Urban Research Kreativ Quartier 2013

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St. Petersburg Tallinn

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Oslo

Hamburg Dublin NDSM Amsterdam

London KĂśln

Wagenhallen Paris

Binz ZĂźrich

Mailand

Marseille

Barcelona Madrid

Lissabon


St. Petersburg Tallinn

Gรถteborg

Moskau

Kobenhagen

Vilnius

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Berlin Warschau

Krakau Stuttgart Museumsquartier Wien Wien

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Rom

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Urban Research Kreativ Quartier — Sascha Bauer Franziska Glöckler Daniel Springer



Urban Research Kreativ Quartier — Sascha Bauer Franziska Glöckler Daniel Springer — Enstanden an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart — 2013


Inhaltsverzeichnis

Kreativquartier | Erster Teil Urban Research Kreativquartier  Geschichte  Was ist ein Kreativquartier?  Typologie  Topos  Typus  Tektonik

p. 012 – 019 p. 020 – 027 p. 028 – 035  p. 036 – 043 p. 044 – 055 p. 056 – 075 p. 076 – 099

Binz | Kreativquartier in Zürich p. 100 – 109 Einführung  p. 110 – 121 Urbaner Kontext   p. 122 – 125 Geschichte  p. 126 – 129 Gebäude  p. 130 – 131 Organisation    p. 132 – 139 Gebäudenutzung p. 140 – 143 Akteure    p. 144 – 147 Ende  Wagenhallen | Kreativquartier in Stuttgart Einführung  Urbaner Kontext  Städtebaulicher Wandlungsprozess  Geschichte  Gebäude  Organisation/Akteure  Interview  — Interview  mit Uwe Stuckenbrock

p. 148 – 157 p. 158 – 166 p. 167 – 169 p. 170 – 175

p. 176 – 181 p. 182 – 191

p. 192 – 205

p. 206 – 215


NDSM | Kreativquariter in Amsterdam p. 216 – 225 Einführung     p. 226 – 235 Urbaner Kontext     p. 236 – 241 Städtebaulicher Wandlungsprozess  p. 242 – 247 Geschichte  p. 248 – 257 Gebäude    p. 258 – 259 Organisation    Interview mit Rob Post  p. 260 – 261  p. 262 – 263 Interview mit Eva de Klerk    p. 264 – 273 Akteure  — p. 274 – 281 Interview mit Klaus Overmeyer Museumsquartier | Kreativquartier in Wien Einführung  Urbaner Kontext  Geschichte  Gebäude  Institutionen als Akteure  — Interview mit Manfred Ortner Interview mit Elke Krasny Interview mit Matthias Küper Kreativquartier | Exkurse Exkurs Partizipation  Exkurs Zwischennutzung  Exkurs Typologie Schlussanmerkungen Sonstiges | Zum Schluss Danksagungen  Impressum

p. 282 – 289

p. 290 – 301 p.  302 – 305

p. 306 – 319   p. 320 – 325

p. 326 – 327 p. 328 – 337 p. 338  – 345

p. 348 – 367

p. 370 – 377 p. 378 – 391

p. 392 – 397

p. 398 – 403 p. 404 – 405



Kreativquartier | Erster Teil Urban Research Kreativquartier p. 012 – 019  | Geschichte p. 020 – 027 |  Was ist ein Kreativquartier? p. 028 – 035 |  Typologie p. 036 – 043 | Topos p. 044 – 055 | Typus p. 056 – 075 | Tektonik p. 076 – 099 |


Kreativquartier — Erster Teil

Urban Research Kreativquartier | In den letzten

Jahrzehnten erfahren wir nicht nur in Deutschland den Wandel von der Industrie- zur Wissengesellschaft. „Selbstverantwortung und Eigeninitiative sind das Mantra der individualisierten Leistungsgesellschaft. (…) weil wir aufgrund gesellschaftlicher Fragmentierung, beruflicher Flexibilisierung und privater Individualisierung einzelgängerisch werden, b­ lüht Ge­meinschaft als hoffnungsvolle Verheißung und Sehnsucht neu auf.“ 1 Um diesem Wandel gerecht zu werden, ist eine neue Orientierung in der räumlich-baulichen Konzeption und in der Organisation vorgefundener Gebäude erforderlich. Ausgeübte Tätigkeiten und die damit verbundenen Anforderungen treten in den Vordergrund, während die Architektur in den Hintergrund rückt. Bei der ­Untersuchung dieser Anforderungen, können wir – als planende Instanz – neue Rahmenbedingungen für zukünftige Projekte generieren. Faszinierend an Kreativquartieren ist neben der äußeren Mannigfaltigkeit eine innere Vielfalt. Zum einen ­finden sich hier Überlegungen unterschiedlichster Fach-

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und Studienrichtungen. Zum anderen haben bestehende theoretische Untersuchungen und gebaute Kreativquar-


Aktuell in Zeiten einer inflationären Verwendung des Begriffs Kreativquartier, ist die Erstellung dieses Buches mehr als eine Herausforderung. Nicht nur informelle Ansammlungen werden salopp als Kreativquartier be-

Urban Research Kreativquartier

tiere ihren Ursprung in den Zeiten des Post-Fordismus.

zeichnet, sondern auch zahlreiche neuentstehende ­Areale werden mit der Etikette versehen; Werbeplakate, Bauschilder oder Internetauftritte verweisen darauf. Das Potenzial der „Kreativen Klasse“ wurde längst von Städten und Immobilienentwicklern entdeckt. Die Vielzahl von Kreativ- und Kulturwirtschaftsberich­ ntersuchungen an Hochschulen, von Investoren, ten, U ­Architekten, Stadtplanern, Landschaftsplanern, Designern und selbsternannten Ermöglichern / Entwicklern wurde versucht unter einen Hut zu bringen, um die ­aktuellen Tendenzen zu verdeutlichen. Bedingt durch die immer deutlicher werdenden Auswirkungen der Globalisierung, beginnen wir unsere ­Gewohnheiten und Denkweisen zu ändern. Das Berufsbild des Architekten gewinnt im Gegensatz zu seiner mend an Bedeutung auf dem Feld der Moderation und

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klassischen Position als oberste Planungsinstanz zuneh-


Kreativquartier — Erster Teil

Organisation kreativer Cluster. Besonders spürbar ist das in den Städten und deren Auseinandersetzung mit ihrem industriellen Erbe. Entscheidend hierbei ist die Verwertung der bestehenden gebauten Substanz als ­Herausforderung für die Architekten und Designer von heute. Brachflächen, leerstehende Gebäude und geschlossene Geschäfte galten einst als das Versagen einer Gesellschaft im politischen und ökonomischen Wachstumssinne. Heute bieten diese sogenannten Möglichkeitsräume großes Potenzial vor allem für die „Kreative Klasse“, die es gut versteht, sich vorhandenen Raum ­anzueignen und für ihre Bedürfnisse umzugestalten. „Kreativquartiere“ können solche Möglichkeitsräume sein. Vor über einem Jahr begannen wir die städtebaulicharchitektonische Untersuchung mit dem Arbeitstitel „Kann ein Kreativquartier eine architektonische Typologie sein?“ Wir wollten prüfen, ob und inwiefern das Kreativquartier ein planbares Konstrukt ist bzw. sein kann, oder ob es lediglich eine gesellschaftliche und bauliche Erscheinung ist. Dabei haben wir uns der typologischen Untersu-

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chungsstrategie bedient, um architektonisch relevante Themen zu berücksichtigen und anhand des Vergleiches


­herauszufiltern. Mit Hilfe von vier bestehenden Kreativquartieren (Wagenhallen, Stuttgart; NDSM Werft, ­Amsterdam; Binz, Zürich und Museumsquartier, Wien) versuchen wir eine mögliche Bandbreite dessen aufzu-

Urban Research Kreativquartier

gewisse Gemeinsamkeiten und Differenzierungen

zeigen, was zeitgenössisch ein „Kreativquartier“ sein kann. Die vier Beispiele ermöglichen auch die Untersuchung anhand ihres Institutionalisierungsgrades. ­Ergänzt wird die Untersuchung durch spezifische Texte und Interviews, die zur Thematik beitragen und aktuelle Tendenzen aufzeigen. Nicht das fertige Raum- und Grundrissmuster als kopierbare Typologie sind Zielsetzung dieser Analyse. V­ielmehr wollen wir erforschen, inwiefern unterschied­ liche Rahmenbedingungen in einer neuen Raumkonfiguration angeordnet werden können und welche Rahmenbedingungen im städtischen Umfeld gegeben sein müssen, so dass ein Kreativquartier entstehen kann. Die zunehmende Vermischung von Freizeit und Arbeit erfordert neue Nutzungszyklen. Diese gesellschaftliche Anforderungen herauszufinden, die sich aus den unter-

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Veränderung gilt es zu fokusieren und grundlegende


Kreativquartier — Erster Teil

schiedlichen Tätigkeiten innerhalb der Kreativquartiere ergeben. Für eine bessere Positionierung der „Kreativen Klasse“ innerhalb des sozialen und ökonomischen Gefüges, konzentrieren wir uns in der Untersuchung zudem auf die wesentlichen Aufgaben des „neuen“ Planens. Die vorliegende Arbeit gliedert sich in vier Teile: Im ersten Teil unserer Arbeit gehen wir auf die Thematik „Kreativquartier“ im Allgemeinen ein, geben einen Einblick in die Geschichte kreativer Ansammlungen und versuchen eine erste Definition zu formulieren. Wir erläutern Kriterien für die Auswahl der vier zu vergleichenden Kreativquartiere und die dafür gewählte Vorgehensweise der typologischen Untersuchungsstrategie und erläutern, wie wir die Begriffe Topos, Typus und Tektonik in dieser Untersuchung verwenden: Topos zeigt dabei im Städtevergleich messbare Parameter, die relevant sind für die Verortung von Kreativquartieren. Im Abschnitt Typus wird die Spanne des theoretischen Diskurses um die „Kreative Klasse“ der letzten 20 Jahre aufgezeigt, welcher in der Definition der Kultur- und

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Kreativwirtschaft vorerst endet. Diese Definition bildet unter anderem eine entscheidende Basis für die program-


Tektonik gehen wir auf das vorgefundene Gebaute ein. Anhand von Transformationsprozessen wird aufgezeigt, wie post-industrielle Bausubstanz neuen Anforderungen angepasst wird.

Urban Research Kreativquartier

matische Struktur von Kreativquartieren. Im Abschnitt

Im dritten Teil werden anhand dieser drei Parameter, „Topos“ (urbaner Kontext in kleinerem Maßstab), „Typus“ (Nutzer und Akteure der Quartiere) und „Tektonik“ ­(architektonische Untersuchung gebauter Struktur), die vier ausgewählten Kreativquartiere im Detail untersucht. Im letzten Teil klären wir rückblickend Begriffe, wie Trend, Mode, Phänomen, Methode oder Prinzip, die der Beschreibung des Kreativquartiers gerecht werden. ­Außerdem soll eine weltweite Verortung momentan aktiver Kreativquartiere einen Überblick bieten. Exkurse zum Thema Partizipation und Zwischennutzung, sowie ­Interviews und Gespräche mit international tätigen Per-

1 „Gemeinsam aufbrechen statt in Gemeinschaften erstarren“; Bathen , Dirk / Jelden, Jörg; S. 26; in: Revue – Magazine for the Next Society; Heft 12; Frühjahr 2013

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sonen aus diesem Feld ergänzen die Arbeit.



Geschichte — Ein geschichtlich orientiertes Glossar an wichtigen Einflßssen zur Entstehung von Kreativquartieren


Kreativquartier — Erster Teil

Die Salonkultur

Gertrude Stein

Um den Informations- und Ideenaustausch sowie auch die Präsentation von Gedichten, Musikstücken und Experimenten zu fördern, wurden Treffen von Künstlern, Intellektuellen und Literaten in Salons abgehalten, die von Mäzenen, Vereinen oder meistens auch von wohlhabenden, gebildeten adligen Frauen ausgetragen wurden. Philosophen wie Voltaire oder Diderot verkehrten in den Pariser Salons und bereiteten dort den Boden für die   Französische Revolution.

Der Salon von Gertrude Stein, der in der gemeinsamen Wohnung mit ihrem Mann Leo Stein in der Rue de Fleurus 27 in Paris lag, wurde zu einem Zentrum der schriftstellerischen und malerischen Avantgarde. Das Haus lag in unmittelbarer Nähe zum Jardin du Luxembourg . Es war ein eingeschossiger Pavillon in einem Innenhof. Nach Norden hin ausgerichtetem Winkel ein Studio anschloss.

1. Ökobewegung

1889

Ende des 19. Jahrhundert wird die erste Ökobewegung durch die wiederaufkommende Romantik und Heimatschutzbewegung eingeläutet. Gerade Künstler und Intellektuelle idealisieren diese Idee. Daraufhin enstehen viele Künstlerkolonien gerade in Mitteleuropa, die die Verbundenheit zu der Natur suchen.

Entworfene Gebäude

Künstlerkolonie Worpswede Die Kolonie in Worpswede, welche in der Nähe von Bremen liegt, ist eine Gemeinschaft von Künstlern, die dort sowohl arbeiten und zugleich leben. Einige bdeutende Künstler und Künstlerinnen des deutschen Impressionismus und Expressionismus haben waren Teil der Bewegung.

1899

Die entstanden Kolonien werden durch neu geschaffene Siedlungen repräsentiert, oftmals im Ideal der vorherschenden Architekturauffassungen des Architekten, der Stilrichtung oder des Ortes. Jedoch haben die Künstlerkolonien die Nähe zu der Natur gemeinsam. Und gerade die Schaffung einer neuen Kolonie in der Prärie erfordert auch eine Auseinandersetzung mit der neu zu definierenden Architektur.

Künstlerkolonie Darmstadt Mit dem Ziel der Schaffung von zukunftsweisenden Bau- und Wohnformen veranlaßte der Großherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein die Gründung der Künstlerkolonie in Darmstadt. Die Kolonie bestand bis 1914, also bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges. Bekannte Vertreter sind unter anderem die Architekten Peter Behrends und Josef Maria Ohlbrich.

1911

Taliesin Schule Der amerikanische Architekt Frank Lloyd Wright gründete 1911 mehrere „Ateliers“ mitten in der amerikanischen Prärie. Er betrachtete Talisien als eine Schule, wobei ihm u. a. die Künstlerkolonie Darmstadt als Vorbild diente. Talisien wurde ein Anziehungspunkt von jungen Architekten aus der ganzen Welt.

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Kaffehaus Das Kaffehaus gilt Anfang des 20. Jahrhunderts als intellektueller Treffpunkt von Literaten, Dichtern und Künstlern. Es ist vergleichbar mit den Salons zur Zeit des 18. Jahrhunderts, nur das diese Treffen zum Teil in öffentlichen Kaffehäusern stattfinden.


Die Künstlergruppe der Dadaisten wurde 1916 in Zürich gegründet. Als Gründungsort galten die Räume eines Clubs oder Kaffeehauses namens „Cabaret Voltaire“ in dem unregelmäßig Treffen abgehalten wurden. Von dort aus wurde die Künstlerbewegung weltweit bekannt und durch Splittergruppen auf der ganzen Welt repräsentiert.

Manifeste Ein wichtiges Mittel des intellektuellen und künstlerischen Zusammenschlusses Anfang des 20. Jahrunderts war das Manifest. Die bedeteutenden Bewegungen wie Futuristen, Dadaisten und Surrealisten hatten ihre Manifeste und dadaurch auch Aufmerksamkeit auf Gleichgesinnte.

1919

Derive

1953

Surrealisten Die Experimentierkünstler der Surrealisten gingen zum Teil aus der dadaistischen Bewegung hervor. Die Treffen wurde auch oftmals in Kaffehäusern und Clubräumen organisiert, bei denen zugleich auch experimentiert wurde. Automatisiertes Schreiben und zeichnen, sowie auch unter Schlafmangel und Rauschzuständen wurde ein beliebtes Stilmittel der Surrealisten.

Das Dérive ist „eine Technik des eiligen Durchgangs durch abwechlungsreiche Umgebungen“(15). Anhand dieser Technik sollen bekannte Bewegungs- und Handlungsabläufe gezielt umgangen werden um so neue unentdeckte Wege oder Plätze anzueignen und neue Situationen des Begegnens zu schaffen.

Team X Die Architektengruppe Team X hat sich ursprünglich aus einem Congrès International d’Architecture Moderne (CIAM) entwickelt und wirkte bis in die 80er Jahre. Die Vertreter des Team 10 kritisierten die klassischen Ideen der Moderne, speziell von Le Corbusier. Anstatt einer Funktionstrennung von Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Verkehr setzten sie die Hierarchisierung in Haus, Straße, Stadtviertel und Stadt entgegen.

1957

Das Détournement ist eine weitere Technik der Situationisten, die sich als Zweckentfremdung übersetzen läßt. Im Mittelpunkt steht die kreative Aneignung von vorgefundenem. Das Detournement bezieht sich auf viele Facetten des Lebens. Im Sinne des Städtebaus lassen sich vorgefundene und verlassene Gebäude als Objekte der Begierde für eine Zweckentfremdung heranziehen. Durch die Verbindung des Vorgefundenen und der Zweckentfremdung sollen neue Situationen, Ideen und Identitäten entwickelt werden.

Situationisten Die situationistische Internationale ging 1957 aus mehreren intellektuellen  Splitterparteien hervor. Oftmals waren ihre Projekte an der Schnittsstelle zwischen Architektur, Kunst und Performance  angesiedelt und beeinflußten dadurch die Wahrnehmung der damaligen Stadt. Die damals entstandenen Konzepte des Derive  und  des  Détournements  sind  noch heute bedeutend.

1958

L‘architecture mobile Der Architekt und Denker Yona Friedman veröffentlichte  im Jahr  1958  das  Manifest „L‘architecture mobile“. Dabei prägte er die Ideen der Raumstadtkonzepte. Seine Stadtentwürfe sind gleichzeitig soziale Utopien, die die Bewohner als Selbstgestalter ihrer Lebensumwelt antizipieren.

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Detournement

Dadaisten

Geschichte

1916


Kreativquartier — Erster Teil

New Brutalismus Der Brutalismus bedeutet in der Architektur die Hinwendung zu der rohen Bausubstanz. Reyner Banham definiert es anhand der Projekte von Peter und Alison Smithsons wie folgt: „1. formale Lesbarkeit des Grundrisses; 2. klare Zurschaustellung der Konstruktion; und 3. Wertschätzung der Materialien „as found“ [als gegebene].“

1959-74

In den Jahren 1959-1974 entwarf der Künstler Constant Nieuwenhuis eine Serie aus Malereien, Skulpturen und Modellen zu seiner Idee des New Babylons. Das Projekt basiert darauf, das der neue kreative Mensch oder auch Homo Ludens, Teil der Produktion von Stadt ist, immer auf der Suche nach neuen Sensationen und Situationen

Gesellschaft des Spektakels Der von dem Situationisten Guy Debord verwendete Begriff „Gesellschaft des Spektaktels“ war eine heftige Kritik auf die Lebenswelt der 50erund 60er Jahre. Das gleichnamige Buch wurde 1968 publiziert und inspierirte die Protestbewegungen, sowie die in den 80er Jahren aufkommende Subkultur.

1961

Fun Palace Das visionäre Projekt Fun Palace des Architekten Cedric Price in Kooperation mit der Theaterregisseurin Joan Littlewood nahm inhaltlich das Kreativquartier vorweg. Das Projekt beruht darauf ein Labor für die Künste entwerfen, also ein Ort, an dem ständig Aktivitäten stattfinden an denen man aktiv teilhat oder passiv betrachtet.

Partizipation Zu der Zeit der 70er Jahre kam durch die Abwendung von den modernistischen Idealen und der aufkommenden Stadtutopien die Idee der Beteiligung der Stadtbewohner auf.

New Babylon

1964

Walking City 1960 bis 1974 wurden von der britischen Architektengruppe „Archigram“ unterschiedliche soziale Utopien imaginiert, die noch immer großen Einfluß ausüben. Ihre Entwürfe waren geprägt von einem Zukunftsoptimismus, der von Wohnkapsel bis hin zu mobilen Städten wie die „Walking City“ reichte.

Stillegung alter Fabriken Die zunehmende Deindustrialisierung der Post-industriellen Gesellschaft ist geprägt von der Auflösung oder Abwanderung unterschiedlicher Industriezweige. Die eigens dafür gebauten und genutzten Komplexe werden mehr und mehr obsolet. Daraus resultieren leerstehende Industriebrachen die ohne direkte Nachnutzung das Zeitalter der Industrieruinen einläuten.

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1964

The Death and Life of Great American Cities In dem wichtigsten Buch von Jane Jacobs kritisiert sie die modernistische Stadtplanung, die durch ihre Strenge und funktionale Trennung das öffentliche Leben der Städte beinträchtigt. Sie plädiert für Mischnutzungen und gewachsenen Strukturen, die nach den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet sind.


1964

Die von dem Künstler in Manhatten gegründete Factory war ein Treffpunkt der internationalen in New York angesiedelten Künstler und homosexuellen Szene. Der Name Factory stammte von der in leeren Industrielofts angesiedelten Atelierflächen. In den Räumlichkeiten wurden die Grenzen zwischen künstlerischer Arbeit und Vergnügen verwischt und meistens gleichzeitig verrichtet.

Hausbesetzungen Diese Form des Protests hat ihre Wurzeln ebenfalls in den 1970er Jahren. Durch die Abwanderung der Mittelschicht an den Speckgürtel der Stadt sowie durch die Auflösung von ehemals florierenden Industrien, entstanden ungenutzte Leerflächen in den zentrumsnahen Gebieten. Hausbesetzungen können politisch motiviert oder auch einfach aus einem pragmatischen Ansatz entstehen. Noch heute werden sie in dieser Form häufig verwendet, um auf den teuren Wohnraum in den Städten aufmerksam zu machen.

Studentenrevolte

1968

In den Jahren 1967 und 1968 kam es in Deutschland, Frankreich, Italien, USA und vielen weiteren Ländern zu politisch motivierten Studentenproteste. Die Straße und die Besetzung von Universitäten war der Ausdruck dieser Bewegung.

2. Ökobewegung Zeitgleich mit dem Aufkommen der großen Protestaktionen entstand in den 1970er Jahren die zweite große Umweltbewegung, die noch stark bis in die 1980er Jahre wirkte und ihren Ausdruck durch den Anti-Atomkraftprotest fand. Geprägt ist dieser Protest durch eine allgemeine Hinwendung zu einem alternativen Lebensstil.

Silver Factory

1968 Recht auf Stadt 1968 prägte der französische Soziologe und Denker Henri Lefevbre in seinem Buch „la droit à la ville“ den Begriff der Recht auf Stadt. Darin setzt sich Lefevbre für eine Re-urbanisierung der Gesellschaft ein, die durch das Einschließen in „Schachteln, Käfigen oder ‚Wohnmaschinen‘„ das Bewußtsein für Urbanität verloren hat.

1967

1967 Soziale Plastik Der Künstler Joseph Beuys förderte mit seinen Kunstaktionen und theoretischen Auseinandersetzungen den Begriff der sozialen Plastik. Gemeint ist dabei ein erweiterter Kunstbegriff, und zwar die Vorstellung einer „umfassenden schöpferischen Umgestaltung des Lebens“[70] Weiter formulierte er seine Vorstellung, die „Gesellschaftsordnung wie eine Plastik formen, das ist meine und die Aufgabe der Kunst.“[71]

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Die Hippiebewegung oder auch Flower-Power Bewegung, welche in den 60er Jahren in San Francisco hervorging, prägte die 1970er Jahre. Aus dieser Bewegung gingen nicht nur viele politische und soziale Ideen hervor sondern auch Experimente. Es enstanden soziale Wohnexperimente, die in Kommunen ihresgleichen fanden. Es wurde mit Drogen wie LSD experimentiert, die noch teilweise als Medizin in der Psychiatrie eingesetzt wurde. Und es gab meist friedliche Proteste für eine humanere, klassengleiche und anti-konsumorientierte Gesellschaft.

