem ist auf die Bedürfnisse von Akut-Patienten ausgerichtet.

N

icht nur in der Schweiz, sondern in der ganzen westlichen Welt hat die Anzahl der chronisch Kranken in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen. Das ist nicht unbedingt eine negative Entwicklung: Viele chronische Patienten leiden an Krankheiten, die bis vor kurzem tödlich gewesen wären und nun dank des medizinischen Fortschritts stabilisiert werden können. Das Schweizerische Gesundheitsobservatorium (Obsan) hat genaue Zahlen erhoben: 15 Prozent der Schweizer und 18 Prozent der Schweizerinnen sind von einer chronischen Erkrankung oder einer Behinderung betroffen. Drei Prozent der Bevölkerung leiden unter schweren Beeinträchtigungen von Sehen, Hören, Gehen oder Gedächtnis. Ein Prozent ist nicht mehr in der Lage, die Herausforderungen des Alltags wie Körperpflege oder Kleiderwechsel ohne fremde Hilfe zu meistern. Chronische Krankheit und Behinderung sind also keineswegs Probleme, die nur eine kleine Randgruppe der Bevölkerung betreffen.*

Chronisch Kranke und Behinderte nehmen logischerweise mehr medizinische Leistungen als andere in Anspruch. Gemäss Obsan lassen 36 Prozent mehr als 18 Behandlungen pro Jahr über sich ergehen – bei Personen ohne chronisches Leiden sind es zehn Prozent. Interessant ist, dass wie bei der Gesamtbevölkerung auch bei chronisch Kranken die Nutzung von Gesundheitsleistungen mit höherem Bildungsstand, höherem Einkommen und höherem subjektiven Wohlbefinden abnimmt. Das Obsan sieht keine Gefahr der Unterversorgung für chronisch Kranke: Der Zugang zu den medizinischen Leistungen sei ohne Einschränkung gewährleistet. Hingegen steckt laut Obsan hinter der markant höheren Behandlungsquote von chronisch Kranken möglicherweise eine Fehlversorgung. Dafür spricht auch, dass das Verhältnis von Hausarzt- und Spezialistenkonsultationen in etwa das gleiche ist wie bei der Restbevölkerung. Das Obsan vermutet, dass das Schweizer Gesundheitssystem einseitig auf die Bedürfnisse von Akut-Patienten ausgerichtet ist. Für chronisch Kranke und Behinderte fehlen verbindliche Behandlungspfade, die einen effizienten Weg von der Hausärztin zum richtigen Spezialisten weisen.

Wer weist den Weg? Für Serge Reichlin vom Telemedizin-Unternehmen Medgate ist eine integrierte, ganzheitliche Gesundheitsversorgung gerade bei chronisch kranken Patienten von grösster Bedeutung. Im heutigen System würden chronisch Kranke allzu häufig «episodenorientiert» versorgt: Der gerade behandelnde Leistungserbringer sieht den Patienten nur in einer Momentaufnahme.

Es ist so kaum möglich, optimale medizinische Hilfe zu leisten. Sind mehrere Leistungserbringer in die Behandlung eines chronisch Kranken involviert, ist, so Reichlin, nirgends geregelt, wer welche Verantwortung trägt. Auch die Kostenkontrolle finde nur für die einzelnen Elemente der Behandlung statt, nicht aber für die gesamte Therapie. Das bedeutet: Chronisch Kranke werden heute auf eine Weise behandelt, die ihren Bedürfnissen nicht entgegenkommt, die nicht das maximale Ergebnis erzielt und die möglicherweise sogar mehr kostet als die optimale Therapie. Serge Reichlin fordert den Schritt vom Episoden- zum Disease-Management: «An die Stelle der punktuellen, ärztlichen Beratung beim Auftreten akuter gesundheitlicher Probleme oder einer Verschlechterung eines chronischen Leidens tritt eine integrierte Betreuung, welche Prävention, Diagnostik, Therapie, Rehabilitation und Pflege umfasst.» Medgate bietet komplette Disease-Management-Programme für chronische Lungenkrankheiten an.

Unbegründete Ängste Während Managed Care unbestritten viel versprechende Ansätze zur Behandlung von chronisch kranken Patientinnen und Patienten bietet, sind in anderen Diskussionen (unbegründete) Ängste weit verbreitet. Einige Leistungserbringer – notabene nie solche, die in Gruppenpraxen oder im Managed Care-Bereich arbeiten – behaupten immer wieder, die Wirtschaftlichkeitskontrollen der Krankenversicherer würden die Behandlung chronisch Kranker gefährden. Diese seien kostenintensiv, und deshalb könnten Ärzte ihnen Leistungen vorenthalten aus der Befürchtung heraus, «kostenauffällig» zu werden und ins Visier von Rückzahlungsforderungen


zu geraten. Diese Argumente sind haltlos. Wenn eine Ärztin im Vergleich zu den Fachkollegen im gleichen Kanton markant höhere Kosten ausweist, wird sie in einem ersten Schritt lediglich aufgefordert, diese zu begründen. Kann sie auf einen hohen Anteil von chronisch kranken Patienten in ihrer Praxis verweisen, hat sich die Sache erledigt. Kein Arzt hat also einen Grund, Patienten abzulehnen, weil sie möglicherweise hohe Kosten verursachen – ganz abgesehen davon, dass er das gar nicht darf: Die Behandlungspflicht ist im Gesetz festgeschrieben. Auch bezüglich der Vertragsfreiheit werden immer wieder Ängste geschürt: Die

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Krankenversicherer würden unter solchen Voraussetzungen nur noch die günstigsten Ärzte unter Vertrag nehmen. Leistungserbringer, die viele chronisch Kranke betreuen, hätten aufgrund ihrer hohen Kosten Schwierigkeiten, Verträge zu erhalten – was dazu führe, dass die chronisch kranken Patienten bei den Ärzten nicht mehr allzu beliebt wären. Auch diese Ängste sind unbegründet: Zum ersten gilt die Behandlungspflicht weiterhin, und zum zweiten stehen die Krankenversicherer auch bei Vertragsfreiheit untereinander im Wettbewerb. Deshalb wird kein Versicherer mehr Ärzten als nötig einen Vertrag verweigern. Denn wer keine breite Aus-

wahl an Ärzten anbietet, verliert Kunden: Alle Bevölkerungsumfragen zeigen, dass die freie Arztwahl der Schweizer Bevölkerung wichtig ist. Die Krankenversicherer werden dem Rechnung tragen müssen. Hinzu kommt: Die Vertragsfreiheit bietet die Chance, dass neben der Wirtschaftlichkeits- endlich auch die Qualitätsdiskussion an Bedeutung gewinnt. Die Krankenversicherer hätten in einem solchen System die Möglichkeit, das Erfüllen von bestimmten Qualitätskriterien zur Vertragsbedingung zu erklären. Die Vertragsfreiheit würde also mitnichten bedeuten, dass nur noch die «billigsten» Mediziner zur Auswahl stünden. Lediglich die wenigen «schwarzen Schafe» hätten es schwerer, weiterhin über die Krankenversicherer abzurechnen. «Um solche Ärzte muss kein Patient trauern», sagt auch BAG-Direktor Thomas Zeltner – notabene selber ein Arzt.

Dienst an den Kranken statt Beherrschung Der rennomierte deutsche Psychiatrie-Professor Klaus Dörner plädiert für einen völlig neuen Umgang mit chronisch Kranken. Bisher sei es in der Medizin in erster Linie darum gegangen, diese Patientengruppe zu beherrschen – was oft gleichbedeutend mit dauerhaften Heim- oder Spitalaufenthalten war. So hatte man die Patienten unter Kontrolle, ohne allerdings die Geschichte des Einzelnen zu kennen, und ohne alle anderen Behandlungsmöglichkeiten zu prüfen. Laut Dörner muss die Medizin von diesen Beherrschungsversuchen wegkommen und sich stattdessen in den Dienst der chronisch Kranken stellen. Jeder chronisch Kranke soll von einem ärztlichen Leiter begleitet werden, fordert Dörner. Auch die Angehörigen sollen verstärkt in den Behandlungsprozess einbezogen werden, wenn sie das möchten. Die bisherige Praxis habe sie praktisch ausgeschlossen und damit das «menschliche Grundbedürfnis nach Sorge für Andere» ignoriert. Als ermutigendes Beispiel führt er Schweden auf: Hier werden chronisch Kranke in einem integrierten Versorgungssystem behandelt. Heime als «eine Art Massenhaltung für Behinderte und chronisch Kranke» sind dort gesetzlich verboten.  Peter Marbet

Wird dem Anliegen von chronisch Kranken genügend Rechnung getragen?

* www.obsan.ch – Themen – Versorgungssystem – Behinderung in der Schweiz


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Das immer grössere Angebot verlangt nach mehr Information und Autonomie

Die Patienten wollens wissen Die Patientinnen und Patienten wünschen sich von ihren Leistungserbringern mehr Informationen, Miteinbezug und Transparenz – das zeigen unabhängig voneinander verschiedene Studien. Diesem «Kundenwunsch» wird in Zukunft Rechnung getragen werden: Einerseits, weil die verschärfte Konkurrenz die Leistungserbringer dazu zwingt, und andererseits, weil der wachsende Gesundheitsmarkt mit ständig neuen Angeboten ohne bessere Information bald nicht mehr überblick- und sinnvoll nutzbar sein wird.

