infosantésuisse Nr.1-2/2006 deutsch

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infosantésuisse Magazin der Schweizer Krankenversicherer Nr. 1–2, Januar/Februar 2006

Im Gespräch: Dr. med. Ludwig-Theodor Heuss, Ressortleiter Qualität der FMH Seite 6

«Zulassung und Tarife sollen von der Qualität abhängen» Seite 14

IM VISIER:

Qualität


INHALT

infosantésuisse  Nr. 1–2, Januar / Februar 2006

SCHWERPUNKT 4 6 8 10 12 14 16 17

Verbindliche Qualitätsförderung in der Medizin: Gesund für alle Im Gespräch: Dr. med. Ludwig-Theodor Heuss, Ressortleiter Qualität der FMH Bund übernimmt Federführung in der Qualitätsdiskussion Erprobte Systeme sind vorhanden – und der Wille? Im Gespräch: Dr. med. Lukas Villiger, Inhaber einer EQUAM-zertifizierten Praxis in Baden «Zulassung und Tarife sollen von der Qualität abhängen»: Gespräch mit H+-Präsident Peter Saladin Drei Fragen an: Adolf Steinbach, Co-Leiter des Vereins Outcome Qualitätsmess-Systeme in Grossbritannien und Deutschland

Verbindliche Qualitätsförderung in der Medizin: Gesund für alle Seite 4

KRANKENVERSICHERUNG 8 Was ist neu in KVG, KVV und KLV? 1 19 Wie dicht ist die praxisärztliche Versorgung in der Schweiz? 20 Nur noch 27 Krankenversicherer schweizweit tätig

GESUNDHEITSWESEN 2 Im Gespräch: Claude Hêche, Gesundheitsdirektor des Kantons Jura 2 24 Höhere Fachprüfung: Zum zweiten Mal nach neuem Modus 25 Föderalismus im Gesundheitswesen: Ein Auslaufmodell?

SERVICE 6 2 26 26 26 27 28

Alternative Versicherungsmodelle gewinnen an Boden Gesundheitskosten sind Konsumentensorge Nr. 1 Aktualisierte Datenbank auf www.santesuisse.ch News aus aller Welt Veranstaltungskalender

«Ich kann die Qualitätsmessungen auf jeden Fall anderen Ärzten weiterempfehlen.» Seite 12 SH BS ZH

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Wie dicht ist die praxisärztliche Versorgung in der Schweiz? Seite 19

Nr. 1–2, Januar/Februar 2006 Erscheint zehnmal jährlich

Layout: Henriette Lux

Abonnementspreis: Fr. 69.− pro Jahr, Einzelnummer Fr. 10.−

Anzeigenverwaltung: Alle Inserate − auch Stelleninserate − sind zu richten an: «infosantésuisse», Römerstrasse 20, Postfach, 4502 Solothurn

Herausgeber und Administration: santésuisse, Die Schweizer Krankenversicherer, Römerstrasse 20, Postfach, 4502 Solothurn Verantwortliche Redaktion: Peter Kraft, Abteilung Politik und Kommunikation, Postfach, 4502 Solothurn, Tel. 032 625 42 83, Fax 032 625 42 70

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ISSN 1660-7228

Titelbild: Heiner Grieder, Langenbruck


EDITORIAL

infosantésuisse  Nr. 1–2, Januar / Februar 2006

«Der Konsument soll die Qualität beurteilen können»

E Peter Fischer Verwaltungsrat santésuisse

in Konsument kann die Qualität eines bestimmten Schuhs oder Pullovers bereits vor dem Kauf mit ziemlicher Sicherheit abschätzen. Bei anderen Gütern kann er die Qualität erst hinterher feststellen, etwa wenn er in einem ihm unbekannten Restaurant essen geht. Bei wieder anderen Gütern, wie bei einem ärztlichen Eingriff, kann er bestimmte Qualitätsaspekte auch nach dem Kauf kaum beurteilen. Teilweise ist es sogar unmöglich, genaue Informationen über die Qualität eines Produkts zu erhalten. Ein unterschiedlicher Informationsstand der Produzenten und Konsumenten über die Eigen­schaften und damit die Qualität eines Produkts ist im Bereich medizinischer Güter typisch. Die Schlussfolgerung, im Bereich der medizinischen Leistungen spiele die Qualität keine Rolle, wäre jedoch unzutreffend. Der Versicherungsschutz gibt dem Konsumenten starke Anreize, die Kostenseite seiner Entscheidungen zu vernachlässigen. Für ihn ist in erster Linie der Zusatznutzen einer neuen Behandlungsmethode ausschlaggebend. Die Leistungserbringer sind deshalb bestrebt, dem potenziellen Kunden qualitativ hoch stehende und innovative Leistungen anzubieten und ihn damit für sich zu gewinnen. Resultat des fehlenden Kostenbewusstseins ist eine generelle Überversorgung mit medizinischen Leistungen. Die Kostenfolgen sind in den jährlichen Prämiensteigerungen abzulesen. Müsste der Konsument die Kosten verstärkt selber tragen, würde er das Kosten-Nutzen-Verhältnis ei-

ner medizinischen Leistung in aller Regel besser abwägen. Demgegenüber werden Investitionen in die Qualität der Prozesse untergewichtet. Es zahlt sich für die Leistungserbringer weniger aus, die Qualität bestehender Abläufe zu verbessern. Verstärkt wird dieses Verhalten durch Kontrahierungszwang und kantonal abgegrenzte Versorgungs­ regionen. Die Leistungserbringer bewegen sich in staatlich geschützten Teilmärkten. Weder der Leistungserbringer noch der Konsument profitiert von allfälligen Kosteneinsparungen. Die Krankenversicherer sind deshalb bestrebt, die Leistungserbringer vertraglich zur Verbesserung der Qualität zu verpflichten. Es gilt jedoch bei all diesen Bestrebungen stets zu bedenken, dass nur ein möglichst gut funktionierender Markt und somit Wettbewerb für die vom Konsumenten gewünschte Qualität sorgt. Denn nur die erwünschte und nicht die verordnete Qualität steht im Zentrum aller Anstrengungen.


SCHWERPUNKT

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Das Verbesserungspotenzial systematisch nutzen

Verbindliche Qualitätsförderung in der Medizin: Gesund für alle Das Schweizer Gesundheitssystem hat, überspitzt gesagt, zwei Hauptmerkmale: Es ist teurer und ihm wird gemeinhin eine gute Qualität nachgesagt. Über die Kosten wird viel diskutiert, über die Qualität bisher deutlich weniger. Der Grund ist wohl: Die Kosten sind ein offensichtliches Problem, während an der Qualität scheinbar nichts geändert werden muss. Langsam scheint nun aber ein Umdenken stattzufinden: Einige Akteure im Gesundheitswesen, aber auch Politiker wollen sich nicht länger auf den Lorbeeren ausruhen, sondern das vorhandene Verbesserungspotenzial ausfindig machen und nutzen.

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ie Qualitätssicherung und –förderung in der Medizin ist ein Thema, das – bisher – weder medial noch politisch grosse Beachtung gefunden hat. Dies, obwohl durchaus Stoff für handfeste Storys oder parlamentarische Debatten vorhanden wäre. Die medizinische Qualitätssicherung ist nämlich seit zehn Jahren gesetzlich geregelt, ohne dass die Bestimmungen umgesetzt worden wären. Der Artikel 58 des KVG gibt dem Bundesrat unter anderem die Kompetenz, «wissenschaftliche Kontrollen zur Sicherung der Qualität (…)» durchzuführen. Artikel 77 der entsprechenden Verordnung beschränkt die Handlungspflicht des Bundesrats auf den Fall, dass zwischen Leistungserbringern und Versicherern kein Vertrag zur Qualitätssicherung zustande kommt. Derselbe Artikel nimmt dafür die Leistungserbringer oder deren Verbände in die Pflicht: Sie müssen «Konzepte und Programme über die Anforderungen an die Qualität der Leistungen und die Förderung der Qualität» erarbeiten und diese mit den Versicherern vertraglich festlegen. Bisher ist dies bei weitem noch nicht überall eingetreten. Und auch der Bund hat seine subsidiäre Rolle bis anhin nicht wahrgenommen.

Kein Ding der Unmöglichkeit Die Beispiele Grossbritannien und Deutschland zeigen, dass eine konsequente Qualitätsmessung auch in der Medizin keineswegs illusorisch ist (siehe Seite 17). Auch aus der Schweiz gibt es ermutigende Ansätze: Bei den Apothekern, den Physio- und Ergotherapeuten, in der Rehabilitation und bei den Labors

sind Qualitätsprogramme entwickelt und zum Teil auch vertraglich verankert worden. Weniger gut sieht es diesbezüglich in der Arztpraxis aus: Die Ärzteverbände haben bisher kein Qualitätskonzept vorgelegt, wie das die Verordnung zum KVG verlangt. Aktiv sind einzig einzelne Managed-Care-Organisationen. santésuisse hat darum im November 2005 versucht, in einem Workshop einen Anstoss für das Ausarbeiten gemeinsamer Grundlagen zur Qualitätssicherung in der Arztpraxis zu geben (vgl. Unterlagen auf www.santesuisse.ch). Im stationären Bereich gedeihen immerhin erste Früchte auf dem Brachland: Zusammen mit dem Spitalverband H+ und der Medizinaltarif-Kommission (MTK) hat santésuisse im August 2004 die Gesellschaft zur Förderung der Qualität im stationären Spitalbereich (KIQ) neu gegründet. KIQ konzentriert sich in erster Linie auf das Ausarbeiten von gesamtschweizerischen Qualitätskonzepten in den Bereichen Psychiatrie und Rehabilitation. Weiter ist in den Kantonen Bern, Solothurn, Zürich und Aargau seit einiger Zeit der Verein Outcome aktiv: Er führt Ergebnisqualitätsmessungen durch, die hauptsächlich auf die Rückmeldungen der Patientinnen und Patienten abgestützt sind. Für 2006 plant Outcome eine Ausweitung seiner Tätigkeit auf weitere Kantone.

Politische Debatte kommt in Schwung Im Parlament ist die medizinische Qualität noch immer kein gewichtiges Thema. Doch hat eine Motion der Solothurner SPNationalrätin Bea Heim von Ende 2004 ei-

niges ausgelöst: Heim fordert darin eine vom Bund geleitete nationale Plattform, auf der die Akteure im Gesundheitswesen die vom Gesetz verlangten Konzepte zur Qualitätssicherung zu beschliessen hätten. Das Begehren wurde in leicht abgeänderter Form an den Bundesrat überwiesen. Seither haben Vertreter des BAG immer wieder betont, der Bund werde das Heft


in Sachen Qualitätssicherung selber in die Hand nehmen, wenn sich Leistungserbringer und Versicherer nicht bald auf einen gemeinsamen Nenner einigen könnten.

Gemeinsames Qualitätsverständnis nötig

gleichbare Ergebnisse liefern, die auch gegenüber der Öffentlichkeit transparent gemacht werden. Gegen Leistungserbringer, die die Teilnahme an den Qualitätsprogrammen verweigern, müssen Sanktionen von einem Preisabschlag bis hin zum Ausschluss aus der Grundversicherung möglich sein. Natürlich sind «Strafmassnahmen» nicht das Ziel der Sache. Wo aber die Bereitschaft fehlt, ein Gesetz zehn Jahre nach Inkrafttreten auch umzusetzen, ist entschiedenes Handeln angesagt. In Leistungsbereichen, in denen noch keine vertragliche Qualitätssicherung existiert, bietet santésuisse Hand zur Zusammenarbeit. Der Bundesrat muss dann tätig werden, wenn sich die Verbände nicht einigen können. Dies ist jedoch für santésuisse die Ultima Ratio: Besser sind Qualitätskonzepte, die auf einem gemeinsamen Verständnis der Vertragspartner beruhen.

Ist unsere Medizin nicht gut genug? Warum braucht unser Gesundheitssystem Qualitätsmessungen und Massnah-

Qualität: Im Gesundheitswesen bisher kaum systematisch gefördert.

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Foto: Heiner Grieder

santésuisse hingegen ist überzeugt, dass Qualitätssicherung nicht von oben verordnet sein sollte. Um so mehr drängt die Zeit: Die Akteure im Gesundheitswesen müssen sich finden, wollen sie nicht bald einer Bundesdoktrin gegenüber stehen. santésuisse hat deshalb im vergangenen November einen Workshop zum Thema «Qualität in der Arztpraxis» organisiert, an dem alle Beteiligten ihre Sichtweisen darlegen konnten. Momentan werden die Ergebnisse des Workshops ausgewertet. Der Fokus liegt dabei auf Gemeinsamkeiten, auf denen sich ein zukünftiges Qualitätskonzept aufbauen liesse. Unabhängig davon ist für santésuisse klar: Es werden keine Tarifverträge mehr abgeschlossen, die keine Bestimmungen zur Qualitätssicherung enthalten. Die Qualitätssicherung muss dabei mess- und ver-

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men für mehr Qualität? Ganz einfach: Weil es für alle Beteiligten von Vorteil ist. Die Patienten erhalten eine bessere Behandlung, das Risiko der Über-, Unter- und Fehlversorgung wird verringert. Als Prämienzahlende profitieren sie zudem von der verbesserten Effizienz, die eine konsequente Qualitätssicherung mit sich bringt. Die grössten Nutzniesser sind aber die Leistungserbringer selber: Qualitätsmessungen weisen gute Arbeit aus und liefern Hinweise, wo die eigene Tätigkeit weiter verbessert werden kann. Hinzu kommt: Auch bei uns gibt es viele überflüssige oder gar schädliche Behandlungen, und es kommt zu tragischen und vermeidbaren Fehlern. Einzelfälle tauchen immer wieder in der Presse auf. Sicher ist das kein Grund, den Medizinern schlechte Arbeit vorzuwerfen. Aber es zeigt auf, dass noch einiges an Verbesserungspotenzial vorhanden ist. Zudem haben diverse Autoren, unter ihnen der Tessiner Sozialwissenschaftler Gianfranco Domenighetti und der renommierte Medizinjournalist Jörg Blech, in Studien festgestellt, dass Ärzte oft Operationen ausführen, denen sie selber sich nicht unterziehen würden. Domenighetti hat auch nachgewiesen, dass in Arztpraxen Jahr für Jahr Leistungen im Wert von 2,7 Milliarden Franken erbracht werden, die medizinisch nicht sinnvoll, aber von den Patienten verlangt sind. Studien der Evidence Based Medicine belegen für einige Therapien und Medikamente, die heute häufig angewendet werden, dass sie wenig nützen oder dass sogar die schädlichen Nebenwirkungen dominieren. Klassisches Beispiel ist die Hormonersatztherapie. Und im Kantonsspital Schaffhausen werden Antibiotika nur noch nach streng evidenzbasierten Kriterien verschrieben. Der Effekt: Der Verbrauch an Antibiotika ging um vierzig Prozent zurück, während sich die Behandlungsqualität verbesserte. Diese Beispiele zeigen: Im unserem Gesundheitssystem steht qualitativ vieles, aber nicht alles zum Besten. Können wir es uns leisten, bestehende Verbesserungsmöglichkeiten brachliegen zu lassen – in einem Bereich, der fast zwölf Prozent unseres Bruttoinlandprodukts ausmacht, und der laut allen Umfragen die Schweizer Bevölkerung mehr beschäftigt als jede andere politische Frage?  Peter Kraft


SCHWERPUNKT

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Im Gespräch: Dr. med. Ludwig-Theodor Heuss, Ressortleiter Daten, Demografie, Qualität der FMH

«Wir sind offen für Gespräche» Unlängst hat die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte ihr «Programm Qualität FMH» vorgestellt. Ein darin formuliertes Ziel ist die Aufnahme von Gesprächen mit anderen Akteuren des Gesundheitswesens, um ein gemeinsames Qualitätsverständnis zu erarbeiten. Wie konkret ist dieses Angebot, und welche Vorstellungen hat die FMH von einer künftigen Qualitätssicherung? infosantésuisse hat den zuständigen Ressortleiter, Ludwig-Theodor Heuss, im Universitätsspital Basel besucht.

infosantésuisse: Herr Dr. Heuss, die FMH hat anfangs 2005 eine Arbeitsgruppe gegründet, die kürzlich ein «Programm Qualität FMH» vorgestellt hat. Ein darin festgeschriebenes Ziel ist die Aufnahme von Verhandlungen mit den anderen Akteuren, um ein gemeinsames Qualitätsverständnis zu erarbeiten. Das gleiche Vorhaben äusserte santéuisse an einer eigens organisierten Qualitäts-Tagung. Eigentlich könnte man sich also direkt an den Verhandlungstisch setzen? Dr. Ludwig-Theodor Heuss: Zunächst etwas zum Ursprung des «Programms Qualität FMH»: Der Verband der deutschsprachigen Ärztegesellschaften VEDAG hat aus der Praxis heraus eine Arbeitsgruppe Qualität geschaffen: An der Basis, bei den praktizierenden Ärztinnen und Ärzten, wurde immer häufiger der Wunsch geäussert, sich mit dem Thema Qualität auch auf einer anderen Ebene auseinanderzusetzen als auf den Anstrengungen, die in der täglichen Arbeit sowieso schon unternommen werden. Die Arbeitsgruppe der VEDAG legte ihr Leitbild der Ärztekammer vor, die sich damit einverstanden erklärte. Aus einer BasisInitiative wurde so eine offizielle Arbeitsgruppe der FMH. Ihr Ziel ist es, ein gemeinsames Verständnis zu schaffen: Was bedeutet Qualität aus Sicht der Ärzteschaft?