Geschichte

Hippie


Kreativquartier — Erster Teil

Punk

1970

In den 70er Jahren entwickelte sich durch die Beliebtheit des Protests und auch in Zusammenhang mit der Musik der Punk. Darin ist die Anti-haltung gegenüber gesellschaftlich relevanten Themen besonders entscheidend. Daraus entstand eine Bewegung die sich durch Haltung, Mode und Benehmen prägend identifizierte.

1970 Arcosanti Das Projekt „Arcosanti“ von Paolo Soleri wurde in der Wüste von Arizona gegründet. Es handelt sich um eine Stadtutopie für deren Durchführung bzw. ständige und noch heute andauernde Durchführung der Partizipationsgedanke eine wichtige Rolle spielt.

Techno/Clubszene Die in den späten 80er Jahre aufkommende Clubszene hing stark mit der elektronischen Musik zusammen. Der in Chicago großgewordene Techno wanderte um die ganze Welt und hatte auch auf Berlin großen Einfluß. Gerne wurde alte Industriehallen oder stillgelegte Fabriken für die Veranstaltungen benutzt. In den 90er Jahren avancierte das Phänomen auch zu einem Massenphänomen das die Straße als ihren Austragungsort ansah, wie am Beispiel der Berliner Love Parade.

1989

1989 Mauerfall Der Mauerfall in Berlin war nicht nur ein wichtiges politisches Zeichen zu der Zeit des Kalten Krieges, sondern es ließ auch im weiteren Verlauf der Geschichte neue Möglichkeitsräume und städtische Experimentierfelder in der ehemals zweigeteilten Stadt entstehen.

Reclaim the Streets Dieser Slogan ist auch als Protestform zu verstehen. Es handelt sich um die (Wieder-) Aneignung des öffentlichen Raumes. Durch Konsum und motorisierten Individualverkehr hat die Straße in ihrem ursprünglichen Sinne ihre Öffentlichkeit verloren. Durch Aktionen wie durch Critical Mass, Street Art oder Adbusting wird versucht darauf aufmerksam zu machen. Die Ursprünge sind bei den Situationisten und dem politisch motivierten Protest zu finden.

p.26

Internetboom Durch die Verbreitung des Internets in den 90er Jahren wurde die Welt der Arbeit und der sozialen Kommunikation stark verändert. Von Email über Peer-to-Peer bis hin zu sozialen Netzwerken. Durch diese Auswirkungen sind wir noch heute stark geprägt und bestimmen in großem Maße die Interaktion mit unserem Lebensumfeld.

1992

Critical Mass Bei dieser Massenveranstaltung handelt es sich um einen Protest der auf dem Fahrrad stattfindet, um auf die unterdrückten Rechte der Fahrradfahrer gegenüber dem Automobil aufmerksam zu machen. Die erste Critical Mass wurde 1992 in San Francisco abgehalten. Heutzutage finden diese Demonstration noch in vielen Städten auf der ganzen Welt Stadt.


2002

Darunter versteht man Räumlickeiten in denen Arbeitsplätze für unterschiedlich arbeitende Menschen zur Verfügung stehen. Gerade Menschen aus dem Kreativsektor nutzen diese Räume, da sie durch einen Schreibtisch und die digitale Infrastruktur (Internet, Drucker, Beamer, usw) die Grundversorgung für die digitale Arbeit abdecken.

Pop-Up Die Nutzung von gewöhnlich bedeutungslosen Stadträumen und Gebäuden steht hier im Vordergrund. Dadurch, das sie vernachlässigt sind, bieten sie ein Potential, einerseits weil sie niemand benutzt und andererseits sich niemand darum kümmert. Bei diesen Aktionen steht auch die begrenzte Zeit im Vordergrund. Beides, der Ort und die Zeit, steht dabei im Zusammenhang mit relativ geringen Kosten für die Präsentation der Idee.

Rise of the Creative Class Spätestens dieses Buch des amerikanischen Ökonoms Richard Florida Anfang der Nullerjahre war eine Ansage für eine Kehrtwende in den verstaubten Stadtplanungsämter vieler Länder. Darin prophezeit Florida den Aufstieg der kreativen Klasse und den damit auch einhergehenden ökonomisches Auswirkungen für die Städte.

2006

Geschichte

Co-working Spaces

Digitale Boheme Die Autoren Holm Friebe & Sascha Lobo beschreiben den Typus des digital- und kreativarbeitenden Menschen, der durch seine Arbeitswerkzeuge wie Laptop und Handy an keinen Arbeitsplatz gebunden ist. Die neuen Arbeitsformen, die das Internet hervorgebracht hat, begünstigt diesen Typus und schafft daher raumungebunde Möglichkeiten. Beliebte Aufenthaltorte sind Cafés, Co-working Spaces und Krativquartiere.

Raumrohlinge

p.27

Räume die wie Baustellen wirken sind die hier thematisierten Attraktivitätsräume. Die Ästhetik des vorgefundenen und möglichst unbehandelten ist dabei im Vordergrund. Diese Architekturen ermöglichen viel Ideen der Umdeutung, da sie nicht als fertig betrachtet werden können.



Was ist ein Kreativquartier? — Das Kreativquartier in seiner Urform ist eine Organisationsstruktur im gebauten Raum und ­innerhalb einer Gemeinschaft kreativer und kulturschaffender Menschen.


p.30

Kreativquartier — Erster Teil


Das Kreativquartier bewegt sich organisatorisch zwischen einem ungesicherten, losen Gemenge von Akteuren und einer straff organisierten Institution: Das ungesicherte, lose ­ Gemenge von Akteuren organisiert sich in einem nicht fest­ gesetzten Möglichkeitsraum, der maximale Freiheit zur Entfaltung für die Nutzer bereitstellt. Interne selbstorganisierte Vorgehensweisen ermöglichen einen schnell fluktuierenden Wandel aufgrund aktueller Bedürfnisse und Wünsche.

Was ist ein Kreativquartier?

Organisationsstruktur

Die straff organisierte Institution konzentriert sich an einem Ort größtmöglicher Kontrolle und finanzieller Sicherheit mit ­Hilfe einer hierarchisch strukturierten Organisation unter Einbindung der Öffentlichkeit: in Form von Öffentlichkeitsarbeit, ­Veranstaltungen und der öffentlichen Zugänglichkeit. Ein partizipativer Gedanke mag noch vorhanden sein, führt aber auch zu Ausschlussprinzipien. Gebäude/Räume Das Kreativquartier in seiner ursprünglichen Form ist umgenutzter oder zwischengenutzter Raum für Kunst-/Kulturproduktion, der sich je nach Institutionalisierungsgrad prozentual zu einem Raum für Kunst-/Kulturkonsumption wandeln kann. Seine räumliche Ausdehnung reicht angefangen bei Gebäudeetagen bis ­­ hin zu großflächigen Gebäudekomplexen und ­bietet kostengünstigen Arbeitsraum unter Ausschluss von primären Komfortwünschen. Möglichkeitsräume in Form von Ateliers, Werkstätten, Freizeitraum oder einfach nur freiem Raum, befinden sich in einem ausgeglichenen Verhältnis und sind nicht nur eine Ansammlung eines Bereiches in Form einer angemieteten Bürogemeinschaft. Ein reiner Co-Working-Space oder Büroturm ist eben kein Kreativquartier! Akteure Agens und Nutzer des Kreativquartiers ist der kreative Mensch in der Gemeinschaft, der auf der Suche ist nach kostengünstigem Raum für die Verwirklichung seiner Ideen. Der Hauptkern bildet sich aus Akteuren, die der Kultur- und Kreativwirtschaft zugeschrieben werden können. Jeder Nutzer und Besucher kann in diesen Quartieren seinem eigenen Streben und Vergnügen nachgehen, wobei es in erster Linie keine Rolle chem Tätigkeitsfeld er tatsächlich arbeitet.

p.31

spielt, wie viel Bildung der Einzelne mitbringt, sondern in wel-


Kreativquartier — Erster Teil

4 Kreativquartiere — Eine Auswahl Für die Untersuchung des Themas „Kreativquartier“ haben wir vier Quartiere ausgewählt, die exemplarisch eine gute Bandbreite möglicher Modelle von Kreativquartieren aufzeigen sollen. Ursprung Die Bandbreite reicht von der besetzten Binz in Zürich, als autonomem Gebilde, bis zum Museumsquartier Wien, einem straff organisierten Konstrukt, einer Institution. Dazwischen bewegen sich die NDSM Werft in Amsterdam sowie die Wagenhallen in Stuttgart. Sie können einem Zustand zwischen Autonomie und Insititutionalisierung zugeordnet werden. Allen gemein ist ihr Ursprung als autonome Gemeinschaft kreativer Menschen, nicht selten sind das Gruppen aus der Besetzerszene. In Eigenmotivation eignen sie sich leerstehende oder temporär ungenutzte Räume an. Dies geschieht in allen Fällen völlig selbstorganisiert und ohne jegliches Zutun offizieller Stellen. (Siehe mehr zur Geschichte der Kreativquartiere in den jeweiligen Untersuchungen.) Man kann hier von Zwischennutzungen sprechen (siehe auch Exkurs Zwischennutzung). Schon seit längerem stellt dieses Modell ein ernst zu nehmendes Potenzial für Stadtentwicklung dar. Jedoch schon der Begriff „Zwischennutzung“ lässt erkennen, dass ein Kreativquartier nur eine temporäre Erscheinung sein kann. Hinsichtlich einem dauerhaften Bestehen und einer Etablierung, bleibt ein solches Konstrukt in der Regel vorerst ergebnisoffen. Für den langfristigen Erhalt eines Quartiers aus einer Zwischennut-

p.32

zung beobachten wir nur wenige Möglichkeiten. BINZ Zürich

WH Stuttgart

NDSM Amsterdam

MQ Wien


Die Gebäude stehen über kurz oder lang zum Verkauf oder werden bereits einer anderen Nutzung zugeschrieben (z. B. Stuttgart 21). Wenn die Nutzer ihr Quartier erhalten wollen, müssen sie damit rechnen, ihre autonome Position einzubüßen. Sie müssen sich Aufmerksamkeit verschaffen, was oft mit immenser Öffentlichkeitsarbeit einhergeht, um dem Eigentümer (meist der Stadt) einen Mehrwert bieten zu können. Eine Unterstützung seitens der Stadt für den Erhalt eines Quartiers ist

Was ist ein Kreativquartier?

Institutionalisierung

also nur zu erwarten, wenn sie dabei ihren selbstauferlegten touristischen, ökonomischen und teilweise auch sozialen und kulturellen Zielvorgaben mit diesem Projekt näher kommen kann. Verstärkte Kooperation mit dem Eigentümer (in vielen Fällen der Stadt) kann also zum Erhalt des Quartiers beitragen. Je größer das Interesse des Eigentümers ist, umso größer sind die Fördermöglichkeiten (z.B. Gelder für Gebäudeinstandhaltung oder kulturelle Fördermittel). Bei diesem Prozess erhöht sich der Insititutionalisierungsgrad und mit ihm die Kontrolle von Kreativität. Zudem verändert sich das Verhältnis von Kunst-/Kulturproduktion und -konsumption. Der Verlust von Freiheit und Diversität schränkt die Eigenständigkeit der Nutzer und somit des Quartiers mitunter ein. Auf den ersten Blick nicht sichtbar, entsteht dann ein völlig neues Gebilde. Mit seinem interkulturellen, sozialen und kreativen Image kann es sein Umfeld und die lokale Stadtplanung erheblich positiv beeinflussen. Der Weg zur Instituationalisie­ rung ist also differenziert zu betrachten und darf nicht voreilig als Negation kreativen Raums abgetan werden.

Gefahr der Auflösung

BINZ Zürich

WH Stuttgart

NDSM Amsterdam

Autonomie

Institution

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MQ Wien


Kreativquartier — Erster Teil

Vergleichbarkeit In unserer Untersuchung und Gegenüberstellung der vier Kreativquartiere wollen wir uns primär auf den mitteleuropäischen Raum konzentrieren. Dies erscheint sinnvoll, weil hierbei auch städtebauliche und politische Strukturen nicht zu sehr voneinander abweichen. Zudem kann eine programmatische Untersuchung stattfinden, die das Konzept der Kultur- und Kreativwirtschaft vom angloamerikanischen Ansatz der Kreativen Klasse nach Richard Florida abgrenzt (siehe Abschnitt Typus) und eine gemeinsame Grundlage anhand ihrer Definition im deutschsprachigen Raum bildet, die auch mit der EU-Definition deckungsgleich ist. Somit ist der Ansatz der Kunst- und Kulturproduktion innerhalb der Kreativquartiere in vier unterschiedlichen Ländern vergleichund quantifizierbar Raum Auch die Gebäude der vier Kreativquartiere sind ein Entscheidungsfaktor. Im Zeitalter des Post-Fordismus und den Nachwehen der Suburbanisierung kann man feststellen, dass immer mehr produzierende Betriebe im innerstädtischen ­Bereich Europas ihre Tore schließen. Die Betriebe wandern auf günstigere Flächen außerhalb der Stadt oder verlagern ihre Produktion ins Ausland. So können die Gebäude der vier Kreativquartiere ebenfalls ein Spektrum abdecken, welches die gegenwärtige europäische Situation um den Leerstand von ­ ­Gebäuden repräsentativ widerspiegelt. Das Museumsquartier in Wien war ehemals eine Hofstallung, die Anfang des 20. Jahrhunderts zum Messebetrieb umgebaut wurde. Die Wagenhallen in Stuttgart, eine frühere Lokomotivremise der Königlich Württembergischen Staatseisenbahn, wurde bereits kurz nach 1945 zum Busbetriebshof umgewandelt. Die NDSM-Werft war das renommierteste Schiffsbauwerk Amsterdams. Aufgrund internationaler Konkurrenz musste sie den Betrieb in den 1980er Jahren einstellen. Auch die ehemaligen Betreiber der Fabrikhallen der Binz in Zürich, stellten ihren ­Betrieb Ende der 1980er Jahre ein (siehe Geschichte der jeweiligen Quartiere). Fast alle vier Gebäude entstanden zu Zeiten der Industrialisierung (Ausnahme Museumsquartier Wien) und auch die Transformation zum Kreativquartier ist nahezu zeit-

p.34

gleich (MQ 2001, NDSM 2003, Wagenhallen 2003, Binz 2003). Anmerkung Zum Zeitpunkt der Untersuchung befinden sich alle vier Quartiere in unterschiedlichen Zuständen der Entwicklung, worauf wir in den folgenden Untersuchungen näher eingehen werden.


Permanent Temporär

BINZ

WAGENHALLEN

Zürich

Stuttgart

O % O %

1O % 4O %

NDSM

MQ

Amsterdam

Wien

2O % 5O %

8O % 8O % p.35

Was ist ein Kreativquartier?

Ausstellungsflächen im Verhältnis (Schätzwerte)



Typologie — Typologien haben eine lange Tradition in der Architektur. Sie dienen zur Einordnung von Gebäudetypen nach unterschiedlichen Parametern. Es wird unterschieden nach ihrer Funktion (z.B. Bürogebäude, Sportgebäude), nach ihrer Konstruktion oder des Materials (z.B. Skelettbauwerke, Holzbauwerke) oder nach ihren formalen Eigenschaften (z.B. Rundbauten, Turmhäuser). Damit können wir Gebäude besser einordnen um sie dann vergleichen und wieder voneinander abgrenzen können. In der Architekturgeschichte wurde unterschiedlich typisiert. Jedoch entspricht die Einordnung in eine Typologie immer auch einer Verallgemeinerung, das bedeutet jede Individualität wird dadurch im Herzen zerstört.


p.38

Kreativquartier — Erster Teil


p.39

Typologie


Kreativquartier — Erster Teil

Typologie als Untersuchungsstrategie Seit den Zeiten der Aufklärung, unter Berücksichtigung ­bekannter Vordenker, ist die Typologie einer der zentralen Untersuchungsgegenstände der Architekturtheorie. Mit den ­ neu entstehenden naturwissenschaftlichen Methoden glaubt man, unter dem Begriff des Typus ein sicheres Fundament der Gestaltung finden zu können. Die historisch legitimierten ­Gestaltungsprinzipien werden über Bord geworfen und mit Hilfe der Typologie sollte zwischen dem sklavischen Kopieren und der individuellen gestalterischen Willkür ein akzeptabler Weg gefunden werden. Immer wieder wird die Disziplin Architektur neu definiert. Als Gestaltungstätigkeit befindet sich die Architektur zwischen Kunst, Technik und gesellschaftlicher Verpflichtung und wird in einem vielfältig verschlungenen Diskurs kontrovers diskutiert. 1 Bereits im 17. und 18. Jahrhundert versuchen sich Architekten und Theoretiker an einer einheitlichen Definition der Typologie. Anfang des 20 Jahrhunderts wird diese Diskussion unter den Begriff der „Typisierung“ gestellt und in der Typologiediskussion der 1960er Jahre bis hin zu deren aktuellen Ausläufern weiter vertieft. Als Methode der Darstellung und Benutzung architektonischer ­

Vorbilder

wird

die

Typologie

ziemlich

unterschied­ lichen Definitionsansätzen unterzogen und reicht von der kreativen­Form der Natur-Nachahmung (Chamoust, Laugier, Quatremère de Quincy, Gottfried Semper) über die ­Methode der industriellen Fertigung (Walter Gropius, LeCorbusier, Hannes Meyer) bis hin zur Philosophie der Architektur (Aldo Rossi, Vittorio Gregotti, Anthony Vidler), um nur einige zu nennen. 2 Ende der 1980er Jahre kommt noch ein Schwerpunkt hinzu: die rational vollkommen beherrschbare „künstliche Intelligenz“ in Form der computerbasierten Vorgehensweise, die es seither erlaubt, Gestaltung durch Auswahl, Adaptierung und Kombination auf rein faktischer Basis anhand definierter Parameter und Zahlenwerte zu ermöglichen. Wissenschaftliches Arbeiten im Bereich der Architektur ­gestaltet sich dennoch schwierig und zeigt eine teils unpräzise bzw. kaum nachvollziehbare Vorgehensweise. Vervollständigt wird dieses Szenario, wenn man beobachtet, dass sich die praktische Handlungsweise schneller entwickelt und im Gegenzug sich die theoretischen Werkzeuge für Architekten heute kaum weiterentwickeln. Oft werden Bezugssysteme beliebig p.40

­gewechselt und man bedient sich lediglich Aufzählungen, um das Feld grob abzustecken. Die Typologie als Werkzeug des ­Architekten bleibt wissenschaftlich unstrukturiert und unexakt.  3

1 Christian Kühn, Der Begriff der Architekturtypologie und seine Bedeutung für die Theorie des CAAD, Diss. ETH Nr. 11323, 1995 2 Christian Kühn, Der Begriff der Architekturtypologie und seine Bedeutung für die Theorie des CAAD, Diss. ETH Nr. 11323, 1995; und eigene Ergänzungen 3 Matthias Castorph, Gebäudetypologie als Basis für Qualifizierungssysteme, Diss. D386, Fachbereich Architektur/ Raum- und Umweltplanung/ Bauingenieurwesen der Universität Kaiserslautern, 1999,S.47-51


In heutiger Zeit, in der leer stehende Gebäude teilweise das

„Während der Genotyp den  unveränderlichen, individuell

Stadtbild prägen, rückt die Wiederbelebung und Revital­ g ­ enetischen Informationssatz isierung in das Aufgabenfeld des Architekten. Aufgrund

eines Organismus bezeichnet,

unterschiedlicher Randbedingungen scheint es sinnvoll, eine ­

ist der Phänotyp die sich in

Typologie

Ein Ordnungssystem zur Vergleichbarkeit

Möglichkeit zur Klassifizierung und Einordnung unseres The- Wechselwirkung  mit  der  Umwelt mas Kreativquartier zu finden, die den neuen Anforderungen

herausbildende, veränderliche

­gerecht wird.

Gestalt. Das Maß an Abwei-

Es stellt sich also die Frage, in wie fern mit gesammel­ -­­ ­ chung zwischen dieser Gestalt ten I­nformationen ein vergleichbares Ordnungssystem bereit

und der genotypischen Bestim-

­ erden kann, um eine sinnvolle Vergleichbarkeit beste- mung bezeichnet man als   phä­gestellt w hender Kreativquartiere zu ermöglichen.

notypische Plastizität.“

Hierzu müssen für alle Kreativquartiere gleiche Grundbedingungen, Abhängigkeiten und Bildungsregeln in einem Datensatz erfasst werden: dem Genotyp in seiner formalen Ausprägung. Eine grundlegende Unterscheidung zwischen Genotyp und Phänotyp führt 1909 der dänische Genetikpionier Wilhelm Ludvig Johannsen in die Entwicklungsbiologie ein. 4 „Während der Genotyp den unveränderlichen, individuell genetischen Informationssatz eines Organismus bezeichnet, ­ ist der Phänotyp die sich in Wechselwirkung mit der Umwelt herausbildende, veränderliche Gestalt. Das Maß an Abweichung zwischen dieser Gestalt und der genotypischen Bestimmung bezeichnet man als phänotypische Plastizität.“ 5 Untersuchen wir Kreativquartiere anhand ihrer ähnlichen ­Erscheinungen, stellen wir fest, dass dennoch alle unterschiedlich sind. Die augenscheinliche Ähnlichkeit der Kreativquartiere liegt wohl in ihrer programmatischen Struktur und ihrer städtischen Verortung, also auf der phänotypischen Seite. ­Jedoch sind die post-industriellen Gebäude von Kreativquartieren in ­ ihrer formalen Ausprägung des Genotyps sehr unterschiedlich. Die aufgezeigte Unterscheidung zwischen Genotyp und Phänotyp verhält sich im Bezug auf Kreativquartiere also umgekehrt: Mit der phänotypischen Plastizität, die durch die Nutzer eingebracht wird, ändert sich der Genotyp des Gebauten und wird angepasst. Die beiden Begriffe stehen in WechselDie Verwendung des Werkzeugs Typologie scheint hierfür gut geeignet, sollte aber durch vorhandene subjektive Wertungen (z.B. Phänomen der ästhetischen Differenz) befreit werden um somit als geschärftes Werkzeug eine Verwendung zu finden. Der Exkurs Typologie versucht einen historischen Abriss des Diskurses um den Begriff des „Typus“ und der „Typologie“ ­aufzuzeigen. Anhand unterschiedlicher Ansätze wollen wir auf-

4 Ernst Mayer; Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelten, Springer 2002, S. 172; aus dem Beitrag: Michael Hensel und Achim Menges, Form- und Materialwerdung - Das Konzept der Materialsysteme; Arch+ 188, 2008, S.20 5

Ebd., Seite 20

p.41

wirkung zueinander.


Kreativquartier — Erster Teil

„Tatsächlich scheint es, als

zeigen, dass das strukturelle Prinzip der Typologie in der

erwachse das Gebaute immer

­vorliegenden Untersuchung von Kreativquartieren als Untersu-

wieder aus dem sich stets  ent-

chungsstrategie und als guter Ausgangspunkt für die Erfor-

wickelnden wechselseitigen

schung ­eines Entwurfsproblems dienen kann.