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Fotos: Prisma

ie Patienten sind weiter als die Entscheidungs- und Leistungsträger. Diese haben ein veraltetes Bild vom Patienten.» Das sagt Jen Wang, der kürzlich für das Zürcher Institut für Sozial- und Präventivmedizin (ISPMZ) eine Studie zur Gesundheitskompetenz der Schweizerinnen und Schweizer durchführte. Wangs Team befragte 1250 Personen – 80 Prozent von ihnen wollen bei Entscheiden über medizinische Behandlungen mitreden. Aber nur 50 Prozent können dies laut eigener Aussage tatsächlich tun. Gar nur ein Viertel gibt an, dass die Leistungserbringer ihnen jeweils verschiedene Behandlungsoptionen aufzeigen. 90 Prozent schätzen an und für sich die freie Arztwahl – aber nur 50 Prozent geben an, diese auch wahrnehmen

Der Informationsbedarf der Patienten ...

zu können. Der Rest verfügt nicht über genügend Informationen, um die Leistungserbringer nach den gewünschten Kriterien auswählen zu können.1

Bisherige Prognosen bestätigt Die Studie von Wang untermauert die Erwartungen, die Gesundheitsökonomen, Mediziner und Trendforscher schon seit längerem kundtun: Der Patient von morgen will besser informiert sein. 2003 gingen Forscherteams in ganz Europa auf die Suche nach dem «European Patient of the Future». Die Resultate für die Schweiz waren eindeutig: Die Patientinnen und Patienten wollen mehr Informationen, mehr Mitspracherecht, mehr Mitverantwortung. Mit anderen Worten: Sie wollen die Abhängigkeit von ihren Leistungserbringern verringern. «Das paternalistische Modell der Gesundheitsversorgung ist im Wandel», schrieb das Schweizer Forscherteam des ISPMZ 2003 in der Schweizerischen Ärztezeitung. In der Medienmitteilung zur Studie gehen die Autoren sogar noch weiter: «Die freie Arztwahl ist nicht viel wert, wenn man keine Informationen hat, die für eine vernünftige Wahl erforderlich sind.» Der Patient der Zukunft wird, so die Wissenschaftler, über verschiedene vertrauenswürdige Kanäle beraten und betreut. Die Hausärzte werden zwar weiterhin eine wichtige Rolle einnehmen, aber zunehmend Konkurrenz von anderen Gesundheitsdienstleistern erhalten. Auf diese Herausforderung müssen die «klassischen» Leistungserbringer mit guter Kommunikation und dem Einbezug der Patienten reagieren – sonst schwimmen ihnen die Felle davon. Sie werden nicht darum herumkommen, systematische Qualitätsvergleiche zuzulassen und damit ihren Patienten eine echte Wahlfreiheit zu ermöglichen – denn dies ist einer der meist-

genannten Patientenwünsche, der in der zukünftigen, verschärften Marktsituation wohl oder übel erfüllt werden muss. Ferner prognostiziert das ISPMZ das Ende der klassischen Einzelpraxen: Der Arzt, die Ärztin der Zukunft werde nur noch in Netzwerken konkurrenzfähig bleiben können.2

Neue Konkurrenz Welcher Konkurrenz werden sich die (Haus-)Ärzte in Zukunft vermehrt stellen müssen? Die Methoden der Telemedizin nehmen bereits heute einen gewissen Raum im Gatekeeping-Bereich ein. CallCenter bieten medizinische Ratschläge – günstig und garantiert ohne Wartezeit. Nicht wenige Krankenversicherer glauben an das Potenzial dieser Lösung und bieten alternative Versicherungsmodelle mit den Call-Centern als Gatekeeper an. Auch die alternativen Versicherungsmodelle im Allgemeinen bekommen nach Jahren der Stagnation langsam Schwung: Auf 2006 hin konnten die Krankenversicherer einen deutlichen Zuwachs in diesem Bereich verzeichnen. Für die Patientinnen und Patienten bedeutet dies: Über kurz oder lang werden sich sowohl «die klassische» wie auch die «neue Generation» von Leistungserbringern Transparenz und Einbezug ihrer Kunden dicker auf die Fahnen schreiben, um gegenüber der Konkurrenz bestehen zu können: Die Methoden der Telemedizin und die alternativen Versicherungsmodelle haben das Potenzial, selbstbewusstere Patienten und effizientere Leistungserbringer hervorzubringen.

Boomender Gesundheitsmarkt Der Trendforscher Stephan Sigrist von Gottlieb Duttweiler Institut sagt jedoch Veränderungen voraus, die weit über den


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... wird durch neue Möglichkeiten im Gesundheitswesen weiter anwachsen.

Kampf um das Gatekeeping bei Behandlungen hinausgehen.3 «Gesundheit wird nicht mehr nur als Abwesenheit von Krankheit verstanden werden, sondern in zunehmendem Masse als Lebensqualität an sich definiert und in einer ganzheitlichen Sicht auch auf die Psyche bezogen. Healthstyle löst Lifestyle» ab, schreibt Siegrist. Wer gesund lebt, lebt gut, das scheint die Losung für die Zukunft: «Die Menschen werden bewusst oder unbewusst in immer mehr Alltagsentscheidungen vom Gesundheitsdenken gesteuert.» Und: «Aufgrund des Kostendrucks und der steigenden Versicherungsprämien im Gesundheitswesen sinkt die Bereitschaft, die Verantwortung für Menschen zu übernehmen, die sich nicht gesundheitskonform verhalten.» Die Konsequenz: Es wird ein neuer Gesundheitsmarkt entstehen, der so dynamisch ist, dass Siegrist ihn sich durchaus als Triebfeder eines kräftigen Wirtschaftswachstums vorstellen kann. Lebensmittel mit gesundheitlicher Wirkung, Trainingsprogramme oder ganz auf Gesundheit ausgerichtete Urlaube – Gesundheit wird zum Konsumgut, aus Patienten wer-

den Konsumenten. Diese Entwicklung hat nur beschränkt etwas mit dem klassischen «Krankheitsmarkt» zu tun: «Die Gesundheitssysteme werden in Zukunft nur noch die Grundversorgung mit der nötigen, aber ausreichenden medizinischen Hilfe zur Verfügung stellen», prognostiziert Siegrist. Der boomende «Gesundheitsmarkt» wird auf rein privater Basis laufen und deshalb zwar nicht für eine Zweiklassenmedizin, jedoch für eine «Zweiklassengesundheit» sorgen: Wer sich die Healthstyle-Produkte nicht leisten kann, wird mit dem klassischen Gesundheitssystem Vorlieb nehmen müssen.

Informationsbedarf explodiert Nicht nur der Gesundheitsmarkt wird boomen, sondern auch der Informationsbedarf der Patienten und Konsumentinnen. Gesundheits- und Krankheitsmarkt werden nicht immer trennscharf sein, und die Angebote in beiden Bereichen werden stetig wachsen. Die Patienten und Konsumentinnen werden ihre Auswahl kritischer treffen und mehr Fragen stellen. Die Leistungserbringer werden darauf ein-

gehen müssen. Zudem werden sie wegen des steigenden Kostendrucks in der sozialen Krankenversicherung ihre Leistungen im «klassischen» Bereich effizienter erbringen – Kooperation und Netzwerke sind die Stichworte. Der neue Gesundheitsmarkt bietet aber auch ihnen die Chance, mit zusätzlichen Angeboten um Kundschaft zu werben: Früher gab es FenchelTee in der Arztpraxis, heute gibt es manchernorts Ernährungsberatung – und morgen vielleicht Tai-Chi. Für die Patienten wird die Arztpraxis in Zukunft mehr sein als ein Ort, an dem sie im Krankheitsfall versicherungspflichtige Leistungen beanspruchen. Übrigens: Christoph Siegrist kann sich vorstellen, dass der neue Gesundheitsmarkt die immer häufiger auftretenden Zivilisationskrankheiten nicht kompensieren kann: «Die heutige Generation könnte die erste sein, die eine tiefere Lebenserwartung aufweist als die vorhergehende.»  Peter Kraft www.gesundheitskompetenz.ch SAEZ 41/2003, S. 2133–2135 3 www.gdi.ch – Publikationen – GDI-Publikationen 1 2


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SCHWERPUNKT

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Buchtipp: Kreuzverhör Gesundheitskosten von Urs P. Gasche

Gesundheitswesen Schweiz: Es fehlen die Qualitätsnachweise Ein Schweizer bezahlt für seine Gesundheitsversorgung die Hälfte mehr als eine Skandinavierin. In der Waadt werden Untersuchungen mit Herzkathetern zehn Mal häufiger durchgeführt als in St. Gallen. Allgemein sind die Gesundheitskosten in der Romandie um 50 Prozent höher als in der Ostschweiz. Eigentlich müssten wir also gesünder sein als die Norweger, und die Romands müssten seltener Herzkrankheiten erliegen als die Deutschschweizerinnen. Beides ist nicht der Fall. Warum fliessen dann solche Mehrkosten – und wohin? Der Publizist Urs P. Gasche macht sich zusammen mit 13 Gesundheitsexperten auf Spurensuche.