«Innerhalb der Ärzteschaft muss eine Transparenzkultur entstehen.» Aus Sicht der Ärzte kann Qualität nicht von aussen definiert werden. Nicht nur die Ärzte unter sich, sondern alle Partner im Gesundheitswesen müssen zu einem gemeinsamen Qualitätsverständnis kommen. santésuisse ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger Partner, neben den anderen

Medizinalberufen, den Patienten und der Politik. Wir wollen die Qualitätsdiskussion in enger Kooperation mit diesen Akteuren führen. Kooperation und Dialog zu diesem Thema ist uns ein Anliegen. Wir sind offen für Gespräche. Sehen Sie die Rolle von Qualitätsmess- und Qualitätsförderungsprogrammen eher als unverbindliche Empfehlung oder als verbindlichen Bestandteil von Tarifverträgen oder gar des Gesetzes? Hier muss man differenzieren zwischen Qualitätsförderung und Qualitätsmessung. Die Qualitätsförderung ist ja bereits heute Teil des Gesetzes. Gegenüber obligatorischen Qualitätsmessungen bin ich skeptisch: Kontrollierende, vorschreibende und sanktionierende Massnahmen werden ihren Zweck kaum erfüllen. Für die FMH ist die Verbesserung der beruflichen Performance ihrer Mitglieder zentral. Das muss gezielt geschehen: Die Qualität soll dort gefördert und erhöht werden, wo Schwächen bestehen. Das ist bei jedem Arzt individuell und kann nicht über den ganzen Berufsstand beurteilt werden. Wir wollen auch keinen Zwang, sondern positive Anreize. Ein wichtiger Aspekt ist dabei die Transparenz innerhalb der Ärzteschaft: Der Vergleich mit anderen Kollegen fördert den Wunsch, sich dort zu verbessern, wo man unterdurchschnittlich abschneidet. Nicht nur die Qualität profitiert davon: Auch das Vertrauen und die Kooperationsbereitschaft – sei es gegenüber anderen Partnern im Gesundheitswesen oder gegenüber Kollegen – wird so gestärkt. Dazu muss aber innerhalb der Ärzteschaft eine Transparenzkultur entstehen. Diese Entwicklung hat inzwischen eingesetzt: Ich bin überzeugt, dass die Ärzte die Vorteile der Qualitätsvergleiche schätzen werden. Das

Wissen darum, wo man im Vergleich zu den Berufskollegen steht und wo die Verbesserungsmöglichkeiten liegen, ist ­enorm wertvoll. Viele Unsicherheiten können so eliminiert werden. Auch die Patienten werden von der höheren Qualität profitieren, ebenso wie die Versicherer: Die ärztlichen Leistungen werden zwar nicht unbedingt günstiger, aber den eingesetzten finanziellen Mitteln wird ein höherer Nutzen gegenüber stehen. Können Sie sich vorstellen, dass die Ergebnisse von Qualitätsmessungen auch der Öffentlichkeit gegenüber zugänglich sein werden?

Ich bin überzeugt, dass die Ärzte die Vorteile der Qualitätsvergleiche schätzen werden. In letzter Konsequenz ist das nicht ausgeschlossen. Allerdings sind die heutigen Modelle dazu noch nicht geeignet, weil sie noch keine Parameter zur Verfügung stellen, die eine globale Beurteilung zulassen. Die Ergebnisqualitätsmessungen fokussieren immer auf spezifische Indikatoren. Wenn die Resultate öffentlich werden, kann das zu unerwünschten Verhaltensänderungen führen: Die Leistungserbringer konzentrieren sich auf jene Bereiche, die gemessen werden und vernachlässigen andere. So besteht die Gefahr, dass die Qualität sinkt, unbemerkt von den Messungen. Damit eine öffentliche Transparenz sinnvoll wird, müssen die Indikatorensets soweit entwickelt werden, dass diese Gefahr nicht mehr besteht. Was aber durchaus transparent werden kann und was auch eine gewisse Aussagekraft über die Qualität hat: Nimmt ein Arzt an Qualitätsför-


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teilnimmt, wird er sicher Vorteile punkto Patientenzustrom haben. Auch das meine ich mit positiven Anreizen: Sie werden mit Sicherheit bessere Auswirkungen auf die Qualität haben als Zwang. Wer soll die Qualitätsmessungen durchführen? Sind bestehende Organisationen wie EQUAM eine Option? Foto: ZVG

derungsprogrammen teil? Tut er das, zeigt das die Bereitschaft, aus eigenen Fehlern und vom Wissen anderer zu lernen. Es ist dadurch in gewisser Weise ein Qualitätsmerkmal an sich. Auch aus der Literatur ist bekannt, dass schon allein diese Tatsache einen signifikant positiven Einfluss hat. Zudem: Wenn publik wird, dass ein Arzt an Qualitätsförderungsprogrammen

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EQUAM ist im Zertifizierungsbereich angesiedelt und vor allem im Managed CareBereich tätig. Das messende sollte meiner Meinung nach aber nicht zugleich das zertifizierende Institut sein, weil so Kompetenzprobleme entstehen können. Eine geeignete Messinstitution müsste unabhängig und von den Ärzten und den anderen Partnern im Gesundheitswesen mitgestaltet sein. Ungeeignet würde ich ein rein ökonomisches Konstrukt finden.

Wenn publik wird, dass ein Arzt an Qualitätsförderungsprogrammen teilnimmt, wird er sicher Vorteile punkto Patientenzustrom haben. Wer soll die Aufwendungen für die Qualitätsprogramme tragen? Qualitätssicherung gehört in den Produktionsprozess eines jeden Guts hinein. Zum Teil trägt der Hersteller die Kosten, zum Teil schlagen sie sich aber auch im Verkaufspreis nieder. Leistungserbringer und Versicherer werden sich in dieser Frage in Verhandlungen treffen müssen.

Dr. Ludwig-Theodor Heuss: «Alle Partner im Gesundheitswesen müssen zu einem gemeinsamen Qualitätsverständnis kommen.»

Die Schweizer Spitäler beginnen, Fehlermeldesysteme einzuführen und diese gar untereinander zu vernetzen. Ist dies aus Ihrer Sicht auch für die Arztpraxen denkbar? Bereits heute gibt es Qualitätszirkel, in denen kritische Vorfälle untereinander diskutiert werden. Innerhalb der FMH existieren durchaus auch Pläne, ein Fehlermeldesystem auf elektronischer Ebene für die ambulante Arztpraxis einzuführen. Vorerst müssen aber noch einige Fragen beantwortet werden: Wie führen wir so ein System ein und machen es bekannt und beliebt, und wie wird es wohl benutzt werden? Wie hoch sind die Kosten? Innerhalb der Fachgesellschaften werden solche Critical Incident Reporting-Systeme auch schon angewendet. Nur ist bei den Grundversorgern die Palette der möglichen kritischen Ereignisse grösser, die Anforderungen an ein Meldesystem entsprechend höher. Es muss geklärt sein, wer ein solches System betreibt und administriert. Denn aus den Fehlermeldungen müssen auch die richtigen Konsequenzen gezogen und Handlungsrichtlinien für die Praxis abgeleitet werden.  Interview: Peter Kraft


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Breite Palette von Massnahmen geplant

Bund übernimmt Federführung in der Qualitätsdiskussion Seit zehn Jahren ist das KVG in Kraft – und mit ihm die Verpflichtung für Leistungserbringer und Versicherer, verbindliche Qualitätsverträge abzuschliessen. Allerdings harzt es bisher mit der Umsetzung. Der Bund ist deshalb entschlossen, gestützt auf das KVG-Mandat und die Motion «Qualitätssicherung und Patientensicherheit», die Federführung und Koordination bei der Umsetzung der Qualitätssicherung wahrzunehmen – unter Einbindung der Partner.

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er Gesetzgeber hat dem Bundesrat die Kompetenz gegeben, Massnahmen zur Sicherung der Qualität der medizinischen Leistungen zu bestimmen (KVG 58.3). Dieses Mandat fordert nicht die Einführung von bestimmten Qualitätsmanagementsystemen, sondern zielt vielmehr direkt auf die Evaluation und Steuerung der Qualität der medizinischen Leistungen ab. Die heute gängigen Management-Systeme bilden denn auch die eigentlichen Kernprozesse eines medizinischen Leistungserbringers nicht adäquat ab und dienen oft als Feigenblatt zur Kaschierung fehlender Inhalte bei der Sicherung der Qualität innerhalb der Kernbereiche der medizinischen Leistungsprozesse.

Der Bund wird aktiv Das Mandat zur Vorgabe von geeigneten Massnahmen zur Qualitätssicherung wurde in der Verordnung zum KVG in einer ersten Phase an die Leistungserbringer und die Versicherer delegiert, mit dem klaren Vorbehalt, dass der Bundesrat auf dem Verordnungsweg Vorgaben machen kann, falls keine oder ungenügende Qualitätssicherungsverträge geschlossen werden. Es hat sich jedoch gezeigt, dass in unserem Gesundheitssystem nur ungenügende Anreize für einen wirksamen Umsetzungsprozess auf Vertragsbasis vorhanden sind. Im Hinblick auf den gesetzlichen Auftrag wurde deshalb seit Sommer 2004 bundesintern eine Strategieänderung vorbereitet, die durch parlamentarische Interventionen massgeblich beschleunigt wurde. Im Jahr 2005 wurde von beiden Räten eine Motion Qualitätssicherung und Patientensicherheit verabschiedet, welche die Federführung des

Bundes bei gleichzeitiger Einbindung der Partner in einer nationalen Plattform verlangt. Von Bundesseite wurde in der Ratsdebatte festgehalten, dass die Umsetzung der vom KVG geforderten Qualitätssicherung in Zukunft nicht mehr über Qualitätsverträge der Leistungserbringer und Versicherer erfolgen wird: Die notwendigen Anforderungen müssen unter der Federführung des Bundes auf dem Verordnungsweg bestimmt werden. Die gesetzlichen Grundlagen für die Umsetzung des Mandats des Parlaments sind bereits in KVG 58.3 vorhanden. Die vom Parlament gewünschte nationale Plattform soll themenspezifisch angegangen werden. So besteht zum Thema Patientensicherheit mit der Stiftung für Patientensicherheit bereits eine Plattform zur Verfügung, die aktiv genutzt wird.

Wo besteht Handlungsbedarf? Folgende Defizite in der Qualität der medizinischen Leistungen erfordern gezielte Interventionen auf der normativen Ebene: Ungenügende Qualitätsdaten: Unser Gesundheitssystem wird bis anhin auf der Ebene der Qualität der Leistungen ungenügend evaluiert. Ein konsistentes Set von Qualitätsindikatoren fehlt. Beispielsweise existiert keine national koordinierte, benchmarking-fähige Erhebung der nosokomialen Infekte in Spitälern. Die Fallzahlen bei kritischen medizinischen Interventionen sind nicht bekannt. Die vom Verein Outcome in vier Kantonen erhobenen Qualitätsindikatoren dienen ausschliesslich als Basis für den spitalinternen Verbesserungsprozess und stehen bis heute nicht für eine systematische Evaluation der Qualität und zur Rechenschaftsablage nach aussen zur Verfügung. Zu-

dem werden die Daten nur sporadisch und nicht kontinuierlich erhoben. Das «Cockpit» des Spitalmanagements ist denn auch fast ausschliesslich auf Finanzkennzahlen beschränkt. Das Defizit in der Qualitätsmessung ist somit auf der Ebene des Gesundheitssystems wie auch auf der Ebene der einzelnen Institutionen vorhanden. Inadäquates Anreizsystem: Hohe Leistungsqualität wird in unserem Gesundheitssystem nicht belohnt. Dies ist auch eine direkte Folge der fehlenden Daten zur Qualität. Es ist notwendig, die notwendige Datenbasis schrittweise einzuführen und das Abgeltungssystem und die nichtmonetären Anreize entsprechend anzupassen oder neu zu gestalten. Fehlende Überprüfung der Angemessenheit: Es genügt nicht, die Qualität der erbrachten Leistungen zu evaluieren. Ebenso wichtig ist, ob die Entscheide für eine medizinische Intervention evidenzbasiert und angemessen waren. Es existieren bewährte Methoden zur Beurteilung der Angemessenheit der diagnostischen, therapeutischen und rehabilitativen Massnahmen, die nicht nur retrospektiv, sondern insbesondere prospektiv einzusetzen sind. Fehlendes klinisches Risikomanagement: Die Leistungserbringer im Gesundheitswesen arbeiten in einem Hochrisikobereich. Im Gegensatz zu andern Hochrisikobereichen wie der Luftfahrt, der Atomenergie und der Ölförderung fehlt im Gesundheitswesen ein systematisches Risikomanagement. Das «Produktionssystem» Spital ist heute geprägt von Strukturen, die historisch gewachsen sind und die teilweise dem Risikomanagement hohe Hürden in den Weg legen. Dieses Defizit wird verstärkt durch stark vertikale Hierarchie-


Zwischenfälle und «Beinahe-Zwischenfälle» (sog. near-misses) einzuführen. Wesentliche Zwischenfälle und near-misses sollen unter Verwendung eines vorgegebenen, strukturierten Analyseprotokolls analysiert und Verbesserungsmassnahmen abgeleitet werden. Die anonymisierten Daten der lokalen Meldesysteme werden dabei in ein nationales Meldesystem eingespiesen, um über die Grenzen des eigenen Spitals einen Lernprozess zu ermöglichen. Befragung der klinisch tätigen Mitarbeitenden zur Patientensicherheit: Die klinisch tätigen Mitarbeitenden der Spitäler sollen periodisch von einer unabhängigen Institution mittels eines standardisierten Fragebogens zur Patientensicherheit be-

Eine Massnahme unter vielen: Kritische Eingriffe sollen von einem Leistungs­ erbringer nur ab einer minimalen Fallzahl durchgeführt werden.