Spiel dreier konvergierender Vektoren, dem Topos, dem

Grafische Untersuchung

Typus und der Tektonik. Wenn

Im Zuge der Untersuchung von Kreativquartieren wollen wir

also die Tektonik keinen  be-

die vier Kreativquartiere anhand von Fakten und grafischen

sonderen Stil fördern muss,

Darstellungen zum Zeitpunkt unserer Untersuchung analysie-

wirkt sie in Verbindung mit

ren und einen Ansatz zur Klassifizierung versuchen. Damit ein-

dem Ort und dem Typus der

her geht selbstverständlich die Veränderung an den Gebäuden

Neigung der Architektur  ent-

und der näheren Umgebung, was im Umfeld der Kreativquartie-

gegen, ihre Legitimität in

re ein wichtiger Aspekt ist.

einer anderen Disziplin zu suchen.“

Eine grafische Untersuchung bietet Vorteile: Sie kann mit wenigen Strichen eine Idee skizzieren und abstrahiert eine Wirklichkeit, wodurch wesentliche Unterschiede der gebauten Substanz von Kreativquartieren aufgezeigt werden können. Die Materialität des Gebauten wird dabei vernachlässigt. Sie ist oft ausschlaggebendes Kriterium für ein ästhetisches Urteil. Durch die Reduktion auf grafischer Ebene kann unsere Untersuchung wertungsfrei dargestellt werden und begibt sich auf die Ebene

Topos

der Beschreibung von Gebäuden, ohne das Gebäude selbst zu beschreiben.

Im Exkurs Typologie zeigen wir verschiedene Ansätze einer typologischen Definition der Architektur auf. Primär sind dabei die Leitgedanken einer Architektur als Raum, Funktion, Typus

Typologie als Untersuchungsstrategie

Vorgehensweise

Form, Konstruktion oder Ereignis. Dies bildet den Ausgangspunkt unserer Untersuchung: „Tatsächlich scheint es, als erwachse das Gebaute immer wieder aus dem sich stets entwickelnden wechselseitigen Spiel

Tektonik

dreier konvergierender Vektoren, dem Topos, dem Typus und der Tektonik. Wenn also die Tektonik keinen besonderen Stil fördern muss, wirkt sie in Verbindung mit dem Ort und dem Typus der Neigung der Architektur entgegen, ihre Legitimität in einer anderen Disziplin zu suchen.“ 6 Im ersten Schritt soll der Gesamtkomplex der Kreativquartiere anhand seiner Positionierung im städtischen Gefüge ­untersucht werden. Es sollen primär die quantifizierbaren städ-

p.42

tischen Randbedingungen aufgezeigt werden, unter denen sich 6 aus Kenneth Frampton „ Grundlagen der Architektur: Studien zur Kultur des Tektonischen“, München-Stuttgart, 1993

Kreativquartiere vorzugsweise ansiedeln und die ihre Wechselwirkung mit der Stadt beeinflussen. Diese Untersuchung findet sich im Abschnitt „Topos“ und zeigt, dass die auf den ersten


erscheint, lässt uns hinsichtlich der Anwendung auf die Wirk-

Blick sehr unterschiedlichen Kreativquartiere viele Gemeinsamkeiten in Bezug auf ihren urbanen Kontext haben. Im zweiten Schritt soll die Architektur der Kreativquartiere

lichkeit perplex. Allein die

anhand ihrer programmatischen Erscheinung untersucht wer-

Wirklichkeit bildet das Ganze

den. Dies beinhaltet sowohl die strukturelle Organisation inner-

und darauf ist das Handeln

halb des Kreativquartiers als auch die allgemeine Einordnung

­bezogen. Die Regel reicht nicht

seiner Akteure (phänotypische Plastizität). Diese Untersuchung

aus, beschreibt im besten Fall

findet sich im Abschnitt „Typus“ und zeigt, dass die auf den

Vorgehen und Methode, aber

ersten Blick sehr unterschiedlichen Kreativquartiere auch hier

lässt das Handeln und Tun in

Gemeinsamkeiten aufweisen, die sich unter anderem in der Kul-

seiner umfassenden, gesell-

tur- und Kreativwirtschaft und auch in selbstorganisierten Vor-

schaftlichen Verbindlichkeit

gehensweisen wiederspiegelt. Der Begriff „Typus“ erfährt in

vorerst außen vor.“

der architekturtheoretischen Diskussion eine mehrfache Be-

— Piet Lombaerde

Typologie

„Was der Methode zuträglich

deutungsverschiebung. In unserer Untersuchung spielt die semantische Auslegung eine übergeordnete Rolle und somit wird der Typus-Begriff im Folgenden nach seiner ursprünglichen Wortbedeutung týpos = Gestalt oder Gepräge verwendet. Denn die spezielle Programmatik in Kreativquartieren macht die ­Erscheinung eines Kreativquartiers aus. Im dritten Schritt soll das Gebaute der Kreativquartiere anhand seiner wertneutralen, fremdreferenziellen und somit quantifizier- und klassifizierbaren Elemente untersucht werden und beinhaltet alle Veränderung am Gebäude zum Untersuchungszeitpunkt. Exemplarisch werden Prozesse der Transformation anhand der Wagenhallen in Stuttgart untersucht. Diese findet sich im Abschnitt „Tektonik“. Der Begriff der „Tektonik“ beinhaltet in dieser Untersuchung auch die bauliche Umgebung und kann somit als „Gefüge“ im weitesten Sinne verstanden werden. Die Untersuchung zeigt einen baulichen Überblick, der trotz unzähliger Transformationen das ursprüngliche Gebäude erkennen lässt und somit  –  in Bezug auf die Untersuchung ­„Topos“ und „Typus“ – eine eher untergeordnete Rolle einnimmt. „Was der Methode zuträglich erscheint, lässt uns hinsichtlich der Anwendung auf die Wirklichkeit perplex. Allein die Wirklichkeit bildet das Ganze und darauf ist das Handeln ­bezogen. Die Regel reicht nicht aus, beschreibt im besten Fall Vorgehen und Methode, aber lässt das Handeln und Tun in seiner umfassenden, gesellschaftlichen Verbindlichkeit vorerst außen vor.“ 7

p.43

7 Theorie der Praxis – eine weitere Begründung, Werner Oechslin, aus: Bringing The World Into Culture. Comperative Methodologies in Architecture, Art, Design and Science. Liber Amicorum offered to Richard Foqué. Hg. von Piet Lombaerde. University Press Antwerp, Antwerpen 2009, S.133-143.



Topos — Der Ort mit seinen vorhandenen Strukturen ist immens wichtig für die Untersuchung von Kreativquartieren und kann mögliche Erkenntnisse zur Planbarkeit oder Moderation aufzeigen. Spezifische Merkmale eines funktionierenden Gefüges im Stadtraum werden anhand den Kate­ gorien Fläche, Bevölkerung, Qualität und Lage untersucht.


Kreativquartier — Erster Teil

Topos | griechisch: τόπος – tópos – Ort. Um Kreativquar-

tiere zu untersuchen, die durch ihre Öffentlichkeit einen mehr oder weniger erheblichen Einfluss auf den Ort und die städtebauliche Infrastruktur haben oder für manche Nutzer besonders prägnant in der Stadtwahrnehmung sind, muss man auch einen Blick auf die Stadt selbst und auf ihre Strukturen werfen. Dazu zählen sowohl objektiv messbare, wie auch subjektiv wahrnehmbare Faktoren. Beim Vergleich der Städte Amsterdam (NDSM), Stuttgart (Wagenhallen), Wien (Museumsquartier) und Zürich (Binz) steht primär die Frage im Vordergrund, welche Faktoren diese Städte mit sich bringen, die sie für das Milieu der Kreativen so attraktiv machen. Sind diese Faktoren beeinflussbar? Und wie kann Stadt in Zukunft reagieren, um kreative Milieus anzuziehen, bzw. um Kultur- und Kreativwirtschaft zu fördern. Der Gesellschaftswandel, der sich in den letzten Jahren abzeichnet, erfordert ein neues Verständnis für die persönliche Wahl des Arbeits- und Wohnorts. Insbesondere in der Gruppe der Kreativen bleibt eine

p.46

klare Abgrenzung zwischen Arbeit und Freizeit zunehmend aus. Und wie Richard Florida bereits argumentiert,


Topos

spielen für kreative Menschen bei deren Arbeits- und Wohnortentscheidung nicht nur attraktive Jobangebote eine große Rolle. Im Besonderen wird Wert gelegt auf Faktoren wie Toleranz, Offenheit, kulturelles Angebot, sowie die allgemeine Lebensqualität einer Region oder

1 Michael Fritsch und Michael Stützer: Die Geografie der Kreativen Klasse in Deutschland, Raumforschung und Raumordnung, S.65 (2007)

p.47

einer Stadt. 1


Kreativquartier — Erster Teil

Fläche Im Vergleich der Makrolage der vier Kreativquartiere stellen wir die klassisch gemessenen Größen der Städte einander gegenüber. Sie zeigen deren objektive Vergleichbarkeit anhand ihrer Größe, Struktur und Bevölkerung. Alle vier Städte wurden von der GaWC (Globalization and World Cities Research Network) in die Liste der Weltstädte (oder „Global Cities“) aufgenommen. 2 Wien ist die Bundeshauptstadt und bevölkerungsreichste Großstadt Österreichs. Sie ist außerdem die sechstgrößte Stadt der Europäischen Union. Stuttgart ist die Hauptstadt von Baden-Württemberg und sechstgrößte Stadt Deutschlands. Amsterdam ist die Hauptstadt und die Stadt mit der größten Bevölkerung in der Niederlande. Zürich ist die größte Stadt der Schweiz. Ausserdem ­deren wichtigstes wirtschaftliches, wissenschaftliches und gesellschaftliches Zentrum. 3

Wien

Stuttgart

2 http://www.lboro.ac.uk/ gawc/world2010t.html (Global cities) 3 Wikipedia (zu den Themen Amsterdam, Stuttgart, Wien, Zürich und Weltstädte)

Amsterdam

Zürich

Gesamtfläche

414,9 km2

207,4 km2

219,3 km2

91,9 km2

23 Gemeindebezirke 89 Katastralgemeinden

23 Stadtbezirke 152 Stadtteile

7 (+1) Stadtbezirke 97 Ortsteile

12 Stadtkreise 34 Quartiere

4 223 EW ⁄ km2

2 958 EW ⁄ km2

4 791 EW ⁄ km2

4 046 EW ⁄ km2

Gemeinde-Bezirke

p.48

Einwohner ⁄ km 2


Topos

Bevölkerung Toleranz und Offenheit als subjektiv wahrnehmbare Faktoren in der Bevölkerung, machen es neu Zugezogenen leichter, sich in ein vorhandenes Gefüge zu integrieren. Wir können davon ausgehen, dass Akzeptanz in der Gesellschaft kreatives Arbeiten in hohem Maße begünstigt. Je offener ein Umfeld ist, desto diverser sind auch seine ­Akteuere und folglich inspirierender und stimulierender ist das Arbeitsumfeld für die Kreativen.

Wien

Stuttgart

Amsterdam

Zürich

Einwohnerzahl

1 731 537

573 054

790 044

393 599 (2011)

22,3 % Ausländer 10,1 % Studierende (2012)

21,8 % Ausländer 8,4 % Studierende (2011/2012)

13, % Ausländer 7,2 % Studierende (2012)

31,3 % Ausländer 11,2 % Studierende (2012)

Metropolitan Area

2.58 Mio.

2.29 Mio.

2.49 Mio.

1.62 Mio.

Demografie

Population by age, Population sex and ethnic by age, Population group sex and ethnic by age,group sex Population and ethnic bygroup age, sex and ethnic group Population by age, Population by age, Population sex and ethnic by age, Population group sex and ethnic by age,group sex Population and ethnic bygroup age, sex and ethnic group Population sex and ethnic by age, Population group sex and ethnic by age,group sex Population and ethnic bygroup age, sex and ethnic groupPopulation by age, Population sex and ethnic by age, Population group sex and ethnic by age,group sex Population and ethnic bygroup age, sex and ethnic group Wien, 2012 Wien, 2012 Wien, 2012 Wien, 2012 Zürich, 2011 Zürich, 2011 Zürich, 2011 Zürich, 2011 Stuttgart, 2011 Stuttgart, 2011 Stuttgart, 2011 Stuttgart, 2011 Amsterdam, 2010 Amsterdam, 2010 Amsterdam, 2010 Amsterdam, 2010

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100

100

100

100

100

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100

100

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100

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100

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40

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30

30

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30

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30

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30

30

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30

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20

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20

20

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20

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10

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10

10

10

10

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0

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0

0

0

0

0

0

0

12

Men x 1000

Ethnic groups

8

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Men x 1000

rest of Ethnic population groups

08

4 412

Men x 1000

rest of Ethnic population groups

8 08

124 4

128 0

8124

4 8

x1000

Women Men xx1000 1000

rest of population Ethnic groups

Women x 1000 rest of population

0 12

4

8 12

12 8

412

x1000

Women x 1000 Men x 1000

Women x Men 1000x 1000

Ethnic groups

rest of Ethnic population groups

08

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8 08

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128 0

x1000

Men x 1000

rest of Ethnic population groups

Women Men xx1000 1000

rest of population Ethnic groups

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4

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x1000

Women x 1000

rest of population

Women x 1000 Men x 1000 Ethnic groups

8 12

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08

4 412

x1000

Women Menx x1000 1000

rest of Ethnic population groups

Men x 1000

rest of Ethnic population groups

8 08

124 4

128 0

8124

4 8

x1000

Women Men xx1000 1000

rest of population Ethnic groups

Women x 1000 rest of population

0 12

4

8 12

8 12

412

x1000

Women x Men 1000x 1000

Ethnic groups

Women Men xx 1000 1000 rest of Ethnic population groups

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4 412

Men x 1000

8 08

124 4

128 0

x1000

rest of Ethnic population groups

Women Men xx1000 1000

rest of population Ethnic groups

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Bevölkerung nach Alter und ethnischer Gruppe Ethnische Gruppen restliche Bevölkerung

8124

4 8

Women x 1000 rest of population

0 12

4

Women x 1000


Kreativquartier — Erster Teil

Qualität Die Lebensqualität im allgemeinen führt zu individuellem Wohlbefinden. Sie „ist die subjektive Wahrnehmung einer Person über ihre Stellung im Leben in Relation zur Kultur und den Wertsystemen in denen sie lebt und in Bezug auf ihre Ziele, Erwartungen, Standards und Anliegen.“ 4 Dazu zählen auch äußere Faktoren wie materieller Wohlstand, Bildung, Berufschancen, sozialer Status, Gesundheit, N ­ atur und anderen. 5   Diese sind beeinflussbar, was wiederum dazu führt, dass die Lebensqualität einer Stadt durchaus auch bestimmbar und steuerbar sein kann. Lage Ein Merkmal für erfolgreiche Kreativquartiere (vor allem in Anbetracht des Konsumierens von Kunst und Kultur) ist das Vorhandensein einer guten bis sehr guten infrastrukturellen Anbindung sowie zentrumsnaher Lage. Nicht nur für die Tourismuswirtschaft, sondern häufig auch für die Nutzer der Quartiere ist die Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln unabdingbar. Am Beispiel des Museumsquartiers in Wien kann man deutlich beobachten, dass die Faktoren Lage, Erreichbarkeit und Tourismuswirtschaft mitunter eine große Rolle im Erfolg des Quartiers spielen. Aber auch Quartiere die ferner des Zentrums gelegen sind, erfahren große Beliebtheit bei Kreativschaffenden. Oft sind es Industriebrachen, die Künstler und Kreative sich zu Eigen machen. Am Beispiel der NDSM Werft profitieren die Akteuere von der exponierten Lage der alten SchiffsbauHalle. Während im Zentrum Amsterdams der Gebäudebestand sehr kleinteilig und dazu nur teuer zu mieten ist, bieten die großen Flächen des Werftgeländes ein hohes Potenzial an Möglichkeitsraum für Experimente und Veranstaltungen aller Art.

p.50

4 Definition der WHO (Weltgesundheitsorganisation, 1993) http://www.drnawrocki.de/ empfehlung/lebensqualitaet%20. html 5 Wikipedia (zum Thema Lebensqualität)


Stuttgart

Amsterdam

Zürich

Topos

Wien

Topographie

Höchster Punkt Tiefster Punkt

543 m ü. A. 151 m ü. A.

549 m ü. NN 207 m ü. NN

-2 m ü. NN -6 m ü. NN

871 m ü. M 392 m ü. M

Natur

kultivierte Fläche Verkehrsfläche Grünfläche Wasseranteil

35.4 % 14.4 % 45.6 % 4.5 %

35.5 % 14.7 % 46.9 % 2.9 %

42.8 % 7.2 % 25.2 % 24.8 %

47.6 % 13.5 % 33.3 % 5.6 %

Lage

*

*

*

*

1,18 km (Stephansplatz)

2,28 km (Schlossplatz)

3,2 km (Dam Place)

2,17 km (Lindenhof)

1,69 km (West Bahnhof)

1,7 km (Hbf)

2,46 km (Hbf)

2,58 km (Hbf)

11.4 Mio. (Stand 2011)

3.1 Mio. (Stand 2012)

9.8 Mio. (Stand 2011)

2.2 Mio. (Stand 2013)

p.51

Übernachtungen/ Jahr


Kreativquartier — Erster Teil

Fazit Sämtliche Faktoren haben an verschiedenen Orten unterschiedliche Wichtigkeiten, je nach Ausgangssituation und Zielvorstellung des Projekts Kreativquartier. Als spezifisches Merkmal eines funktionierenden Gefüges im Stadtraum ist also der Ort mit seinen vorhandenen Strukturen immens wichtig für die Untersuchung und kann mögliche Erkenntnisse zur Planbarkeit oder Moderation eines Kreativquartiers aufzeigen. Deutschland (Exempel) „Besonders niedrige Anteile freiberuflicher Kreativer finden sich vor allem dort, wo große Städte relativ weit entfernt liegen.“ 6 Am Beispiel Deutschland soll aufgezeigt werden, wie Kunst- und Kultur-Produktion vermehrt und/oder ausschließlich in größeren Städten oder stadtnah anzutreffen ist. Bei der Verteilung der freiberuflichen Künstlern erkennt man darüber hinaus eine hohe Akkumulation in München, ­Düsseldorf und Frankfurt (in den top10 des „quality of living“rankings von Mercer)7 sowie in Berlin und Hamburg, die in Deutschland zu den beiden Bundesländern mit dem höchsten Anteil ausländischer Bevölkerung gehören.8

6 Michael Fritsch und Michael Stützer: Die Geografie der Kreativen Klasse in Deutschland, Raumforschung und Raumordnung, 65 (2007) 7 http://www.mercer.com/ qualityoflivingpr# city-rankings 8 http://de.statista.com/ statistik/daten/studie/254889/ umfrage/auslaenderanteilin-deutschland-nachbundeslaendern/ (Stand 2011)

p.52

Die größten Städte Deutschlands mit jeweiligen Einwohnern Berlin

3 509 872

3 927

Hamburg

1 798 836

2 382

München

1 378 176

4 436

Köln

1 017 155

2 510

Frankfurt am Main

691 518

2 785

Stuttgart

613 392

2 958

Düsseldorf

592 393

2 725

Dortmund

580 956

2 070

Essen

573 468

2 726

Bremen

548 319

1 685


Stuttgart

22,2 69 % 31 %

9,6 99,6 % 0,4 %

Amsterdam

Zürich

Topos

Wien

Tourismus Stand 2012

Total (in Mio.) Transferpassagiere Lokalpassagiere

51,0 59 % 41 %

24,8 66 % 34 %

Name der Gesellschaft Linienlänge in km Haltestellen

Wiener Linien

VVS Verbundnetz

937,4 km 4 452

6 003 km 3 833

GVB städtischer Verkehrsbetrieb 280 km k.A.

VBZ Stadtnetz 278 km 443

p.53

ÖPNV


Kreativquartier — Erster Teil

Freiberufliche Künstler (Anteil insgesamt im Jahr 2004 in Deutschland)

0,08 % 0,11 % 0,14 % 0,21 %

<= 0,08 % <= 0,11 % <= 0,14 % <= 0,21 % <=

(Angabe in Prozent der Bevölkerung)

p.54

Kreative Klasse (Anteil insgesamt im Jahr 2004 in Deutschland)

7,4 % 8,5 % 9,7 % 14,3 %

<= 7,4 % <= 8,5 % <= 9,7 % <= 14,3 % <=

(Angabe in Prozent der Bevölkerung)


Topos Quellen Wien http://www.wien.gv.at/ http://www.wien.gv.at/statistik/pdf/wieninzahlen.pdf Statistik Austria, Statistik des Bevölkerungsstandes, Bevölkerungspyramide 1.1.2012 http://www.viennaairport.com/jart/prj3/va/main. jart?rel=de&content-id=1249344074274&reserve-mode=active Stuttgart http://www.stuttgart.de/ http://service.stuttgart.de/lhs-services/komunis/ documents/6432_1.PDF http://www.vvs.de/download/ZahlenDatenFaktenVB2012.pdf Landeshauptstadt Stuttgart Statistisches Amt; Einwohner am 31.12.2011 https://www.destatis.de/DE/Startseite.html http://www.flughafen-stuttgart.de/media/402724/Statistischer_ Jahresbericht_2012.pdf http://www.statistik.baden-wuerttemberg.de Amsterdam http://www.os.amsterdam.nl/ http://en.gvb.nl/overgvb/bedrijfsprofiel/Pages/Bedrijfsprofiel. aspx http://www.iamsterdam.com/en-GB/business/meetings/products/ amsterdam-pocket-atlas http://trafficreview2012.schipholmagazines.nl/passengers.html#tr ansporttransferodtransitoloadfactora Zürich http://www.stadt-zuerich.ch http://www.statistik.zh.ch http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/10/03/blank/ key/02/04.html http://www.flughafen-zuerich.ch/Portaldata/2/Resources/documents_ unternehmen/investorrelations/Broschuere_Zahlen_und_Fakten_2012_ de.pdf Sonstiges: European Spatial Planning Observation Network, Study on Urban Functions (Project 1.4.3), Final Report, Chapter 3, (ESPON, 2007)

http://www.mercer.com/qualityofliving http://www.wikipedia.com Suchbegriff: Bevölkerungsdichte https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/LaenderRegionen/Regionales/ Gemeindeverzeichnis/Administrativ/Aktuell/05Staedte.html;jsessio nid=F043DB487C095A6B0554C8B86B156ED9.cae2

p.55

„Die Kreative Klasse in Deutschland; Geografie, Effekte und wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen“ von Michael Fritsch und Michael Stützer (http://www.wiwi.uni-jena.de/uiw/publications/ pub_since_2004/2007/Fritsch&Stuetzer_KreativeKlasse_Thinktank_2007.pdf)



Typus — Die Eingrenzung des Typus auf den Teilaspekt der Programmatik dient zur Bildung eines Systems der vergleichbaren Quantifizierung von Akteuren in Kreativquartieren.