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on den Bundesräten Pascal Couchepin und Doris Leuthard zur SP-Ständerätin Simonetta Sommaruga, von BAG-Direktor Thomas Zeltner zum designierten santésuisse-Direktor Fritz Britt, von der ehemaligen Gewerkschafterin Christiane Brunner zu den nahmhaftesten Gesundheitsökonomen unseres Landes: Die Palette der Gesprächs-

partner, mit denen der ehemalige Kassensturz-Chef Urs P. Gasche für sein neues Buch Interviews führte, ist breit. Umso erstaulicher ist es, dass er den scheinbar so widersprüchlichen Gesundheitsexperten in «Kreuzverhör Gesundheitskosten» wesentliche gemeinsame Forderungen entlocken konnte.

Andere Anreize, endlich Qualitätsnachweise

Urs P. Gasche: Kreuzverhör Gesundheitskosten, orell füssli Verlag, www.ofv.ch, Fr. 29.80 Mit folgenden Interviewpartnern: Gianfranco Domenighetti, Robert E. Leu, Pascal Couchepin, Fritz Britt, Karl W. Lauterbach, Thomas Zeltner, Doris Leuthard, Markus Dürr, Hans-Heinrich Brunner, Simonetta Sommaruga, Christoffel Brändli, Christiane Brunner, Willy Oggier

Durchs Band hindurch fordert die illustre Schar der Gesundheitspolitikerinnen und -experten bessere Anreize für die Leistungserbringer, Behandlungen nur dann vorzunehmen, wenn sie wirklich sinnvoll sind. Die heutige Einzelleistungs-Honorierung, so der Tenor, belohne Leistungserbringer, die ihre Patientinnen und Patienten mehr als nötig zu sich zitieren. Gute Ärzte und Spitäler hingegen, die ihre Schützlinge so effizient wie möglich behandeln und schnell einen Heilungserfolg erzielen, würden finanziell bestraft. So sagt der Berner Wirtschaftsprofessor Robert Leu: «Heute sind die finanziellen Anreize in der Schweiz so gesetzt, dass die Kosten unausweichlich steigen, wenn sich die einzelnen Beteiligten eigennützig verhalten.» Die Lösung für dieses Problem sehen Gasches Vertragspartner praktisch unisono in obligatorischen Qualitätsnachweisen, in der Förderung von Gesundheitsnetzen mit Budgetverantwortung und in der Lockerung des Vertragszwangs. So sagt BAG-Direktor Thomas Zeltner: «Der Bund muss sich für die Qualität stärker engagieren. Das geht allerdings nur zusammen mit den Ärzten und Spitälern.

Die Schweiz ist in Sachen Qualitätssicherung immer noch ein Entwicklungsland.» Die ehemalige SP-Präsidentin Christiane Brunner setzt grosse Erwartungen in Managed Care: «Man sollte Ärzte, die sich einem Ärzte-Netzwerk, zum Beispiel einer HMO, anschliessen, besser honorieren. Dann würden sich solche Netzwerke, welche Kostenkontrolle und Qualität besser im Griff haben, schneller ausbreiten.» Für ihre Parteikollegin, die Berner Ständerätin Simonetta Sommaruga, ist klar, welche Voraussetzungen es dazu braucht: «Die Kassen sollten die Vertragsfreiheit erhalten, um Ärzte in HMOs oder Netzwerken finanziell zu bevorteilen.»

Ungewöhnlich deutliche Worte Urs P. Gasche entlockt seinen Interviewpartnern Aussagen, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Dies ist keine geringe Leistung: Auf dem politischen Glatteis des Gesundheitswesens werden die Worte normalerweise eher vorsichtig gewählt. «Die hohe Ärztedichte in Städten und das sehr grosse Spitalangebot erhöhen heute vor allem die Bequemlichkeit»: Solche Sätze würde BAG-Direktor Thomas Zeltner kaum jedem Journalisten diktieren. Interessant wird auch sein, ob die neue Bundesrätin Doris Leuthard folgenden Positionsbezug ins Regierungskollegium tragen kann: «Bundesrat Couchepin hat unsere Vorschläge zur Senkung der Medikamentenkosten vergessen. Die Pharmaindustrie sollte Konzessionen machen, weil sonst der Parallelimport droht.» Zum Zeitpunkt des Interviews war Leuthard noch CVP-Präsidentin. Matthias Schenker


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Buchtipp: Chance Arbeitsplatzerhalt und Wiedereingliederung – Sozialversicherung mit System und Netzwerk

Für eine rasche Wiedereingliederung In der Schriftenreihe der SGGP (Schweizerische Gesellschaft für Gesundheitspolitik) ist eine Studie zum Thema «Sozialpolitik mit System und Netzwerk» erschienen. Sie präsentiert Vorschläge und Empfehlungen für eine verbesserte Interinstitutionelle Zusammenarbeit (IIZ) zwecks Erhalt von Arbeitsplätzen und Eingliederung von Menschen, die aus dem Arbeitsprozess ausgeschieden sind.

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Foto: Prisma

as Autorenteam Ann-Karin Wicki, Angela Peterelli und Daniel Zimmermann geht davon aus, dass in der Schweiz immer mehr Menschen im erwerbsfähigen Alter aus gesundheitlichen Gründen, wegen Arbeitslosigkeit oder wegen einer Notlage auf Leistungen der Sozialversicherungen oder der Sozialhilfe angewiesen sind. Auch deswegen wird eine reibungslose Zusammenarbeit der Bereiche Arbeitslosenversicherung, Invalidenversicherung und Sozialhilfe immer wichtiger. Um eine frühzeitige Eingliederung zu gewährleisten, soll der Kreis der involvierten Partner weiter geöffnet werden (IIZ-plus) – und zwar um jene Stellen, die der Invalidenversicherung vorgelagert sind. Dazu gehören die Krankentaggeldversicherung, die Unfallversicherung und – wegen der Prämienbefreiung und der Bindungswirkung der IV- Entscheide – auch die Vorsorgeeinrichtungen.

stellen, ist die Sensibilität der IIZ-Partner für eine verstärkte Konzentration auf die berufliche Integration vorhanden, ebenso wie erste Lösungsansätze. Andererseits besteht in vieler Hinsicht noch grosser Handlungsbedarf: • die rasche Anmeldung eines Leistungsfalles, um ein frühes Eingreifen zu ermöglichen; • eine umfassende Einbindung des Arbeitgebers in den Wiedereingliederungsprozess sowie seine Betreuung, wenn er zu einer Reintegration Hand bietet; • die Zuständigkeit der Versicherer für Leistungen (Geld- und Sachleistungen) in den einzelnen Phasen der Reintegration; • die langfristige Betreuung eingegliederter Personen; • der Know-how-Transfer und gegenseitige Weiterbildungsmöglichkeiten zwischen den Partnern.

Motion Ineichen und ISSA-Studie

Noch viele Fragen offen

Ausgangspunkt der Diplomarbeit ist eine Motion von Nationalrat Otto Ineichen: Er macht insbesondere auf die Konsequenzen aufmerksam, welche sich aus der mangelnden Meldemöglichkeit des Arbeitgebers an die Sozialversicherung ergeben. Dabei wäre die Früherfassung und Begleitung (FEB) eine zentrale Voraussetzung, um langen Arbeitsabsenzen, einer Kündigung oder gar einer Berentung entgegenzuwirken. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Empfehlungen der ISSA-Studie (Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit) hingewiesen: Sie zielen darauf hin, einer versicherten Person und ihrem Arbeitgeber möglichst schnell die notwendigen Informationen zur Verfügung zu stellen und damit Massnahmen einzuleiten, die ein Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess verhindern oder eine Reintegration ermöglichen.

Die Studie kommt zum Schluss, dass eine wesentliche Verbesserung der Zusammenarbeit den Aufbau einer Organisation mit einem kompetenten Management und einem dynamischen, weit verzweigten Netzwerk erfordert. Angeregt wird zudem die Bildung eines IIZ-Fonds, der Integrationsmassnahmen finanzieren soll, die durch keinen der Träger abgedeckt werden. Auch in finanzieller Hinsicht sind noch viele Fragen offen. Ob und wieweit das IIZ-Projekt realisiert werden kann, wird sich zeigen. Jedenfalls leisten die Autoren mit ihrer Studie einen konstruktiven Beitrag zur Problemlösung.  Josef Ziegler

Zurück an den Arbeitsplatz: Wie können die Sozialversicherungen diesen Schritt fördern?