Leistungserbringer ein geführter, kohärenter Veränderungsprozess angegangen wird.

Breite Palette von Massnahmen Das Bundesamt für Gesundheit hat aufgrund der aktuellen Defizite die folgenden inhaltlichen Schwerpunkte für die Umsetzung der Qualitätssicherung vorgesehen: Meldesysteme und Analyse kritischer Zwischenfälle: Die Spitäler sollen verpflichtet werden, lokale Meldesysteme für kritische

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Foto: Prisma

strukturen und einer teilweise wenig team­ orientierten Unternehmenskultur. Dringende Systeminnovation: Das Gesundheitswesen benötigt grundlegende, innovative Systemverbesserungen. Das hohe Ausmass von Fehlern in der Medizin ist nicht das Problem des Fehlverhaltens einiger so genannter «schwarzer Schafe», sondern das Resultat nicht adäquater Produktionssysteme. Unser System neigt zur Erhaltung der gewachsenen Strukturen. Ein System-Umbau erfolgt nicht ohne entsprechende Führung. Der Umbau unseres Gesundheitssystem zu einem modernen, auf den Patienten ausgerichteten Produktionssystem kann nur dann erfolgreich sein, wenn sowohl auf nationaler und kantonaler Ebene als auch auf der Ebene der

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fragt werden. Dabei ist insbesondere zu evaluieren, ob im entsprechenden Spital ein wirksamer Lernprozess in Gang ist und ob die betroffenen Patientinnen und Patienten bei kritischen Zwischenfällen offen orientiert werden (open disclosure policy). Patientenbefragung zur Patientensicherheit: Die Patientinnen und Patienten, die sich im Spital einer Behandlung unterziehen, müssen an den Erhebungen zur Patientensicherheit konsequent beteiligt sein.

Das Bundesamt für Gesundheit plant deshalb die Einführung einer national einheitlichen Befragung der Patientinnen und Patienten über ihre Erfahrungen mit der Sicherheit im Spital. Ein entsprechendes Frageraster ist in Vorbereitung. Die Befragung soll kontinuierlich erfolgen und die Resultate in geeigneter Form transparent gemacht werden. Festlegung von minimalen Fallzahlen für kritische Eingriffe: Aus Sicht einer hohen Qualität der erbrachten medizinischen Leistungen ist es unerlässlich, dass heikle medizinische Eingriffe in medizinischen Zentren durchgeführt werden, die über die notwendige Routine und entsprechende Fallzahlen verfügen. Das Bundesamt für Gesundheit plant deshalb, für eine Anzahl kritischer Interventionen minimale Fallzahlen zu empfehlen und nach einer Pilotphase verbindlich vorzugeben. Prospektive Evaluation der Angemessenheit medizinischer Massnahmen: Im Hinblick auf die Anreize zur Überversorgung, die unserem Gesundheitssystem eigen sind, braucht es für bestimmte Behandlungsformen eine prospektive, evidenzbasierte Evaluation der Angemessenheit. In einer Pilotphase ist insbesondere für diejenigen Interventionen eine Evaluation vorzusehen, bei denen minimale Fallzahlen gefordert werden. Erhebung von Qualitätsindikatoren auf nationaler Basis: Das Bundesamt für Gesundheit will gestützt auf die vorhandenen gesetzlichen Grundlagen die Erhebung von national einheitlichen Qualitätsindikatoren schrittweise einführen. Die einheitliche Messung der Spitalinfektionen und die daraus abgeleiteten Massnahmen zur Senkung der Infektionsraten werden zurzeit zusammen mit der Expertengruppe swissnoso und weiteren Partnern vorbereitet. Integraler Bestandteil des Programms ist ein Breakthrough-Projekt «Clean Care is Safer Care», das zusammen mit der WHO und den Universitätsspitälern von Genf geplant wird. In einem weiteren Pilotprojekt wird zusammen mit den universitären Psychiatriekliniken und einer bestehenden Expertengruppe der KIQ (Nationale Koordinations- und Informationsstelle zur Qualitätssicherung von H+, santésuisse und MTK) die Messung von Qualitätsindikatoren in der Psychiatrie vorbereitet. Manfred Langenegger, lic.rer.pol., Leiter der Fachstelle für Qualitätssicherung im Bundesamt für Gesundheit


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SCHWERPUNKT

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Die Qualitätsdiskussion im ambulanten Bereich

Erprobte Systeme sind vorhanden – und der Wille? Obwohl das Krankenversicherungsgesetz die Ärzteschaft und die Versicherer verpflichtet, die Qualitätssicherung vertraglich zu regeln, ist bisher wenig Konkretes passiert. Gründe sind die fehlenden Anreize, die Skepsis der Medizinier gegenüber dem kritischen Blick von aussen und der mangelnde politische Wille. Zumindest letzteres scheint sich langsam zu ändern: Die politische Qualitätsdiskussion kommt in Gang, und eine Einigung im Konsens scheint nicht mehr unmöglich. Die Grundlagen und Methoden für eine umfassende Qualitätsmessung und -förderung stehen jedenfalls bereit.

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er Stellenwert der medizinischen Qualitätssicherung wird seit je kontrovers diskutiert. Die Ärzte empfinden die Forderungen nach einer transparenten Qualität häufig als Anmassung und als Beschneidung ihrer Autonomie. Die fachlichen und ethischen Anforderungen sowie das Ansehen dieses Berufes machen in ihren Augen den kritischen Blick von aussen überflüssig bis inakzeptabel. Anzumerken bleibt, dass ein Arzt, der sich zu einem konsequenten Qualitätsmanagement bekennt oder sich gar unabhängigen Qualitätsbeurteilungen unterzieht, aus dem damit verbundenen Aufwand keinerlei geldwerten Vorteile zieht, wie dies in ausländischen Versorgungssystemen immer mehr der Fall ist. Eine Breitenentwicklung von Qualitätskonzepten ist aus diesen Gründen bisher ausgeblieben. Seitens der Politik, einzelner Versicherer und seit einigen Jahren auch der Patientinnen und Patienten wird jedoch zunehmend eine Transparenz nicht nur hinsichtlich der ärztlichen Wirtschaftlichkeit, sondern vor allem auch der klinischen Qualität gefordert. So verpflichtet das Krankenversicherungsgesetz die Ärzteschaft, Konzepte und Programme zur Qualitätsförderung ihrer Leistungen zu erarbeiten und mit den Versicherern Qualitätsvereinbarungen zu treffen. Seither sind zehn Jahre vergangen, ohne dass die entsprechenden Verbände – von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen – irgendwelche konstruktiven Vor-

schläge gemacht hätten. Die Ausnahmen betreffen einige wenige ärztliche Fachgesellschaften und – dies vor allem – Ärzte aus dem so genannten Managed Care, wo HMO-Praxen und integrierte Ärztenetze eigentliche Pionierarbeit in der Qualitätssicherung geleistet haben. Eine Unterstützung durch Bund, Kantone oder Verbände haben sie dabei nicht erhalten.

Methoden zur Qualitätsbemessung stehen bereit An Bemessungssystemen für die Praxisqualität gibt es eine Vielzahl, auch was die Zielsetzungen und die Verbreitung betrifft. Einzelne konzentrieren sich auf das Anstossen von Qualitätsprozessen oder die Erfassung der Patientenzufriedenheit, andere stellen eigentliche Indikatorensysteme mit einer optionalen Zertifizierung dar, wieder andere sind rein kommerzielle Produkte, die sich ausschliesslich mit der Praxisorganisation befassen. In der Schweiz zeigt sich in den letzten Jahren eine wachsende Konzentration auf wenige Modelle zur Förderung und Beurteilung der medizinischen Qualität, verbunden mit der Tendenz zur klaren Rollenzuweisung an die einzelnen Systemanbieter. Am etabliertesten sind für ambulante Praxen in der Schweiz die beiden Konzepte von swisspep und EQUAM, die mit ihren Qualitätsindikatoren und -standards auf dem bekannten European Practice Assessment (EPA) basieren.

swisspep (Institut für Qualität & Forschung im Gesundheitswesen) bietet ein bewährtes und international abgestütztes System zur Qualitätsentwicklung und Qualitätsförderung an, das auf eine Praxisevaluation, eine Team- und Patientenbefragung und ein prozessorientiertes Coaching ausgerichtet ist. Es handelt sich jedoch nicht um eine selektionierende Qualitätsbemessung. Es erfolgt also keine Zertifizierung oder dergleichen. EQUAM (Externe Qualitätssicherung in der Medizin) ist ein erprobtes, beim Bund akkreditiertes und in seinem unabhängigen Stiftungsrat breit abgestütztes System zur Qualitätsbemessung und Zertifizierung in der ambulanten Medizin. Es ist in der Schweiz das bekannteste und europaweit vorerst noch das einzige etablierte Zertifizierungssystem für Praxen. Der Fokus hat sich zunächst auf HMO-Praxen und Ärztenetzwerke gerichtet, doch sind im Herbst 2005 bereits die ersten konventionellen Einzelpraxen zertifiziert worden. Diese beiden Institutionen arbeiten seit rund zwei Jahren unter einer gemeinsamen


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Fotos v.l.n.r.: Keystone, Caesar Perrig

SCHWERPUNKT

ner SP-Nationalrätin Bea Heim Auftrieb erhalten: Der Vorstoss beauftragt den Bundesrat, Qualitätssicherung und Patientensicherheit in der medizinischen Behandlung gemäss Art. 58 KVG zu steuern, zu regeln und zu koordinieren sowie für den dazu notwendigen Rahmen und die Umsetzungsmassnahmen zu sorgen. Damit ist in der Qualitätsdiskussion viel in Bewegung gekommen, diverse Veranstaltungen zum Thema wurden angesetzt, vieles ist über diese Motion geschrieben worden. Einige Akteure befürchten die Einführung einer zentralistischen Kontrollkultur und postulieren, dass medizinische Qualität eine ärztliche Kernkompetenz sei. Dem kann nun tatsächlich nicht widersprochen werden, und auch der Gesetzesauftrag von 1996 sieht das so vor. Es stellt sich nur die Frage, ob der Konsensansatz versagt hat und auch weiterhin versagen wird. Statt aktiv und konstruktiv an Konzepten mitzuarbeiten, hat sich die Ärzteschaft in die Defensive drängen lassen.

Einigung im Konsens? Wer soll in der Qualitätsdiskussion federführend sein – die Politik oder die Akteure?

Zielsetzung zusammen, haben ein einheitliches Gesamtsystem geschaffen und darin ihre Rollen definiert: swisspep als verantwortliche Institution für die Praxisevaluation und die Auswertung, EQUAM, in kompatibler Form an die Assessments von swisspep anschliessend, als Qualitätsbemesser und akkreditierter Zertifizierer. Beide Institutionen stützen sich dabei auf die EPA-Indikatoren: EPA (European Practice Assessment) bezeichnet ein einheitliches, schweizerisch und international wissenschaftlich validiertes IndikatorenSet zur Messung der Management-Qualität von Hausarztpraxen und ist eine auf Praxistauglichkeit geprüfte Methode zur Erfassung und Dokumentation der Indikatoren. Das Instrumentarium umfasst internationale Fragebogen, eine eigene Software, Praxisbesuche durch speziell ausgebildete Auditoren und Feedbackberichte. Zu beachten ist, dass der Fokus von EPA auf dem Praxismanagement liegt und nicht auf der medizinischen Qualität. Aus diesem Grund benutzt EQUAM zum Zweck der Qualitätszertifizierungen zusätzlich zu

den EPA-Indikatoren ein Set an Parametern für medizinische Prozesse und arbeitet intensiv an klinischen Leistungs- und Ergebnisindikatoren und -standards. Auf dieser Basis dürfte in Kürze ein durchaus umfassendes und für einen breiten Einsatz geeignetes System zur qualitativen Beurteilung sowohl der Praxisorganisation, der klinischen Prozesse sowie ausgewählter medizinischer Leistungen bereitstehen.

Medizinische Qualität wird politisches Thema Das Schweizer Gesundheitswesen ist weit entfernt von den umfangreichen Qualitätskontrollen, wie sie zum Teil in den USA und in Grossbritannien üblich sind. Dennoch wird auch hierzulande diskutiert, die Vergütungen der Ärzte an die Erfüllung von Qualitätsnachweisen zu knüpfen. Einzelne Krankenkassen machen schon heute die Vergütungshöhe einiger Arztnetze von einem Qualitätszertifikat abhängig. Die Umsetzung des gesetzlichen Auftrags hat anfangs 2005 mit der Motion der Solothur-

Realpolitisch ist ein Obligatorium von Qualitätsstandards oder gar von Zertifikaten weder durchsetzbar noch sinnvoll. Dies kommt auch aus dem Motionstext sowie aus den Zielsetzungen und Publikationen der Institutionen swisspep und EQUAM zum Ausdruck. Für die Umsetzung und Akzeptanz irgendwelcher Systeme ist das Prinzip der Freiwilligkeit für Ärzte und Versicherte Voraussetzung. Doch muss auch in einem Konzept, das solche Freiwilligkeit mit der Forderung nach einer wirksamen Qualitätssicherung verbindet, eine klare Transparenz der Praxisqualität entstehen. Dazu braucht es eine substanzielle Anreizsetzung für Praxen, die sich einer Bemessung oder gar Zertifizierung unterziehen. Ende 2005 ist, wieder von Bea Heim, ein Postulat eingereicht worden, wonach der Bundesrat Modelle positiver Anreize zur Förderung der Qualitätssicherung prüfen und die dafür notwendigen rechtlichen Grundlagen schaffen soll. Erprobte Systeme dazu sind verfügbar und können durchaus weiterentwickelt werden. Wenn der Wille vorhanden ist, sogar im Konsens.  Kurt Hess Der Autor ist Arzt und Ökonom. Er arbeitet als selbstständiger Berater im Gesundheitswesen und ist Mitglied des Stiftungsrates und des Zertifizierungsausschusses der EQUAM-Stiftung.