Kreativquartier — Erster Teil

Typus | Auf den ersten Blick scheint sich der typische

Nutzer des Kreativquartiers auf dem Feld der Architektur, der Kunst und des Design zu bewegen. In vielen Studien wird er dem Milieu der Kultur- und Kreativwirtschaft zugeschrieben. In diesen Studien findet man auch diverse andere Branchen, deren Zuordnung   schwierig erscheint. Es gibt dabei unterschiedliche ­Ansätze sowie Unterteilungen, die von Land zu Land, in den Anfängen sogar von Stadt zu Stadt, verschieden sind. Unzählige Berichte, Artikel und Untersuchungen sind in den vergangenen Jahren entstanden. Die Studie der britischen Labour Partei „Creative Industries Mapping Document“ 1 aus dem Jahr 1998, stellt gebräuchliche Begriffe wie „Kulturwirtschaft“ und „Kulturgüter“ in Frage und inspiriert zahlreiche Wissenschaftler, sich mit diesem Thema zu beschäftigen 2 . Charles Landry gibt Denkanstöße in seinem Buch „The Creative City: A Toolkit for Urban Innovators“ von 2000. Auslöser einer breiter angelegten Definitionsfrage ist unter anderem Richard Florida mit seinem Bestseller „The rise of the creative class

p.58

and how it’s transforming work, leisure, community, and everyday life“ aus dem Jahr 2002. Besonders erwähnenswert


Typus

für eine weiterführende Lektüre ist die Studie „Kreative Industrien – Eine Analyse von Schlüsselindustrien am Beispiel Berlins“ von Dieter Puchta, Friedrich Schneider, Stefan Haigner, Florian Wakolbinger und Stefan Jenewein 3 . Diese Publikation enthält einen Überblick über die Wandlungsfähigkeit und den Werdegang der Definition von Kultur- und Kreativwirtschaft und soll Grundlage des ersten Teils dieses Abschnitts sein. Richard Florida geht davon aus, dass durch den Wegfall der traditionellen Industriezweige zahlreiche qualifzierte Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt vorhanden sind, die mit Hilfe von Umschulungen und Weiterbildungen nach und nach in die „Creative Economy“ überführt werden können. Er schreibt seiner „Creative Class“ einen sehr breit angelegten Berufsmix zu, der nach seiner Einschätzung bereits 30% der Erwerbstätigen ausmacht 4 . Manche seiner Argumente werden in diversen Studien bestätigt 5 , so z. B. auch die These, wonach es im Zuge des Wirtschaftswachstums weniger darauf ankommt, „welche oder wie viel Bildung Menschen mitbringen, sondern aber einen wichtigen Punkt, der zur Bildung der

p.59

wo sie tatsächlich arbeiten“. Richard Florida vernachlässigt


Kreativquartier — Erster Teil

­Creative Class und der ­Creative Economy wichtig ist   und der von den holländischen Vertretern nochmals aufgegriffen wurde. Denn er schreibt über die arbeitende Klasse unter dem Aspekt der Kreativität, vernachlässigt aber, dass diese durch ihre Anwesenheit signifikante Auswirkungen auf eine Stadt haben. Diese gegenseitige Beeinflussung möchten wir im folgenden als „urbane Vorzüge“ umschreiben, die schon in den frühen Theorien über das Humankapital zu finden sind. Es geht primär um urbane Vorzüge wie Kulturangebote, kulturelle Infrastrukturen, städtebauliche und soziale Umgebungen und die historische Bausubstanz, die der Kreativen Klasse Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Allen aktuelleren Diskussionen gemein ist die Erkenntnis, dass die Kreative Klasse nicht nur aus Künstlern oder kulturnahen Beschäftigungen bestehen  kann 6 . So weitet sich die Kreative Klasse in unterschiedliche Richtungen aus und wird unter sehr unterschiedlichen

p.60

Begriffen subsumiert.


Typus

„Die zunehmende Ökonomisierung der Kultur und das Auftauchen von symbolischen Ökonomien, in denen das Image bzw. der Zeichenwert eines Produktes (z. B. Marke) gegenüber der Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit immer mehr in den Vordergrund tritt, haben sich in den letzten Jahren zahlreiche Berufsfelder herausgebildet, die der Kreativwirtschaft zuzurechnen sind. Diese haben verstärkt zu freiberuflichen Formen der kulturellen und kreativen Erwerbsarbeit geführt. Diese sind an der Schnittstelle zwischen Ökonomie und Kultur zu situieren.“ 7

p.61

– Janet Merkel


Kreativquartier — Erster Teil

„Die Bedeutung der Kreativwirtschaft ist seit einiger Zeit bei der gezielten Entwicklung von Städten und deren Wirtschaftskraft in den Fokus gerückt. [...] Viele, die mit der Förderung und der Entwicklung von Städten und Regionen betraut sind, ­‚stolpern‘ jedoch bei der näheren Beschäftigung mit dem Thema immer wieder darüber, […] dass bereits der Begriff der ‚kreativen Industrien‘ ganz unterschiedlich definiert ist. Dies stiftet eine mit dem Thema verbundene potenzielle Verwirrung.“ 8

p.62

– Dieter Puchtai


Typus 1 Vgl. Department for Culture, Media and Sport, Creative Industries Mapping Document, London 1998 2 APuZ; Aus Politik und Zeitgeschichte; 34-35/2006 - 21. August 2006; Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament: Herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn; Redaktion: Dr. Katharina Belwe u.A.; Thema: Kulturwirtschaft, daraus: Kultur- oder ­„Kreativwirtschaft“: Was ist das eigentlich?, Andreas Joh. Wiesand, S. 8 3 „Kreative Industrien – Eine Analyse von Schlüsselindustrien am Beispiel Berlins“ von von Dieter Puchta, Friedrich Schneider, Stefan Haigner, Florian Wakolbinger und Stefan Jenewein; ISBN 978-3-8349-1581-8; Gabler Fachverlag, Wiesbaden 2009 4 APuZ; Aus Politik und Zeitgeschichte; 34-35/2006 - 21. August 2006; Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament: hg. v. der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn; Redaktion: Dr. Katharina Belwe u.A.; Thema: Kulturwirtschaft, daraus: Kultur- oder „Kreativwirtschaft“: Was ist das eigentlich?, Andreas Joh. Wiesand, S.9 5 vgl. Gerard Marlet/Clemens van Woerkens, Skills and Creativity in a Cross-section of Dutch Cities, Stichting Atlas voor gemeenten, Utrecht School of Economics, Universität Utrecht, Discussion Paper Series 04-29, 2004 6 u.a. vgl. Kevin Stolarick/Richard Florida/ Louis Musante, Montreal’s Capacity for Creative Connectivity,: Outlook & Opportunities, Montreal 2005, vgl. http://www.creativeclass.org

6 „Kreative Industrien – Eine Analyse von Schlüsselindustrien am Beispiel Berlins“ von Dieter Puchta, Friedrich Schneider, Stefan Haigner, Florian Wakolbinger und Stefan Jenewein; ISBN 978-3-8349-1581-8; Gabler Fachverlag, Wiesbaden 2009; aus: Vorwort, S. 5

p.63

6 „Kreativquartiere – Urbane Milieus zwischen Inspiration und Prekarität”, Janet Merkel; hg. v. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung; ISBN 978-3-89404-252-3; edition sigma, 2008; S. 11-24


Kreativquartier — Erster Teil

„The rise of the creative class and how it’s transforming work, leisure, community, and everyday life“, Richard Florida, Juni 2002

Forschungsberichte und Publikationen*

Creative Industries Mapping Document, London 1998

The Creative City: A Toolkit for Urban Innovators, Charles Landry, 2000

From Cultural to Creative Industries; Theory, Industry, and Policy Implications. Cunningham, St.; 2002

Creative Class

1. Kulturwirtschaftsbericht Sachsen-Anhalt, 2001

1. Kulturwirtschaftsbericht ­Mecklenburg-Vorpommern, 1997

Kulturwirtschaft in Niedersachsen. Quantitativer Befund und Schluss­ folgerungen für die wirtschaftspolitische Diskussion, 2002

1. Hessischer Kulturwirtschaftsbericht, Wiesbaden 2003

1. Kulturwirtschaftsbericht Schweiz, 2003

Bundesregierung, Kulturberufe. Statistisches Kurzportrait im Kulturberufemarkt in Deutschland 1995-2003, Bonn 2004

Skills and Creativity in a Cross-section of Dutch Cities, Gerard Marlet/Clemens van Woerkens, 2004

p.64

Endbericht: Untersuchung des ökonomischen Potenzials der „Creative Industries“ in Wien; Ratzenböck, V. u.a.; 2004 * Aufgrund der Fülle an Forschungsberichten und Publikationen, zeigen wir hier eine Auswahl, die im nachfolgenden Teil einge­arbeitet sind.


Typus Die Geographie der Kreativen Klasse in Deutschland, Fritsch, M., Stützer, M.; Jena, 2007

„Kreativquartiere – Urbane Milieus zwischen Inspiration und Prekarität“, Janet Merkel; 2008

The Art of City Making, Charles Landry, 2006

Potenzialanalyse Kreativwirtschaft im Großraum Graz. Traxler, J., Grossgasteiner, ­ S., Kurzmann, R., Ploder, M.; Graz, 2006

Talente, Technologien und Toleranz - wo Deutschland Zukunft hat; Kröhnert, S., Morgenstern, A., Klingholz, R.; Berlin, 2007

„Kreative Industrien – Eine Analyse von Schlüsselindustrien am Beispiel Berlins“ von Dieter Puchta, Friedrich Schneider, Stefan Haigner, Florian Wakolbinger und Stefan Jenewein; 2009

Definition Kultur- und Kreativwirtschaft

Land Hamburg, Kulturwirtschaftsbericht für Hamburg. Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung von künstlerisch-kreativen Leistungen in der Freien und Hansestadt Hamburg, 2006

1. Kulturwirtschaftsbericht für Berlin, Juni 2005

Montreal’s Capacity for Creative Connectivity,: Outlook & Opportunities, Kevin Stolarick/Richard Florida/Louis Musante, 2005

1. Kulturwirtschaftsbericht für den Freistaat Sachsen 2008

Kulturwirtschaft und Kreative Industrien 2007; Söndermann, M.; 2007

Bundesregierung, Monitoring zu ausgewählten wirtschaftlichen Eckdaten der Kulturund Kreativwirtschaft 2009

Deutscher Bundestag, Kulturund Kreativwirtschaft, Enquete-Kommission, 2007

Forschungsgutachten Kultur- und Kreativwirtschaft im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie (2009)

p.65

Deutscher Bundestag, Kulturwirtschaft in Deutschland – Grundlagen, Probleme, Perspektiven; Enquete-Kommission, 2006


Kreativquartier — Erster Teil

Eine Begriffsvielfalt Der nachfolgende Abschnitt soll die Bandbreite der unterschiedlichen Ansätze zur Beschreibung der Kreativen Klasse aufzeigen und den Begriff der Kultur- und Kreativwirtschaft eingrenzen. Die Verwendung des Begriffes „Kreative Industrien“ in der Literatur ist sehr unterschiedlich. Zahlreiche Definitionsansätze, machen einen Vergleich der Studien sehr schwierig. Eine allgemein anerkannte Definition sucht man vergeblich. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von ähnlichen Begriffen,

die

sich zwangsläufig inhaltlich über-

schneiden. Folgende Begriffe werden in der Literatur in diesem Zusammenhang am häufigsten genannt. 9,10 Nach kontinental9 APuZ; Aus Politik und Zeitgeschichte; 34-35/2006 - 21. August 2006; Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament: hg. v. der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn; Redaktion: Dr. Katharina Belwe u.A.; Thema: Kulturwirtschaft, daraus: Kultur- oder „Kreativwirtschaft“: Was ist das eigentlich?, Andreas Joh. Wiesand, S. 8-16 und eigene Ergänzungen 10 „Kreative Industrien – Eine Analyse von Schlüsselindustrien am Beispiel Berlins“ von Dieter Puchta, Friedrich Schneider, Stefan Haigner, Florian Wakolbinger und Stefan Jenewein; ISBN 978-3-8349-15818; Gabler Fachverlag, Wiesbaden 2009; Seite 21 und eigene Ergänzungen 11

europäischem Verständnis werden Kreative Industrien branchen- bzw. sektorenbezogen abgegrenzt. In angloamerikanischen Studien wird primär eine Auswahl von Berufen bzw. Tätigkeiten zur Untersuchung herangezogen. Insofern kann daher auch von einem volkswirtschaftlichen (kontinentaleuropäischen) bzw. soziologischen (angloamerikanischen) Ansatz gesprochen werden. Durch unterschiedliche Gewichtungen ist der Anteil kreativ Beschäftigter am Arbeitskräftepotenzial typischerweise in angloamerikanischen Studien höher 11.

Kulturwirtschaft

Cultural Industries Cluster Kulturgüter

Cultural Goods

Kulturökonomie

Cultural Economy

Kreativsektor

Creative Sector

Kreative Industrien

Creative Industries

Ebd. Seite 22

12 ebd. Seite 22 (Zitat aus „The rise of the creative class and how it’s transforming work, leisure, community, and everyday life”, Richard Florida; ISBN 9781864032567; Basic Books Reprint, 2003)

Creative Economy Kreative Klasse

12 „Kreativquartiere – Urbane Milieus zwischen Inspiration und Prekarität“, Janet Merkel; hg. v. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung; ISBN 978-389404-252-3; edition sigma, 2008

Creative Class Medien-Wirtschaft

12 Fritsch, M., Stützer, M.; Die Geographie der Kreativen Klasse in Deutschland. Raumforschung und Raumordnung, #65 (1), S. 15-29. Jena, 2007

p.66

Cultural Industries

Creative Capital Theory Copyright Industries Knowledge Economy IKT-Wirtschaft Content-Wirtschaft Medien-Wirtschaft


Soziologisch

+ Kreative Industrien ·M usik, darstellende Kunst, Film, Radio, TV · Werbung, PR, bildende Kunst, Kunsthandwerk, ­ esign, Architektur, kulturelles Erbe, Printmedien ·D ·S oftware, Internet, Telekommunikation

+ Creative Class ·W issenschaftler (z.B. Physiker) ·K reative Professionals (z.B. Anwälte, Unternehmensberater)

- Branchen- bzw. Sektorbezogen

- Berufe, Tätigkeiten

Produktionsorientiert

Typus

Volkswirtschaftlich

Verwertungsrechtebezogen

· Informations- und Kommunikationstechnologie ·C ontent-, Medien- und Kulturwirtschaft

· Copyright, Patent, Marken, Design

- Im Wesentlichen Inhalt vs. Technologie

- Erfindungen und Entwicklungen die sich schützen/ verwerten lassen

Angloamerikanischer Ansatz Die Art der ausgeübten Tätigkeit ist wesentliches Kriterium für die Einordnung zur Kreativen Klasse nach Richard Florida. „Mitglieder der Kreativen Klasse arbeiten innovativ, sie können Probleme identifizieren, Lösungen entwickeln und dabei Wissen auf neue Art und Weise einsetzen und neu kombinieren.“ Im Gegensatz hierzu, werden Berufe die hauptsächlich durch Routinetätigkeiten gekennzeichnet sind, nicht zur KreatiGrafik Kreativwirtschaft in Matrixform (Quelle: Puchta 2009)

ven Klasse dazugezählt. 12

Grafik Unterteilung der Kreativen Klasse nach Richard Florida (Quelle: Fritsch/Stützer)

Teil der Kreativen Klasse) unterscheidet Florida zwischen den

Nach Florida werden die Kreativen in drei Untergruppen gegliedert 13,14 . Neben den „Bohemiens“ (künstlerisch tätiger „Hochkreativen“ (innovative Menschen) und den „Kreativen Professionals“ (wissensintensive Bereiche).

Kreative Klasse

Hochkreative

Kreative Professionals

künstlerisch

innovativ

wissensintensiv

Schriftsteller bildende/darstellende Künstler Publizisten Fotografen … u.a.

Wissenschaftler Physiker Chemiker Mathematiker Informatiker u.a

Unternehmensbertungs- und Organisationsfachkräfte Finanz- und Verkaufsfachkräfte Anwälte Verwaltungsfachkräfte u.a.

p.67

Bohemiens


Kreativquartier — Erster Teil

Kontinentaleuropäischer Ansatz

„Im Modell der Kulturwirtschaft

In Kontinentaleuropa spricht man grundsätzlich von der Kul- bildet der Faktor ‚Kultur im tur- und Kreativwirtschaft. „Im Modell der Kulturwirtschaft bildet der Faktor ‚Kultur im weiten Sinne‘ das gemeinsame

weiten Sinne‘ das gemeinsame Merkmal. Im Modell der  Krea-

Merkmal. Im Modell der Kreativwirtschaft steht der Faktor

tivwirtschaft steht der Faktor

‚Kreativität‘ im Mittelpunkt.“ 15

‘Kreativität’ im Mittelpunkt.“

Darüber hinaus werden in der Literatur weitere Ansätze kontrovers diskutiert. So sprechen einige von dem horizontalen Ansatz (Subsumierung bestimmter Branchen unter der Kategorie „kreativ“) 16 und dem vertikalen Ansatz (wertschöpfungskettenbezogener Anteil an Kreativität für alle Branchen). Eine eindeutige Messung scheint auch hier schwierig, auch wenn der vertikale Ansatz zusätzlich in die Subsektoren „Erbringung der Vorleistung“, „Produktion“, „Vervielfältigung“ und „Verteilung“ gegliedert ist 17,18. Weiterhin kommt auch die Einordnung von geistigem Eigentum in Form von Patenten, Copyright und ähnlichen Indikatoren zur Diskussion und damit auch die Frage nach der Erfassung von Kreativität aus den Technologieindustrien. Die weiter gefassten Begriffe werden u. a. mit anderen Branchen ergänzt, z. B. mit der Informations- und Kommunikationstechnologie (die so genannte HCT-Wirtschaft) zur „Copyright-Industrie“ 19  ; oder das Research & Development zur „Creative Economy“ 20. John Howkins versteht unter „Creative Industries“ bzw. „Creative Economy“ die Summe aus den vier Wirtschaftsbereichen „Copyright-Industrie“, „Patent-Industrie“, „Marken-In-

Kreativbranchen Kulturwirtschaft

p.68

Kreativwirtschaft

dustrie“ und „Design-Industrie“ 21.

Verlagsgewerbe, Film- & Rundfunkwirtschaft Künstlerische und sonstige Gruppen Journalisten- / Nachrichtenbüros Museen/Kunstausstellungen Handel mit Kulturgütern Architekturmarkt

Werbemarkt Software- / Computerspieleindustrie

15 vgl. Söndermann, M.; Kulturwirtschaft und Creative Industrien 2007. Aktuelle Trends unter besonderer Berücksichtigung der Mikrounternehmen. Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Berlin, 2007 16 vgl. Kröhnert, S., Morgenstern, A., Klingholz, R.; Talente, Technologien und Toleranz - wo Deutschland Zukunft hat. Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Berlin, 2007 17 Ratzenböck, V., Demel, K., Harauer, R., Landsteiner, G., Falk, R., Leo, H., Schwarz, G.; Endbericht: Untersuchung des ökonomischen Potenzials der „Creative Industries“ in Wien; Wien, 2004 aus [Puchta, 2009, S. 25] 18 Traxler, J., S., Kurzmann, Grossgasteiner, R., Ploder, M.; Potenzialanalyse Kreativwirtschaft im Großraum Graz. Joanneum Research; Graz, 2006 aus [Puchta, 2009, S. 25]


Typus

1

2

3

4

5

Schöpferischer Akt

Produktion

Weiterverarbeitung

Vertrieb

Kulturgüter und Dienstleistungen

Unterstützende Dienstleistungen

19 Söndermann, M.; Kulturwirtschaftsberichte der Bundesländer: Viele Sprachen - ein Ziel? In: Däubler, Ch., Fesel, B.; Kulturwirtschaft 2005; Friedrich-Naumann-Stiftung; Büro für Kulturpolitik und Kulturwirtschaft; Berlin, 2006

Wie wir erkennen können, bietet die Begriffsvielfalt eine breite Diskussionsgrundlage für die Definition der Kulturund Kreativwirtschaft. In den letzten Jahren sind im mitteleuropäischen

Raum

zahlreiche

länderspezifische

Kreativwirt-

schaftsberichte entstanden, die sich diesen Begriffsgrundlagen bedienen und parallel eine eigene Definition versuchen zu formulieren. Unter solch unterschiedlichen Begriffen und den sich darunter verbergenden Konzepten, scheint es überraschend, dass sich dennoch langsam ein Konsens zur Kultur- und Kreativwirtschaft im europäischen Raum abzeichnet.

20 ICG culturplan Unternehmensberatung GmbH, STADTart Planungs- und Beratungsbüro; Gutachten zum Thema: „Kulturwirtschaft in Deutschland - Grundlagen, Probleme, ­Perspektiven“; Berlin, Graz, Dortmund, 2007 20 Cunningham, St.; From Cultural to Creative Industries; Theory, Industry, and Policy Implications. Media International Australia, Incorporating Culture & Policy #102. 54-65, University of Queensland, 2002 aus [Puchta, 2009, S. 25]

p.69

Zwischenfazit


Kreativquartier — Erster Teil

Kultur- und Kreativwirtschaft Abgrenzung Die Vielzahl von Begriffen und die enorme Bandbreite einzelner Definitionsansätze macht es schwierig, unsere Unter­ such­-

ung hinsichtlich der Programmatik in Kreativquartieren

einzu­grenzen. Fortdauernde Diskussionen um Begriffe wie Kreative ­Klasse oder Kultur- und Kreativwirtschaft haben zu einer Eingrenzung geführt, die mit den vorliegend untersuchten Kreativquartieren und deren Akteuren sowie unserem derzeitigen Verständnis von kreativer Arbeit die größte Übereinstimmung hat. Mit Hilfe dieser Eingrenzung ist es uns möglich, eine vergleichbare Quantifizierung vorzunehmen. Definition Kultur- und Kreativwirtschaft Nachfolgend wird die aktuell gültige Definition der Kul­tur- und Kreativwirtschaft im Forschungsgutachten Kultur- und Kreativwirtschaft im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie (2009) für Deutschland aufgezeigt, welche ­sowohl mit der europäischen Kernabgrenzung der EU-Kommission als auch mit dem britischen Creative-Industries-Konzept kompatibel ist. Unter Kultur- und Kreativwirtschaft werden diejenigen Kultur- und Kreativunternehmen erfasst, welche überwiegend erwerbswirtschaftlich orientiert sind und sich mit der Schaf­ fung, Produktion, Verteilung und/oder medialen Verbreitung von kulturellen/kreativen Gütern und Dienstleistungen befassen. Das Wirtschaftsfeld Kultur- und Kreativwirtschaft umfasst folgende elf Kernbranchen oder Teilmärkte: Musikwirtschaft, Buchmarkt, Kunstmarkt, Filmwirtschaft, Rundfunkwirtschaft, Markt für darstellende Künste, Designwirtschaft, Architekturmarkt, Pressemarkt, Werbemarkt sowie Software/Games-Industrie. Der wirtschaftlich verbindende Kern jeder kultur- und kreativwirtschaftlichen Aktivität ist der sogenannte schöpferi­ sche Akt. Damit sind alle künstlerischen, literarischen, kultur­ ellen, musischen, architektonischen oder kreativen Inhalte, ­Werke, Produkte, Produktionen oder Dienstleistungen gemeint, die als wirtschaftlich relevanter Ausgangskern den elf Teilmärk-

p.70

ten zugrunde liegen. Grafik Statistische Teilgruppen nach Teilmärkten (WZ 2003) (Quelle: Bundesministerium für Wirtschaft u. Technologie) * Schätzungen


Markt für darstellende Künste

·S elbstständige Musiker/innen, Komponist/innen · Musik- und Tanzensembles ·V erlag von bespielten Tonträgern und Musikverlage · Theater- und Konzertveranstalter ·B etrieb von Theatern, Opern, Schauspielhäuser ·S onstige Hilfsdienste des Kultur- & Unterhaltungswesens ·E inzelhandel mit Musikinstrumenten und Musikalien

· Selbstständige Bühnenkünstler/ innen · Selbstständige Artist/innen · Theaterensemble · Theater- / Konzertveranstelter · Betrieb von Theater, Opern, Schauspielhäusern, usw. · Varietes und Kleinkunstbühnen · Sonstige Hilfsdienste des Kultur- und Unterhaltungswesens · Tanzschulen · Weitere Kultur- / Unterhaltungseinrichtungen (Zirkus, Akrobat, Puppentheater)

Rundfunkwirtschaft

Typus

Musikwirtschaft

·R undfunk, Herstellung von Hörfunk und Fernsehprogrammen

Pressemarkt

· · · ·

Selbständige Journalist/innen Nachrichtenbüros Verlegen von Adressbüchern Zeitungs- & Zeitschriftenverlag

Buchmarkt

Schöpferischer

· Selbständige Schriftsteller/innen · Buchverlag · Einzelhandel mit Büchern

Akt

Werbemarkt

· Werbegestaltung & -vermittlung

Architekturmarkt Kunstmarkt

Software- / Gamesindustrie · Selbständige bildende Künstler/ innen ·K unsthandel, Museumsshops & Kunstausstellungen

Architekturbüros für: · Hochbau und Innenarchitektur · Orts-, Regional- und Landesplanung · Garten- und Landschaftsgestaltung

· Verlegen von Software · Softwareberatung & Entwicklung

Filmwirtschaft

· Selbständige Bühnenkünstler/ innen ·F ilm- / TV- & Videofilmherstellung ·F ilmverleih und Videoprogrammanbieter Kinos

· · · ·

rodukt- und Industriedesign P Modedesign Grafikdesign Kommunikationsdesign und Werbegestaltung

Sonstiges

· Restaurator/innen, Denkmalstätten · Bibliotheken / Archive ·B ot. Gärten, Zoos, Naturparks ·S chaustellergewerbe und Vergnügungsparks

p.71

Designwirtschaft


Kreativquartier — Erster Teil

Gesamtwirtschaftliche Perspektive Ohne die Werke und Leistungen der Schriftsteller, Komponisten,

Musiker,

Bühnenkünstler,

Filmemacher,

bildenden

Künstler gäbe es keine Kultur- und Kreativwirtschaft. Sie sind Urheber, Originärproduzenten oder Dienstleister, ohne die keine Filmfirma, kein Musikkonzern, kein Buchverlag und auch kein Galerist etwas zu verwerten und zu verbreiten hätte. Nicht zuletzt bewegen sich die selbständigen Künstler selbst in einer Künstler-, Kultur- oder Kreativszene, die durch Vielfaltsproduktion gekennzeichnet ist. Diese Vielfalt unterschiedlichster Produktionsformen wird von Professionellen, Semiprofessionellen oder Autodidakten geprägt, die in hartem, zum Teil ruinösem Wettbewerb zueinander stehen. Die Vielfaltsproduktion wird außerdem durch die Nutzung neuer Technologien, durch Digitalisierung und durch das Internet ständig weiter entfacht. Die selbständigen Künstlerberufe stehen somit in einem komplizierten Wirtschaftsumfeld, die zukünftig eine erweiterte wirtschaftspolitische und kulturpoliti-

p.72

sche Beachtung benötigen.