Wo konkrete Lösungen noch fehlen Dass die Umsetzung der Motion Ineichen und der Empfehlungen der ISSA-Studie die IIZ-Partner (Krankentaggeldversicherung, Arbeitslosenversicherung, Invalidenversicherung, berufliche Vorsorge und Sozialhilfe) vor erhebliche Herausforderungen stellt, ist offensichtlich. Wie die Verfasser der Studie aufgrund ihrer Recherchen fest-

Ann-Karin Wicki, Angela Peterelli, David Zimmermann, Chance Arbeitsplatzerhalt und Wiedereingliederung, Sozialversicherung mit System und Netzwerk. Schriftenreihe der SGGP Nr. 88. Bestellen unter: SGGP, Langstr. 64, 8026 Zürich, info@sggp.ch


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Im Gespräch: Marc-André Giger, scheidender Direktor von santésuisse

«Ich verlasse einen Betrieb mit tollen Menschen» In den letzten acht Jahren hat Marc-André Giger aus dem Konkordat der Schweizerischen Krankenkassen und den Kantonalverbänden einen starken Akteur im Gesundheitswesen geschmiedet. Die Stimme von santésuisse hat Gewicht, und die konsequente Arbeit im Interesse der Prämienzahlenden trägt die ersten sichtbaren Früchte. Der scheidende Direktor von santésuisse blickt zurück auf seine «Amtszeit» und spricht über die Zukunft – über jene von santésuisse, aber auch über die eigene.

infosantésuisse: Ihr Abschied von santésuisse steht unmittelbar bevor. Mit welchen Gefühlen blicken Sie Ihrem letzten Arbeitstag in Solothurn entgegen? Marc-André Giger: Mit sehr gemischten Gefühlen. Auf der einen Seite verlasse ich einen Betrieb mit tollen Menschen. Ich bin jeden Tag gerne nach Solothurn gekommen, um zusammen mit meinen Mitarbeitenden einen Beitrag für ein soziales und finanzierbares Gesundheitswesen zu leisten. Vom Verwaltungsrat und seinem Präsidenten habe ich die nötige Rückendeckung erhalten, um meine Arbeit mit Erfolg und Freude anzupacken. Und ich bin überzeugt davon, dass ich eine sinnvolle und wichtige Aufgabe erledigen durfte: santésuisse steht im Dienst der 7,5 Millionen Prämienzahlenden in unserem Land. Ihre Interessen vertreten wir – dafür lohnt es sich, grossen persönlichen Aufwand zu leisten. Auf der anderen Seite ist die Vorfreude auf meine neue Aufgabe gross. Auch im Bereich des Sports lässt sich vieles bewegen. Mit dem Know-How und dem Beziehungsnetz, die ich bei santésuisse aufbauen konnte, hoffe ich doch einiges leisten zu können. Hinzu kommt, dass der Sport ja auch meine persönliche Passion ist. War es nicht zuweilen schwierig, als Buhmann für die Kostensteigerung dazustehen im Wissen, dass die Kostentreiber andere sind? Der Buhmann wird uns von jenen zugehalten, die gegenläufige Interessen haben und deshalb versuchen, den Krankenversicherern den schwarzen Peter zuzuschie-

ben. Diese Ablenkungsmanöver konnte ich verschmerzen, zumal das Verständnis für unsere Positionen in der breiten Öffentlichkeit und in den Medien gewachsen ist. Wer sich vertieft mit dem Gesundheitswesen auseinandersetzt, weiss: Das Problem sind nicht die Krankenversicherer, sondern die falschen Anreize und der damit verbundene Anstieg der Kosten. Sie sind seit 1998 Direktor von santésuisse. Wie hat sich die Organisation seit Ihrem Amtsantritt verändert? 1998 beschäftigte santésuisse 35 Mitarbeiter, heute sind es 170. Zu diesem Wachstum haben einerseits die Fusionen mit den kantonalen Verbänden und mit dem Schweizerischen Verband für Gemeinschaftsaufgaben der Krankenversicherer SVK geführt. Andererseits haben wir unsere Kompetenz in allen zentralen Bereichen gestärkt: Unter anderem in der Gesundheitsökonomie, der Statistik, der Kommunikation und der Tarifpflege ist santésuisse heute eine durch und durch professionalisierte Organisation.

«santésuisse ist heute ein Themenführer und Pacemaker in der schweizerischen Gesundheitspolitik.» Auf welche Ereignisse, auf welche Erfolge blicken Sie besonders gern zurück? Wir haben aus dem ehemaligen Konkordat der schweizerischen Krankenkassen

und den Kantonalverbänden einen einheitlichen Auftritt für santésuisse geschaffen: Die Krankenversicherer haben nun landesweit ein Sprachrohr, das mit ­einer Stimme spricht. Wir haben dazu beigetragen, dass die SP-Gesundheitsinitiative 2003 klar verworfen wurde. Damit konnten wir die Gefahr eines für die Versicherten und Patientinnen schädlichen Systemwechsels vorerst bannen. Alles in allem darf ich sagen: santésuisse ist heute ein Themenführer und Pacemaker in der schweizerischen Gesundheitspolitik. Vor einigen Jahren war das noch nicht im heutigen Ausmass der Fall. Gibt es Ziele, die Sie sich vor acht Jahren gesetzt haben, sich aber nicht umsetzen liessen? Von manchen Reformen habe ich gedacht, dass sie schneller vorankämen: Die Vertragsfreiheit, mehr Eigenverantwortung für die Versicherten und generell das Setzen der richtigen Anreize. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass solche Massnahmen im


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Fotos: Heiner Grieder

KRANKENVERSICHERUNG

«Die Partner im Gesundheitswesen sind zum Konsens verpflichtet.»

schweizerischen Gesundheitswesen dringend nötig sind. Welche Probleme haben sich seit 1998 gelöst, welche haben sich verschärft, und welche sind neu hinzugekommen? Die Dynamik in der Kostenentwicklung ist, das muss ich sagen, ungebremst vorhanden. Positiv werte ich hingegen die Versachlichung der Diskussion: Es scheint inzwischen allen Partnern im Gesundheitswesen klar geworden zu sein, dass es so nicht weitergehen kann und dass die falschen Anreize korrigiert werden müssen. Niemand erwartet mehr ernstlich, dass er keine Konzessionen machen muss. Leistungserbringer, Patienten, Kantone und Krankenversicherer sind alle referendumsfähig, aber niemand ist stark genug, den Karren alleine zu ziehen. Die Partner im Gesundheitswesen sind zum Konsens verpflichtet. Die Kosten steigen wie eh und je, die KVG-Reform ist am Stocken – santésuisse scheint Mühe damit zu haben, politische Anliegen durchzubringen. Ist dieser Eindruck richtig? Vor acht Jahren hätte niemand geglaubt, dass ernsthaft über die Vertragsfreiheit dis-

kutiert werden könnte. Gleiches gilt für die gleiche Finanzierung der privaten und öffentlichen Listenspitäler und für differenzierte Selbstbehalte bei Medikamenten. Letzteres ist inzwischen ja Realität. Richtig ist, dass es in vielen Fragen noch keine pfannenfertigen Lösungen gibt. Aber es sind Tabus gefallen und viele Prozesse angestossen. Dazu hat santésuisse viel beigetragen. Ich bin überzeugt, dass die Prämien­ zahlenden und die Krankenversicherer die Früchte dieser Arbeit unter meinem Nachfolger ernten werden. Welche Reformen im Gesundheitswesen sind für Sie am dringendsten? Die dringendsten Schritte sind die, welche die Kosten am stärksten dämpfen können. Ich denke an die Spitalfinanzierung, an die Gleichstellung aller Listenspitäler oder an die Umsetzung von SwissDRG. Auch im Medikamentenbereich ist das Kostenwachstum sehr dynamisch. Dort können wir erste Erfolge verzeichnen. Von grosser Bedeutung ist die Förderung von Managed Care – wobei die Versicherer eine gewisse Freiheit bei der Umsetzung brauchen. Um solchen Reformen zum Durchbruch zu verhelfen, braucht santésuisse weiterhin eine gehörige Portion Beharrlichkeit. Wir

dürfen uns nicht durch gelegentliche Misserfolge entmutigen lassen.

«In vielen Fragen gibt es noch keine pfannenfertigen Lösungen. Aber es sind viele Tabus gefallen und viele Prozesse angestossen.» Sie haben den Verband der Schweizer Krankenversicherer während Ihrer «Amtszeit» grundlegend neu strukturiert. Wieviel wird Swiss Olympic 2010 noch mit dem Sport-Dachverband von heute gemeinsam haben? Ich habe, als ich hier angefangen habe, nach dem Motto gearbeitet: «Luege, lose, laufe». Genauso werde ich es bei Swiss Olympic halten: Erst wenn ich mir ein umfassendes Bild gemacht habe, wird die Zeit kommen, allenfalls Weichen für nächste Schritte zu stellen. Wie weit und in welche Richtung diese gehen werden, ist zum jetzigen Zeitpunkt sehr schwierig zu sagen. Aber ich bin überzeugt davon, dass es Veränderungen geben wird, die sichtund spürbar sein werden. Und hoffentlich heimsen wir in Zukunft noch mehr Medaillen ein als bisher! Interview: Peter Kraft


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KRANKENVERSICHERUNG

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Presseschau: Einheitskasse findet im Blätterwald keinerlei Lichtung

Einheitskasse fällt bei den Zeitungen durch In der Deutschschweizer Presselandschaft herrscht Einigkeit: Die etablierten Tageszeitungen können sich mit der Initiative «für eine soziale Einheitskasse» überhaupt nicht anfreunden. Auch Blätter, die gegenüber Ideen von links normalerweise aufgeschlossen sind, finden: Ein solcher bürokratischer Moloch verdient das Prädikat untauglich. Ein Querschnitt durch die Berichterstattung und Kommentare zur Einheitskasse während der letzten 12 Monaten.