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SCHWERPUNKT

infosantésuisse  Nr. 1–2, Januar / Februar 2006

Im Gespräch: Dr. med. Lukas Villiger, Inhaber einer EQUAM-zertifizierten Arztpraxis in Baden

«Ich lernte Verbesserungspotenzial kennen, das mir sonst verborgen geblieben wäre» Die EQUAM-Stiftung verfolgte ursprünglich das Ziel, die Qualität in HMO-Zentren zu prüfen und zu fördern. Dazu schuf sie, basierend auf den europaweit anerkannten EPA-Indikatoren, eigens ein Zertifikat. Nun hat die Stiftung ihre Tätigkeit auch auf Einzelpraxen ausgedehnt. Lukas Villiger aus Baden ist einer der ersten Ärzte, der sich den EQUAM-Erhebungen unterzogen hat. Im Interview erklärt er, warum er anderen Ärzten die Qualitätsmessung nur empfehlen kann. infosantésuisse: Herr Dr. Villiger, wie kam die Entscheidung zustande, Ihre Einzelpraxis bei der EQUAM-Stiftung zertifizieren zu lassen? Dr. med. Lukas Villiger: Ich habe mich vor drei Jahren entschlossen, ein betriebswirtschaftliches Nachdiplomstudium an der Universität St. Gallen zu absolvieren. Nach dem Abschluss wollte ich das neu erworbene Wissen in meiner Praxis anwenden – wohlwissend, dass hier zwei Welten aufeinander treffen würden. Hinzu kam mein Interesse für die Qualitätsmessung: Wie gehen solche Erhebungen vor sich? Was macht überhaupt die Qualität in einer Arztpraxis aus? Ich habe mich also über die verschiedenen Qualitätsmessprogramme informiert und mich schliesslich für EQUAM entschieden, weil dieses System in der Schweiz am stärksten verankert ist und weil es auch von der FMH unterstützt wird. Mich interessiert vor allem die Qualitätsmessung und –verbesserung. Das Zertifikat steht dabei nicht im Vordergrund und ist eigentlich nur Zugabe.

«Die Qualitätsmessungen haben auch einen positiven Einfluss auf meine Arbeitszufriedenheit.» Welche Qualitätsmerkmale werden bei der Zertifizierung besonders beachtet? Welche Rolle spielt die Ergebnisqualität? Die Qualitätsmerkmale werden grob in fünf Domänen eingeteilt: Bei den Finanzen werden keine Kennzahlen wie etwa der Gewinn erfasst, sondern eher buchhalterische Kriterien: Hat ein Arzt ein Budget, eine Cashflow-Rechnung, eine Erfolgsrechnung? Bei der Domäne Infor-

mation steht die Kommunikation mit den Patienten und Mitarbeitenden im Vordergrund. Im Bereich Menschen geht es hauptsächlich um die Zufriedenheit von Patienten und Mitarbeitenden. Diese füllen dazu einen detaillierten Erhebungsbogen mit über hundert Fragen aus. Bei der Infrastruktur geht es nicht nur um die medizinische Ausstattung der Praxis, sondern auch um die Erreichbarkeit, die Versorgung ausserhalb der Sprechstunde oder um die Praxisabläufe. Sind sie definiert, gibt es sinnvolle Leitfäden? In der Domäne Qualität und Sicherheit wird überprüft, ob die Praxis Ziele zur Qualitätsverbesserung festlegt, ob Teamsitzungen stattfinden oder ob Sicherheitsfragen genügend Beachtung geschenkt wird. Es werden also vor allem Struktur- und Prozessqualität gemessen. Die Ergebnisse sind in der Medizin zwar letztlich entscheidend, aber gerade in der Hausarztpraxis sehr schwierig zu messen: Es kommt eine enorme Bandbreite an Diagnosen, Problemen und Einflüssen zusammen. Auch bei den Spezialisten wäre der Aufwand gross, weil für jedes Fachgebiet andere Indikatoren bestimmt werden müssten. Ich gehe aber davon aus, dass sich Verbesserungen bei der Struktur- und Prozessqualität auch positiv auf die Ergebnisqualität auswirken. Zudem kann gerade die Patientenzufriedenheit, die EQUAM ja auch misst, durchaus als Element der Ergebnisqualität betrachtet werden. Wie muss man sich den Ablauf eines Zertifizierungs-Audits vorstellen? Vorgeschaltet sind die Fragebögen an die Patienten und die Mitarbeitenden. Darauf folgt ein Interview in der Praxis durch den Auditor, das etwa zwei bis drei Stun-

den dauert. Nach sechs Monaten findet erneut ein Gespräch statt, worauf bei erfolgreichem Verlauf die Zertifizierung erfolgt. Das Zertifikat ist aber nicht fix, sondern muss periodisch erneuert werden. Interessanter als die Auszeichnung finde ich aber den Benchmark, den ich mit der Auswertung erhalte: Ich kann entweder auf einzelne Fragen, gewisse Bereiche oder das Gesamtbild bezogen feststellen, wo ich im Vergleich mit den anderen teilnehmenden Ärzten stehe. Ich finde zum einen meine Stärken bestätigt, zum anderen aber auch Hinweise, wie ich mich verbessern kann. In welcher Hinsicht können Sie als Arzt von Ihrem Qualitäts-Zertifikat, aber auch von den Zertifizierungs-Abläufen profitieren? Ich lernte Verbesserungspotenzial kennen, das mir sonst verborgen geblieben wäre. Schon alleine die Qualitätskriterien, die von anderen festgelegt wurden, zeigten mir ganz neue Aspekte auf. Ein Beispiel: Ich habe immer gedacht, ein Praxismeeting pro Monat – ich arbeite noch mit drei anderen Ärzten zusammen – reicht völlig aus, alles andere besprechen wir ad hoc. Durch die Befragung realisierte ich, dass diese Sichtweise offenbar von den Mitarbeitern nicht geteilt wird. Inzwischen halten wir häufiger Sitzungen ab. Der entscheidende Punkt ist aber: Diese Veränderung wurde mir nicht aufgezwungen, sondern ich habe selber entschieden, was der Schwachpunkt ist. Wenn ich irgendwo schlecht abschneide, ich dies aber für mich begründen kann oder aus irgendwelchen Gründen die Situation nicht ändern will, muss ich das im EQUAM-Modell auch


nicht. Beispielsweise habe ich beim Wartesaal schlecht abgeschnitten: Er ist klein und relativ dunkel. Das ist aber baulich bedingt, der Aufwand, diese Schwäche zu beheben, stünde in keinem Verhältnis zum Zusatznutzen. Hingegen haben wir unser Bestellsystem verändert, damit die Wartezeiten kürzer werden. Sie sehen: Ob und wie ich einen so genannten Schwachpunkt verbessere, bleibt allein mir überlassen. Schliesslich hatten die Qualitätsmessungen auch einen positiven Einfluss auf meine Arbeitszufriedenheit: Ich konnte in gewissen unternehmerischen Bereichen Unsicherheiten abbauen und Fortschritte erzielen. Diese Lernerlebnisse wirken motivierend.

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infosantésuisse  Nr. 1–2, Januar / Februar 2006

Die Kosten inklusive Zertifizierung liegen bei zwei- bis dreitausend Franken. Sie können die Qualitätsmessungen und die Zertifizierung also mit gutem Gewissen anderen Ärzten weiter empfehlen? Auf jeden Fall. Das EQUAM-Messinstrument ist zwar vor allem auf Hausärzte gemünzt, aber auch jeder Spezialist wird merken, welche Fragen für ihn relevant sind und welche nicht.

«Wenn die Ärzte das Verfahren kennen lernten, würden viele merken, dass die Teilnahme an den Messungen enorm viel bringt.» Die Liste der zertifizierten Einzelpraxen ist ja relativ kurz. Wie erklären Sie sich das Misstrauen, dass bei vielen Leistungserbringern gegenüber Qualitätsvergleichen noch immer spürbar ist? Wenn man den Ärzten diese Qualitätsmessungen richtig schmackhaft machen würde, würden viele von ihnen aufspringen. Das Hauptproblem ist: Wenn ein Arzt heute «Qualitätsmessung» hört, denkt er sofort an «Qualitätskontrolle». Wenn die Ärzte aber das Verfahren sowie die Fragen und Messkriterien kennen lernten, würden viele merken, dass die Teilnahme an den Messungen enorm viel bringt – vor allem im Vergleich mit dem relativ kleinen Aufwand. Dr. Lukas Villiger: «Ich kann die Qualitäts-

Wie hoch ist denn der zeitliche Mehrmessungen auf jeden Fall anderen Ärzten aufwand, der durch die Qualitätsweiterempfehlen.» messung entsteht? Vom ersten Kontakt mit der Qualitätsmessung bis zur Zertifizierung verging In welcher Hinsicht können Ihre Patienten ein Jahr. Meine Zeitinvestition betrug von der EQUAM-Zertifizierung profitie24 Arbeitsstunden. Davon fielen drei ren? Stunden Praxistätigkeit aus. Meine Mit- Das kommt darauf an, was der Arzt aus arbeiter haben je etwa zwei bis drei Stun- den Messungen macht. In meinem konden investiert. Der Aufwand beschränkt kreten Fall war es so, dass ich die Punkte sich also wirklich auf ein sinnvolles Mass. angepackt habe, die die Patienten kritisiert

haben. Jene Dinge, die sie am meisten gestört haben, sind nun also verbessert. Zudem wurde ich durch die Messungen motiviert, eine interne Critical Incident-Dokumentation zu führen. Nun treffen wir uns einmal wöchentlich und besprechen die Fälle, in denen fast etwas Gravierendes geschehen wäre. Bei diesen Gesprächen sammelt sich Wissen an, dass bei den nächsten kritischen Vorfällen prophylaktisch angewendet werden kann. Das ist sicher ergebnisrelevant und auch von einigem Nutzen für die Patienten. Foto: ZVG

SCHWERPUNKT

Würden Sie verbindliche Qualitätsstandards für die Arztpraxis begrüssen? Momentan denke ich eher Nein. Gründe sind die fehlende wissenschaftliche Analyse, die geringe Erfahrung mit Messsystemen und die Komplexität. Dies gilt vor allem für die Grundversorger, deren Abläufe oft komplexer sind als bei Spezialisten. Der wissenschaftliche Beweis ist zum Beispiel noch nicht erbracht, dass nur eine bestimmte Strukturund Prozessqualität auf die Ergebnisqualität einwirkt. Die medizinische Ergebnisqualität ist heute tatsächlich nur bei wenigen Krankheiten hiebund stichfest messbar, etwa bei Diabetes oder arterieller Hypertonie. Wie man auf solche Ergebnisse kommt, hängt wahrscheinlich von verschiedenen Prozessen und Strukturen ab. Ein verbindlicher Mindeststandard eines Prozesses oder einer Struktur, geschweige denn eines Ergebnisses, ist also gar nicht definierbar, auch wenn man weiss, welche Ergebnisse man gerne hätte. Ich wäre für eine flächendeckende Einführung, indem jeder Arzt irgendein standardisiertes Qualitätsprogramm anwenden soll, ohne aber eine Messhöhe der Indikatoren erreichen zu müssen. Man profitiert immer davon. Wichtig ist dass derjenige, der die Indikatoren eines Qualitätsprogramms zusammenstellt, wie bei EQUAM mit praktisch tätigen Ärzten zusammengearbeitet hat. Eine freiwillige Anwendung kann aber auch von Vorteil sein: Wenn sich genug Ärzte auf freiwilliger Basis überzeugen lassen, wird der Qualitätsgewinn wohl grösser als bei einem Obligatorium.  Interview: Peter Kraft


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SCHWERPUNKT

infosantésuisse  Nr. 1–2, Januar / Februar 2006

Im Gespräch: Dr. Peter Saladin, Präsident von H+

«Zulassung und Tarife sollen von der Qualität abhängen» Der Verband der Schweizer Spitäler, H+, hat Anfang November 2005 in einer gesundheitspolitischen Grundsatzerklärung angekündigt, die Qualitätssicherung voranzutreiben. Ziel sei ein Spital-Benchmarking. Wie dieses im Detail aussehen soll, sei noch nicht im Detail bekannt und müsse mit den Mitgliedern von H+ diskutiert werden, sagt der Präsident von H+, Peter Saladin, im Interview. Auch die Veröffentlichung der Resultate müsse eingehend geprüft werden. Allerdings macht Saladin klar: Wer als Spital künftig einen gewissen Qualitätsstandard nicht erfüllt, soll nicht mehr über die Grundversicherung abrechnen können.

infosantésuisse: Herr Saladin, anlässlich des 75-Jahr-Jubiläums hat H+ eine «Grundsatzerklärung zu einer zukunftsgerichteten Gestaltung der schweizerischen Gesundheitspolitik» verabschiedet. Zum Thema Qualität heisst es darin wörtlich: «Die H+-Mitglieder richten ihre Abläufe und Strukturen so ein, dass die medizinischen Ergebnisse, die Zufriedenheit und Sicherheit der PatientInnen sowie der BewohnerInnen definierten und hohen Standards entsprechen. Diese Standards werden durch ein wissenschaftlich abgestütztes Qualitätsmanagement und Benchmarking dokumentiert und überprüft. Die Mitglieder von H+ kommunizieren ihre Angebote und ihre Qualität verständlich». Wollen Sie ein einheitliches Qualitätsmess-Modell, anhand dessen das Benchmarking durchgeführt wird? Dr. Peter Saladin: Das ist eine Grundsatzerklärung, die in die Zukunft gerichtet ist. Bereits heute betreiben die meisten Spitäler in irgendeiner Form Qualitätsmanagement. Nur sind die Methoden und auch die Intensität sehr unterschiedlich. Die Ansätze sind zwar vorhanden. In den nächsten Jahren müssen wir aber eine neue Stufe des Qualitätsmanagements erreichen, um den Anforderungen des KVG gerecht zu werden. Qualität ist ein komplexes Thema mit vielen Dimensionen und Facetten. Dabei spielt auch die Patientensicherheit eine zentrale Rolle. Unsere Grundsatzerklärung mit Details zu füllen, wird eine grosse Arbeit für H+ in den nächsten Jahren sein. Aber es ist schon Ihre Absicht, eine einheitliche Messmethode zu finden, anhand de-

rer ein gesamtschweizerisches Benchmarking durchgeführt werden kann? Wir streben eine Branchenlösung an, ja. Ich bin der Auffassung, dass es Sache der Spitäler ist, ihre Qualität und die entsprechenden Indikatoren zu definieren. Wir sind an allen Qualitätsdimensionen interessiert, also auch an Struktur- und Prozessqualität. Für die Krankenversicherer hingegen steht vorderhand die Ergebnisqualität im Vordergrund. Hier wird uns die Einführung von DRG einen grossen Schritt nach vorne bringen: Viele ergebnisorientierte Indikatoren werden damit automatisch transparent und vergleichbar. Transparenz und Vergleichbarkeit werden innerhalb der gleichen Fallgruppen gegeben sein. Für uns ist SwissDRG ein entscheidender Auslöser für unser verstärktes Engagement im Qualitätsmanagement – auch, um allfällige negative Effekte des Systems selbst monitorisieren zu können.