Grafik Bruttowertschöpfung, Forschungsgutachten Kultur- und Kreativwirtschaft der Bundesregierung 2009


Chemische Industrie

Energieversorgung

71 Mrd.

61 Mrd.

49 Mrd.

43 Mrd.

p.73

Kultur- und Kreativwirtschaft

74 Mrd.

Automobilindustrie

Maschinenbauindustrie

2,6 %

des deutschen BIP

Typus


Kreativquartier — Erster Teil

Zusammenfassung der empirischen Befunde Im Jahr 2008 existierten in der Kultur- und Kreativwirtschaft rund 238 300 Unternehmen und Selbständige. Sie erzielten zusammen ein Umsatzvolumen von insgesamt ­­ ­ 132 400 sozial­ versich­ er­ Milliarden Euro und konnten rund 763  ungspflichtig Beschäftigten einen Voll- oder Teilzeitarbeitsplatz bieten. Zusammen mit den Selbständigen arbeiten in der Kulturund

Kreativwirtschaft

in

Deutschland

rund

eine

Million

­Erwerbstätige. Insgesamt konnte die Kultur- und Kreativwirtschaft damit im Jahr 2008 schätzungsweise einen Beitrag in Höhe von rund 63 Milliarden Euro zur Bruttowertschöpfung leisten. Zu den Teilmärkten mit starker wirtschaftlicher Stellung der Großunternehmen zählen die Rundfunkwirtschaft sowie der Buch- und der Pressemarkt. Zugleich ist im Pressemarkt und in der Rundfunkwirtschaft die relative Bedeutungslosigkeit von Kleinstunternehmen zu beobachten. Die wichtigsten Märkte für Kleinstunternehmen sind der Kunstmarkt, der Markt für darstellende Künste, die Designwirtschaft, sowie der Architekturmarkt. Hier erwächst ein hoher Marktanteil des Umsatzes durch die große Zahl der Kleinstunternehmen, die als Einpersonenunternehmen oder Freiberufler im Markt tätig sind und im Schnitt zwischen 100 000 und 200 000 Euro Jahresumsatz erzielen. Zu den ausgeglichenen Teilmärkten, die in allen Unternehmensgrößenklassen mehr oder weniger gleiche Umsatzanteile aufweisen, zählen die Software-/Games-Industrie sowie die Filmwirtschaft. Die im Hinblick auf die Wachstumsdynamik wichtigsten Teilmärkte der letzten Jahre sind die Software- /Games-Industrie, die Designwirtschaft, der Markt für darstellende Künste und der Kunst-

p.74 p.74

markt 22 .

Grafik Umsätze in der Kultur- und Kreativirtschaft, (Quelle: Umsatzsteuerstatistik; eigene Berechnungen Michael Söndermann/AG Kultur- und Kreativwirtschaft 2008) * Anteil Gesamtwirtschaft


Typus

Kreativwirtschaft Erwerbstätige

Sonstiges Musikwirtschaft

Buchmarkt

Kunstmarkt Filmwirtschaft Rundfunkwirtschaft Darstellende Künste

Software & Games

3,3 %* Designwirtschaft

Werbemarkt Architekturmarkt Pressemarkt

Kreativwirtschaft Umsätze

Sonstiges Musikwirtschaft

Buchmarkt

Kunstmarkt Filmwirtschaft

Rundfunkwirtschaft Software & Games

2,5 %*

Darstellende Künste

Designwirtschaft

Werbemarkt

Architekturmarkt

Kreativwirtschaft

Kreativbranche

Kulturwirtschaft

Sonstiges

p.75

Pressemarkt



Tektonik — Bei der Untersuchung von Kreativquartieren können wir feststellen, dass die Beschaffenheit der Architektur im klassisch typologischen Verständnis keine ausschlaggebende Rolle spielt. Dabei genügt dem Nutzer, um ein Projekt zu verwirklichen, ein ­Minimum an gebauter Infrastruktur. Die Individualisierung und Aneignung, bzw. Veränderung seitens der Künstler und Kreativen wollen wir am Beispiel der Wagenhallen und ­ ­deren Transformationsprozesse analysieren.


Kreativquartier — Erster Teil

Tektonik | Wenn man Architektur hinsichtlich ihrer  Ge-

bäudestruktur untersucht, redet man in erster Linie über das Erscheinungsbild oder die Konstruktionsweise des Gebauten. Wenn man eine ganze Reihe von Gebäuden mit derselben Programmatik analysiert, versucht man Merkmale und Parallelen zu finden, welche die Gemeinsamkeit dieser Gebäude ausmachen. Diese werden mit Hilfe von Sprache und/oder einer Form von Abbildung beschrieben. Das größte Problem der Beschreibung ist die offensichtliche Reduktion auf das Wesentliche und es kommt zwangsläufig nur noch zu einer Teilbeschreibung des Ganzen. Das Gebäude wird durch die Be-schreibung in seiner Eigenschaft beschränkt, was aber wiederum für eine Klassifizierung und/oder Einordnung notwendig ist. (siehe Abschnitt Typologie als Untersuchungsstrategie) Bei der Untersuchung von Kreativquartieren können wir jedoch feststellen, dass die Beschaffenheit der Architektur im klassisch typologischen Verständnis keine ausschlaggebende Rolle spielt. Ein Minimum an gebauter

p.78

Infrastruktur genügt dem Nutzer, um ein Projekt zu verwirklichen. Vielmehr beobachten wir, dass Gebrauchs-


des als unfertige Ästhetik von immenser Wichtigkeit für

Tektonik

spuren eines bereits vorhandenen und genutzten Gebäudie Nutzer des Kreativquartiers zu sein scheint. So finden wir in Kreativquartieren oft Möglichkeitsräume vor, deren Nutzung wenige bis keine Regeln ­auferlegt werden. Das Vorgefundene wird wiederum stets einer Individualisierung und Aneignung, bzw. Veränderung seitens der Künstler und Kreativen unterzogen. Diese Tatsache weist nicht zuletzt auf eine Parallele zur gegenwärtigen Veränderungen unserer Gesellschaft hin, in der immaterielle Werte zunehmend im Vordergrund stehen. Wir beobachten einen Verlust an traditioneller Sicherheit innerhalb institutionalisierter StrukturenInteressant ist immer mehr die   Selbstverwirklichung des Individuums im großen Netzwerk, in dem Kommunikation und Beziehungen oberste Priorität haben. Auserdem kann man in den letzten Jahren von der zunehmenden gesellschaftlichen Bindungslosigkeit ­ im kirchlichen oder politischen Sinne sprechen (Michel Serres) was unsere Mitbürger lediglich noch zur KultiIndividualismus im soziologischen Sinne im ­„Cocooning“

p.79

vierung ihrer Privatsphäre drängt und der Triumph ­des


Kreativquartier — Erster Teil

endet. Der Individualismus findet seinen Ausdruck unter anderem im Konsum und mit einhergehend gibt es genügend Produzenten, die auf individuelle Bedürfnisse eingehen. Man könnte sogar noch einen Schritt weiter gehen und behaupten, das Netzwerk diene der immate-

p.80

riellen Selbstdarstellung des Individuums.


p.81

Tektonik


Kreativquartier — Erster Teil

„Wenn Sie sich auf einem   sinkenden Schiff befinden, das alle Rettungsboote schon   losgelassen hat, dann ist ein

Einführung Transformation „Wenn Sie sich auf einem sinkenden Schiff befinden, das alle Rettungsboote schon losgelassen hat, dann ist ein vorbeitreibender Klavierdeckel, mit dem Sie sich über Wasser hal-

vorbeitreibender Klavierdeckel, ten können, ein willkommener Lebensretter. Das heißt aber mit dem Sie sich über Wasser

nicht, dass die Formgebung von Klavierdeckeln das beste De-

halten können, ein willkomme-

sign für Rettungsringe wäre.“ 1

ner Lebensretter. Das heißt

Am Beispiel der Wagenhallen wollen wir Transformationspro-

aber nicht, dass die Formge-

zesse aufzeigen. Meist sind die Veränderungen am Gebäude

bung von Klavierdeckeln das

nur anhand von spezifischen Nachforschungen herauszufinden

beste Design für Rettungsringe

und entwickeln sich regelrecht zu einer Schatzsuche.

wäre.“

Die Wagenhallen wurden im Laufe ihres Bestehens mehrmals umgenutzt (vgl. Geschichte Wagenhallen). Nicht nur bei einer Nutzungsänderung, sondern auch während der Nutzung wurden Transformationen, Ergänzungen und Reparaturen am ­Gebäude vorgenommen. Anhand des nachfolgenden Bildmaterials soll der Transformationsprozess aufgezeigt werden. Dieser gibt einen Überblick über die Veränderung der vergangenen 100 Jahre und einen ersten Hinweis auf die Anpassung zum Kreativquartier der ehemaligen Typologie „Lokomotivremise“.

Waggons

p.82

Wagenhallen

1 R. Buckminster Fuller, Einleitung: Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde und andere Schriften, FUNDUS Bd. 137, Philo Fine Arts; ISBN-13: 978-3865724151, 3. Auflage, April 2010


Tektonik

Wohngebäude 2+3

Werkstattanbau

Verwaltungsanbau

Hallen-Freifläche

Kunstverein Wagenhallen e.V.

Veranstaltungsbereich

Künstlergemeinschaft Stgt.-Nord

Transformation Wagenhallen Bereits wenige Jahre nach der Eröffnung der Wagenhallen im Jahr 1894 kann man Veränderungen am Gebäude erkennen. In der Zeit des ersten Weltkrieges und der Materialverknappung ist im hinteren Teil der Wagenhallen eine Pufferbohle und ein alter Waggonrahmen der KWStE (mit Herstellerkennzeichnung) als verstärkendes Element in der Wand verbaut. Auch die ursprünglichen Gleisnummerierungen über den gemauerten Einfahrtstoren behielten nur kurze Gültigkeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Lokotivremise zum Busdepot und Buswartungszentrum umgebaut, weswegen die Gleise und die Schiebebühne im Hallenquerflügel III entfernt wurden. Im Jahr 1964 wird der Bau umfassend renoviert. Der neue Verwaltungsbau im hinteren Teil entsteht und die alten Tore werden durch größere Rolltore ersetzt. Im Zuge des Umbau muss die alte Lüftungstechnik mit den beweglichen und festen Rauchfängern von dampfbetriebenen Lokomitven weichen. Bis zum 1. Juli 2003 wird der Bau von der Regional-Bus-Stuttgart genutzt und geht anschließend an die Stadt Stuttgart über, welche die Hallen für kreativ Schaffende öffnet. Seither werden von den Nutzern der Wagenhalle Anpassungen am Gebäude vorgenommen. Die zeitlich neuesten Veränderung sind in den ausgeschäumten Lüftungsschlitzen, den zu­ und vielen kleinen Transformationen sichtbar und werden auf den nachfolgenden Seiten gezeigt.

p.83

gemauerten Fensteröffnungen, den angebauten Gebäudeteilen


Kreativquartier — Erster Teil

Verhältnis* ursprüngliche Bausubstanz 1894 zu noch vorhandenem Bestand 2013

Verhältnis* noch bestehende Bausubstanz 1894 zu Anbau und Umbau bis 2003

Verhältnis* vorgefundene Bausubstanz 2003 zu Einbau und Umbau durch Kreative 2012

p.84

* Grundlage dieser Untersuchung sind die laufenden Meter Wand aus vorliegendem Planmaterial der entsprechenden Jahre. Damit sind auch die einzelnen Stellwände und Änderungen der Kreativen messbar. Hinweis: eine genaue Analyse der Gebäudesubstanz der Wagenhallen finden Sie in der Broschüre Tektonik.

77 % noch vorhanden

81% Ursprung

65 % vorgefundene Bausubstanz

23 % abgerissen

19 % Anund Einbau

35 % Ein- und Umbau


1917

Tektonik

1894

5 Werkstätte

4

Werkstätte

3 4

Halle VI

Königliche Lokomotivstation a. d. Prag

3

Halle VI

2

2 Wagen-Werkstätte

Halle II

Halle II

Halle I

Halle I

Schiebebühne

1925

1936 5 Werkstätte

4

Werkstätte

3 4

Halle VI

3

Halle VI

2

2 Ausbesserungswerk

Halle II

Halle II

Ga

en rag

Bahnbetriebs-Wagenwerk

Halle I

om str er ark ag St offl st

Halle I

Überdachte Lackierfläche

1963

2012

Werkstätte

4

3

3

Halle VI

2 Kraftwagenhalle

2 Wagenhallen

Halle II

om str er ark ag St offl st

Halle I

Einbauten/Umbauten der Kreativen Überdachte Freifläche

p.85

Überdachte Lackierfläche


Kreativquartier — Erster Teil Anbauen I Ende der 1920er Jahre wird das Bahnbetriebs-Wagenwerk verkleinert. Schienen fallen der Umstrukturierung zum Opfer, zusätzliche Werkstattbauten werde angebaut. Anbauen II Hinter dem Anbau ist die ursprüngliche Hallenzufahrt noch zu erkennen.

p.86

Anbauen III Der hintere Teil wird mehrmals umgebaut. Nach einem Kantinenanbau in den 1960er Jahren, erfolgt bald darauf der Umbau zum Verwaltungstrakt. Anbauen IV Eingänge und Zufahren werden oft „temporär“ von den kreativen Nutzern mit kleinen Anbauten erweitert.


p.87

Tektonik


Kreativquartier — Erster Teil Einbauen I Ein Hochregal teilt die Halle zwischen Werkstattbau und der Freifläche. Einbauen II Kreative bauen sich Wände aus unterschiedlichen Materialien und Objekten.

p.88

Einbauen III Feste Einbauten grenzen spezifische Nutzungen voneinander ab. Einbauen IV Feste Einbauten als Büroräumlichkeiten ergänzen das Nutzerprofil.


p.89

Tektonik


p.90

Kreativquartier — Erster Teil


Tektonik Umwidmen I Die Freifläche wird mehrmals im Jahr umgewidmet. Sommer: primär kreative Freifläche Winter: Stellplatz für Wohnwägen, Marktstände, etc. Umwidmen II Die ehemalige Rangierfläche vor den Hallen ist heute ein Biergarten des Veranstaltungsbereiches.

Umwidmen IV Die Waggons auf dem Nordbahnhofgelände wurden zum Wohnen, Arbeiten und zur Freizeitgestaltung umgewidmet.

p.91

Umwidmen III Der nach den 1920er Jahren als Werkstatterweiterung genutzte Fläche ist heute der Veranstaltungsbereich.


p.92

Kreativquartier — Erster Teil


Tektonik Modernisieren I In den 1960er Jahren wird das Bahnbetriebs-Wagenwerk zum Kraftwagenwerk umgebaut. Die kleinen Einfahrtstore müssen elektrischen Rolltoren weichen, damit ein Bus hindurchpasst. Modernisieren II Ein längerer Aufenthalt mit unterschiedlichen Tätigkeiten erfordern einen erhöhten Komfort.

Modernisieren IV Im hinteren Teil des Gebäudes wurden mehrere Fassadenöffnungen durch zeitgenˆssische Fenster modernisiert.

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Modernisieren III Zum Lärm- und Wärmeschutz wurden im Veranstaltungsbereich innenliegende Isolierglas-Fenster angebracht.


Kreativquartier — Erster Teil Ergänzen I An mehreren Stellen in der Halle ist eine funktionelle Ergänzung zu finden. Ergänzen II Je nach Sicherheitsanforderung werden die alten Holztore ersetzt und die Fläche davor zum Aufenthaltsbereich umgewandelt.

p.94

Ergänzen III Räume und Zugänge werden je nach Nutzung funktionell ergänzt. Ergänzen IV Eine funktionelle Ergänzung findet sich an unterschiedlichsten Stellen.


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Tektonik


p.96

Kreativquartier — Erster Teil


Tektonik Reparieren I Bauschäden werden mehr oder weniger notdürftig von den Nutzern repariert. Reparieren II Ursprüngliche Öffnungen für den Rauchabzug haben keine Funktion mehr und werden zugemauert.

Modifizieren II Neue technische Anforderungen an Veranstaltungsbereiche erfodern kostengünstige Modifizierungen.

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Modifizieren I Überflüssige Wandöffnungen werden kostengünstig von den Nutzern modifiziert.


Kreativquartier — Erster Teil Umfunktionieren I Fundstücke aus der Umgebung werden für neue Zwecke kostengünstig umfunktioniert. Umfunktionieren II Ein alter Waggonrahmen der KöniglichWürttembergischen Staatseisenbahn (mit Herstellerkennzeichnung) wurde Anfang des 20 Jhd. als verstärkendes Element in der Wand verbaut.

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Umfunktionieren III Ein alte Pufferbohle von den wegfallenden Gleisabschnitten wurde als verstärkendes Element in der Wand verbaut. Umfunktionieren IV Übrig gebliebenes Baumaterial wurde als verstärkendes Element in der Wand verbaut.


p.99

Tektonik



Binz | Kreativquartier in Zürich Einführung p. 100 – 109 | Urbaner Kontext p. 110 – 121 |  Geschichte p. 122 – 125 | Gebäude p. 126 – 129 | Organisation p. 130 – 131 |  Gebäudenutzung p. 132 – 139 |Akteure p. 140 – 143 | Ende p. 144 – 147 |




p.104

Binz – Zürich


p.105

Einführung


p.106

Binz – Zürich


p.107

Einführung


Binz – Zürich

Einführung — Binz | „Sie sind nicht legal, auch nicht illegal,

nur geduldet.“ In der Binz lebt die Familie Schoch. So nennen sich die derzeit etwa 55 Bewohner, die das ehemalige Fabrikareal an der Uetlibergstrasse 111/111a in Zürich seit 2006 besetzen. Sie sind eine selbstverwaltete Gemeinschaft, mit der Intention, „vielen Menschen eine Existenz und Raum für die Verwirklichung ihrer Ideen“ zu bieten. Das Projekt kann als alternatives Wohn- und Kulturkollektiv verstanden werden. Die beiden alten Fabrikhallen auf dem ca. 5000 qm großen Gelände beherbergen neben den Wohn- und Gemeinschaftsräumen viele ­verschiedenen Werkstätten, Proberäume oder Veranstaltungsräume. Die Hallen sollen Möglichkeitsraum für unterschiedlichste Menschen bieten und ihre Nutzer haben nicht das Ziel, sich zu vermarkten oder zu einer Institution zu werden. Die Gebäude befinden sich seit 1983 im Besitz des Kantons Zürich. Seit diesem Zeitpunkt wurde bereits mehrfach versucht, Umbau- und Neubauprojekte auf dem Grundstück zu realisieren. Abbruchtermine für das

p.108

aktuellste Neubauprojekt werden schon seit 2009 regelmäßig verschoben. Zum jetzigen Zeitpunkt besteht kein


Bis ein endgültiger Termin feststeht, wird die Besetzung

Einführung

fertiges Projekt, geschweige denn, eine Baubewilligung. unter bestimmten Auflagen vom Kanton geduldet und bis dahin wollen die Bewohner um ihre Räume kämpfen und nicht zuletzt zeigen, dass die Stadt solche Freiräume braucht. „Ein einzigartig leidenschaftlich chaotisch subkulturell selbstbe-

1

Schwerpunkt megaton Nr.371, Sept.2012

p.109

stimmtes Universum.“ 1


Binz – Zürich p.110

Binz

Uetlibergstrasse 111/111a 8045 Zürich Schweiz

1 : 10 000


Urbaner Kontext

Wiese Wald Wiese Wasser Wald Wiese Wiese

Wasser

Wald Wald

Wohnen Handel und Gewerbe

Wasser Wasser

Gastronomie Wohnen

öffentliche Handel undGebäude Gewerbe/ So Industrie Gastronomie Wohnen Wohnen Handel Handel und und Gewerbe Gewerbe

weiß, öffentliche Gebäude / So weiß, Outlin Outlin Kreativquartier Industrie 20% 20% schwar schwar

Gastronomie Gastronomie

40% 40% schwar schwar Kreativquartier öffentliche 60% öffentliche Gebäude Gebäude // Sonderbauten Sonderbauten 60% schwar schwar Bus Industrie 80% Industrie 80% schwar schwar Tram Kreativquartier Kreativquartier

U-Bahn Bus

100% 100% schwa schwa

S-Bahn/Zug? Tram Citybike U-Bahn Station Bus Bus Bus

Linie Fähre S-Bahn/Zug S-Bahn/Zug? Linie 0,25 0,25 m m

Tram Tram Tram

Haltestelle Linie Haltestelle Citybike Station Linie 0,25 0,25 m m

U-Bahn U-Bahn

Fähre

p.111

Infrastruktur

Linie Linie 0,35 0,35 m m


Binz – Zürich p.112

Zonenplan

Industriezone Erholungszone

Wohnzone Wohnzone Wohnzone Wohnzone

(2G) (3G) (4G) (5G)

Zentrumszone (5G) Zentrumszone (6G) Zentrumszone (7G)

Quartier­erhaltungszone Zone für öffentl. Bauten


Urbaner Kontext

Wiese Wiese Wald

Wiese

Wald

Wald

Wasser

Wiese

Wasser

Wasser

p.113

Natur

Wald


Binz – Zürich

Goldbrunnenplatz

Gotthelfstrasse

Höfliweg

Manesseplatz

Binz-Areal Bahnhof Giesshübel

Saalsporthalle

p.114

Quartier Alt-Wiedikon

im Kreis 3 8669 Einwohner pro km2 71 % Wohngebäude

Alt-Wiedikon befindet sich mitten in einem Transformationsprozess und ist in einem dynamischen Wandel. Viele Alt­ bauten aus dem frühen 20.Jahrhundert müssen Neubauten weichen. Besonders um das Binz-Areal, den Bahnhof Giesshübel und im Manesseraum sind einige Neu- und Ersatzbauten geplant bzw. befindensich bereits im Bau.


sonstige Nichtwohngebäude 11 % 7%

Nutzbauten 24 % 22 %

Urbaner Kontext

Gebäudestand

Stadt Zürich Quartier Alt-Wiedikon

Mehrfamilienhäuser und übriges Wohnen 47 % 62 %

Einfamilienhäuser 18 % 9%

Grafik Quelle: Statistik Stadt Zürich (Stand 2010)

Kultur- und Kreativwirtschaft Betriebe in der Kultur- und Kreativwirtschaft

15,9 % Stadt Zürich 27,1 % Kanton Zürich Schweiz

12,2 % Stadt Zürich 24,6 % Kanton Zürich Schweiz

3-Jahresveränderung

3-Jahresveränderung

18,0 % Stadt Zürich 13,0% Kanton Schweiz 08,0% Schweiz

18,0 % Stadt Zürich 13,0% Kanton Schweiz 08,0% Schweiz

Grafik Quelle: BZ 2008 BfS; Research Unit Creative Industries(RUCI), ZHdK; eigene Berechnung (Cluster-Bericht 2009/2010 Kanton Zürich)

p.115

Beschäftigte in der Kultur- und Kreativwirtschaft


Binz – Zürich p.116

Binz Areal

Giesshübel Areal

Eines der letzten zentral gelegenen Industriegebiete. Kreative Nutzung vor allem in der Räffelstrasse, Binzstrasse und ­Grubenstrasse.