WochenZeitung, 7. September: «Was auch immer man über eine Einheitskasse denkt, die hängige Volks­ initiative ist ein zu wenig durchdachter Schnellschuss.» «Die Initiative will unser Krankenversicherungssystem auf den Kopf stellen, ohne sich zu Einzelheiten zu äussern. […] Unser heutiges Krankenversicherungssystem hat seine Vor- und Nachteile. In seinen Grundzügen hat es sich jedoch bewährt. Sein Hauptvorteil ist, dass es der gesamten Bevölkerung eine Gesundheitsversorgung auf qualitativ hohem Niveau garantiert. Wir kennen in der Schweiz jedenfalls keine nennenswerte Zwei- oder Mehrklassenmedizin – im Unterschied zu anderen europäischen Ländern.» «Den Grundsatz, dass die Gesundheitskosten nach dem Prinzip der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit finanziert werden sollen, halten auch wir für richtig. Welche Einkommensschichten durch die Initiative entlastet und welche mehr belastet würden, ist aber unklar. Denn die konkrete Ausgestaltung des neuen Finanzierungssystems wird vollumfänglich den bürgerlich dominierten Eidgenössischen Räten überlassen.»

«Eine gesamtschweizerische Einheitskasse würde wohl auch zum Furcht einflössenden Moloch.»

SP-Ständerätin Simonetta Sommaruga im Interview

K-Tipp, 30. Mai: NZZ am Sonntag, 16. Juli: «Umgehend wurde der BASS-Forscher angewiesen, seine Studie zu schubladisieren und in Zukunft den Mund zu halten.» – Reaktion der Befürworter auf eine Auftragsstudie, die entgegen aller Hoffnungen beweist, dass die Einheitskasse vor allem den Mittelstand belasten würde.

NZZ, 17. Juni: «Aber mit der Zeit dürfte ein solches Gebilde durch fehlende Konkurrenz, interne Trägheit, Willkür in der Leistungsgestaltung und politische Verquickungen sehr kostspielig werden und viele Innovationen verpassen.»

Coop-Zeitung, 16. Juni: «Ich bin nicht sicher, ob eine Einheitskasse für bessere Leistungen sorgt. Ein Grund dafür ist, dass die Leistungserbringer die Einheitskasse mitkontrollieren würden.» «Aber beide Initiativen (Einheitskasse und SVP-Prämieninitiative, Anm. d. Red.) befassen sich nicht mit dem Problem, dass das Geld für die Gesundheitsversorgung nicht effizient genug eingesetzt wird.» –

«Die Stiftung für Konsumentenschutz fordert immer wieder, dass Krankenkassen gegenüber Leistungserbringern die Interessen der Versicherten vertreten sollen. Ob eine Einheitskasse dies zuverlässiger tun würde, ist fraglich: Neben Versichertenvertretern würden im Leitungsgremium der Einheitskasse auch Ärzte und Spitalvertreter Einsitz nehmen.» «Die Verwaltungskosten machen lediglich 5,7 Prozent der Kosten der Grundversicherung aus. Das Einsparpotenzial ist entsprechend klein.»

Tages-Anzeiger, 9. Mai: «Wieso sollte eine Einheitskasse ihren Kunden ohne Konkurrenzdruck eine Auswahl an möglichst innovativen Versicherungsprodukten anbieten? Und wie soll sie Ärzte und Spitäler wirksam kontrollieren, wenn diese selber in der Leitung der Kasse sitzen? Völlig offen lässt die Initiative ausserdem, wer mit dem neuen Finanzierungssystem wie viel Prämien bezahlen müsste. Was passiert mit jenen schlecht Verdienenden, die heute dank staatlicher Beihilfe gar keine Prämien entrichten?»


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Foto: Peter Kraft

KRANKENVERSICHERUNG

NZZ, 9. Mai: «Es ist freilich offensichtlich, dass die Initiative keines der Probleme löst, mit denen das heutige Gesundheitssystem zu kämpfen hat. Zur Debatte stand (im Nationalrat, Anm. d. Red.) ein Volksbegehren als parteipolitisches Marketinginstrument in der besonders umkämpften Gesundheitspolitik.»

Der Bund, 9. Mai: «Hauptverantwortlich für die steigenden Prämien sind die ungebremst wachsenden Gesundheitskosten. Es ist schwer vorstellbar, wie hier eine von Patienten, Behörden, Ärzten und anderen Interessenvertretern paritätisch geführte Monopolistin handlungsfähig sein soll.» «Die Umsetzungsprobleme verschwinden nicht, indem man sie verschweigt.»

Aargauer Zeitung, 9. Mai: «Warum auch sollte sich die Schweiz von einem System abwenden, das Deutschland mit zunehmendem Interesse studiert, weil es eben doch mehr Vor- als Nachteile hat?»

Südostschweiz, 9. Mai: «Es sind grundsätzliche Vorbehalte gegenüber einem Monopol angebracht. Heute

steht es jedem frei, bei Unzufriedenheit die Kasse zu wechseln. Diese Wahlmöglichkeit führt zu Wettbewerb und Innovation, was bei einer Einheitskasse entfiele.»

Landbote, 2. Mai: «Die Oggier-Studie zerstört schliesslich die Hoffnung, der Systemwechsel vom Wettbewerb weg zur Einheitskasse werde zu einem Absinken der Prämien führen.»

Der Landbote, 9. Mai: «Letztlich geht die Initiative von einem falschen Feindbild aus: Sie nimmt die Krankenversicherer ins Visier und macht einen weiten Bogen um die falschen Anreize, die zu einer ständigen Ausweitung der erbrachten – und von uns Prämienzahlern verlangten – Leistungen führen.»

WochenZeitung, 16. Februar: «Unter linken Fachleuten ist eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der Einheitskasse zu spüren. Sie wollen der Initiative zwar nicht in den Rücken fallen, geben aber zu bedenken, dass das KVG eine Errungenschaft sei, die es auszubauen gelte.»

Blick, 8. Mai: «Und doch ist es eine Illusion zu glauben, eine Einheitskasse werde das Problem der stetig wachsenden Gesundheitskosten lösen. Die wirklichen Kostentreiber im Gesundheitswesen sind nicht die Krankenkassen; es sind dies die Spitäler, die Ärzte und – jawohl – die Patienten.

Bund, 10. Dezember 2005: «Es bleibt rätselhaft, wie die «einkommensabhängigen Prämien» aussehen sollen, ohne dass dadurch der Mittelstand gegenüber heute stärker belastet wird. Illusorisch ist es zu glauben, es liesse sich alles Geld bei den Superreichen holen.»

Tages-Anzeiger, 2. Mai: «Otto Piller, ehemaliger SP-Ständerat und Direktor des Bundesamts für Sozialversicherungen, hat zwar im Auftrag seiner Partei Berechnungsmodelle für die Prämien der Einheitskasse entwickelt. Aber diese Zahlen bleiben unter Verschluss.»

Tages-Anzeiger, 2. Dezember 2005: «Im Durchschnitt, so Pillers Kalkulation, kosteten die Prämien pro Steuereinheit (Familie, Einzelperson), rund zwei Drittel der jeweiligen Kantonssteuern.»


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Journée d’information et de réflexion sur l’actualité de l’assurance-maladie

Gesundheit und Wohlbefinden: Eine Frage der Solidarität? Wo hört die Krankheit auf und wo beginnt das Wohlbefinden? Sind die Sozialversicherungen Luxus oder Notwendigkeit? Wann ist ein Arztbesuch sinnvoll, wann nicht? Wie wirkt sich der Wettbewerb auf die Apotheken aus? Was würde eine Einheitskasse bringen? Diese Fragen wurde anlässlich des Aktualitätenseminars 2006 des Ressorts Ausbildung Westschweiz in Morges diskutiert. Die Diskussionen über diese Fragen sind mehr denn je von einer veränderten Anspruchsmentalität geprägt: Gefordert wird nicht mehr bloss ein Recht auf medizinische Behandlung, sondern ein Recht auf Wohlbefinden.

Über 100 Teilnehmer Das Aktualitätenseminar, vom Ressort Ausbildung Westschweiz von santésuisse organisert, war mit über 100 Teilnehmern ein voller Erfolg. Die Teilnehmer setzten sich je ungefähr zur Hälfte aus Vertretern der Leistungserbringer und der Krankenversicherer zusammen.