«In den nächsten Jahren müssen wir eine neue Stufe des Qualitätsmanagements erreichen, um den Anforderungen des KVG gerecht zu werden.» Stichwort Transparenz: Was bedeutet das für Sie? Wem werden die Resultate des Benchmarkings, ob aufgrund von DRG oder anderen Systemen, zugänglich sein? Das ist eine schwierige Frage. Im Zentrum des Qualitätsmanagements steht logischerweise die Förderung der Qualität. Dem haben sich alle anderen Ziele unterzuordnen – auch die Veröffentlichung von Resultaten. Wenn die Transparenz von

Kennzahlen der Qualitätsförderung nützt, haben wir nichts dagegen. Wenn aber alles veröffentlicht werden müsste, kann das auch negative Einflüsse auf die Qualität haben: Der Anreiz, bei den Messungen die eigenen Ergebnisse «aufzupeppen», steigt. Wir müssen auch bedenken, dass ergebnisorientierte Indikatoren meist auf die Hospitalisation ausgerichtet sind und nicht auf die Vor- oder Nachbehandlung. Und eigentlich geht es ja um den ganzen Genesungsprozess des Patienten. Die Aussagekraft eines einzelnen Indikators hat also nicht unbedingt absoluten Charakter. Zudem kann ich nur wiederholen: Durch DRG werden sehr wichtige Kennzahlen, etwa die Anzahl Fälle pro Diagnose, automatisch transparent. Was soll denn der Patient nach Ihren Vorstellungen konkret über die Resultate des Benchmarkings wissen? Darauf kann ich jetzt noch keine Antwort geben. Transparenz ist ein Ziel, aber nicht allem übergeordnet. Was im Einzelnen zum Veröffentlichen geeignet ist, wird sich weisen. Schliesslich wird man differenzieren müssen, was dem einzelnen Patienten und was der Öffentlichkeit zugänglich sein soll. In welchem Zeitrahmen halten sie eine Konkretisierung und Umsetzung Ihrer Grundsatzerklärung für realistisch? Im Laufe dieses Jahres wollen wir abklären, wo die Bedürfnisse und Probleme liegen, wo der Hebel der Qualitätssicherung am dringlichsten anzusetzen ist. Es ist unser Ziel, parallel zu SwissDRG ein Qualitätssicherungssystem einzuführen. Abge-


schlossen werden die Arbeiten aber nie sein: Qualität hat man nicht für immer, sondern sie muss jeden Tag neu erarbeitet werden. So wie sich die medizinischen Prozesse und möglichen Ergebnisse rasch ändern, so müssen sich auch die Methoden der Qualitätssicherung anpassen.

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infosantésuisse  Nr. 1–2, Januar / Februar 2006

Wir haben via KIQ gute Kontakte zu Outcome. Wenn es um Ergebnismessungen geht, werden wir sicher mit dem Verein zusammenarbeiten. Er hat gute Pionierarbeit geleistet und verfügt über interessante Messinstrumente. Es würde keinen Sinn für H+ machen, auf eigene Faust etwas Analoges zu entwickeln. Allerdings wird DRG auch die Outcome-Instrumente betreffen, da dieses System viele Outcome-Parameter zutage fördert. Erst wenn wir genau wissen, was DRG bringt, können wir auch entscheiden, welche Elemente der Outcome-Messungen wir übernehmen. Das gilt auch für andere bestehende Qualitätssicherungssysteme, wie etwa im Laborbereich oder bei den nosokomialen Infektionen. Es geht uns also darum, alle Anstrengungen zu bündeln und in ein übersichtliches, transparentes und verbindliches System einzubinden. Foto: Peter Kraft

Wie steht es mit der Verbindlichkeit? Welche Anreize sollen den Spitälern gegeben werden, an den Qualitätsprogrammen teilzunehmen? Die Zulassung zur Abrechnung mit der Grundversicherung kann durchaus mit der Teilnahme an Qualitätsprogrammen gekoppelt sein: Wer einen qualitativen Min-

SCHWERPUNKT

Die Kunden der Spitäler sind in erster Linie die Patienten. Wie wichtig ist die Patientenzufriedenheit für die Messung der Qualität? Sie ist ein Element im Baukasten. Für die Prozessqualität ist sie sicher von einiger BePeter Saladin: «Die bestehenden Anstrengungen in einem überdeutung: Der sichtlichen, transparenten und verbindlichen System einbinden.» Patient merkt sehr schnell, ob Abläufe effizient deststandard nicht erreicht, wird ausge- sind: Muss ich warten? Werde ich fünf schlossen. Ausserdem können wir uns vor- Mal das Gleiche gefragt? Allerdings bestellen, in die Tarife eine qualitätsabhän- zweifle ich, ob die Patientenzufriedenheit gige Komponente einzubauen. Das würde direkte Aussagen zur medizinischen Erzwar eine Abkehr vom schweizerischen gebnisqualität zulässt. In der Psychiatrie Einheitstarif bedeuten, wäre aber zugleich ist Zufriedenheit schwierig zu messen; der beste Anreiz, aktiv Qualitätsförderung in der Orthopädie einfacher: Schliesslich zu betreiben. können die Patienten nach drei Monaten wieder Ski fahren. Ob das Gelenk aber Wie eng arbeiten Sie beim Aufbau eines wie vorgesehen zehn bis 15 Jahre hält, Messsystems mit dem Verein Outcome zu- steht auf einem anderen Blatt. sammen?

Trotzdem ist die Patientenzufriedenheit für die Spitäler schon wegen der Kundenbindung eminent wichtig. Sie wird denn auch in den meisten Kliniken erhoben. Für eine umfassende Qualitätssicherung müssen aber die realen Defizite im Vordergrund stehen. Es macht keinen Sinn, zu messen, was sowieso schon gut oder was einfach erfassbar ist. Also: Wir müssen definieren, was Qualität im Einzelfall bedeutet. Wer immer Maximalqualität will, muss wahrscheinlich unverhältnismässig viele Mittel einsetzen, was sich unser System kaum mehr leisten kann. Ist es sinnvoll, die Qualität des Gesundheitssystems mit riesigen Mitteln soweit zu steigern, dass die Lebenserwartung im Durchschnitt um 0,2 Jahre zunimmt? Wir müssen dort messen und fördern, wo die grössten Fortschritte möglich sind und die Fehlerquote am höchsten ist. Das verlangt eine laufende Problem­ analyse. Wenn die Messungen einmal angelaufen sind, werden sie sicherlich neue Probleme zutage fördern. Die Spitäler haben das schon heute erfasst und widmen sich beispielsweise in einer nationalen Händehygiene-Kampagne dem Problem der im Spital entstandenen Infektionen.

«Ist es sinnvoll, die Qualität des Gesundheitssystems mit riesigen Mitteln soweit zu steigern, dass die Lebenserwartung im Durchschnitt um 0,2 Jahre zunimmt?» Allgemein äussert sich H+ für eine stärker koordinierte und zielorientiertere Gesundheitspolitik. Gewachsene Gesundheitsregionen sollen die 26 kantonalen Gesundheitssysteme ersetzen. Ordnen Sie dem Bund auch in Sachen Qualität eine gewichtigere Rolle zu? Wir wollen die Gesundheitspolitik nicht beim Bund zentralisieren. Es geht uns darum, Abläufe und Patientenströme nicht mehr entlang starrer kantonaler Grenzen führen zu müssen, sondern patientengerecht und effizient abwickeln zu können. Deshalb sollen sinnvolle überregionale Zusammenarbeitsformen gesucht werden. Was die Qualität betrifft: Dieses Thema muss national angegangen werden. Allerdings sehe ich die Rolle des Bundes subsidiär: Er soll die gesetzlichen Grundlagen bereitstellen und nur eingreifen, wenn eine anderweitige Lösung unmöglich scheint.  Interview: Peter Kraft


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SCHWERPUNKT

infosantésuisse  Nr. 1–2, Januar / Februar 2006

Drei Fragen an: Adolf Steinbach, Co-Leiter der Geschäftsstelle Verein Outcome

«Qualitätsmanagement ohne Ergebnismessungen ist eine Illusion»

infosantésuisse: Herr Steinbach, wie beurteilen Sie den momentanen Stand der Qualitätssicherung und -messung in den Schweizer Spitälern? Was ist erfreulich, wo sind die Mängel? Adolf Steinbach: Qualitätsmessungen und Qualitätsmanagement werden in immer mehr Spitälern betrieben. Ein Indiz dafür: Neben unseren Kernkantonen Bern, Solothurn, Zürich und Aargau, in denen die Spitäler zu den Messungen verpflichtet sind, erhalten wir immer mehr Anfragen von interessierten Kliniken. Erfreulich ist auch, dass sich unsere Partnerkantone, aber auch santésuisse und die Medizinaltarif-Kommission, ungebrochen zum Qualitätsmanagement bekennen. Mehr noch: Es sieht so aus, als ob weitere Kantone dazustossen würden: Wir sind zurzeit in Verhandlungen mit drei Zentralschweizer Kantonen. Trotzdem werden Qualitätsmanagement und Ergebnismessungen in Schweizer Spitälern bei weitem nicht flächendeckend betrieben. Ich bin nach langer beruflicher Erfahrung, unter anderem als Qualitätsmanager eines Spitals, davon überzeugt, dass Qualitätsmanagement in einem Spital ohne Ergebnismessungen eine Illusion ist. Sie können in keinem Bereich – ob Finanzen oder Qualität – ein Management betreiben, ohne über Controlling-Informationen zu verfügen. Wie läuft eine Outcome-Messung ab? Unsere Outcome-Messungen wurden in Pilotversuchen auf ihre Praxistauglichkeit getestet. Zudem werden sie – unter Einbezug der Spitäler – laufend evaluiert und nötigenfalls verbessert. So bleibt sichergestellt, dass die Verfahren stets dem neusten Stand der Entwicklungen entsprechen.

Foto: ZVG

Der Verein Outcome führt in vier Kantonen, in denen Outcome-Messungen obligatorisch sind, Ergebnis­ messungen im stationären Spitalbereich durch. Sind diese Kantone löbliche Ausnahmen, oder fasst das Qualitätsmanagement in den Schweizer Spitälern immer mehr Fuss? Für Adolf Steinbach, Co-Leiter des Vereins Outcome, ist klar: Wollen wir die immer begrenzteren Ressourcen im Gesundheitswesen vernünftig einsetzen, kommen wir um das Qualitätsmanagement nicht herum.

Adolf Steinbach: «Die Ressourcen dort einsetzen, wo sie am förderlichsten für die Qualität sind.»

Unsere Messungen sind Selbsterhebungen: Die Spitäler geben an ihre Mitarbeiter und Patienten Fragebögen ab. Die Patienten werden beispielsweise beim Ein- und Austritt sowie vier Monate nach dem Austritt befragt. So können Qualitätsmängel, die beim Austritt noch nicht zutage getreten sind, nachträglich erfasst werden. Zur Bewertung stossen die Informationen der Mitarbeiter dazu: Welche Operationstechnik wurde angewendet? Hat es Komplikationen gegeben? Wenn ja, welche? Wurde reoperiert wegen Blutungen oder Infekten? Aus der Kombination dieser Informationen gewinnen wir ein Bild der Ergebnisqualität. Allerdings geben wir den Spitälern keine Anweisungen: Wir zeigen ihnen auf, wo sie stehen. Über die nötigen Massnahmen müssen die Kliniken selber entscheiden. Wir bieten den Spitälern aber zusätzlich die Möglichkeit, in einem meist dreistündigen Benchmarking-

Workshop die Resultate mit anderen Spitälern auszutauschen und zu diskutieren. Ein positiver Nebeneffekt dieser Treffen ist ein – erwünschter – sozialer Druck: Schliesslich will kein Spital mehrfach hintereinander mit denselben Schwachpunkten dastehen. Wie sehen Sie die Zukunft der Qualitätsförderung in den Schweizer Spitälern? Was würden Sie sich wünschen, was halten Sie für realistisch? Ich rede lieber von Qualitätssteuerung als von Qualitätsförderung. Es geht nicht einfach um eine inflationäre Verbesserung: Es gibt Grenzen des Machbaren und auch des Sinnvollen. Das Schweizer Gesundheitssystem ist von den Ressourcen her gesehen momentan noch in einer vergleichsweise komfortablen Lage. Ich glaube aber nicht, dass das noch lange so bleiben wird. Unter diesem Aspekt muss man sich vertiefte Gedanken darüber machen, wie die Mittel am besten eingesetzt werden sollen. Dazu brauchen wir Instrumente, welche die Qualität steuerbar machen: Es kann auch angezeigt sein, den Aufwand zu verringern. Wenn bei einer Behandlung statt 95 nur noch 85 Prozent der Patienten sehr zufrieden und zehn Prozent zufrieden sind, und damit ein namhafter Betrag eingespart werden kann, ist das durchaus sinnvoll. Umgekehrt kann es aber auch sein, dass die Qualitätsmessungen ergeben: Hier ist die Decke zu dünn, hier muss aufgestockt werden. Das meine ich mit Steuerung der Qualität: Die Ressourcen dort einsetzen, wo sie am förderlichsten für die Qualität sind. Die Steigerung der Qualität ist ein Ziel, aber der Nutzen muss den Aufwand einigermassen rechtfertigen.  Interview: Peter Kraft


SCHWERPUNKT

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infosantésuisse  Nr. 1–2, Januar / Februar 2006

Erfahrungen mit Qualitätsmess-Systemen aus Grossbritannien und Deutschland

Europa machts vor Verbindliche Qualitätsmessungen sind in der Schweiz noch Zukunftsmusik. In anderen Ländern sind sie längst Realität, die Erfahrungen damit fast durchwegs positiv. Je ein Experte aus Grossbritannien und aus Deutschland haben an einem Workshop von santésuisse die Mess-Systeme aus ihrer Heimat und deren Erfolge vorgestellt. Die Krankenkasse AOK hat zu diesem Zweck zusammen mit Netzwerkärzten und anderen Experten ein Indikatorenset erstellt, das heute in den Verträgen zwischen der AOK und Ärztenetzwerken zum Tragen kommt. Einzelne, vor allem chronische Krankheiten, aber auch allgemeine Praxismerkmale sind die Kategorien, nach denen die Indikatoren aufgeteilt werden. So entsteht ein Messergebnis, dass Struktur-, Ergebnis- und Prozessqualität gleichermassen berücksichtigt. Speziell an diesem Fall ist auch, dass sich das Qualitätsmesssystem selbst einer Qualitätskontrolle unterziehen musste. Das erfreuliche Ergebnis: Die Ärztenetzwerke, die am AOK-Programm teilnehmen, verschreiben mehr Generika, dafür deutlich weniger Medikamente, deren Wirkstoff umstritten ist. Ebenso werden zum Beispiel Diabetiker nachweislich häufiger nach den Stand der Evidence Based Medicine behandelt. Auch bei den anderen

geprüften Punkten haben die AOK-Netzwerke klar die Nase vorn – sowohl gegenüber Einzelpraxen als auch gegenüber anderen Netzwerken.

Managed Care: Katalysator für die Qualität Gerade das Beispiel aus Deutschland zeigt: Managed Care-Organisationen neigen stärker als einzelne Leistungserbringer dazu, Qualitätsförderungsprogramme zu initiieren oder sich ihnen zumindest anzuschliessen. Diese These vertrat auch Professor Richard Grol, Direktor des niederländischen Centre for Quality of Care Research, unlängst an einer Tagung des Forum Managed Care. Obwohl es, so Grol weiter, keine eindeutigen wissenschaftlichen Beweise für eine höhere Behandlungsqualität in Managed Care-Systemen gäbe, würden vielerlei Indizien doch klar in diese Richtung deuten.  Peter Kraft Foto: Prisma

D

r. Robert Dobler, Betreiber einer Gruppenpraxis im englischen Cambridge, berichtete über die Erfahrungen mit den obligatorischen Outcome-Messungen im National Health System NHS. Während zuvor die Qualitätsmessungen eher unkoordiniert waren und jede Praxis einzeln mit dem NHS die Qualitätsziele aushandelte, ist seit 2004 der so genannte «New Contract» in Kraft: Die ergebnisorientierten Indikatoren sind nun für alle Praxen einheitlich und verbindlich. Die Messungen sind detailliert: Insgesamt gibt es über hundert Indikatoren. Am meisten ins Gewicht fallen klinische Messgrössen, die den Behandlungsablauf auf Übereinstimmung mit der Evidence Based Medicine überprüfen. Aber auch die Organisation, die Patientenzufriedenheit und ausgewählte Zusatzleistungen werden evaluiert. Durch ein ausgeklügeltes Eingabeverfahren werden die Abläufe in der Praxis an das NHS übermittelt, hinzu kommt ein Auditbesuch der Gesundheitsbehörde. Die Patientenzufriedenheit wird ganz konventionell mit einem Fragebogen ermittelt. Das NHS erstellt für jede Arztpraxis eine Punktebilanz, die sich direkt auf die Entlöhnung auswirkt: Bis zu 21 Prozent beträgt der qualitätsabhängige Einkommensanteil. Robert Dobler verhehlte aber auch gewisse Probleme nicht. So könne das Messsystem dazu führen, dass sich die Praxen vor allem auf die Krankheiten konzentrieren, die am meisten Qualitätspunkte einspielen. Dem werde aber mit einer ständigen Überarbeitung und Erweiterung des Indikatorenkatalogs entgegengewirkt.