Unterliegt seit 2006 einem enormen Aufwertungsprozess. Kreative Nutzung vor allem in der Staffelstrasse und Edenstrasse.

1

„Basislager“ (2009 — 2012) temporäre Ateliersiedlung

4

Staffelstrasse - diverse Ateliers ehemaliges Verlagshaus

2

„Supertanker“ Kreativbüros und Ateliers

5

„Lagerhaus 62“ Umnutzung zu Wohn- und Atelierlofts

3

„Schule für Kunst und Design“ 6

„Sihlcity“ Urban Entertainment Center ehemaliges Fabrikareal


p.117

1

2

3 4

5

6

Urbaner Kontext


m 250

Binz – Zürich

m 150 0 15 m

p.118

ÖPNV

Erreichbarkeit 250 m Binz Bahnhof & Haltestelle (ca. 3 min Fußweg)

1 : 5 000 150 m Laubegg Haltestelle (ca. 4 min Fußweg)

200m Giesshübel Bahnhof (ca. 10 min Fussweg)


Zürich Binz Bahnhof (Bahn)

Zürich Giesshübel Bahnhof (Bahn) 5min — Hbf

Urbaner Kontext

Zürich Binz Haltestelle (Bus)

Zürich Laubegg Haltestelle (Bus & Tram) Zürich Sihlcity Haltestelle (Bus) Zürich Saalsporthalle Haltestelle (Bus & Tram)

Zürich Saalsporthalle Bahnhof (Bahn)

p.119

Umgebungsaxonometrie


Binz – Zürich p.120

Nutzung A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z AA BB CC DD EE FF GG HH II

coop Supermarkt NIYA Supermarkt Saravanabavan Asian Restaurant Ristorante Bar Pizzeria Paestum Teehaus Ch‘a Menara Reisen Pizzeria Verona ploy thai restaurant hongbin Massagen Praxis Boon Miki Coiffeur Pizza Kurier 10‘ Haltestelle Binz Mezzo Pizzeria Bäckerei Buchmann Vietnam Restaurant Coiffeur Denner Shop AVIA Tankstelle Restaurant Utoburg Binz Restaurant Take-Away Elektra Zürich Apotheke Kiosk Uniteti Kebab Restaurantt Musikhaus Kubli Kantonale Verwaltung Die Post Kiosk Multi-Kulti Die Post HAUG Stickerei Bettwäschefabrik Restaurant Swaad Haltestelle Laubegg WOX Hairdresser Städt. Kindergarten Laubegg iGuzzini Illuminazione Bürokomplex Uetlihof


D F

J

I

B C

Urbaner Kontext

A

E

H K

L M O P

Q R S

W

X Z

V

T

Y AA

BB

CC

DD GG

FF

EE

HH

p.121

II


Binz – Zürich Geschichte der Binz 1894 – 2006

Besitzer:

Color Metal AG

Kanton Zürich

1894 Bau der Fabrikationshallen der Color Metal AG (Metallwarenfabrik)

1983 Der Kanton Zürich erwirbt die Hallen und plant ein Mehrzweckgebäude für die Datenverarbeitung des Kantons (EDV), die Kantonale Drucksachen- und Materialzentrale (KDMZ) und das Bezirksgefängnis (BGZ). Diese scheitern an baurechtlichen Regelungen.

Geschichte der Binz 2007 – 2009

Besitzer:

Kanton Zürich

2007 Pläne für den Freestylepark werden aufgrund von Verzögerungen durch Einsprachen eines benachbarten Hausbesitzers aufgegeben.

April 2009 Der Kanton Zürich leitet ein Submissionsverfahren* zum Abbruch der Gebäude ein.

Juni 2009 Der Gebrauchsleihvertrag mit der Stadt Zürich endet. Zuständigkeit und Verwaltung wechseln wieder zum Kanton.

p.122

*Def.: Submissionsverfahren Ein Verfahren der Preisgestaltung, bei dem die Anbieter ein Angebot zur Lieferung eines bestimmten Produkts gemäß bestimmter Spezifikationen vorlegen können. Das Angebot beinhaltet den Preis und weitere Lieferbedingungen.


Geschichte Stadt Zürich in Gebrauchsleihe*

Zwischennutzung

Keine Angaben verschiedene Mieter

Leerstand

Besetzung

2006 Kündigung aller Mieter Pläne der Stadt für einen provisorischen Freestylepark.

Mai 2006

* aus der Systematische Sammlung des Bundesrechts: Kündigung aller Mieter SR 220 - Bundesgesetz betreffend die Ergänzung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Fünfter Teil: Obligationenrecht) vom 30. März 1911 (Stand am 1. März 2012) — Zweite Abteilung - Die einzelnen Vertragsverhältnisse Neunter Titel - Die Leihe Erster Abschnitt - Die Gebrauchsleihe — A. Begriff Art. 305 Durch den Gebrauchsleihevertrag verpflichten sich der Verleiher, dem Entlehner eine Sache zu unentgeltlichem Gebrauche zu überlassen, und der Entlehner, dieselbe Sache nach gemachtem Gebrauche dem Verleiher zurückzugeben.

1. Juli 2009 Planmäßiger Abbruchbeginn laut Submissionsverfahren. Allerdings macht der Kanton eine mündliche Zusage gegenüber den Besetzern zum frühesten Abbruchtermin Ende September.

1. November 2009 Geplanter Abbruchbeginn für Sondierungsarbeiten. Aussicht auf Baurechtsvergabe in 2010 und möglicher Baubeginn 2012.

p.123

Das Immobilienamt plant eine Altlasten-Sondierung vor Verkauf der Gebäude. Geologen erachteten den Abbruch der Gebäude dafür als zwingend.


Binz – Zürich

*Das Immobilienamt duldet die Besetzung unter folgenden Voraussetzungen: Keine Behinderung der Sondierarbeiten; die Räumung des Areals per 1. August 2010; die Bereitstellung einer Sicherheitsleistung über CHF 20.000 für die allfällige Entsorgung von Sperrmüll aus der Zeit der Besetzung.

Geschichte der Binz 2010 –

rechts: Binz-Besetzer bei der Bezahlung der Kaution mit 400.000 Fünfräpplern. „Ihr bekommt die Fünfer, wir behalten das Weggli.“

Die Besetzer der Binz äußern ihre Zweifel gegenüber dem Kanton, woraufhin dieser eine weitere Meinung zur Notwendigkeit der Abbrucharbeiten einholt. Ein weiterer Geologe bestätigt die Sondierung ohne Abbruch. Mit Auflagen* wird die Besetzung der Binz weiterhin geduldet.

August 2010 Geplanter Räumungsbeginn. Stattdessen renovieren und sanieren die Besetzer die Gebäude in Eigenregie.

Februar 2012 Die Liegenschaftsverwaltung Kanton AG gibt der Pensionskasse Stiftung Abendrot den Zuschlag für das Baurecht auf dem Areal.

p.124

Der Kanton plant in Zusammenarbeit mit Werner Hoffmann 180 Studios für Universitätsspital-Personal, sowie 150 „studentboxes“


Geschichte Aus dem Tagesanzeiger vom 20.08.2010

Stellungname der Binz vom 16.02.2013

„Die Leute werden im Moment noch geduldet“ sagt Thomas Maag, Sprecher der Baudirektion. Weil kein neuer Abbruchtermin für die Fabrikhallen feststehe, gebe es auch noch kein neues Ultimatum. (...) Wollte der Kanton ursprünglich das Land im Baurecht abgeben, steht jetzt der Eigenbedarf des Kantons im Vordergrund. Die Abgabe im Baurecht sei „nicht mehr prioritär“. (...) Auch auf politischer Ebene ist das Areal in der Binz wieder aktuell: Die SP-Gemeinderätinnen Jacqueline Badran und Rebekka Wyler haben ein Postulat eingereicht mit der Forderung, die Stadt solle das Areal kaufen und einer „nicht gewinnorientierten Gewerbe- und Wohnnutzung“ zuführen. Bezahlbarer Raum für das Kreativgewerbe und für Kulturschaffende sei in der Stadt ebenso Mangelware wie günstiger Wohnraum für den Mittelstand.

„Insgesamt ein absurder Prozess: Die jetzt bestehenden Studentenwohnungen im Hotel Atlantis (in Zürich) sollen einem Luxushotel für die wenigen SuperverdienerInnen der Welt weichen. (...) Das Grundstück beim Atlantis ist gross genug, dass darauf auch noch eine Lego-Container Siedlung, wie sie in der BINZ geplant ist, Platz findet und die Spitalpersonal-Studios ebenfalls dort untergebracht werden können. Es ist nicht nachvollziehbar, dass dafür ein lebendiger Freiraum in Zürich überhaupt abgerissen werden soll. (...) Das Argument, dass nach dem Abriss des jetzigen Industrieareals in der BINZ auf dem Areal mehr Menschen wohnen als jetzt, ist entsprechend der Bauvorhaben im Hotel Atlantis und anderswo in der Stadt total irreführend. Verwunderlich ist auch, dass die Stadt Zürich und insbesondere das Amt für Städtebau nicht in die Planung des Projekts miteinbezogen wurden. (...)“ Quelle http://www.binzbleibtbinz.ch/binz2013.pdf

31. Mai 2013 von der Verwaltung gesetzter Auszugstermin. Das geplante Projekt befindet sich in der Planungsphase.

Juni 2013 Geplanter Abriss und AltlastenSanierung durch den Kanton.

Oktober 2014 Geplanter Baubeginn, gemäß Studienauftrag.

März 2013 Geplanter Bauabschluss gemäß Studienauftrag.

p.125

31. Mai 2013 Die Nutzer der BINZ verlassen das Gelände ruhig in der Nacht auf den 31.Mai 2013 und ziehen weiter.




Binz – Zürich

Aussenraum & Zugänge

Ab ste l

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p.128

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Gebäude

Die Haupterschliessung des Geländes erfolgt über die Uetlibergstrasse. Von der Strasse aus sind die Hallen kaum sichtbar.

Hauptsächlich im Bereich zwischen den beiden Hallen halten sich die Nutzer auf. Von hier führen diverse Türen und Tore in die Hallen und deren Nebenräume.

p.129

Ansicht von den Abstellgleisen des Bahnhof Giesshübel, im hinteren Teil des Grundstücks.


Binz – Zürich

Organisation Die Binz funktioniert selbstorganisiert und basisdemokratisch. Zweimal im Monat findet eine Versammlung aller Bewohner und Nutzer statt. Hier wird diskutiert und es werden gemeinsam Entscheidungen getroffen. Organisatorische Strukturen sind lediglich in Form von wenigen Gruppierungen innerhalb der Bewohner zu finden. Die Gruppen formieren sich um gemeinsame Küchen, die wiederum Aufenthalts- und Gemeinschaftsraum für die Bewohner sind. Die Küchen Die Gemeinschaftsküchen können als räumliche Organisation betrachtet werden. Sie bilden zentrale Räume und haben darüberhinaus eigene Namen:

1. Juppi-Küche — „’Juppi’, weil sie immer ein bisschen mehr Geld haben als die anderen.” (Zitat David) Oft sind das Studenten oder junge Leute aus der Punkszene.

2. Benzino-Küche — Die älteste Küche. Und „Benzino“, weil ein Italiener namens Benzino hier früher einen kleinen Imbiss betrieben hat.

3. Gemeinschaftsküche — Die größte Küche. Durch ihre zentrale Lage auch oft soziale Auffangstation für Gäste. 4.

Ikea-Front — Weil sie hier alles selbst bauen, und das sogar ziemlich professionell.

5.

Ostblock — Weil die Küche eben im Osten liegt.

monatlich 5 000 SFR (entspricht den Nebenkosten)

In regelmäßigen Versammlungen der Bewohner und Nutzer wird basisdemokratisch entschieden. Untergruppen im Gesamtgefüge sind die Küchen.

p.130

Spannung zwischen Besitzer und Besetzer: Der Besitzer will sein Grundstück (gemeinhin) vermarkten. Die Besetzer wollen den (noch) freien Raum nutzen. Ein möglicher Lösungsansatz liegt in der Moderation und Förderung von (geplanter) Zwischennutzung. (s. auch Abschnitt Zwischennutzung)

Besitzer Kanton Zürich

Besetzer/Zwischennutzer Nutzer und Bewohner der Binz

Stadt Zürich

Organisationsstruktur


Organisation

Hard Facts Grundstücksfläche: ca. 6 000qm Grundstücksfläche große Halle: ca. 3 200 qm Grundstücksfläche kleine Halle: ca. 800 qm Eigentümer: Kanton Zürich Eigentümer: Color Metall AG (Bau 1984)tr Besetzung & Zwischennutzung: Kultur- und Kreativnutzung Binz Zeitraum: 2006 – 2013 Mietkosten: 5.000 SFR /Monat (Der Betrag wird von den ca. 50 Bewohnern der BINZ an die Stadt Zürich bezahlt – das entspricht in etwa den Nebenkosten.)

Dachstuhl Wohn- u. Aufenthaltsräume Lager

2. Obergeschoos Wohn- u. Aufenthaltsräume Dachterrasse

1. Obergeschoss Wohn- u. Aufenthaltsräume Bibliothek Gästezimmer Siebdruck-Werkstatt

Große Halle – ca. 3200 qm

Kleine Halle – ca. 800 qm

p.131

Erdgeschoss Gemeinschafts- u. Veranstaltungsräume versch. Werkstätten Lager, Ateliers, etc.


Binz – Zürich

Gebäudenutzung Alles in den Hallen befindet sich in ständiger Transformation. Individuell, provisorisch, kreativ und informell wird der Bestand kontinuierlich verändert. Viele Räume ändern in diesem Prozess auch ihre Nutzung. Zum Zeitpunkt der Untersuchung befinden sich in der Binz folgende Nutzungen: Velowerkstatt, Metallwerkstatt, Schreinerei, Autoschraubplätze, Siebdruckerei, Fotolabor, Offset-Druckerei, Bar, Bandraum, Tonstudio, Bibliothek, Gratisladen, Freecycle-Shop, Trainingsraum, Kostümverleih, wenige Ateliers, Miniramp, Kletterwand, Dachgarten und viele verschiedene Aufenthaltsräume zwischen unzähligen

p.132

Kunst- und Spaßobjekten.


Gebäude Kleine Halle

Große Halle

Schnitt A

Schnitt B

1:5 000

10 Meter

p.133

Schnitt C


C

C

B

A

Binz – Zürich

23

24

22

A

B

25 26

C

A

B

1. Obergeschoss

6

2

3

8

7

5

9 C

3

10

4 1

12

11

13

14

21

20 A

19

15

B

18

17

16

p.134

Erdgeschoss

1 Frauensyndikat 2 Miniramp 3 Metall-Werkstatt & Auto-Schrauberplatz 4 Töff (Motorrad-Werkstatt) 5 Fotolabor 6 Waschküche und WCs 7 Autoabstell und -werkstatt 8 Trainings- & Bewegungsraum 9 Konzertraum 10 (früher) Metallwerkstatt

1:5 000

11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

Lagerpark Gemeinschaftsküche „Freecycle-Market“ Gratis-Laden Atelier (privat) „Ikea-Küche“ Velo-Werkstatt Atelier & Aufenthalt Lukas Zimmer „Benzino-Küche“ Davids Wohnwagen


Gebäude

C

C

B

A

28

29

A

B

30

C

A

B

C

B

A

Dachgeschoss

22 23 24 25 26 27 28 29 30

Bibliothek „Juppieküche“ Kostümverleih Gästezimmer Siebdruck-Werkstatt „Ostblock-Küche“ Dachstuhl Wohnzimmer Dachterrasse

10 Meter

Hinweis: Nicht bezeichnetet Räume sind mit großer Wahrscheinlichkeit Wohn- und Schlafräume, sowie Atelier- und Aufenthaltsräume.

Stand 06.2012 Erstellt nach Gesprächen und Besichtung mit Bewohnern der Binz. Zeichnungen ohne Gewähr auf Richtigkeit.)

p.135

2. Obergeschoss


Binz – Zürich — Große Halle

— Autoschraubplatz

p.136

— Miniramp

— Freecycle-Market


Gebäude — „Benzino“-Küche

— „Ikea“-Küche

— Aufgang zu Lukas Zimmer

p.137

— Gratis-Laden


Binz – Zürich — Gästezimmer

— Dachstuhl

— Siebdruck-Werkstatt

p.138

— Dachterrasse

— Bibliothek


Gebäude p.139

— verschiedene Behausungsarten in und um die Hallen


Binz – Zürich

Akteure In den Vergleich der Erwerbstätigen im Kultur- und Kreativwirtschaftssektor (s. Kultur- und Kreativwirtschaft) können die Nutzer der Binz nur schwer, bzw. gar nicht eingeordnet werden. Der Idealismus der Nutzer und Bewohner der Binz lebt von der Vorstellung, ihren Raum und ihre Kreativität nicht zu vermarkten. Sämtliche Veranstaltungen, die in der Binz stattfinden, tragen sich lediglich selbst. Arbeiten in den Werkstätten und Atliers zählen eher zu privater Freizeitaktivität, zur Kategorie ‚Sonstige‘ der Auflistung kreativ Erwerbstätiger oder zum dem

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Teil der Kreativen, die nicht erfasst sind.


Die Bewohner der Binz sind Hausbesetzer, die Hallen sind im Besitz des Kanton Zürich. Dennoch habe ich den Eindruck,

Akteure

David (Binz–Mitbegründer)

ich bin hier nicht wirklich erwünscht. Dann treffe ich auf David, der hier seit 6 Jahren lebt, also seit Beginn der Besetzung 2006. Kaum einer der Gründermitglieder der Binz lebt noch hier und auch David wird langsam müde und stellt sich manchmal die Frage, wohin sein Weg führt. Oft sind wir nicht mehr selber Meinung in der Binz, meint er. Viele fallen wieder in das gewöhnliche Schema, dass „von aussen“ bekannt ist. Konventionell meint er damit. Die Binz zu vermarkten, das kommt für David auf keinen Fall in Frage. Er lebt in einem großen Transporter, der im Hof der Binz steht. Hier hat er alles was er braucht bei sich, ist flexibel und kann jederzeit die Stadt verlassen. Seinen Lebensunterhalt verdient er in der Stadt beim Getränkemarkt. Ganz konventionell? Auf die Frage, warum er sich für das Leben in der Binz entschieden hat, erzählt er mir, dass er schon in der Schule aufgefallen ist, weil er irgendwie anders war und sich nicht an Regeln halten wollte. Das zieht sich schon durch sein ganzes Leben. Irgendwann hat er Menschen gefunden, die genauso denken wie er. Menschen, die nach Alternativen suchen. ‚Es ist toll, mit so vielen Menschen zusammen zu leben‘, sagt David, ‚das hast du sonst nirgends so intensiv.‘ Weil die Menschen, die in der Binz ­leben oder leben wollen, sehr individuell und auch oft speziell sind, kommt es mitunter zu Konflikten und um die Harmonie zu wahren wird dann viel diskutiert und manchmal auch entschieden, dass jemand die Binz verlassen muss. Habt ihr Ärger mit dem nahen Umfeld? Nein, meint David, im Gegenteil sind wir recht gut vernetzt mit dem Umfeld. Das Verhältnis zum Eigentümer – dem Kanton –˘ist dagegen eher frostig. Man hört nichts und irgendwann flattert ein Brief ins Haus, auf dem steht, dass sie Ende des Jahres aus den Hallen müssen. Das war’s, viel Kommunikation findet da nicht statt. (Stand Juni 2012) Immer öfter veranstalten die Bewohner in der Binz Konzerte und Feste. Für Gäste gibts sogar ein Gästezimmer. Gewinn machen Sie mit den Veranstaltungen nicht. „Aber darum gehts hier ja auch nicht – um Kommerz und solche Dinge.“ Es geht darum, eine gute Zeit zu haben. So jedenfalls habe ich das verstanden. Als wir über den Begriff Kreativquartier reden, erklärt tistik aufstellen. Jeder ist hier auf seine Art und Weise kreativ, ob man das Kunst nennen kann weiß David nicht. Alles hat begon-

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­David, dass hier jeder irgendwas macht, man könnte keine Sta-


Binz – Zürich

nen mit einer Metallwerkstatt, die wurde ziemlich professionell eingerichtet, hier wurden externe Aufträge angenommen. Nicht jeder, der die Werkstätten nutzt, wohnt auch in der Binz. Trotzdem erscheinen die meisten Nutzer zu den Versammlungen und haben Teil am Projekt. Durch die Aufträge und das wachsende Netzwerk wurden die Arbeiten immer kreativer. Die Metallwerkstatt hat sich erweitert und nimmt in den Hallen den größten Teil ein. Abgesehen von der Metallwerkstatt finden sich mittlerweile noch eine ganze Reihe anderer Werkstätten und Veranstaltungsflächen im Quartier. Die Räume hier wurden schon als Start-up location für kleine Modelabels verwendet. Grafik, Design, Tanz, Theater, Mode, Fotografie, Film, Kunst, Architektur, Freizeit, Sport oder Club – alles ist vertreten, es kommt nur darauf an, wer im Moment in der Binz arbeitet. — Aufgenommen im Juni 2012 Lukas Lukas ist 24 Jahre alt und lebt seit 4 Jahren in der Binz, zusammen mit etwa 50 anderen Hausbesetzern. Für ihn bedeutet der Ort eine alternative Wohn- und Lebensform. Die Binz ist seine Familie. Erst etwas skeptisch, doch dann sehr aufgeschlossen und stolz, erzählt er mir von sich und dem Leben in der Binz. Warum er sich für die Binz entschieden hat? Hier fühlt er sich wohl, kann sich ausleben und hat viele nette Menschen um sich. Alleine leben wäre nicht sein Ding. Er bevorzugt das Leben in einer größeren Gemeinschaft, in der man sich gegenseitig hilft. Zwei mal monatlich treffen sich alle Bewohner der Binz zur Versammlung. Hier werden wichtige Dinge besprochen, die alle betreffen. Hier kommt jeder zu Wort, der etwas zu sagen hat und es wird so lange diskutiert, bis eine Lösung gefunden wird. Basisdemokratisch sozusagen. Die Binz ist nicht Eigentum der Stadt Zürich, sondern des Kantons. Also schert sich die Stadt auch nicht so sehr um die Binz. Alles hier ist also selbstorganisiert und passiert aus eigenem Interesse und Antrieb. Die Polizei kommt ab und zu vorbei und beschwert sich über zu laute Musik. Aber sie tun das in der Regel auf freundliche Art und Weise und verschwinden gleich wieder, erzählt er mir. Seit einiger Zeit zahlen die Bewohner der Binz einen Pauschalbetrag an die Stadt, für Wasser und Strom. Die Kosten werden unter den Bewohnern gerecht aufgeteilt. Jeder Bewohner zahlt gleich viel, etwa 100 Schweizer Franken, da

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werden keine Unterschiede gemacht. Lukas führt mich auf dem Gelände herum und zeigt mir einige der Räume. Die Bewohner dürfen nicht auf‘s Bild, sagt er.


fiert. Auf die Frage, was ihm hier nicht gefällt, antwortet er mir direkt: „Touristen! Die stapfen einfach in die Binz, als wäre es

Akteure

Auch sonst sieht es keiner gern, wenn man in der Binz fotogra-

selbstverständlich, machen Fotos ohne zu fragen, das nervt.“ Sein Zimmer unter dem Dach in der kleinen Halle hat er selbst gebaut. Über eine große Holztreppe, die nach oben hin schmäler wird, gelangt man in den Raum. Er entschuldigt sich für die Unordnung. „Sorry, bisschen ghetto heute.“ Stolz erklärt er mit, dass alle Materialien recycled sind. Für sein Bett hat er ein Podest gebaut. Das Holz, aus dem das Podest gebaut ist, stammt von einer Veranstaltungsbühne, das hätte eigentlich entsorgt werden sollen. Im Winter wird es schweinekalt in den Hallen. Die Dämmung hat ihm ein Unternehmen überlassen. Ein kleiner Ofen aus dem Sperrmüll tut sein Übriges dazu. Seinen Transporter, mit dem er bereits mehrere Monate durch Marokko gefahren ist, war letzte Woche noch kaputt. Den konnte er aber zusammen mit einem anderen Bewohner in der Binz reparieren. Eine herkömmliche Werkstatt hätte ihm wohl geraten, das Fahrzeug verschrotten zu lassen. Aber in der Binz hilft man sich – jeder hat andere Fähigkeiten – und es gibt genügend Platz und Werkzeuge in der Binz. Jetzt fährt er wieder und Lukas plant schon den nächsten Wochenendtrip. Er wird mit seinen Freunden in die Südschweiz fahren, dort seinen Geburtstag feiern und das Leben geniessen. Was danach ist? „Keine Ahnung. Es gibt immer viel zu tun...“

p.143

— Aufgenommen im Juni 2012


Binz – Zürich

Ende Während unserer Recherche und Arbeit am Buch, beobachten wir das Ende der Binz. Auf der Nacht zum 31.Mai 2013 verlassen die Bewohner das G ­ elände der Binz, nachdem der Kanton Zürich den Auszug zum 31.Mai fordert. (s. Geschichte der Binz) Das Projekt Binz macht deutlich aufmerksam darauf, wie akut die Themen Zwischennutzung, bezahlbarer Raum in der Stadt und Freiraum in der Stadt immer noch und immer wieder sind. Die Fragen stehen weiterhin im Raum: Wie gehen wir zukünftig mit Situationen wie der der Binz um? Wie müssen sich die Methoden der Architekten und Stadtplanern ändern im Bezug auf leerstehenden Raum in der Stadt? Wie kann Kommunikation und Moderation verbessert werden, um dem Zwischennutzer nicht das Gefühl des ‚Lückenbüßers‘ zu geben? Und welche Werkzeuge stehen dafür zur Verfügung?