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ves Rossier, Direktor des Bundesamts für Sozialversicherung, legte die Entwicklung des Begriffs Gesundheit unter historischem und soziologischem Blickwinkel dar. Er gab zu bedenken, dass sich nicht nur das Gesundheitswesen laufend entwickelt, sondern auch die Grundhaltungen und der Lebensstil der Menschen. Zwischen der Krankheit als Strafe Gottes und dem Recht auf Gesundheit liege zweifelsohne ein weiter Weg. Die Gesundheit sei zu einem um jeden Preis einforderbaren Gut geworden, und zwar mit dem Anspruch, ständig fit und leistungsfähig zu sein – was für Yves Rossier fragwürdig ist. Seiner Meinung nach darf das Recht auf Behandlung im Krankheitsfall nicht mit dem Recht auf Genesung verwechselt werden. Die Suche nach Gesundheit in der Form von Wohlbefinden kann in ein anhaltendes Bedürfnis nach Perfektion und damit in eine irrationale Pflegebedarfsentwicklung umschlagen. Man müsse also zu einem pragmatischeren Gesundheitsansatz zurückfinden. Yves Rossier zog zum Schluss das Fazit, dass das Dasein trotz aller medizinischen Fortschritte aus Schatten- und Lichtphasen bestehe. Während die Behandlung von Krankheiten in

der Verantwortlichkeit aller liege, sei Gesundheit die Sache jedes einzelnen.

Sozialversicherungen: Luxus oder Notwendigkeit? Die Sozialversicherungen befinden sich im Wandel. In diesem Reformprozess ist für Béatrice Despland, Stellvertretende Direktorin des Instituts für Gesundheitsrecht an der Universität Neuenburg, auch das Stellen von grundsätzlichen Fragen von Bedeutung. In der Familienpolitik zum Beispiel müsste debattiert werden, welche gesellschaftliche Rolle der Familie zugedacht wird. In unserem Land ist Familie momentan eine persönliche Angelegenheit, die vom Bund in bescheidenem Ausmass Unterstützung erhält. Es gibt indessen Kantone, die über eine gut ausgebaute Familienpolitik verfügen: Im Tessin zum Beispiel sei die Zahl der Sozialhilfebezüger auch dank einer vernünftigen Familienpolitik relativ gering, so Despland. Gemäss Béatrice Despland geht es im KVG nicht um Wohlbefinden, sondern um die Behandlung von Krankheiten. Nun stellt der Pflegebereich aber ein Problem dar, weil die Leistungen – vor allem in der Langzeitpflege – nicht klar definiert sind. In der Pflegefinanzierung ist eine Verminderung der KVG-pflichtigen Leistungen und eine Verschiebung, vor allem in die IV, vorgesehen. Eine Langzeitpflegeversicherung hat die Schweiz hingegen abgelehnt. Anders in Europa: Hier gilt die Pflegeabhängigkeit im Alter als massives Risiko, das solidarisch aufgefangen werden muss. In ihren Ausführungen stützt sich Béa­trice Despland auf die Ergebnisse der aktuellen

sondage santé, die gezeigt hat, dass die Bevölkerung die Belohnung einer gesunden Lebensweise befürwortet. Diese Abweichung vom Solidaritätsgedanken sei nachvollziehbar, solange man gesund sei. Problematischer werde dies im Krankheitsfall. Als Fazit warnte sie vor der Zweckentfremdung unserer Sozialversicherungen, die kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit seien.


Gesundheitsförderung zur Kostendämpfung

förderung durch Lust und eine Verhaltensänderung motiviert sein, die auf Patienteninformation und der Übernahme von Eigenverantwortung basiert. Dr. Brigitte Zirbs hat einen ersten Schritt in diese Richtung getan und führt seit 2004 im Kanton Genf Kurse über unnötige Konsultationen durch. Die ersten Ergebnisse seien positiv – wobei der Erfolg in der Aufwertung des informierten Patienten liege und weniger finanzieller Natur sei.

tung verloren und nun die Haltung «jeder für sich» überhand genommen hat. Mit dieser Haltung gehe die Selbstdisziplin der Patienten verloren. Im Übrigen würden die Leistungsebringer, also die Apotheker, nicht mehr aufgrund der Qualität ihrer Leistungen wahrgenommen und geschätzt, sondern nur noch als Kostenfaktoren kritisiert. Ausserdem führten der Medikamentenverkauf via Versandhandel und der Einfluss der pharmazeutischen Industrie bei der Arzneimittelauswahl im Spital zu einem Überangebot, das kaum in die Debatten über mögliche Einsparungen miteinbezogen werde. Anne-Marie Bollier erinnert daran, dass eine solche Entwicklung der Solidarität keinen Raum lasse, obwohl diese ja einer der Grundsätze des KVG bildet.

Wettbewerb auf dem Arzneimittelmarkt Die Apothekerin Anne-Marie Bollier stellte die Auswirkung des Wettbewerbs auf dem Arzneimittelmarkt dar. Die Mitbewerber, also die Apotheken, Spitäler und selbstdispensierenden Ärzte, hätten auf dem Arzneimittelmarkt nicht dieselben Bedingungen, was sich einschneidend auf die Lage der Apotheker auswirke. Der Wettbewerb spiele sich hauptsächlich über den Preis und weniger über die Qualität ab, was die Patienten geradezu zur Konsumhaltung ermuntere. Anne-Marie Bollier zeigt in diesem Zusammenhang auf, wie der Begriff «Solidarität» seine Bedeu-

V.l.n.r.: Nello Castelli, Anne-Marie Bollier, Jean Blanchard, Béatrice Despland.

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infosantésuisse  Nr. 11, November 2006

Diskussion um Einheitskasse

Foto: Nicole Bulliard

Auch die Ärzte befassen sich mit den Gesundheitskosten. So spielt zum Beispiel Dr. Brigitte Zirbs Savigny, Hausärztin und Homöopathin, in der Gesundheitsförderung und Primärvorsorge eine aktive Rolle. Die Ärzte würden bei den Patienten eine Verhaltensänderung beobachten, sagt Zirbs: Diese würden vermehrt zu Konsumenten und Forderern. Um mitzuhalten, muss sich der Arzt insbesondere über die Gesundheitsförderung einbringen, indem er sowohl in kleinen Risikogruppen als auch in grösserem Rahmen wie Schulen oder Unternehmen interveniert. Gemäss Brigitte Zirbs wird der zukünftige Hausarzt das notwendige Wissen über Gesundheitsvorsorge haben und seinen Patienten eine Kultur der Gesundheit vermitteln können. Idealerweise wird sich der Patient psychisch und physisch wohler fühlen – bei geringeren Behandlungskosten. Der Arzt wird zum aktiven Partner. Es wird weniger schwere oder chronische Krankheiten, unnötige Konsultationen und Arbeitsabsenzen geben. Um dies zu erreichen, müsste die Gesundheits-

KRANKENVERSICHERUNG

Den Schlusspunkt setzte ein Streitgespräch zum Thema Einheitskasse. Geleitet durch Laurent Bonnard, Journalist bei Radio ­Suisse Romande, kreuzten Jean Blanchard vom Mouvement Populaire des Famille und Nello Castelli von santésuisse verbal die Klingen. Jean Blanchard erklärte als Mit­ urheber der Initiative gleich zu Gesprächsbeginn, dass es den Initianten nicht um die Lösung der Kostenproblematik gehe. Die Patienten sollen in die Entscheidungsprozesse der Kassen mittels dreigliedriger Führung mit eingebunden, die Transparenz verbessert und die Verwaltungskosten gesenkt werden. Jean Blanchard will zudem den Solidaritätsgedanken mittels einkommensabhängiger Prämien untermauern. Über zahlenbasierte Details bei der Umsetzung schwieg er sich allerdings aus und überlässt die Entscheidung über die Umsetzungsdetails dem Parlament. Nello Castelli glaubt, dass die Einheitskasse keine Lösung bietet, da der Initiativtext mehr Probleme aufwirft als löst. Vor allem biete der Text keine Antwort auf die steigenden Kosten im Gesundheitswesen. Zudem, fügt er an, schaffe der Finanzierungsmodus der Einheitskasse eine neue Steuer, die den Mittelstand noch mehr belaste. Weiter bedeute eine Einheitskasse das Ende der in der Bevölkerung hoch geschätzten freien Kassenwahl. Schliesslich würde eine dreigliedrige Führung Akteure unterschiedlicher Interessengruppen vereinen, was zu Interessenskonflikten und damit zur Blockierung der Kassenverwaltung führen werde.  Nicole Bulliard


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GESUNDHEITSWESEN

infosantésuisse  Nr. 11, November 2006

Drei Fragen an: Walter Schneider, Landrat des Landkreises Lörrach

«Wir wollen eine beidseitige Öffnung der Grenzen»

Foto: Peter Kraft

Seit Mai dieses Jahres stehen die Voraussetzungen, damit sich Patienten aus den beiden Basel und dem Landkreis Lörrach im jeweiligen Nachbarland medizinisch behandeln lassen können. Erstmals wird in diesem Pilotprojekt das Territorialitätsprinzip, hierzulande bisher sakrosant, wenigstens vorübergehend fallen gelassen. Die Schweizer Seite hofft, dadurch die Gesundheitskosten senken zu können. Doch wie sieht die deutsche Seite die grenzüberschreitende Zusammenarbeit? infosantésuisse hat den Lörracher Landrat Walter Schneider dazu befragt.