Qualitätsmessung gleich Qualitätsförderung? In Deutschland gibt es zwar kein verbindliches Indikatorenset. Hingegen sind die Ärzte gesetzlich dazu verpflichtet, ihre Qualität – nach welchem Modell auch immer – periodisch messen zu lassen.

Die AOK arbeitet mit den deutschen Netzwerkärzten in Sachen Qualität eng zusammen.


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KRANKENVERSICHERUNG

infosantésuisse  Nr. 1–2, Januar / Februar 2006

Gesetzes- und Verordnungsänderungen per 2006

Was ist neu in KVG, KVV und KLV ab 2006?

Foto: Prisma

Auf 2006 treten trotz des harzigen Verlaufs der KVG-Revision einige Gesetzes- und Verordnungsänderungen für die Krankenversicherung in Kraft. infosantésuisse stellt die wichtigsten unter ihnen kurz vor.

So müssen die Kantone die Prämien von Familien mit niedrigem Einkommen stärker subventionieren.

D

ie Reform des Krankenversicherungsgesetzes KVG kommt nur schleppend voran. Entsprechend wenige Änderungen sind auf das neue Jahr hin in Kraft getreten. In Sachen Prämienverbilligung werden die Kantone neu verpflichtet, die Prämien von Kindern und Jugendlichen in Familien mit niedrigen Einkommen mindestens mit 50 Prozent zu subventionieren. Die Kantone sind aber frei, wo sie die Einkommensgrenze festlegen wollen. Als zweite wichtige Änderung wurde der neue Artikel 64a ins KVG integriert. Er sieht vor, dass der Versicherer bei nicht bezahlten Prämien die Übernahme der Leistungen aufschieben kann, sobald er im Betreibungsverfahren das Fortsetzungsbegehren gestellt hat.

Mehr Änderungen auf Verordnungsebene Wohl auch wegen den langsamen Fortschritten in der KVG-Revision hat der Bundesrat einige weitere Punkte via Verordnung geregelt. So ist in der Krankenpflegeverordnung KLV ab 2006 für Generika ein Selbstbehalt von zehn Prozent festge-

gesamt nicht zu Mehrkosten in der Grundversicherung führen. Auch in der Verordnung über die Krankenversicherung KVV gibt es einige Änderungen. So ist es, basierend auf den neuen Artikel 64a des KVG, künftig nicht mehr möglich, den Versicherer zu wechseln, wenn noch Prämienausstände bestehen. Auch die Möglichkeit der Leistungsaufschiebung wird detailliert geregelt (Absatz 6). Der Geschäftsbericht der Krankenversicherer muss neu bis zum 30. Juni dem BAG vorliegen. Zudem ist gegebenenfalls eine Konzernrechnung zu erstellen, wenn das Obligationenrecht dies vorsieht.

Neuerungen in weiteren Verordnungen schrieben, während Patienten, die am Originalprodukt festhalten möchten, 20 Prozent bezahlen müssen. Weiter sind die Höchstpreise für Medizinische Hilfsmittel und Gegenstände generell um zehn Prozent gesenkt worden. Gleiches gilt für die Laboruntersuchungen: Ihr Taxpunktwert beträgt neu 90 Rappen statt einen Franken. Diverse Änderungen gab es auch im Anhang 1 der KLV. Dieser Anhang regelt alle medizinischen Leistungen, deren Wirksamkeit, Zweckmässigkeit oder Wirtschaftlichkeit sich in Abklärung befanden, und bestimmt, ob und unter welchen Voraussetzungen diese Leistungen vergütet werden. Unter anderem wird ab 2006 die Leistungspflicht für die Kapselendoskopie erweitert. Bei dieser Behandlung zeichnet eine «essbare» Kamera bei ihrer Reise durch den Verdauungstrakt einen Film auf und hilft so, Hinweise auf Blutungen oder Entzündungen zu finden. Neu braucht es zur Übernahme durch die Grundversicherung noch eine Bewilligung durch den Vertrauensarzt. Die Änderungen im Anhang 1 der KLV auf 2006 sollen aber ins-

Neben der KVV und der KLV gibt es noch weitere Verordnungen und Gesetze, die die Krankenversicherung betreffen. Auch hier gab es einige Änderungen, wobei die folgenden besonders erwähnenswert sind: Die Verordnung über den Risikoausgleich wird um weitere fünf Jahre verlängert. Das Versicherungsaufsichtsgesetz erhält ab 2006 ein ganz anderes Gesicht. Alle bisherigen Gesetze in diesem Bereich (Sicherstellungsgesetz, Versicherungsaufsichtsgesetz von 1978, Schadensversicherungsgesetz, Lebensmittelgesetz) werden aufgehoben und in das erweiterte Versicherungsaufsichtsgesetz integriert. Gleiches gilt für die entsprechenden Verordnungen. Schliesslich treten die Änderungen des Versicherungsvertragsgesetzes, die das Parlament bereits 2004 beschlossen hat, nun definitiv in Kraft.  Judith Petermann Büttler

Anmerkung: Dieser Artikel nennt oder beschreibt die wichtigsten Änderungen. Eine vollständige Übersicht mit Direktlinks auf die Gesetze und Verordnungen erhalten Sie unter der email-Adresse redaktion@santesuisse.ch.


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KRANKENVERSICHERUNG infosantésuisse  Nr. 1–2, Januar / Februar 2006

Gemeinsame Studie von santésuisse, BAG und OBSAN

Untersuchung der praxisärztlichen Versorgung in der Schweiz

Quelle: santésuisse-Datenpool

santésuisse hat zusammen mit dem Bundesamt für Gesundheit (BAG), dem schweizerischen Gesundheitsobservatorium (Obsan) und weiteren Experten aus dem Gesundheitswesen anhand des santésuisseDatenpools eine Untersuchung der ärztlichen Versorgung durchgeführt. Interessant sind dabei vor allem die kantonalen Unterschiede.

dung der definierten ärztlichen Versorgung zu entwickeln. Diese Arbeiten sind im Herbst 2005 abgeschlossen worden und sind unter www.santesuisse.ch – Zahlen und Fakten – Studien zu finden.

Ärzteversorgung 2004 (Versorgungseinheiten auf 10000 Einwohner) SH BS JU

ZH

AG

AR

SO LU

NE BE VD

TG BL

ZG GL

NW OW

AI

SG

SZ

UR GR

FR

Definition der ärztlichen Versorgung

TI GE VS

von 8 bis 11 (5)

von 14 bis 17 (7)

von 11 bis 14 (10)

von 17 bis 20 (3)

F

Um die oben genannten Fragen zu beantworten genügt es bei weitem nicht, nur die berufstätigen Ärzte oder die geleisteten Arbeitsstunden zu zählen. Viel wichtiger ist es, die effektiv geleistete Gesundheitsversorgung der Ärzte zu messen. Dabei stellte sich die Frage, wie die ärztliche Versorgung zu definieren ist bzw. welche Kenngrössen aus dem santésuisse-Datenpool als Mass für die geleistete Versorgung herangezogen werden. Die Arbeitsgruppe hat sich darauf verständigt, dass sich die Versorgung eines Arztes aus einer nach statistischer Methode festgelegten Mischung aus der Anzahl behandelter Patienten und der Anzahl durchgeführter Konsultationen und Hausbesuche ergibt. Dieser Ansatz erlaubt regionale, facharztübergreifende und zeitliche Vergleiche der ärztlichen Versorgung.

von 20 und mehr (1)

ragen im Zusammenhang mit dem Zulassungsstopp, bei der Diskussion über einen bestehenden Ärztemangel bzw. -überschuss oder bei der Festlegung der Mindestversorgung nach der allfälligen Aufhebung des Vertragszwangs, verlangen nach einer umfassenden und detaillierten Datengrundlage über die ärztliche Versorgung in der Schweiz. Bis anhin existierte keine Statistik der praxisärztlichen Versorgung der Schweiz. Sowohl in der Ärztestatistik der FMH wie auch im Zahlstellenregister von santésuisse sind keine Informationen über die Arbeitspensen oder die Versorgungsgrade der einzelnen Ärzte enthalten. Die Betriebszählung des Bundesamtes für Statistik gibt zwar Auskunft über die Arbeitspensen aller in der Arztpraxis tätigen Personen, nicht aber über die geleistete Versorgung und, bezogen auf die einzelnen Facharztrichtungen, nicht sehr detailliert. Aus diesem Grund haben sich das BAG, das Obsan und santésuisse entschlossen, im Rahmen einer gemeinsamen Arbeitsgruppe die ärztliche Versorgung zu definieren und eine Methode zur Abbil-

Ein Blick über die Landesgrenzen zeigt, dass in verschiedenen Ländern das ärztliche Angebot gemessen wird. In Kanada wird seit Jahren eine ähnliche Methode angewandt1.

Resultate Die Tabelle zeigt den Vergleich der Anzahl Ärzte, die zu Lasten der OKP abrechnen, mit der Anzahl berechneter Versorgungseinheiten. Es zeigt sich, dass im Zeitraum von 1998 bis 2004 die Versorgungseinheiten weniger stark zugenommen haben als die Anzahl berufstätiger Ärzte. Dies könnte auf die vermehrte Teilzeittätigkeit zurückzuführen sein. Die Grafik zeigt die kantonalen Versorgungsdichten im Jahr 2004. Die Versorgungsdichte wird dabei mit der Anzahl Versorgungseinheiten pro 10 000 Kantons­ einwohner ausgedrückt. Diese Betrachtungsweise berücksichtigt die interkantonalen Patientenströme nicht. Zentrumskantone wie Basel-Stadt, Genf oder Zürich haben daher im Vergleich zu ihren Nachbarkantonen eine hohe Versorgungsdichte.  Michael Bertschi

Canadian Institute for Health Information (2004): National physician database, full-time equivalent physicians report, Canada 2002–2003. Ottawa.

1

VERGLE I C H DE R B E RUFSTÄT I GEN Ä R Z TE U ND DE R VE RSO RGU NGSE I NHE I TEN Berufstätige Ärzte mit Praxis

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

13 846

14 255

14 743

15 152

15 549

15 932

16 221

3,0 %

3,4 %

2,8 %

2,6 %

2,5 %

1,8 %

10156

10455

10665

10801

10934

11237

2,3 %

2,9 %

2,0 %

1,3 %

1,2 %

2,8 %

Zuwachs Versorgungseinheiten Zuwachs Quelle: santésuisse, BAG, Obsan

9927


20

KRANKENVERSICHERUNG

infosantésuisse  Nr. 1–2, Januar / Februar 2006

Weit fortgeschrittener Konzentrationsprozess in der Branche

Nur noch 27 Krankenversicherer schweizweit tätig Gemäss der offiziellen Zählweise des Bundesamts für Gesundheit kann man im Jahr 2006 noch bei 87 Krankenversicherern die Grundversicherung abschliessen. Viele dieser Versicherer sind aber nicht in der ganzen Schweiz tätig, andere wiederum sind in Gruppen oder unter einem gemeinsamen Dach zusammengeschlossen. Nicht erst seit der Einführung des KVG ist in der Krankenversicherungs-Branche ein starker Konzentrationsprozess im Gang.

ZUGEL ASSENE KR ANKENVERSICHERER 20 06 Anzahl Krankenversicherer

Kennziffern

Bemerkungen

Zugelassene OKP-Versicherer 2006 insgesamt

87

Gesamtschweizerisch tätige Versicherer

49

inkl. Visana

Groupe Mutuel

13

14 Mitgliederkassen

Helsana-Gruppe

4

Helsana, Progrès, Avanex, Sansan, Aerosana

Visana-Gruppe

2

Visana, Sana24, Vivacare

CSS-Gruppe

2

CSS, Arcosana, Auxilia

Supra-Gruppe

1

Supra, SanaTop

minus :

Gesamtschweizerisch tätige Versicherer(gruppen)

27

Quelle: BAG, eigene Berechnungen

I

n der politischen Diskussion ist mitunter von «Hunderten von Krankenkassen» die Rede. Manchmal spricht man von «sehr, sehr vielen Kassen», oder aber man geht von rund 90 Anbietern aus. Eine genaue Betrachtung der realen Verhältnisse zeigt nun, dass die Zahl der Krankenversicherer häufig überschätzt wird und der Konzentrationsprozess weit fortgeschritten ist. Zunächst ein Blick in die offizielle Statistik: Gemäss den offiziellen Angaben des Bundesamts für Gesundheit (BAG) können die Versicherten im Jahr 2006

zwischen 87 verschiedenen Krankenversicherern wählen, wenn sie die obligatorische Krankenpflegeversicherung abschliessen. Die BAG-Statistik zählt jeden Anbieter, auch wenn dieser nur in einem Kanton oder in einer bestimmten Region tätig ist. Von den 87 Kassen sind lediglich 49 in der ganzen Schweiz tätig. Alle anderen Anbieter sind nur in einem Teilgebiet tätig, etwa in der Deutschschweiz, in einem bestimmten Kanton oder gar nur in bestimmten Gemeinden. Bekannt sind namentlich die Walliser Kassen, welche in der Regel die Bewohnerinnen und Be-

wohner ihres Tals versichern. KMU-Versicherer gibt es aber in fast allen Kantonen. Eine zweite Einschränkung gegenüber der BAG-Statistik ergibt sich, wenn man die Versicherer zusammenfasst, die unter gemeinsamem Dach am Markt tätig sind. So umfasst die Groupe Mutuel 14 Mitgliederkassen, welche als juristisch eigenständige Unternehmungen in der BAG-Statistik einzeln gezählt werden. Auch die Helsana-, Visana-, CSS- und Supra-Gruppen unterhalten jeweils mehrere Mitgliederkassen (siehe auch Tabelle). Wird jede


Interessant ist die Betrachtungsweise nach Kanton (siehe Grafik 1). Die Versicherten haben die Wahl zwischen 50 (in den Kantonen Jura und Neuenburg) und 63 Anbietern (im Kanton Zürich). Nicht alle dieser gezählten Versicherer haben allerdings ein Angebot im ganzen Kanton. Die Krankenkasse Turbenthal im Kanton Zürich beschränkt ihr Tätigkeitsgebiet beispielsweise auf die Gemeinden Turbenthal, Wila und Wildberg. Insgesamt variiert die Zahl der Krankenkassen pro Kanton nicht allzu stark. Eine vergleichsweise grosse Kassenvielfalt haben die Kantone Zürich (63 Kassen), Schwyz und Aargau (je 62), Luzern (61) sowie Wallis, Solothurn und Bern (je 60). Weniger Anbieter stehen im Jura und Neuenburg (je 50), Genf (51) sowie Appenzell Ausserrhoden, Thurgau, Tessin und Waadt (je 53) zur Verfügung.