ZÜRICH UND REGION 21

Neuö Zürcör Zäitung

Samstag, 1. Juni 2013 Nr. 124

Die Binz-Besetzer sind abgezogen Die kantonale Baudirektion stellt wegen der Verbarrikadierung des Areals und der Zufahrt einen Strafantrag Die letzten Binz-Besetzer haben das Fabrikareal an der Üetlibergstrasse offenbar fristgemäss geräumt. Weil sie aber das Gelände verbarrikadiert hinterliessen, hat die kantonale Baudirektion am Freitag trotzdem einen Strafantrag gestellt.

Die letzten rund 50 Besetzer des BinzAreals in Wiedikon sind in der Nacht auf den Freitag ausgezogen und haben damit das Ultimatum des Kantons eingehalten. Bei einem Besuch vor Ort am Freitagmittag wirkte das ehemalige Fabrikgelände verlassen. Allerdings war der Zugang zu den seit 2006 besetzten Gebäuden mit Schrottautos, Eisenstangen, vollen Abfallcontainern, Einkaufswagen, Absperrgittern und allerlei Abfall versperrt. Da und dort war sogar Stacheldraht montiert worden.

Räumung mit schwerem Gerät

p.144

Dübendorf wirft Handtuch Dübendorf tritt per Ende Jahr aus der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) aus. Der Verein habe jeglichen Bezug zur heutigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realität verloren, begründet die Sozialbehörde den Entscheid.

Alois Feusi

Auch die Zufahrt zum Zeughausareal hatte die «Familie Schoch», wie sich die Besetzer nannten, nach einem letzten Fest mit Feuerwerk in der Nacht mit Unmengen von Schrott und Abfall unpassierbar gemacht. Am Mittag war sie aber bereits wieder geräumt. Ein Angestellter der kantonalen Baudirektion, der Besitzerin des Areals, konnte am Freitagmorgen die Gebäude wegen der Barrikaden nicht betreten. Die Baudirektion reichte deshalb nach Auskunft ihres Sprechers Thomas Maag einen Strafantrag ein. Das Areal wirke zwar verlassen, aber man habe keine Gewähr, ob sich nicht doch noch jemand dort aufhalte, sagte Maag. Das müsse nun die Polizei feststellen. Zudem liefere der Strafantrag der Polizei auch die Handhabe, bei einer allfälligen Rückkehr der Besetzer einzugreifen.

Weiterer Skos-Austritt

Der verbarrikadierte Zugang zum verlassenen Binz-Areal am Freitagnachmittag. Ob die 20 000 Franken Kaution, welche die «Familie Schoch» beim Kanton hinterlegt hatte, für die Aufräumarbeiten und den Abtransport von Schrott und Müll reichen werden, konnte Maag am Freitag nicht abschätzen. «Wir wissen nicht, was wir dort noch alles finden.» Eine ansehnliche Summe Geld dürfte allerdings nur schon der Einsatz einer Equipe von Entsorgung und Recycling Zürich gekostet haben, die am Morgen mit schwerem Gerät anrücken musste, um die zugemüllte Zufahrt zum Zeughaus zu säubern.

Eine grosse Minderheit 50 Jahre staatliche Anerkennung der katholischen Kirche

Marco Cortesi, Chef Mediendienst der Stadtpolizei, bestätigte den Eingang des Strafantrags. Bis zum Nachmittag sei die Polizei aber noch nicht in die Gebäude gegangen, und er wisse auch nicht, wann dies der Fall sein werde.

Umzug nach Altstetten Ein grosser Teil der «Familie Schoch» dürfte in das seit Anfang Mai von über 100 Angehörigen verschiedener Gruppierungen besetzte Koch-Areal in Altstetten umgezogen sein. Laut Medien-

ADRIAN BAER / NZZ

berichten war den ganzen Donnerstag über in der Binz Material verladen und nach Altstetten transportiert worden. Ob die «Schochs» tatsächlich bei den auf dem ehemaligen Industrieareal lebenden Familien «Wucher» und «Zauber» eingezogen sind, konnte Cortesi nicht sagen. Die Grossbank UBS jedenfalls, die dort als Grundstückbesitzerin Wohnungen und Büros bauen will, hegt laut einem Bericht des Regionaljournals Zürich von Radio SRF entsprechende Befürchtungen und wandte sich auch bereits an die Stadtbehörden.

HANDELSGERICHT

Gefecht zur Causa Suhrkamp

vö. Nach Rorschach kehrt nun auch Dübendorf der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) den Rücken. Konkret bewirkt der Austritt allerdings wenig: Dübendorf spart den jährlichen Mitgliederbeitrag von 2000 Franken, muss sich aber weiterhin ans kantonale Sozialhilfegesetz halten. Gemäss diesem sind die Skos-Richtlinien zur Bemessung der Sozialhilfe verbindlich – und es erlaubt, renitenten Sozialhilfebezügern die Unterstützung bis auf das Niveau von Nothilfe zu streichen. Den Ausschlag für Dübendorfs Entscheid gab Skos-Präsident Walter Schmid. Dieser habe das Urteil des Bundesgerichts, wonach einem renitenten Sozialhilfebezüger im aargauischen Berikon die Sozialhilfe nicht gestrichen werden darf, gelobt und die betroffene Gemeinde öffentlich gerügt, heisst es im Communique. ´ Im Weiteren zielten die Skos-Richtlinien in eine falsche Richtung. Grund ist der sogenannte Schwelleneffekt, der kürzlich auch Thema im Kantonsrat war (NZZ 23. 5. 13). Das Parlament diskutierte über ein vor fünf Jahren eingereichtes Postulat von Willy Haderer (svp., Unterengstringen), das eine Anpassung der Skos-Richtlinien forderte, damit Schlechtverdienende gegenüber Sozialhilfebezügern nicht mehr bessergestellt werden. Das von allen Fraktionen kritisierte Phänomen ist eine Folge des seit 2005 auch im Kanton Zürich geltenden Anreizsystems, das Sozialhilfebezüger finanziell belohnt, die sich um Arbeit bemühen. Zum damit verbundenen Schwelleneffekt liessen sowohl der Bund als auch die Zürcher Regierung in den letzten Jahren bereits diverse Berichte erarbeiten. Nun ist diese vom Parlament mit einer weiteren Untersuchung beauftragt worden. Sie soll insbesondere die Wirkung einer Senkung des Einkom-

Grafik Quelle: Die Neuen Zürcher Zeitung Nr.124 vom 1. Juni 2013 berichtet vom Umund Auszug der Binz-Bewohner.


„Für alle, die schon beim Helikoptertraining waren, Titel­seiten

Ende

Die Show fällt aus. Wir sind gegangen. reserviert haben, sich seit Tagen und Wochen die Zungen wetzen, für die nächste baugenossenschaftliche Sitzung oder den Stammtisch, hier ein paar Stichworte: - An diejenigen, die uns an die Wand stellen und abknallen oder mit Gülle bewerfen wollen: Es freut uns zu wissen wer unsere Feinde sind. Nein, wir wollen es nicht allen recht machen. Wir ­besetzen Häuser und schaffen selbstbestimmte Freiräume ­genauso für alle, die das gut finden, wie für alle, die das nicht gut finden. - In einer Stadt, die zunehmend von Profitdenken, Sicherheitsund Sauberkeitswahn dominiert wird, haben wir sieben Jahre lang ein Areal belebt, das Tag und Nacht ohne Schloss und Riegel offen stand. - Die linke parlamentarische Politik und Institutionen, die aus früheren aktivistischen Bewegungen hervorgegangen sind, hegen zwar gewisse Sympathien für unsere Anliegen, nichtsdestotrotz hat die meisten der Mumm verlassen, sich für autonome Freiräume auszusprechen. Stattdessen streben viele wohlmeinend an, den Wildwuchs durch Zwischennutzungen und legale Kulturprojekte zu befrieden. Gleichzeitig lassen sie sich Teile ihrer Agenden von Kapitalinteressen oder rechtspopulistischer Propaganda aufbrummen, wie sich an Aufwertungsstrategien oder der Flüchtlingsfrage zeigt. - Die Repression und der Ausschluss von allen und allem, was nicht einem makellosen Marketing orientierten Image der Stadt entspricht, wird immer vehementer und gewaltsamer. Was uns betrifft, so werden wir immer mal wieder geduldet, solange unser Tun als Lifestyle verkauft werden kann. - Nicht, dass wir hier falsch verstanden werden: Auch wir haben gern ein schönes Leben. Wir verstehen darunter ein gemeinschaftliches Leben an einem Ort, den wir in allen Belangen selbst gestalten und bestimmen können. Und das in einer Stadt, in der das Leben nicht verreguliert und vermeintlich zu unserem Wohl dauerüberwacht und -kontrolliert wird. - Zurück zur Binz: Sobald die Stiftung Abendrot, zusammen mit externen Beratern, mit dem Kanton anbändelt, finden es beinahe alle in Ordnung, dass die Binz mindestens ein halbes Jahr zu früh abgerissen wird. Und wenn wir im Gegenzug, auf der Notwendigkeit der Existenz von selbstbestimmten Freiräumen Reden. (...) Wie auch immer. Wir sind weg und trotzdem bleiben wir. Und wenn in ein paar Monaten das Binz-Areal Platteneben

p.145

beharren, heisst es schlicht: mit diesen Leuten kann man nicht


Binz – Zürich

abgerissen ist und daraufhin mindestens ein halbes Jahr lang irgendwie zwischengenutzt oder teuer bewacht werden muss, dann ist das nicht unser Problem. So das wars. Wir haben viel zu tun.“ 1

Neuanlagen der Stiftung Abendrot Schwerpunkt Immobilien „In Zürich plant die Stiftung den Bau von Studenten- und Pflegepersonalstudios auf dem Binz-Areal. Das Areal wird im Baurecht vom Kanton Zürich abgegeben. Die Stiftung Abendrot hat in einem Projektwettbewerb obenaus geschwungen und den Zuschlag des Kantons erhalten. Zurzeit findet ein offener Wettbewerb mit sechs teilnehmenden Architekturbüros statt. Ende Mai wird entschieden, welches Projekt realisiert wird. Die Bebauung des Binz-Areals findet in einem politisch heiklen Umfeld statt: Das Areal ist seit Jahren besetzt und die Besetzer weigern sich, das Areal zu verlassen. Aktivitäten der Besetzer arten immer wieder in Sachbeschädigungen aus. So wurde beispielsweise das Lagerplatzareal in Winterthur, welches der Stiftung Abendrot gehört, flächendeckend verschmiert und auch die Geschäftsräumlichkeiten der Stiftung Abendrot in Basel wurden «besucht». Eine aus dem Ruder gelaufene Demonstration führte in Zürich Ende Februar zu Sachschäden von mehreren hunderttausend Franken. Die Stiftung Abendrot hat schon früh versucht, den Kontakt zu den Besetzern herzustellen, eine Zusammenarbeit wurde jedoch abgelehnt. Wir haben kommuniziert, dass die Stiftung Abendrot auf die Umsetzung ihres Projektes verzichten würde, wenn sich die Besetzer mit dem Kanton Zürich über einen weiteren Verbleib auf dem Areal einigen können. Nach einer Einigung mit dem Kanton sieht es jedoch derzeit nicht aus.“

Stellungnahme der Stiftung Abendrot Anonyme Vorwürfe gegen Liegenschaftsprojekt für studentisches Wohnen in der Binz, Zürich Mehrere der Stiftung Abendrot angeschlossene Firmen haben im Vorfeld der diesjährigen Delegiertenversammlung ein Schreiben erhalten. Eine „Familie Schoch“ kritisiert das Engagement der Stiftung Abendrot und macht geltend, dass aus p.146

Profitgründen ein Freiraum zerstört würde. Abendrot hat aus einem Bewerbungsverfahren, welches der Kanton Zürich ausgeschrieben hat, zusammen mit dem Projekt-

1 Juni 2013, http://www.binzbleitbinz.ch 2 http://www.abendrot.ch/ downloads/abrot_info51.pdf S.18/19


ein Projekt eingereicht, um dringend benötigten Wohnraum

Ende

entwickler Werner Hofmann den Zuschlag erhalten. Wir haben insbesondere für Studierende und Mitarbeitende des Universitätsspitals Zürich zu schaffen. Vertragspartner ist der Kanton Zürich, welcher das Gelände in der Zürcher Binz altlastensaniert zur Bebauung zur Verfügung stellt. Heute besteht auf dem Gelände eine Zwischennutzung, welche zwischen dem Kanton Zürich und der „Familie Schoch“ vereinbart wurde. Die Zwischennutzung soll bis zum Rückbau der bestehenden Industriebauten und der Altlastensanierung dauern. Die Stiftung Abendrot erachtet die Bereitstellung von günstigem Wohnraum für Auszubildende als sinnvolles soziales Engagement. Als Pensionskasse ist sie der Sicherheit der ihr anvertrauten Ablagen verpflichtet. Die Stiftung Abendrot verfolgt eine nachhaltige Anlagepolitik. Dies hat nichts mit „Geschäften mit Rechten“ zu tun, die helfen „radikale linke Bemühungen anzugreifen“, wie uns anonym vorgeworfen wird. Aufgrund der Transparenz der Stiftung Abendrot, namentlich durch die Links auf der Homepage oder der Liste der Neuanschlüsse, welche regelmässig im Abendrot-Info veröffentlich wird, hat die „Familie Schoch“ die Empfänger ihrer Schreiben zusammengestellt. Bilden Sie sich Ihre Meinung, die Mitglieder des Stiftungsrates oder der Geschäftsleitung stehen gerne für weitere Auskünfte bereit. — 10.9.2012

Konflikt und Ende Während unserer Recherche und Arbeit am Buch, beobachten wir das Ende der Binz. Auf der Nacht zum 31.Mai 2013 verlassen die Bewohner das Gelände der Binz, nachdem der Kanton Zürich den Auszug zum 31.Mai fordert. (s. Geschichte der Binz) Das Projekt Binz macht deutlich aufmerksam darauf, wie akut die Themen Zwischennutzung, bezahlbarer Raum in der Stadt und Freiraum in der Stadt immer noch und immer wieder sind. Aber die Fragen stehen weiterhin im Raum: Wie gehen wir zukünftig mit Situationen wie der der Binz um? Wie können sich die Methoden der Architekten und Stadtplanern ändern im nikation und Moderation dabei verbessert werden und welche Werkzeuge stehen dafür zur Verfügung?

p.147

Bezug auf leerstehenden Raum in der Stadt? Wie kann Kommu-



Wagenhallen | Kreativquartier in Stuttgart Einführung p. 148 – 157 | Urbaner Kontext p. 158 – 166 |  Städtebaulicher Wandlungsprozess p. 167 – 169 |  Geschichte p. 170 – 175 | Gebäude p. 176 – 181 |  Organisation/Akteure p. 182 – 191 | Interview p. 192 – 205




p.152

Wagenhallen — Stuttgart


p.153

Einführung


p.154

Wagenhallen — Stuttgart


p.155

Einführung


Wagenhallen — Stuttgart

Einleitung | Auf dem Gelände des Inneren Nordbahnho-

fes befindet sich das Künstler-Areal der Wagenhallen und der Waggons. Im Jahr 1894 als Lokomotiv-Remise erbaut, in den 1950er Jahren als Instandsetzungs- und als Depot-Halle der regionalen Busgesellschaft genutzt, wird das Gelände heute kreativ Schaffenden zur Verfügung gestellt. Bereits seit 1999 sind 17 ehemalige Eisenbahnwaggons von Künstlern umgenutzt. Durch das Projekt Stuttgart 21, hier das Teilgebiet C1, wurde das Gelände einschließlich der Halle 2003 an die Stadt Stuttgart verkauft. Diese stellt daraufhin die ehemalige Lokomotiv-Remise inklusive An- und Wohnbauten weiteren Künstlern als Atelierraum und Intrimsresidenz zur Verfügung. Seitdem hat sich das Gelände zu einem einzigartigen Areal für Kunst und Kultur entwickelt. Es ist ein Ort der künstlerischen Begegnung geworden, ein Ort für Experiment und Forschung, der sich in ständigem Wandel befindet. 1 Auf dem gesamten Areal arbeiten ca. 80 Künstler, ­ die hier eine zweite Heimat finden und durch ihre Ar-

p.156

beit und ihr Engagement das kulturelle Leben der Stadt Stuttgart bereichern. Neben den Künstlerproduk-


Künstler öffnen ihre Ateliers und Werkstätten alljähr-

Einführung

tionsflächen gibt es diverse Veranstaltungsräume. Die lich zu kulturellen Gelegenheiten, wie der „Museumsnacht“, der  „Stuttgartnacht“  und  dem „Tag  der  offenen  Ateliers“ Ein aktuelles Gutachten zeigt Statikprobleme an der alten Dachkonstruktion auf. Die Stadt Stuttgart muss sich zeitnah damit beschäftigen, welchen Wert der Erhalt des Kulturbetriebs für die Stadt hat 2 . Der Kulturausschuss des Gemeinderats hat sich bereits durch öf-

1 2

www.ateliers-nordbahnhof.de Stuttgarter Nachrichten, 18.10.2012

p.157

fentliches Engagement für den Erhalt ausgesprochen.


Wagenhallen — Stuttgart p.158

Wagenhallen

Innerer Nordbahnhof 1 70191 Stuttgart Deutschland

1 : 10 000


Urbaner Kontext Stadtbezirk STUTTGART - NORD 681,5 ha 24.755 Einwohner

Stadtteil NORDBAHNHOF 49,3 ha 1.850 Einwohner

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Bezirkslage


Wagenhallen — Stuttgart

Wiese

Wiese Wald

Wald Wiese

Wasser Wiese

Wasser Wald

Wald

Wasser

Wasser

Wohnen

Wohnen

weiß, Ou

Handel und Gewerbe

Handel und Gewerbe 20% sch

Gastronomie

Gastronomie 40% sch Wohnen

öffentliche Gebäude öffentliche Gebäude / Sonderbauten 60% sch Handel und Gewerbe Wohnen Industrie

Industrie weiß, Ou Gastronomie80% sch

Handel und Gewerbe Kreativquartier Gastronomie

20% sch öffentliche Gebäude Kreativquartier 100% sc 40% sch Industrie

öffentliche Gebäude / Sonderbauten

Bus Kreativquartier Tram

60% sch Kreativquartier 80% sch Bus Linie 0,2 100% sc Tram Linie 0,2

U-Bahn

U-Bahn Bus

S-Bahn/Zug?

S-Bahn/Zug? Linie 0,5 Tram

Bus Citybike Station

Linie 0,2 Citybike Station Linie 0,2 U-Bahn

Tram Bus Fähre

Linie 0,2 Fähre S-Bahn/Zug Linie 0,2 S-Bahn/Zug?

U-Bahn U-Bahn Haltestelle

Haltestelle Linie 0,3 Haltestelle Citybike Station 1,84 mm

Industrie

p.160

Infrastruktur

S-Bahn/Zug?

Fähre

Linie 0,3

Linie 0,5


Urbaner Kontext Gründfläche Wohnen & Gründfläche Wohnbaufläche Gemeinbedarf & Grünfläche

Gemeinbedarf Gemischte Baufläche Gemischte Baufläche (Verwaltung) Gewerbliche Baufläche

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Flächennutzung


Wagenhallen — Stuttgart

Wiese Wiese Wald

Wiese

Wald

Wald

Wasser

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Natur

Wald Wiese

Wasser

Wasser


Urbaner Kontext U-Bahn

Bahntrasse (DB)

Haltestelle

Strasse

p.163

Umgebungsaxonometrie


Wagenhallen — Stuttgart

0 40

m

300 m

250 m

p.164

ÖPNV

Erreichbarkeit

250m Eckardtshaldenweg 300m Nordbahnhof 400m Löwentorbr

1 : 5 000


Urbaner Kontext < 1943

> 2000

1943 – 1985

keine Angabe

1985 – 2000

p.165

Gebäudealter


Wagenhallen — Stuttgart

22 20

21

18 21 9 2

10 8

1

3

7

5

6 23

19 11

17 21 14 13 12 16

4

p.166

Nutzung 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Wagenhallen Waggons Atelier Unsichtbar Galerie Eigenart Berufliches Schulzentrum Werner-Siemens-Schule Steinbeisschule Rosensteinschule DDA

10 Kaufmännische Schule Nord 11 Fußgängerzone Nordbahnhofstrasse 12 Apotheke 13 Supermarkt 14 Pragfriedhof 15 Gedenkstätte „Zeichen der Erinnerung“ 16 Martinskirche

17 Kirche St.Georg 18 Güterbahnhof / Umschlagplatz S21 19 Kleintierzüchterverein 20 Büroflächen 21 Wohnen 22 Haltestelle Nordbahnhof 23 Haltestelle Eckardshaldenweg


Urbaner Kontext/ Städtebaulicher Wadnlungsprozess

Städtebaulicher Wandlungsprozess

1894

2013

2030*

* Plan von 2013 auf den Bebau­ ungsplan von Stuttgart 21 ­angepasst (pesch partner arch.)