«Unser Ziel ist eine grosse Gesundheitsregion.»

infosantésuisse: Die Schweizer Seite erwartet von der Zusammenarbeit des Landkreises Lörrach mit den beiden Basel im Gesundheitswesen tiefere Kosten bei gleicher Qualität, eine Belebung des Wettbewerbs und ein grösseres Einzugsgebiet für die Spitzenmedizin. Was sind die deutschen Erwartungen in diesen Pilotversuch? Walter Schneider: Wir wollen eine beidseitige Öffnung der Grenzen: Bisher haben sich die Beziehungen im Gesundheitswesen in der Grenzregion auf einer Einbahnstrasse bewegt. Deutsche Patienten konnten sich in der Schweiz behandeln lassen, ungekehrt war dies wegen des Territorialitätsprinzips in der Schweizer Gesetzgebung nicht möglich. Dank dem Pilotprojekt können sich die Patientenströme nun auch in die andere Richtung bewegen. Das bedeutet neue Chancen und Perspekti-

ven für unsere Gesundheitsstrukturen. Ich erwarte vom Pilotprojekt also einen Wettbewerb, der für beide Seiten Vorteile bringt. Dabei steht das Miteinander im Vordergrund: Warum zum Beispiel sollten Spezialisten aus einer Klinik bestimmte Operationen nicht auch im Nachbarland durchführen können? Ich bin froh, dass sich auch die Schweizer Bundesregierung von diesen Ideen hat überzeugen lassen und unser Pilotprojekt unterstützt.

Kritische Stimmen in der Schweiz befürchten qualitative Einbussen – obwohl es gerade in der Schweiz keine einheitliche oder verbindliche Qualitätsmessung und -sicherung im Spitalbereich gibt. Wie beurteilen Sie den Qualitätsstandard der Kliniken in Ihrem Landkreis? Können Sie die Bedenken einiger Schweizerinnen und Schweizer zerstreuen? Unsere Häuser sind alle qualitätszertifiziert. Natürlich stehen auch wir unter dem Druck von Kosteneinsparungen, der mit der Gesundheitsreform wohl noch zunehmen wird. Aber wir versuchen wirtschaftlicher zu werden ohne Qualitätsverlust. Das DRG-System, das Deutschland vor einigen Jahren eingeführt hat, hilft uns dabei. Daneben versuchen wir auch innerhalb des Landkreises, die Kooperation optimal zu gestalten. Im «Lörracher Weg» haben wir zwei Krankenhäuser zu-

sammengeschlossen: Zwar nicht rechtlich, aber es gibt eine klare Aufgabenteilung zwischen den beiden Kliniken. So können wir Doppelangebote vermeiden sowie Synergien schaffen und müssen nicht vor allem im Personalbereich sparen. Wir sind deshalb auch aus dem kommunalen Arbeitgeberverband ausgetreten, der zentral die Tarifverhandlungen mit den Klinik­ angestellten führt. So können wir selbstständig Lösungen für tiefere Kosten und hohe Qualität erarbeiten, die den spezifischen Bedürfnissen unseres Grenz-Landkreises entsprechen. Dank diesem Vorgehen waren wir auch von den Ärztestreiks, die in Deutschland vor kurzem stattgefunden haben, nicht betroffen. In der Rehabilitation hat die süddeutsche Region einen international hervorragenden Ruf, und das zu Recht: In den neunziger Jahren gab es bereits einmal eine Gesundheitsreform in Deutschland, die den Reha-Bereich gesundschrumpfen liess. Die Häuser, die das überstanden haben, stehen heute qualitätsmässig sehr gut da und können das auch belegen. Deshalb werbe ich dafür, dass auch die RehaKliniken in das Pilotprojekt mit einbezogen werden.

Können Sie sich eine Ausweitung des Pilotprojektes auf weitere Landkreise oder Kantone vorstellen? Absolut ja. Wir beabsichtigen das sogar. Ein Pilotprojekt ist ja immer ein Versuch in der Hoffnung, dass er nachher Schule macht. Unser Ziel ist eine grosse Gesundheitsregion. Wir sind zu diesem Thema auch mit Stuttgart im Gespräch – gerade mit Blick auf den Schwarzwald und auf die Bodensee-Region.  Interview: Peter Kraft


service Antwort des Bundesrats auf das Postulat Robbiani

Prämien entsprechen der Kostenentwicklung – Transparenz gewährleistet News aus aller Welt Nurse Practioners: In einigen westlichen Ländern übernimmt speziell ausgebildetes Pflegepersonal immer häufiger ärztliche Aufgaben wie das Verschreiben von Medikamenten. Grund ist der Mangel an Hausärzten. Laut TagesAnzeiger sind die «Nurse Practioners» inzwischen in 51 von 52 US-Bundesstaaten etabliert, ebenso wie in Grossbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland. Keine Zeit: Nach wie vor haben britische Hausärzte zu wenig Zeit für ihre Patienten: In der Regel seien die Wartezimmer so voll, dass es unmöglich ist, einen Termin im Voraus zu vereinbaren, sagte ein Sprecher des britischen Ärztebundes. Makabre Transplantate: Mehr als 40 Patienten in Grossbritannien haben Knochentransplantate von gestohlenen Leichenteilen erhalten. Eine mafia-ähnliche Vereinigung aus US-Bestattungsunternehmen habe tausende Leichen zerlegt und in Kliniken im In- und Ausland verkauft, berichtete die online-Version der deutschen Ärztezeitung. Senioren-Spielplätze: Der Unternehmer Fausto Salgado richtet in ganz Spanien Spielplätze für über 60-jährige ein. Die Spielgeräte mit Namen wie «Steuerrad» oder «Pferd» werden in Parks installiert und sollen einen Beitrag zur Fitness der spanischen Rentner leisten.

Im Oktober reichte der Tessiner CVP-Nationalrat Meinrado Robbiani ein Postulat ein, in dem er den Bundesrat aufforderte, einen Bericht über «die Verfahren zur Überprüfung der Prämienerhöhungsanträge und zur Information der Versicherten» zu erstellen. Die Antwort des Bundesrats liest sich in der Zusammenfassung folgendermassen: «Der Bundesrat erachtet die Prämiengenehmigung durch die Aufsichtsbehörde in Bezug auf die zu Grunde liegenden Daten und deren Prüfung als transparent und zweckmässig. Die Ziele der Prämiengenehmigung – eine Prämienfestsetzung entsprechend den anfallenden Kosten, die Solvenz der Krankenversicherer und die einheitliche Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen zur Prämienfestsetzung und der Prämienermässigungen – werden mit dem aktuellen Verfahren und den be-

schriebenen Prüfungen und Entscheidkriterien der Aufsichtsbehörde grundsätzlich erreicht, ohne den für den Wettbewerb notwendigen Freiraum der Versicherer bei der Prämienfestsetzung unnötig einzuschränken. Die Prämienkontroll- und -genehmigungspraxis der Aufsichtsbehörde wurde seit Einführung des KVG im Jahr 1996 im Auftrag der Aufsichtsbehörde von externen Experten mehrfach überprüft. Empfehlungen aus den betreffenden Studien wurden im Rahmen der stetigen Weiterentwicklung des Prüfverfahrens umgesetzt, sodass heute ein wirksames und pragmatisches Verfahren zur Prämiengenehmigung besteht. Der Bundesrat sieht aus diesen Gründen keinen Handlungsbedarf bezüglich der zu Grunde liegenden gesetzlichen Bestimmungen.» «Die Transparenz der Finanzierung, der Prämienfestsetzung

und der Prämienentwicklungen durch die Publikationen des BAG und der Versicherer ist aus genereller Sicht und für die einzelnen Versicherer ausreichend. Der Wettbewerb zwischen den Versicherern ist aufgrund der vollen Freizügigkeit für die Versicherten, der Mitteilung der neuen Prämie durch die Versicherer und der Vergleichbarkeit der Prämien gewährleistet. Die notwendige Transparenz ist für die Versicherten mit der Mitteilung der neuen Prämie durch die Versicherer und der Vergleichbarkeit der Prämie aller Versicherungsformen aller Versicherer vorhanden. Aus diesen Gründen sieht der Bundesrat keinen Handlungsbedarf bezüglich der Information der Versicherten und schlägt keine organisatorischen oder gesetzgeberischen Massnahmen vor.»