Starker Konzentrationsprozess Bereits seit 40 Jahren ist in der Krankenversicherungs-Branche ein starker Konzentrationsprozess zu beobachten. Im Jahr 1965 waren noch 984 Kassen auf dem Markt tätig, 40 Jahre später (2005) gerade noch 85 (siehe Grafik 2). In den 70er- und 80erJahren verringerte sich die Zahl der Krankenversicherer alle fünf Jahre um deutlich über 100. Von 1985 auf 1990 war sogar ein Rückgang um 203 Kassen zu verzeichnen. Im letzten Jahr (1995) vor der Inkraftsetzung des neuen Krankenversicherungsgesetzes (KVG) teilten sich noch 166 Anbieter den Markt. Auch in der jüngeren (KVG-)Geschichte ist der Konzentrationsprozess weiter fortgeschritten (siehe Grafik 3). So ist die Zahl der Kassen bis heute (87) gegenüber dem KVGEinführungsjahr (145) um fast die Hälfte zurückgegangen. Neu ist lediglich, dass im Jahr 2006 zum ersten Mal wieder mehr Kassen tätig sind als im Vorjahr (+ 2). Dies ist auf die Gründung neuer Tochterkassen zurückzuführen, die unter dem gemeinsamen Dach mit ihrer Muttergesellschaft das KVGGeschäft abwickeln. In Tat und Wahrheit ist also auch 2006 der Konzentrationsprozess nicht zum Stillstand gekommen, nur schlägt sich dieser nicht mehr direkt in der offiziellen Statistik nieder.  Peter Marbet

70 60 50

50 50 51

53 53 53 53 54

62 62 63 60 60 60 61 58 58 58 58 59 59 59 57 56 56 56

40 30 20 10 0

JU NE GE AR TG TI VD AI FR GL SH OW BL BS GR NW SG UR ZG BE SO VS LU AG SZ ZH

Quelle: BAG

Zürich hat die grösste Auswahl

Grafik 1: Anzahl Krankenversicherer pro Kanton

Grafik 2: Anzahl Krankenversicherer Entwicklung seit 1965 1200 984

1000

815 800 662 555

600

449 400 246 166

200

0

1965

1970

1975

1980

1985

1990

1995

101

85

2000

2005

Quelle: BAG

Gruppe jeweils als ein Anbieter gezählt, so sind lediglich 27 Krankenversicherer (gruppen) in der ganzen Schweiz tätig.

infosantésuisse  Nr. 1–2, Januar / Februar 2006

Quelle: BAG

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KRANKENVERSICHERUNG

Grafik 3: Anzahl Krankenversicherer Entwicklung seit KVG-Einführung 160

145

140

129 118

120

109

100

101

99

93

93

92

85

87

2005

2006

80 60 40 20 0 1996

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004


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GESUNDHEITSWESEN

infosantésuisse  Nr. 1–2, Januar / Februar 2006

Gespräch mit Claude Hêche, Vorsteher des Departements für Gesundheit, Soziales und Polizeiwesen des Kantons Jura.

«Die Gleichbehandlung muss gewährleistet bleiben» Mit der Schaffung eines Spitalnetzes erhofft sich der Kanton Jura nicht nur den Verbleib von Kompetenzen in der Region, sondern auch eine Kosteneindämmung. Claude Hèche, Vorsteher des jurassischen Gesundheitsdepartements, im Gespräch mit infosantésuisse.

infosantésuisse: Im Kanton Jura bewegen sich die Prämien 2006 mit Grundfranchise ohne Unfalldeckung zwischen 212 und 323 Franken. Sind diese Kosten für die Haushalte im Kanton Jura tragbar? Claude Hèche: Nein, diese Kostenlast ist für die jurassische Bevölkerung kaum zumutbar. Zum Glück setzen wir 100 Prozent der vom Bund für die Prämienverbilligung bereitgestellten Mittel ein. Die Problematik, mit der die Bevölkerung im Kanton Jura konfrontiert ist, stammt unter anderem aus einem belastenden Erbe von Kosten, die insbesondere von den Spitälern herrühren. Zur Erinnerung: Der Kanton Jura verfügte über drei praktisch gleich bedeutende Spitäler. Ein kostspieliges System also, das die politischen Anstrengungen für eine Konzentration der Kräfte erklärt. Die Folge: Der vor zehn bis fünfzehn Jahren ausgeprägte Kosten­unterschied zwischen dem Kanton Jura und dem schweizerischen Mittel schwächt sich zunehmend ab. In den vergangenen fünf Jahren verlief der Prämienanstieg im Kanton deutlich unter den schweizweiten Werten, was bedeutet, dass einige spezifische Massnahmen gegriffen haben. Für mich sind die Prämien­erhöhungen der letzten zwei Jahre nicht akzeptabel. Ich bin empört, dass das Bundesamt für Gesundheit Entscheidungen getroffen hat, die den Forderungen der Kantone zuwiderlaufen. Meiner Meinung nach ist die Argumentation für dieses Vorgehen nicht stichhaltig. Der Abschluss der überkantonalen Planung der Spitzenmedizin durch die GDK steht bis 2008 an. Sehen Sie da Synergiemöglichkeiten in Ihrer Region?

Der Weg der Schaffung von Kompetenzzentren und der Kräftebündelung muss weiter verfolgt werden. Ein einziger Standort ermöglicht eine bessere Koordination der Betriebsabläufe innerhalb einer Einrichtung. Für einen Kanton wie unseren ist die geografische Aufteilung und die Vernetzung der Arbeit wichtig. Die Regionalspitäler müssen künftig eine kleinere Rolle spielen, das heisst, sich vermehrt auf einzelne Bereiche spezialisieren. Die Spitzenmedizin wird sich auf Universitätsspitäler, vor allem in Basel und Bern, beschränken. Ich bedaure übrigens in diesem Zusammenhang die Haltung von Zürich. Es gilt mit Hilfe der GDK eine Lösung für alle Kantone zu finden, und zwar ohne dass die Peripheriekantone benachteiligt werden. Patienten aus dem Jura, die sich in einem Universitätsspital behandeln lassen müssen, gehen am häufigsten nach Basel. Ausser dass es in der Nähe liegt, bietet man dort die Dienstleistungen in zwei Sprachen an. Die Patienten können sich also in ihrer Sprache behandeln lassen, was therapeutisch gesehen wichtig ist. In erster Linie zählt die Qualität der Leistung, die geografische Lage ist weniger massgebend.

«Ich bin empört, dass das Bundesamt für Gesundheit Entscheidungen getroffen hat, die den Forderungen der Kantone zuwiderlaufen.» Kann diese Lösung in einem interjurassischen Spitalverbund bestehen bleiben? Zwischen den Kantonen Neuenburg und Jura besteht bereits jetzt ein Freizügigkeitsvertrag, nach dem die Bewohner der Freiberge sich im Spital La Chaux-de-Fonds

behandeln lassen können. Es bestehen auch Überlegungen über eine Zusammenarbeit zwischen den Kantonen Bern und Jura für die jurassische Region. Dabei geht es um das Freimachen von Mitteln, um die Aufrechterhaltung und Stabilität der medizinischen Versorgung garantieren zu können. Kürzlich hat das jurassische Parlament die Regierung mit massiver Mehrheit darin bestärkt, mit diesem Projekt vorwärts zu machen. Wir haben beschlossen, eine bestimmte Anzahl Kompetenzzentren zu bilden, zum Beispiel die Zusammenführung der Bereiche Mutter-Kind und der elektiven Chirurgie. In einem zweiten Schritt geht es nun darum, die getroffenen Entscheide umzusetzen: ein Jahr für den Bereich Mutter-Kind und zwei Jahre für den Bereich elektive Chirurgie und das Rehabilitationszentrum, da ein Neubau notwendig ist. Da dreissig Arbeitsstellen verloren gehen, werden wir gewisse Anstrengungen unternehmen müssen. Der Verlust wird durch Pensionierungen oder Tätig-


Claude Hêche: «Die Regionalspitäler müssen sich künftig mehr auf einzelne Bereiche konzentrieren.»

keitswechsel aufgefangen. Trotz gewisser Widerstände aus der Bevölkerung hat man die Vorteile dieser Kräftebündelung nun verstanden, nicht zuletzt dank des Engagements der Gemeindevorsteher. Die Neuausrichtung der Spitäler von Pruntrut und Delsberg ist im Gange. Es sind Stimmen laut geworden, die ein Abziehen von qualifizierten Berufsleuten an der Spitze befürchten, namentlich in der Pädiatrie. Was halten Sie davon? Halbherzige Massnahmen führen nicht zur inneren Stabilität einer Institution. Werden alle zwei Jahre Änderungen eingeführt, ist das eine Belastung für das ganze Personal. Die Mitarbeitenden, mit denen ich gesprochen habe, sind bereit, Anstrengungen zu unternehmen, falls für ein paar Jahre stabile Verhältnisse geschaffen werden. Deshalb bilden wir Kompetenzzentren. Es gibt zwar Ärzte, die lieber in grösseren Zentren arbeiten, aber unsere Region bietet eine hervorragende Lebensqualität. Das Lohn-

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infosantésuisse  Nr. 1–2, Januar / Februar 2006

Foto: Nicole Bulliard

GESUNDHEITSWESEN

niveau ist etwas tiefer, allerdings auch die Lebenshaltungskosten. Sie stehen seit zehn Jahren dem Gesundheitswesen im Kanton Jura vor. Wie sieht Ihrer Meinung nach der Gesundheitsbereich im Jura in zehn Jahren aus? Es müssen sowohl der Leistungsumfang als auch die Gleichbehandlung gesichert bleiben. Die Gleichbehandlung muss ungeachtet der sozialen Verhältnisse gewahrt bleiben und darf nicht zu Gunsten einer Zweiklassenmedizin aufgegeben werden. Dies ist meines Erachtens von fundamentaler Bedeutung. Ohne Gleichbehandlung würde unser Land und unsere Gesellschaft destabilisiert, wie in England, wo lange Warteschlangen die Leute dazu zwingen, sich im Ausland behandeln zu lassen. Das ist inakzeptabel. Wenn Sie Politiker in Bern wären, welches Spitalfinanzierungssystem würden Sie im Parlament vertreten?

Die wichtigen Akteure gehen zu getrennt und zu zurückhaltend vor, seien das nun die grossen Verbände wie FMH und H+ oder die Versicherer und die politischen Akteure. Ich denke, dass gewisse Politiker bewusst auf ein kaum verwaltbares System setzen und so weiterhin Mehrspurigkeiten und systembedingte Unklarheiten zulassen. Wenn sich alle an einen Tisch setzen, mit offenen Karten spielen und zum Aufbau einer substanziellen Datenbank und einem Gesundheitsobservatorium mit entsprechenden Geldmitteln beitragen würden, könnte man vorwärts kommen. Für mich gehören die Entscheidungsbefugnisse aber einzig in die Hände der Politiker. Heute treibt leider die Aktionärswelt die Rentabilität aufs Äusserste. Diese Leute übernehmen die Macht und setzen auf Deregulierung und Selektion auf der Ebene der Bevölkerung. Um dieser Entwicklung entgegenzutreten, bedarf es einer tief greifenden politischen Sensibilität. Ich bin folglich gegen ein monis­ tisches System, da damit die Zuständigkeiten von den Kantonen auf die Versicherer übertragen würden.

«Die Gleichbehandlung muss ungeachtet der sozialen Verhältnisse gewahrt bleiben.» Was raten Sie Herrn Couchepin hinsichtlich Krankenversicherungsreformen? Herr Couchepin erweckt manchmal den Eindruck, als wolle er grosse Schritte nach vorne machen, tut dies aber dann nur ungenügend. Er müsste öfters Ratschläge, besonders von der GDK, berücksichtigen. Bei der Generika-Problematik hat er zum Beispiel eine Kehrtwendung vollzogen. Die zur Verfügung gestellten Mittel zur Kontrolle der von den Versicherern unterbreiteten Prämien­ erhöhungsvorschläge reichen nicht aus. Beim Bundesamt für Gesundheit herrscht kein genügender politischer Wille. Ein vermehrtes Engagement bei der Spitalplanung wäre auch wünschenswert, indem ein Rahmen gesetzt wird, der den Grundsatz der Leistungsuniversalität für alle Mitbürger umfasst und festhält, dass alle gleich behandelt werden müssen. Danach kann ein Projekt aufgebaut werden und es können zielführende Massnahmen zur Kosteneindämmung eingeleitet werden.  Interview: Nicole Bulliard


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KRANKENVERSICHERUNG

infosantésuisse  Nr. 1–2, Januar / Februar 2006

Drei erfolgreiche Abschlüsse

Höhere Fachprüfung: Zum zweiten Mal nach neuem Modus

Foto: Sibylle Hofer

Seit vergangenem Dezember dürfen sich drei weitere Personen Diplomierte Krankenversicherungs-Expertin oder -Experte nennen: An der Diplomfeier in Luzern konnten sie ihre Zeugnisse in Empfang nehmen. Ohne Fleiss aber kein Preis: Vorausgegangen waren ein einjähriger berufsbegleitender Lehrgang, eine Projektarbeit und natürlich die schriftlichen und mündlichen Prüfungen.

geprüft und vertieft wird, findet anlässlich der mündlichen Prüfungen eine individuelle Befragung zum Lösungsansatz in der Projektarbeit statt. Wie bereits im vergangenen Kurs verlangte die Projektarbeit auch dieses Jahr einiges an Einsatz. Der Tenor der Beteiligten ist aber unisono: es war eine spannende und dem Niveau durchaus angepasste Form der FraV.l.n.r.: Adrian Müller, Katja Buholzer und Pascal Wyss. gestellung und Bearbeitung, welche sogar Spass machte. er 1. Januar 2004 trat das geän- Die weiteren bis 2004 gültigen Bestimderte Berufsbildungsgesetz (BBG) mungen des Prüfungsreglementes sind im in Kraft, und bereits im folgenden Vergleich zur neuen Version praktisch unFrühjahr hat santésuisse als eine der ers- verändert geblieben: Es sind zwei schriftten Branchen überhaupt ein angepasstes liche Prüfungen à drei Stunden und drei Reglement eingereicht. Nach diversen Dis- halbstündige mündliche Befragungen erkussionen mit der Aufsichtsbehörde, dem folgreich zu absolvieren. Zusätzlich finBundesamt für Berufsbildung und Techno- det während einer halben Stunde noch logie (BBT), wurde im September 2004 die eine mündliche Befragung zur Projektardefinitive Genehmigung erteilt. Die erste beit und der darin präsentierten LösungsPrüfung HFP nach neuem Modus konnte ansätze statt. Der Notenschnitt muss mindeshalb bereits im November 2004 absol- destens 4,0 betragen. Auch wenn mehr viert werden. als eine Note ungenügend ist oder eine unter 3,0 liegt, gelten die Prüfungen als Lehrgang und Prüfung ein Erfolg nicht bestanden. Eine Besonderheit im Vergleich mit den früheren Ausbildungen und Prüfungen ist Neues Reglement im der Einbau des Themas «Management». Bewährungstest Ebenfalls neu ist die Projektarbeit: Hier Bereits zum zweiten Mal standen die Unkönnen sich maximal drei Lehrgangsteil- terlagen und auch die Referenten auf dem nehmer zusammenschliessen und je nach Prüfstand. Dank den kritischen AnmerSchwierigkeit und Umfang der Fragestel- kungen und der positiven Kritik der Teillung innert einem bis zwei Monaten ge- nehmenden konnten die letzten Ungemeinsam eine Problemlösung erarbeiten. nauigkeiten und Missverständnisse beseiDamit auch das Einzelwissen umfassend tigt werden. Es besteht nun die Gewiss-

P

heit, dass das Schulungsmaterial wie auch die Referenten den Anforderungen an einen spannenden, abwechslungs- und lehrreichen Unterricht standhalten.

