Die Millionen-Geige - Die Amadeus-Bande - Band 1

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Erstes Kapitel Dunkle Wolken tanzten über die aufgewühlte Wasseroberfläche. Böen rauschten durchs Schilf. Amadeus saß auf dem Steg des alten Bootshauses und starrte dumpf in den kleinen See, der sich zusehends düster verfärbte. Es lag Spannung in der Luft. »Vielleicht ist er ja ganz nett«, riss ihn eine Mädchenstimme aus seinen Gedanken. Aber Malu, die hinter ihm stand und sich vergeblich abmühte, ihre blonden, vom Wind zerzausten Haare mit einer Spange zu bändigen, erntete nur Schulterzucken. Ein großes, dunkelhaariges Mädchen trat aus der Tür. Sie deutete hinter sich. »Mann! Fliege hat vielleicht ’ne Laune!« Malu sah ihre Freundin mit einem Stirnrunzeln an und nickte vielsagend in Richtung des Jungen, der, ihnen den Rücken zugewandt, aufs Wasser blickte. »Der hier auch«, flüsterte sie. »Okay«, sagte sie dann laut. »Cosi und ich finden es auch bescheuert, dass Einstein euch den Neuen aufhalst. Aber dann treffen wir uns halt in Zukunft hier.« Doch auch darauf reagierte Amadeus nicht. Mit einer Grimasse, die wohl andeuten sollte, dass sie es jetzt aufgab, Amadeus aufzumuntern, verzog sich Malu in die Hütte. 5


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Cosi ließ sich neben Amadeus auf den verwitterten Holzplanken nieder. Sie musterte ihn mit einem verstohlenen Seitenblick. Er sah wirklich verdammt gut aus, selbst wenn er, wie jetzt, schlecht gelaunt war. Und noch viel besser, wenn seine Bernsteinaugen lachten. Sie hob verträumt den Kopf. Von ihrem bewaldeten Hügel, hoch über dem See, blickte Burg Treuenfels majestätisch auf sie herab. Gleich am ersten Schultag auf Burg Treuenfels, deren Gemäuer das Musikgymnasium beherbergte, das sie alle besuchten, hatte sie sich in Amadeus verknallt. Eine kindliche und ganz heimliche Liebe war das gewesen. Unzählige Herzchen mit seinem Namen hatte sie gekritzelt: Philipp, wie er damals noch hieß. Erst seit er in einem Sketch beim Sommerfest den jungen Mozart gespielt hatte, war der Amadeus an ihm kleben geblieben. Cosi erinnerte sich noch, wie er sich anfangs mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hatte. Schließlich hatte er sich damit abgefunden. Alle nannten ihn mittlerweile Amadeus, sogar die Lehrer. Cosi schmunzelte. Passte ja auch zu ihm. Irgendwie war er tatsächlich fast ein Wunderkind, wenn man bedachte, dass er sich völlig selbstständig das Klavierspielen beigebracht hatte. Als Fünfjähriger! Noch dazu auf einem alten Keyboard! Musikalisch waren hier alle Schüler, aber Amadeus besaß etwas, das die wenigsten hatten: das absolute Gehör. Und auch die Schule schien er mit links zu machen. Cosi wickelte eine Locke um den Zeigefinger. »Malu 6


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hat übrigens recht. Wir machen einfach das Bootshaus zum Hauptquartier der Amadeus-Bande. Mit eurem alten Sofa ist es doch schon viel gemütlicher.« Amadeus nickte abwesend. Amadeus-Bande. Die Bande hatte allen über die ersten schwierigen Monate auf Treuenfels hinweggeholfen. Zusammengefunden hatten sie sich, weil sie in der Unterstufe noch in Vierergruppen saßen. Da aber nur sechs Mädchen die Klasse besuchten, mussten zwei sich zwangsläufig zu Jungs setzen. Malu hatte damit kein Problem, sie hatte zwei Brüder und war Jungs gegenüber total cool. Und ihr selbst war der brünette Philipp mit den langen Wimpern sowieso gleich ins Auge gestochen. Und irgendwie passte die Sache vom ersten Tag an. Bald verbrachten sie auch oft ihre Freizeit miteinander, obwohl die Mädchen auf Burg Treuenfels externe Schülerinnen waren und in Hallbrück wohnten, da nur Jungs das Internat besuchten. Irgendjemand hatte sie dann eines Tages mit dem Namen Amadeus-Bande gehänselt. Das brachte Amadeus auf die Idee, tatsächlich eine Bande zu gründen – und im besten Banden-Alter waren sie ja damals. Dass die Bande Amadeus’ Namen trug, hatte keinen von ihnen gestört. Alle fanden, dass Amadeus-Bande cool klang. In den ersten Jahren hatten sie ausgiebig die alte Wehranlage erforscht, waren in Gängen und Kellern herumgekrochen und hatten am Burgwall nach Schätzen gegraben – gefunden hatten sie allerdings nur alte Scherben, verrostete Nägel und sonstigen Abfall der 7