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SANTÉSUISSE – SERVICE

infosantésuisse  Nr. 11, November 2006

Merkblätter des BAG

Erstmals an der Fachhochschule Die Zürcher Hochschule Winterthur hat neu ein Departement Gesundheit: 220 Studentinnen und Studenten haben vor kurzem ihren Bachelor-Lehrgang in Ergotherapie, Physiotherapie und Pflege begonnen. Damit werden diese Berufe in der Schweiz erstmals auf Fachhochschul-Niveau gelehrt.

Buchtipp: Gut erholen – besser leben von Christoph Eichhorn

Mit positiver Psychologie gegen den Stress Der deutsche Psychologe Christoph Eichhorn hat ein interessantes Buch zur Stressbewältigung veröffentlicht. Er setzt dabei weniger auf die Bekämpfung der negativen Symptome der Überbelastung: Im Mittelpunkt stehen die positiven Gefühle gegenüber der eigenen Arbeit, dem Alltag und den nahe stehenden Menschen. Diese gilt es laut Eichhorn zu fördern oder neu zu entdecken. Immer wieder betont der Autor, dass es nicht darum geht, alles prinzipiell gut zu finden: Diese Art von

Optimismus wäre Selbstbetrug. Als Beispiel führt Eichhorn das Altern an: Dieser Prozess hat negative Seiten (Beschwerden, körperliche Einschränkungen), aber auch positive (mehr Zeit, keine Arbeitsbelastung mehr). Eichhorn empfiehlt seinen Lesern, bei solch ambivalenten Aussichten den positiven Aspekten mehr Bedeutung zuzumessen. Eichhorn schreibt sein Buch auf der Grundlage der positiven Psychologie, die nicht wie die traditionelle Psychologie negative Erfahrungen aufarbeitet, sondern untersucht, was den Menschen Energie und Kraft gibt. Der Autor macht dabei klar, dass die beiden Stossrichtungen beide ihre Berechtigung haben. Er untermauert seine Ratschläge zur Stressbewältigung durchwegs mit wissenschaftlichen Fakten und Studien. «Gut erholen – besser leben» reitet also durchaus nicht auf der Esoterik-Welle, sondern ist wohltuend sachlich wie lebensbejahend.

Christoph Eichhorn: Gut erholen, besser leben, Klett-Cotta Verlag, Fr. 26.50

Wie soll ich mein Kind impfen lassen? Das immer grössere Angebot an Impfungen stellt Eltern nicht selten vor schwierige Entscheidungen: Braucht mein Kind diese oder jene Impfung, was sind die möglichen Risiken? Widersprüchliche Informationen in verschiedenen Ratgebern und ideologisch geführte Diskussionen kommen erschwerend hinzu. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat deshalb in Zusammenarbeit mit der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (EKIF) Merkblätter über die Vorteile und Ri-

siken von Impfungen, einen sinnvollen Impfplan und über die Kostenübernahme durch die Krankenversicherung erarbeitet. Die Merkblätter gibt es für Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten, Kinderlähmung, Hepatitis B, Masern, Mumps, Röteln, Windpocken, Pneumiokokken und Meningokokken. Weitere Faktenblätter sind in Vorbereitung.

Die Merkblätter sind aufgeschaltet unter www.ekif.ch (1.0 Aktuelles) und www.bag.admin.ch/themen/ medizin/00682/index.html?lang=de

Foto: Prisma

Neues Departement Gesundheit an der Zürcher Hochschule Winterthur eröffnet


SANTÉSUISSE – SERVICE

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infosantésuisse  Nr. 11, November 2006

Veranstaltungen Veranstalter

Besonderes

Datum/Ort

Weitere Informationen

IX. Ostschweizer Symposium für Geburtshilfe und Gynäkologie OSGG

U.a. Podiumsgespräch zum Thema Mammographie- 9. November Screening Aula Kantonsschule Glarus

www.sggg.ch

Neue Horizonte trotz eingeschränkten Mitteln Schweizerische Vereinigung der Pflegedienstleiterinnen und -leiter

Referat u.a. von Andreas Winkler, Geschäftsleiter santésuisse Ostschweiz

14. bis 16. Nov. Hotel Radisson, St. Gallen

Die Tagung ist aufgeteilt in Impulsreferate und Parallelworkshops

16./17. November www.isesuisse.ch Hotel Forum Post, Magglingen

www.svpl.ch

Vertragsfreiheit oder Managed Care PCS Schweiz

14th European Conference on Public Health Public Health Schweiz

U.a. mit Bundesrat Pascal Couchepin

16. bis 18. Nov. Montreux Palace

www.public-health.ch

23. November Pflegezentrum Käferberg, Zürich

www.healthhospitals.ch

30. November Kultur- und Kongresshaus, Aarau

www.svv.ch

Jahrestagung Gesundheitsförderung und Arbeitssicherheit Netzwerk gesundheitsfördernder Spitäler Die Tagung ist aufgeteilt in Impulsreferate und Parallelworkshops

Schweizerischer Versicherungsverband

Richtet sich an Führungs- und Fachkräfte aus der Assekuranz, an Mediziner und Psychologen, an Juristen, an Behördenmitglieder auf nationaler sowie kantonaler Ebene

Zeichnung: Marc Roulin

Invalidisierung unserer Gesellschaft


Ausschreibung der Berufsprüfung für die/den Krankenversicherungs-Fachfrau/Fachmann mit eidgenössischem Fachausweis 2007 santésuisse führt die Berufsprüfung für die/den Krankenversicherungs-Fachfrau /Fachmann mit eidgenössischem Fachausweis wie folgt durch: Ort:

Olten und Lausanne

Daten:

schriftliche Prüfung: mündliche Prüfungen:

Zulassung:

• Fähigkeitsausweis als kaufmännische/r Angestellte/r und eine Berufspraxis von mindestens vier Jahren nach Abschluss der Lehrzeit, wovon mindestens zwei Jahre in der Krankenversicherung nach KVG. • Gegenüber Punkt 1 gleichwertiger Ausweis (eidgenössisch oder kantonal anerkanntes Diplom einer Handelsmittelschule, eidgenössische Matura, eidgenössisches Diplom über höhere Fachprüfung usw.) und eine Berufspraxis von mindestens vier Jahren nach Abschluss der Studienzeit, wovon mindestens zwei Jahre in der Krankenversicherung nach KVG. • Mindestens 3-jährige Ausbildung in einem Beruf, der vom KVG als Leistungserbringer anerkannt wird und eine Berufspraxis von mindestens vier Jahren nach Abschluss der Studienzeit, wovon mindestens zwei Jahre in der Krankenversicherung nach KVG. • Andere vom Bund anerkannte Ausbildung von mindestens zwei Jahren und eine allgemeine berufliche Tätigkeit von mindestens fünf Jahren nach Ende der Lehr- oder Studienzeit, wovon mindestens drei Jahre in der Krankenversicherung nach KVG. • Mit anderer Ausbildung mindestens sechs Jahre Berufspraxis in der Krankenversicherung nach KVG bis zum Prüfungstag.

Prüfungsgebühr:

CHF 1050.–, zahlbar nach schriftlichem Zulassungsbescheid

Anmeldung:

Auf besonderem Formular, erhältlich bei santésuisse, Ressort Ausbildung, Römerstrasse 20, Postfach, 4502 Solothurn, Tel. 032 625 41 41, Fax 032 625 41 51, E-mail: ausbildung@santesuisse.ch

Anmeldeschluss:

Montag, 15. Januar 2007 (Poststempel)

Montag, 7. Mai 2007 Dienstag, 8. Mai 2007 Mittwoch, 9. Mai 2007 Donnerstag, 10. Mai 2007 Freitag, 11. Mai 2007

Der Entscheid über die Zulassung zur Prüfung wird der Kandidatin/dem Kandidaten nach Anmeldeschluss schriftlich mitgeteilt. Weitere Auskünfte erteilt das Ressort Ausbildung von santésuisse.


9. Nationale Gesundheitsförderungs-Konferenz 25. und 26. Januar 2007, Zug, Schweiz

Zusammenarbeit erfolgreich gestalten Referentinnen und Referenten • • • • • • • • • • • •

Verena Diener, Regierungsrätin, Zürich Joachim Eder, Regierungsrat, Zug Rob Moodie, Prof. Dr, CEO, VicHealth, Victoria (Australien) Antanas Sivickas Mockus, Dr., ehemaliger Bürgermeister von Bogotá (Kolumbien) Elke Demtschueck, Beraterin, Dialoge – Organisations- und Wirtschaftsberatung, Köln (Deutschland) Stephan Becker-Sonnenschein, Berater, Ex-Mitarbeiter Kraft Foods, München (Deutschland) Patrick K. Magyar, ehemaliger Geschäftsführer des Teams Alinghi, Baar Thomas Zeltner, Prof. Dr. med., Direktor, Bundesamt für Gesundheit, Bern Hans-Rudolf Castell, Leitung Direktion HR Management Migros-Gruppe, Zürich Thomas Knapp, Journalist, Olten Live-Cartoons mit Pfuschi Pfister, Bern und weitere

Workshops

Erfahrungsaustausch und Wissenstransfer

Anmeldung

www.gesundheitsfoerderung.ch/konferenz

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