Würdige Diplomfeier Die Prüfungskommission stellte an ihrer Sitzung fest, dass drei Personen die Prüfung 2005 bestanden haben, was einer Erfolgsquote von 50 Prozent entspricht. Im Vergleich dazu lag sie 2004 bei 62,5 Prozent. Der Präsident der Prüfungskommission, Daniel Wyler, konnte an einer kleinen Feier in Luzern den erfolgreichen Lehrgangsteilnehmenden die Zeugnisse übereichen, verbunden mit den besten Gratulationen. Gleichzeitig dankte er den Referenten, den Experten, der Prüfungsleitung und speziell auch dem Sekretariat der Schulung für den tollen und Früchte tragenden Einsatz. Folgende Personen dürfen nun den Titel «Diplomierter KrankenversicherungsExperte» oder «Diplomierte Krankenversicherungs-Expertin» führen: Katja Buholzer, Xundheit Luzern; Adrian Müller, CSS Beromünster; Pascal Wyss, KLuG Zug.

Ausblick Bereits sind wieder sieben Personen daran, sich das Wissen für die neue Prüfung HFP anzueignen. Eine separate Arbeitsgruppe ist aktuell mit der Überarbeitung des Lehrgangs Berufsprüfung (BP) beschäftigt. Deren Ergebnisse fliessen dann in ein ebenfalls neu zu erstellendes Prüfungsreglement BP ein, welches im Sommer 2006 vom BBT genehmigt werden sollte. Im September 2006 ist die Einführung des neuen Lehrgangs BP im Rahmen eines Pilotprojekts in der Deutschschweiz geplant. Die erste reguläre Prüfung nach dem geänderten Modus erfolgt dann im Mai 2008. Daniel Wyler


GESUNDHEITSWESEN

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infosantésuisse  Nr. 1–2, Januar / Februar 2006

vips-Forum 2005 in Bern

Gerät der Föderalismus im Gesundheitswesen unter Druck? Der Tenor unter den Experten ist klar: Wenn der Föderalismus im Gesundheitswesen sich nicht bald reformiert, hat er keine Zukunft mehr. Der Gesundheitsökonom Willy Oggier, Nationalrat und Präventivmediziner Felix Gutzwiller, der Soziologe Philippe Lehmann und Lukas Steinmann von Avenir Suisse äusserten sich am vipsForum 2005 mehr oder weniger dezidiert für eine stärker zentralisierte Gesundheitspolitik. Scheinbar allein auf weiter Flur redete der Luzerner Gesundheitsdirektor Markus Dürr dem Föderalismus das Wort. ser geworden. Eine kaum diskutierte Zentralisierung auch des Know-Hows habe so stattgefunden. Die Strukturen im Gesundheitswesen müssten dem Rechnung tragen, so Gutzwiller.

Dürr alleine auf weiter Flur? Weil sich auch Philippe Lehmann und Lukas Steinmann föderalismus-kritisch äusserten, kämpfte der Präsident der Schweizer Gesundheitsdirektoren, Markus Dürr, scheinbar allein auf verlorenem Posten. Er betonte die wettbewerbsfördernde Konkurrenzsituation unter den Kantonen und lehnte einen nationalen Gesundheitsrat mit Einbezug der Akteure ab: Die Behörden müssten die Probleme im Gesundheitswesen unter sich lösen. Dürr bezeichnete seine Gesprächspartner als Theoretiker, die ob all der ökonomischen Vernunft

die Bevölkerung vergässen: Wolle man die Kompetenzen der Kantone im Gesundheitswesen beschneiden, brauche es dazu Verfassungsänderungen und damit Volksabstimmungen. Diese seien für die «Zentralisten» nie und nimmer zu gewinnen. Dürr reklamiert als einsamer Krieger für den Föderalismus also einen mächtigen Verbündeten für sich: Das Volk. Wie Recht er damit haben könnte, wird in den Leserbriefspalten der Regionalzeitungen deutlich: Die Bevölkerung scheint nicht einmal die Konzentration einzelner Fachgebiete auf bestimmte Spitäler zu akzeptieren. Solange mit soviel Herzblut für die regionale Geburtsabteilung oder den bezirkseigenen Computertomografen gekämpft wird, hat eine nationale, auch an ökonomischen Kriterien ausgerichtete Gesundheitspolitik wenig Chancen.  Peter Kraft Fotos: Peter Kraft

F

ür Willy Oggier ist die Kleinräumigkeit der Schweiz ein Grund dafür, warum der Föderalismus im Gesundheitswesen in seiner heutigen Form zum Scheitern verurteilt sei: Eine Spitalplanung für 14 000 Personen durchzuführen, wie in Appenzell-Innerrhoden der Fall, sei ökonomisch nicht zu rechtfertigen. Oggier plädiert für fünf grosse Versorgungsregionen, nicht vom Bund bestimmt, sondern im regulierten Wettbewerb gewachsen. Sie sollen in Sachen Gesundheitsplanung an die Stelle der Kantone treten. Dazu brauche es aber eine vorgängige Zentralisierung der Gesundheitsaufgaben beim Bund: Nur so könnten sich die ökonomisch sinnvollen Versorgungsregionen herauskristallisieren. Insbesondere kritisierte Oggier das Fehlen von nationalen «Gesundheitszielen» und die mangelnde Vergleichbarkeit von Leistungen und Kosten. Für beides sei der Föderalismus ein grosses Hindernis. Auch Felix Gutzwiller forderte nationale Gesundheitsziele. Sollte die KVG-Revision erneut scheitern, würde diesbezüglich endgültig ein Scherbenhaufen entstehen. Gutzwiller regte deshalb einen nationalen Gesundheitsrat an, in dem neben Parteien und Behörden auch die Akteure Platz hätten, und der verbindliche Ziele beschliesst: Ohne grundlegenden Konsens über die Richtung hält Gutzwiller einen allfälligen dritten Anlauf in der KVG-Revision für chancenlos. Die Kantone kann sich Gutzwiller in diesem Prozess nicht als treibende Kräfte vorstellen: Die Kantonsverwaltungen hätten sich teilweise seit Jahren nicht mehr reformiert, die alten Strukturen seien den neuen und grösseren Problemen nicht mehr gewachsen. Die Bundesverwaltung sei dagegen grös-

Engagierte Debatte um den Föderalismus: Willy Oggier ...

... und GDK-Präsident Markus Dürr.


service Weniger Kassenwechsel als im Vorjahr

Alternative Versicherungsmodelle immer gefragter News aus aller Welt

ger als im Jahr zuvor. Trotzdem ist das Interesse der Bevölkerung etwas gegen die hohen Prämien zu unternehmen, ungebrochen: Alle grösseren Kassen verzeich-

Gesundheitskosten bleiben Sorgenkind Nr. 1 Die steigenden Gesundheitskosten bleiben die grösste Konsumentensorge in der Schweiz. In einer repräsentativen Umfrage im Auftrag des Konsumentenforums bewerteten die Schweizerinnen und Schweizer die Gesundheitskosten mit 5,2 von sechs möglichen «Sorgenpunkten». Dahinter folgen Internetkriminalität (4,7) und aggressive Werbung (4,6).

Irland: Irische Patientenorganisationen haben kritisiert, dass es dem staatlichen Gesundheitssystem an Kapazitäten fehle. Auslöser waren laut der deutschen Ärztezeitung die Klagen von Diabetikern, die zum Teil mehrere Monate auf einen Behandlungstermin warten mussten. Liechtenstein: Die Einführung von TARMED im Fürstentum verzögert sich bis mindestens Anfang April. Die Ärztekammer hatte TARMED als «unausgereiftes System» bezeichnet und die Verhandlungen für gescheitert erklärt. Nun führt die Liechtensteiner Regierung Vermittlungsgespräche zwischen den Parteien. Migräne: Der Berliner Chirurg Thomas Muehlberger hat nach eigenen Angaben eine Therapie für einen Teil der Migräne-Patienten gefunden: In manchen Fällen würden die Schmerzattacken von einem Nerv verursacht, der durch einen bestimmten Gesichtsmuskel verläuft. Ist dieser Muskel chronisch verspannt, könne eine Nervenentzündung entstehen. Die Lösung liegt laut Muehlberger in der chirurgischen Trennung des betreffenden Gesichtsmuskels.

nen markant mehr Versicherte in den alternativen Versicherungsmodellen. Die CSS vermeldet hier mit vier Mal mehr Mitgliedern die höchste Zuwachsrate.

Umfrage des Konsumentenforums

Foto: Prisma

Frankreich: Seit dem 1. Januar ist in Frankreich ein freiwilliges Hausarztmodell in Kraft. Wer sich entscheidet, vor einer Spezialbehandlung nicht zuerst seinen Hausarzt aufzusuchen, bezahlt eine höhere Selbstbeteiligung und Zuschläge an die Fachärzte.

Auf 2006 hin haben laut dem Internet-Vergleichsdienst Comparis 200 000 Schweizerinnen und Schweizer ihre Krankenkasse gewechselt. Das sind 50 000 weni-

Über 200 Grafiken verfügbar

Aktualisierte Grafikdatenbank auf www.santesuisse.ch Die Grafikdatenbank auf www.santesuisse.ch ist erneut aktualisiert worden. Inzwischen sind über 200 Grafiken auf deutsch und französisch darin enthalten. Die Grafiken geben übersichtlich, informativ und grafisch ansprechend Auskunft über die Kostenentwicklung und andere Trends im Gesundheitswesen. Egal, ob Sie die Entwicklungen im Gesundheitswesen als Ganzes oder getrennt nach LeistungserbringerGruppen oder Kantonen ver-

folgen möchten – in der Grafikdatenbank von santé­suisse werden Sie fündig. Auch spezifische Fragen zur Branche, wie Verwaltungskosten, Versichertenstruktur oder Reservenstand, werden in der Grafikdatenbank beantwortet. Surfen Sie zu www.santesuisse.ch, wählen Sie die Rubrik «Zahlen und Fakten» und anschliessen «Grafik-DB».

Dank den übersichtlichen Suchoptionen gelangen Sie schnell und einfach zu den Informationen, die Sie benötigen.

In infosantésuisse Nr. 12/2005 (Seite 18) haben wir die «Medikamenten-Hitparade ohne Generika» veröffentlicht. Aufgrund von verschiedenen Reaktionen haben wir uns dazu entschlossen, die Liste einer Überprüfung zu unterziehen. Wir verzichten deshalb derzeit auf eine Weiterverbreitung des Artikels und der dazu gehörigen Tabelle.


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SANTÉSUISSE – SERVICE infosantésuisse

1–2 / 06

Veranstaltungen Veranstalter

Besonderes

Datum/Ort

Weitere Informationen

9. März 2006 Bea bern expo

www.telematiktage.ch

Schwerpunkt Burnout

9. März 2006 Universität Freiburg, Aula Magna

www.bgf-tagung.ch

Zweitägige Veranstaltung zu den Herausforderungen der hochspezialisierten Medizin: Machbarkeit, Finanzierbarkeit, Ethik

23./24. März 2006 www.trendtage-gesundheit.ch KKL Luzern

Healthcare-Forum (Telematiktage Bern 2006) Bea bern expo

Grundsatzreferate und Präsentation von praxiserprobten Lösungen

Nationale Tagung für betriebliche Gesundheitsförderung Staatssekretariat für Wirtschaft seco

Luzerner Trendtage Gesundheit Forum Gesundheit Luzern

Outcome-Messungen in Spitälern – Zwang oder Chance? Verein Outcome

Meinungs- und Erfahrungsaustausch von Fachleuten 5. April 2006 und Politikern zur Qualität in Spitälern. Hotel Arte, Aarau

www.vereinoutcome.ch

Ausserkantonale Hospitalisation: Eine Tür zu mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen? Zentrum für Sozialversicherungsrecht der Universität Luzern

Können alternative Spitalplanungskonzepte zu einer Verbesserung des Preis-/Leistungsverhältnisses beitragen?

27. April 2006 www.unilu.ch Hotel Schweizerhof Luzern

Schweizerisches Forum der sozialen Krankenversicherung Thema: Wettbewerb dank Vielfalt

11. Mai 2006 Kongresshaus Zürich

www.rvk.ch

Zeichnung: Marc Roulin

RVK – Verband der kleinen und mittleren Krankenversicherer


Rechtswissenschaftliche Fakultät Zentrum fßr Sozialversicherungsrecht Luzern 4. Zentrumstag Luzern

Ausserkantonale Hospitalisation Eine TĂźr zu mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen? Donnerstag, 27. April 2006, 14.00 – 19.15 Uhr, Hotel Schweizerhof Luzern • Schranken und Freiräume von Art. 41 KVG lic. iur. Beat Meyer; Richter am Sozialversicherungsgericht des Kantons ZĂźrich (Teilamt), nebenamtlicher Bundesrichter am EVG und Rechtsanwalt • Hospitalisation im europäischen Ausland Dr. iur. Silvia Bucher, RA; Gerichtsschreiberin am EidgenĂśssischen Versicherungsgericht • Der ausserkantonale Patient als Chance fĂźr die Leistungserbringer? Stefan GĂźntensperger, MHA; Vorsitzender Geschäftsleitung RehaClinic, Zurzach • Bedeutung der ausserkantonalen Hospitalisation fĂźr die Kantone lic. rer. pol. Michael Jordi, MPA; Leiter GesundheitsĂśkonomie und -information der Gesundheitsdirektorenkonferenz • Wettbewerb durch eine erweiterte oder ohne Spitalplanung? lic. rer. pol. Frank StĂźssi; Referent des Dienstes Dienstleistungen der Wettbewerbskommission • Die ausserkantonale Hospitalisation als Herausforderung fĂźr die Zusatzversicherung Dr. iur. Thomas Mattig; Stv. Ressortleiter Personenversicherung Schweiz. Versicherungsverband Information /Anmeldung: Zentrum fĂźr Sozialversicherungsrecht, Universität Luzern, Hofstrasse 9, Postfach 7464, 6000 Luzern 7 Fax: 041 228 74 31, E-Mail: luzeso@unilu.ch Inserat Hospitalisation_188x132_Santesuisse.indd 1

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SANTĂ?SUISSE IST DER "RANCHENVERBAND DER IN DER 3CHWEIZ TĂ‹TIGEN +RANKENVERSICHERER UND VERTRITT IHRE )NTERESSEN GEGENĂ BER "EHĂšRDEN 0ARTNERORGANISATIONEN UND DER žFFENTLICHKEIT 7IR SUCHEN ZUR %RGĂ‹NZUNG UNSERER 'ESCHĂ‹FTSSTELLE IN 3OLOTHURN

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