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ehemaligen Burgbewohner. Aber spannend war die Schatzsuche trotzdem gewesen! Sie fing mit den Händen erste Regentropfen auf. »Wir sind doch ein echt gutes Team«, sagte sie dann. Amadeus knurrte etwas vor sich hin. Cosi schüttelte entschieden die dunkle Mähne. »Daran ändert auch ein Nikolaj Odenwald nichts!« Amadeus nickte und richtete sich auf. Cosi hatte recht. Von Anfang an waren sie eine verschworene Gemeinschaft gewesen. Die erste Zeit, vor allem das Probehalbjahr auf Treuenfels, war ziemlich hart gewesen. Auch in ihrer Klasse hatten es nicht alle geschafft. Doch sie vier hatten sich gemeinsam durchgebissen. Ihre Blicke trafen sich für einen Moment. Cosi strahlte ihn an, und Amadeus vergaß für einen Moment seinen Ärger. Der einsetzende Regen malte kreisförmige Muster auf die Wasseroberfläche. Amadeus wischte sich verlegen einen Tropfen von der Wange. Cosi hatte so etwas Feenhaftes. Ihre blasse Haut, die kastanienbraunen Haare, die Sommersprossen – jede genau da, wo sie hingehörte. Aber sie hatten ausgemacht, dass sie Freunde bleiben wollten. Gute Freunde, mehr nicht. Zu oft hatten sie bei Mitschülern gesehen, wie aus Pärchen schließlich Feinde geworden waren. Nein, ihre Freundschaft wollten sie nicht aufs Spiel setzen! Wirklich gut, dass sie das Bootshaus von Malus verstorbenem Großvater hatten. Und auch gut, dass Malus Eltern wegen ihrer Arztpraxis keine Zeit hatten, es zu 8


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nutzen. Und noch besser war, dass Malus Brüder, die hier oft gefeiert hatten, inzwischen beide weit entfernt studierten. »Ist der nicht süß?« Cosi lenkte Amadeus’ Aufmerksamkeit auf einen Marienkäfer, der ziellos auf den Brettern herumkrabbelte. »Na, komm schon!« Sie bot dem Käfer den Zeigefinger an, den der kleine Krabbler auch gleich erkletterte. »Ein Siebenpunkt«, sagte sie, nachdem sie ihn ausgiebig betrachtet hatte. »Die bringen Glück.« Damit setzte sie den Marienkäfer auf Amadeus’ Bein.

»Hmmm«, brummelte Amadeus und starrte auf das Tierchen, das sich Richtung Knie bewegte. »Gewitterstimmung«, bemerkte Cosi mit einem Seufzer. Amadeus nickte finster. 9


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Verdammt! Sie hatten es so gemütlich gehabt, Fliege und er. Jetzt, wo sie endlich ein Zweierzimmer hatten und sich niemand daran störte, wenn Malu und Cosi bei ihnen herumhingen. Warum musste dieser Nikolaj Odenwald ausgerechnet bei ihnen einquartiert werden? Irgendetwas war doch faul mit diesem Typen! Nachdem der Direktor ihnen den Neuen so dringend ans Herz gelegt hatte, hatten sich Fliege und Amadeus bei Herrn Lenz, ihrem Erzieher, beschwert. Warum sollten gerade sie sich zu dritt in ein Zweierzimmer zwängen? Und warum kam der Typ eigentlich mitten im Schuljahr? Doch Lenz, der sonst sehr offen war, hatte ganz eigenartig herumgedruckst und irgendetwas von »wichtig für die Schule« gemurmelt. Und sie sollten sich doch bitte um den Neuen bemühen, er sei immerhin der Sohn Artur Odenwalds, eines prominent gewordenen Treuenfelsers. Gestern mussten sie dann auch noch das gemütliche alte Sofa, das sie bei der Renovierung des Elternsprechzimmers ergattert hatten, aus ihrem Zimmer schaffen, damit Hausmeister Spieß ein drittes Bett und einen weiteren Schreibtisch aufstellen konnte. Natürlich hatten Fliege und er ordentlich rumgemosert, worauf der Hausmeister so eine Bemerkung gemacht hatte von wegen »Geld regiert die Welt«. Mehr war allerdings nicht aus ihm herauszuholen gewesen. Wenigsten konnten sie Spieß dazu überreden, das Sofa in seinem alten Kastenwagen runter zum Bootshaus zu transportieren, statt es zum Sperrmüll zu bringen. 10


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Und alles wegen dieses Promisöhnchens!, dachte Amadeus verächtlich, während der Siebenpunkt sein Knie erklomm und dann zum Flug ansetzte. Die zarten Flügelchen des Käfers flatterten im Wind. Dann schwang er sich in die Höhe und wirbelte mit einem Luftzug davon. »Wir hätten ihn besser ins Bootshaus schaffen sollen«, sagte Cosi. »Fürchte, es wird bald gießen.« Amadeus musste trotz der Wut, die ihm wie Feuer im Bauch brannte, lächeln. Das war typisch Cosi! Sich um einen Käfer Sorgen zu machen – das passte zu ihr. Cosi stand auf und deutete unruhig zur Burg hoch. Amadeus folgte ihrem Blick. Wolken von finsterem Schwarz senkten sich jetzt auf Treuenfels. Gespenstisch und düster stand die Feste gegen den dämmergrauen Horizont. »Da hinten kommt es dicke!«, stellte Cosi fest. »Wir sollten allmählich loszischen, sonst müssen wir das Wetter hier abwarten.« »Und wenn schon«, gab Amadeus muffiger als beabsichtigt zurück. »Fliege und ich machen bestimmt nicht auch noch das Empfangskomitee für diesen Nikolaj.« Cosi runzelte die Stirn.

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