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1: 10 000


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Wagenhallen — Stuttgart


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Wagenhallen Gelände


Wagenhallen — Stuttgart

Königlich Württembergische Staatseisenbahn

Geschichte der Wagenhallen 1893 – 1949

Besitzer:

p.170

1893-1894 Bau der Königlichen Lokomotivstation StuttgartNord (auch Betrienbswerkstätte an der Prag) bis April 1894 mit insgesamt 59 Lokomotivständen und einer Schiebebühne. — Am 1. November 1895 wurde am Prag-Güterbahnhof der Betrieb aufgenommen — Das Gelände auf der Prag entwickelte sich zu einer Vorstadt mit neuen Wohnungen

1911-1928 Der Bau des Stuttgarter Hauptbahnhof, Bonatzbau verzögert sich durch die Kriegsjahre erheblich.


Geschichte Deutsche Reichsbahn Gesellschaft, ab 1. April 1920

Deutsche Bundesbahn ab 1949

1919 Inbetriebnahme des Bw-StuttgartRosenstein. Ab 1920 übernehmenumliegende BWs die Aufgaben des BW Stuttgart-Nord. Umbau zum Bahnbetriebs-Wagenwerk (Güterausbesserungwerk) mit Zufahrt über den 1918 errichteten GBf Nord.

1945-49 ab 1945 Vorübergehend Ausbesserungswerk für Lokomotiven aufgrund von Kriegsschäden Strukturwandel im deutschen Eisenbahnwesen: Die Besatzungsmächte übernehmen den Betrieb. Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 erfolgte die Umbenennung mit Wirkung vom 7. September 1949 in „Deutsche Bundesbahn“.

p.171

WK II 1941-1945 Über 2.200 Juden wurden vom Inneren Nordbahnhofs deportiert. Seit 2006 erinnert eine Gedenkstätte. 1944 Zerstörung der Hallenstände durch Bombentreffer


Wagenhallen — Stuttgart

Chronik S21

Deutsche Bahn AG ab 1. Januar 1994

Geschichte der Wagenhallen 1851 – 2003

Besitzer:

1951 endgültige Schließung des Bahnbetriebes zum 31. 12. 51

p.172

bis 1954 Umbau zum Bus-Depot und Bus-Wartungszentrum, Gleisabbau

1964 großzügige Renovierungsmaßnahmen, Rolltore, Verwaltungsbau, etc. ab 1988 übernimmt das SSB-Busdepot Gaisburg als Hauptwerkstatt

1995* Bahn, Bund, Land und Stadt unterzeichnen eine Rahmenvereinbarung zum Bau des neuen Bahnhofes Stuttgart 21. Ein Architektenwettbewerb wird ausgeschrieben.


Geschichte

November 1995: Bahn, Bund, Land und Stadt unterzeichnen eine Rahmenvereinbarung. Oktober 2001: Das Planfeststellungsverfahren beginnt. 2. April 2009: Unterzeichnung der Finanzierungsvereinbarung 2. Februar 2010: Die Bauarbeiten beginnen mit einem Festakt 30. September 2010: Der Konflikt um Stuttgart 21 eskaliert im sog. „schwarzen Donnerstag“ 9. Oktober 2010: An einer Demonstration gegen Stuttgart 21 und den Polizeieinsatz nehmen laut Polizei 65 000, laut Veranstaltern bis zu 100 000 Menschen teil. 22. Oktober - 27. November 2010: Schlichtungsgespräche, Schlichter Heiner Geißler gibt grünes Licht für S21. Die Bahn wird unter anderem zu einem „Stresstest“ verpflichtet. 21. Juli 2011: Ein Gutachten bestätigt, dass der geplante Tiefbahnhof den Stresstest bestanden hat und die geforderte Leistung erbringt. 27. November 2011: S21-Gegner erleiden eine Niederlage bei der Volksabstimmung: 58,8 Prozent der Teilnehmer stimmen gegen einen Ausstieg des Landes aus der Finanzierung des Bahnprojekts – und damit für Stuttgart 21. 15. Februar 2012: Die Polizei räumt das Protest-Camp der S21-Gegner im Schlossgarten. 04. März 2013: Beschluss des Aufsichtsrats der Bahn zum Weiterbau von Stuttgart 21

Stadt Stuttgart, ab 1. Juli 2003

Beginn der Zwischenmiete und Duldung einzelner Akteure

2003

bis 30. Juni im Betrieb unter der Regional-Bus-Stuttgart GmbH (RBS)

zieht in das neu errichtete Wartungszentrum auf dem ehemaligen ContainerTerminal in Ludwigsburg

p.173

1999 Die Waggons am Übergang zur Nordbahnhofstraße werden besiedelt.

ab 1.Juli Die Nutzung geht an die Stadt Stuttgart über.


Wagenhallen — Stuttgart

Die Zukunft der Wagenhallen, aus der Stuttgarter Zeitung, ijs, 12.12.2012 Die Betreiber der Wagenhallen haben einen Bauantrag gestellt, der darauf abzielt den Veranstaltungsbetrieb auszudehnen. Das daraufhin in Auftrag gegebene Statikgutachten hat Probleme an der 150 Jahre alten Dachkonstruktion aus Metall und Glas ergeben. Vermieterin der Wagenhallen ist die Stadt, der Mietvertrag läuft noch bis 2015. Um diesen zu erfüllen und eventuell sogar einen dauerhaften Erhalt des Kulturbetriebs, für den sich der Kulturausschuss des Gemeinderats ausgesprochen hat, zu gewährleisten, muss mit hohen Reparaturkosten gerechnet werden. Die Gemeinderatsfraktion der Freien Wähler hat einen Antrag gestellt, der die Thematik Wagenhallen und deren dauerhafte Nutzung betrifft. In Zusammenarbeit mit den Betreibern, den Nutzern, der Kulturverwaltung und mit Bürgerbeteiligung sollen Nutzungskonzepte entwickelt werden. Darin sollen die finanziellen Auswirkungen im Hinblick auf eine dauerhafte städtische Förderung dargestellt werden. Weiter heißt es im Antrag, soll von der Verwaltung geprüft werden, welche Investitionen für die Nutzungskonzepte nötig sind und was sie kosten werden, zugleich, was mit den derzeit ansässigen Künstlern geschieht.

Stadt Stuttgart, ab 1. Juli 2003

Geschichte der Wagenhallen 2003 –

Besitzer:

2003 Gründung des Kunstvereins Wagenhallen e.V. *

p.174

ab 2005 regelmäßige Veranstaltungen des Kunstvereins: Ausstellungen,Konzerte, Tanzabende. Die Künstler  öffnen ihre Ateliers und Werkstätten alljährlich zur kulturellen Gelegenheiten, wie der „Museumsnacht“, der „Stuttgartnacht“ und einem ­Tag der offenen Ateliers.

* Zweck ist es, die bildenden Künste in Stuttgart zu fördern und die Liebe zur Kunst zu wecken. Dieser Zweck wird verwirklicht durch Veranstaltung von Kunstausstellungen, Vorträgen, Führungen, der Förderung der Kunst mit Schwerpunkt Gegenwartskunst, die Produktion und Veröffentlichung von Druckerzeugnissen und durch Publikationen in elektronischen Netzwerken.

2010 Offizieller Baubeginn Stuttgart 21 am 2. Feb. Beginn der Proteste um S21 im August 2010. 14.12.2010 Gemeinderat der Landeshauptstadt Stuttgart beschließt einstimmig: Die Wagenhallen sollen als integraler kultureller Bestandteil des künftigen Nutzungskonzeptes der frei werdenden Fläche von S21 erhalen bleiben.


Geschichte Interimslösung in 5 Jahres-Verträgen bis 2015 2025 Auf dem Weg zur Institution?

Juli 2012 Mit dem internationalen Festival „72H Urban  Action“ wird die Wagenhalle auch über die Stadtgrenzen hinaus bekannt .

2013 Fertigstellung Schulzentrum neben der Wagenhalle. Vom ehemaligen OB Wolfgang Schuster ist auf diesem Gebiet ein Schul- und Bildungsstandort gewünscht.

2015 Ende des Mietvertrages zwischen der Stadt Stuttgart und der Karle Recycling GmbH als Verwalter im Namen der Wagenhallen.

p.175

18.01.2011 Gemeinderat der Landeshauptstadt Stuttgart Die Satzung der Landeshauptstadt Stuttgart über die förmliche Festlegung des Sanierungsgebietes Stuttgart 21 - Teilgebiet C1, Innerer Nordbahnhof und Randgebiete vom 15.03.2001 wird aufgehoben. Es wird als richtig erachtet, die Wagenhallen für die garantierten fünf Jahre zu halten. Wenn der Erhalt auf Dauer gewünscht werden, müssten die Bedingungen hierfür geprüft werden.




Wagenhallen — Stuttgart p.178

Infrastruktur 18 × große Rolltore davon 1 × Hauptzugang (Kunstverein, Tor 4 + 5) Hauptzugang-Süd = Veranstaltungsbereich Zugang Anbau Nord = Bürotrakt div. Neben- und Hinterzugänge

Querschnitt Richtung Nord-Westen (ohne Anbau)


Gebäude

Hard Facts Eigentümer: Stadt Stuttgart Kreative Nutzung: ab 2003 Vertragspartner: JKS Karle Recycling GmbH Vertragspartner: Kunstverein Wagenhallen e.V. Länge: 150 m | Breite: 83 m | Grundfläche: ca 12 000 qm Kosten der Einbauten: tragen die Kreative Baukosten je qm: ca. 240 € vorauss. Struktur-Baukosten: 3 000 000 €

2

2

2

2

2

2

2 2

3 1

2 2 2

5 2

2

2

2

2

2 2

2

Längsschnitt Richtung Nord-Westen

2

2 2

2

p.179

4

2


Wagenhallen — Stuttgart

Gebäudenutzung Das Innere der Wagenhallen wird sehr unterschiedlich genutzt. Im hinteren, westlichen Teil befinden sich überwiegend Werkstätten mit angelagerten Ateliers. Der Veranstaltungsbereich im vorderen Teil und die Fläche des Kunstvereins in der Mitte können zeitweise als Ausstellungsfläche verwendet werden. Die vermieteten Flächen an der Seite der Rolltore werden von diversen Künstlern genutzt. Im hinteren östlichen Teil liegt der ehemalige Verwaltungsbau. Darin sind unter anderem Büros, eine Tanzschule und wenige Wohnungen angesiedelt. Angrenzend an die Wagenhallen befinden sich die beiden Wohnbauten, die auch heute noch als solche Verwendung finden. Freiflächen in den Wagenhallen Alle Akteure teilen sich die freie Fläche unter einem gemeinsamen Dach. In den Wintermonaten werden durch Vermietung von Stellplätzen, zum Beispiel für Marktstände, Wohnwagen, etc., zusätzlich Einnahmen erzielt. Zeitweise wird die freie Fläche für Performances, Installationen (Monumenta) oder Theaterstücke (Hermannsschlachten) verwendet. Wenn ein Künstler eine größere überdachte Fläche benötigt, genügt eine Absprache mit den zuständigen Personen. Das Innere der Wagenhallen wird von seinen Akteuren kontinu-

p.180

ierlich verändert, neu inszeniert oder anders genutzt.


Gebäude Dachhaut Fachwerk mit Oberlicht Konstruktion unter Decke

Dachkonstruktioin Fachwerk, sanierungsbedürftig durch Kranateneinschüsse

Kreative Fläche Ateliers Werkstätten

Veranstaltung und Büro Veranstaltung Büro Ausstellung

frei zugewiesene Fläche Lagerfläche, Küche, etc.

p.181

konstruktives Raster Stützenraster Hauptgebäude Wände Nebengebäude Freifläche (Aktion, Lager, etc.)


Wagenhallen — Stuttgart

Organisation Durch die Gefahr des städtischen Wandlungsprozesses auf dem Inneren Nordbahnhof haben sich die Akteure der Wagenhallen in den vergangenen Jahren zusammengeschlossen um eine strukturelle Organisation zu bilden. Damit soll das ­Geschehen auf dem Wagenhallen-Gelände auch politisch steuerbar sein und die Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit ausgeweitet werden. Die Wagenhallen befinden sich unserer Ansicht nach auf dem Weg zur Institutionalisierung. In mehreren Zeitungsartikeln, Off-Space-Reiseführern, Gemeinderatsprotokollen und auch intern werden die Wagenhallen schon als Institution bezeichnet. Es scheint, als ob sich die organisatorische Struktur auf dem Gelände der Wagenhallen immer weiter ausdehnt. Aufgrund der statischen Probleme mit der Dachkonstruktion wird nun auch der Baubürgermeister der Stadt Stuttgart bei Gemeinderatssitzungen und bei Gesprächen, die das Gebäude betreffen, mit einbezogen. Akteure Seitdem die Stadt Stuttgart das Gelände, die Wagenhallen, Wohnbauten und die Waggons für kreative Nutzung zur Verfügung gestellt hat, entwickelt sich das Gelände zu einem fantastischen Areal für Kunst und Kultur. Auf dem gesamten Areal arbeiten ca. 80 Künstler. Die Vielfalt der Akteure in den Wagenhallen und Waggons kennt keine Grenzen. Künstler, Architekten, Designer, Musiker und Freidenker haben hier eine zweite Heimat gefunden. Neben den Künstlerproduktionsflächen gibt es diverse Veranstaltungsräume, in denen regelmäßig Ausstellungen, Konzerte oder Tanzabende stattfinden. Es ist ein Ort der künstlerischen Begegnung geworden, ein Ort für Experiment und Forschung, der sich in ständigem Wandel befindet 1 . Genau dieser Wandel macht es schwierig, eine genaue Zählung und Zuordnung der Kreativen vorzunehmen. Anhand ihres primären Tätigkeitsbereichs wird versucht, die Akteure unter zur Hilfenahme der Definition Kultur- und Kreativwirtschaft (siehe Abschnitt Typus) einzuordnen. Kreative, die mehrere Tätigkeitsfelder bedienen, werden auch prozentual mehrfach zugeordnet. Das Ergebnis entspricht einer subjektiven Quantifizierung

p.182

anhand genannter Definitionen, um eine Vergleichbarkeit der Quartiere zu ermöglichen. 5

ateliers-nordbahnhof.de


Kunstverein Wagenhallen e.V.

KBW GmbH & Co.KG

Gutbrot & Mellmann GBR

+ Ausstellungen + Theater + Kunst, Künstler + Öffentlichkeitsund Lobbyarbeit

+ GF Stephan Karle + Verwaltung und Vermietung + Anteilig:   75% Karle Holding 25% Kunstverein

+ Kulturbetrieb + Konzerte + Firmenevents + Öffentlichkeitsarbeit

Beirat der KBW

Hauspaten

Akteure

+ 5 Stimmen  insgesamt + Stimmverteilung: 2 × Karle 2 × Kunstverein 1 × Neutral

+ interne Selbstverwaltung + Mieterangelegenheiten

+ Mieter+ Konzerte + Künstler + Veranstalter + Sonstige

Gemeinderat

Eigentümer

+ Stuttgart-Nord

+ Stadt Stuttgart

Erwerbsstätige Kreativwirtschaft

Organisation/ Akteure

Organisationsstruktur

Pressemarkt 06%

Architekturmarkt 16%

Werbemarkt 04%

Sonstiges 02% Designwirtschaft 04%

Musikwirtschaft 20%

Darstellende Künste  24%

Kunstmarkt 14%

Filmwirtschaft 08%

p.183

Rundfunkwirtschaft 02%




p.186

Wagenhallen — Stuttgart


Akteure Abb. vorangegangen Mellmann & Gutbrod GbR Stefan Mellmann und Thorsten Gutbrod Veranstaltungen, Vermietungen, Veranstaltungsräume, Parties

Abb. rechts Fahrräder für Afrika Technik und Solidarität e.V. Clemens Rudolf Fahrräder,­Nähmaschinen, Werkzeuge, Schulmaterialien, Literatur, Rollstühle, Gehstützen

p.187

Abb. links Thomas Putze Skulptur, Bildhauerei, Zeichnung, Installation, Performance, Musik Quelle: Grodotzky




Wagenhallen — Stuttgart Abb. vorangegangen café brigade Sebastian Harréus kleine Röstung im Flur ca. 60 Kg pro Monat

p.190

Abb. links umschichten DipI.-Ing. Peter Weigand und Dipl.-Ing. Lukasz Lendzinski art, performative installation, public space, intervention, building, exhebition, furniture Abb. links niessnerdesign Markus Niessner und Team Kommunikationsdesign, performative Installation, Theater


p.191

Akteure


Wagenhallen — Stuttgart

Interview Wagenhallen Stuttgart Demokratie auf dem Prüfstand Lukas Lendzinski, Peter Weigand, David Bauer im Gespräch mit Sascha Bauer Auf den folgenden Seiten ist ein Gespräch zu lesen, dass ­Sascha Bauer gemeinsam mit den Vorständen des Kunstvereins Wagenhallen Lukas Lendzinski, David Bauer und einem Nutzer, Peter Weigand, geführt hat. Es wurde versucht, das Gespräch so authentisch wie möglich­wiederzugeben. Redewendungen, Dialekte und gelegentliche vulgäre Aussagen wurden zur besseren Lesbarkeit umformuliert. Örtliche Bezüge auf dem Gelände wurden für den Leser ergänzt, um einen räumlichen Überblick zu ermöglichen. Vereinbarter Termin, 9.30 Uhr, keiner da. Peter Weigand schreibt mir eine Entschuldigung via SMS, dass er leider nicht teilnehmen kann, da seine Kinder krank sind. Im Grafikbüro frage ich nach Markus Niessen. Dieser scheint krank zu sein. ­Sebastian Harréus versucht Lukas telefonisch zu erreichen. Der war gestern auf einer Party und hat verschlafen. Sebastian bringt mich in die Küche, hier soll das Interview stattfinden. Er macht mir einen Kaffee und im Gespräch stellt sich heraus, dass er im Obergeschoss der Wagenhallen Kaffee röstet. Ein interessantes Gespräch entwickelt sich. 40 Minuten später kommt Lukas, bemerkt, dass noch kein anderer da ist und ruft David an, kann ihn aber nicht erreichen. Wir starten das Gespräch zu zweit. Nach etwa einer halben Stunde kommt Peter nun doch noch zum Gespräch, da er die Kinder bereits versorgt hat. Lukas erzählt von seiner aufregenden Partynacht im Scho-

p.192

cken.


Ich wollte euch mal fragen, wie das hier

SB

Das ist in diesem Fall wohl eher das

alles in den Wagenhallen entstanden ist. Viel-

Theater, wobei die einzelnen Vorgänge für

leicht unter dem Stichpunkt der Partizipation.

eine Theaterproduktion wieder in der Kreativ-

Ihr zwei seid ja schon länger dabei. Das Gebäu-

wirtschaft aufgehen. Nach Richard Floridas

de war ja ab 1894 erst eine Lokomotivremise,

Begriff der „kreativen Klasse“ macht diese in

dann eine Wageninstandsetzungshalle und nach

den USA allein schon 30% der Beschäfti-

dem zweiten Weltkrieg eine Reparaturwerkstatt

gungsverhältnisse aus. Das, würde ich sagen,

für Omnibusse bis 1999 und ging dann 2003

ist zu weit gegriffen. Im niederländischen

von der Bahn an die Stadt über. Es sind wohl

Raum ist die Definition nach Richard Florida

immer mehr Leute gekommen. War das am An-

aber noch größtenteils anerkannt. Die gro-

fang eher ein informelles Gefüge?

ßen Unterschiede zwischen den ­Ländern macht

PW Ich glaube, 2002 oder 2003 oder so

es zudem schwierig, die Kreativquartiere

kamen hier die ersten Initiativen um irgend-

miteinander zu vergleichen.

was zu ma­chen, die Walli Heinisch, diese

SB

Architektin, zusammen mit noch ein paar

zu den Wagenhallen eher auf einer kulturellen

Künstlern. Sie war glaube ich die Initiatorin.

Ebene?

LL Auch Karisium, Volker Gebhard, …

Interview

SB

Daher die Frage: Entstand die Idee

L L Das waren 5-10 Leute, die sich formiert

PW Ja genau, so ein Mix aus Musikern usw.

haben. Die sind auf die Stadt zugegangen

und die Tango-Schule – das war damals aber

und haben versucht, gemeinsam etwas zu

ein anderer Betreiber. Es war einfach so ‘ne

entwickeln. Die ersten hier haben den Pa-

Mischung aus Architekten, Studenten, Künst-

pierkram erledigt und dann wurde das

lern, Musikern, Grafikern usw.

Gelände geöffnet. Nach den Initiatoren füllte sich das Gelände allmählich. So könnte

Entstehung der Wagenhallen

man das grob beschreiben.

Das klingt eher nach einem Querschnitt

Bildfläche. Der heißt glaube ich Gerhard.

aus der Kulturwirtschaft. Es gibt ja den Be-

Der war so ein Verwalter bzw. Pächter ­des

griff der Kultur- und Kreativwirtschaft. Der ist

Geländes und der Halle, der das Ganze ir-

zur Zeit ziemlich angesagt und führt aktuell

gendwie regeln sollte zwischen den verschie-

zu Kreativwirtschaftsberichten in verschiedenen

denen Nutzern. Diese Aufgaben macht

Städten Europas und dient als Brücke z ­ wischen

heute der Karle (JKS Karle Entsorgung und

Politik, Kultur und Ökonomie. Die Definition,

Recycling GmbH).

die sich im mittleren Europa entwickelte, grenzt

SB

das Ganze noch weiter ein: Das Wirtschafts-

von Anfang an formiert? Oder entstand dieser

Und dieser Kunstverein, war der schon

feld Kultur- und Kreativwirtschaft umfasst fol-

erst später? Die Homepage ist, glaube ich, noch

gende elf Kernbranchen oder Teilmärkte:

von 2004. Seither ist online nix mehr passiert.

Musikwirtschaft, Buchmarkt, Kunstmarkt, Film-

PW Den Kunstverein gab’s eigentlich schon

wirtschaft, Rundfunkwirtschaft, Markt für

immer. Dann hat Volker als Vorstand irgend-

darstellende Künste, Design­wirtschaft, Architek-

wann gesagt, dass er raus will.

turmarkt, Pressemarkt, Werbemarkt sowie

Der Kunstverein war eher nur ein „auf-dem-

Software/Games-Industrie. Der übergeordnete

Papier“-Verein, kein wirklich aktiver Verein.

Gedanke einer solchen Untergliederung ist die

SB

Bewertung des schöpferischen Aktes.

mehrere parallel vereint oder angesammelt

PW Was ist eigentlich Kultur?

Es macht so den Eindruck, dass hier p.193

SB

PW Dann kam langsam der Lorinser auf die


Wagenhallen — Stuttgart

sind, die aber trotzdem gemeinsam was schaf-

redet, dann sitzt immer der Beirat mit dabei.

fen und gemeinsam vor der Stadt auftreten.

Und der Beirat besteht aus dem Karle, dem

PW Genau kann ich mich leider nicht mehr

Kunstverein (als Sprachrohr oder Organ für

erinnern, wie der Verein gegründet wurde

den ganzen losen Haufen) und dem Kultur-

bzw. mit welchem Hintergedanken. Aber ­es

betrieb (Veranstaltungsbereich) und jemand

gab schon den Gedanken, dass man sich

von den Hauspaten (die für bestimmte Berei-

über den Verein besser organisieren kann

che hier in der Halle zuständig sind, wenn

und letztendlich die Wagenhallen etablieren

jemand neu kommt – funktioniert zwar nicht,

oder sogar institutionalisieren kann. Der

gibt’s aber offiziell). Die Haus-paten wurden

Kunstverein wurde mit der Idee gegründet,­

auch im Zuge das Bauantrags wieder akti-

dass alle, die hier auf dem Gelände sind,

viert, um den Mieterwechsel zu organisieren.

im Verein sind und man so eine institution­

Es ist schon so, dass wir mit der Stadt

elle Basis hat. Der Kunstverein hat ein

sprechen. Dieser Beirat besteht aus drei bzw.

Schatten­dasein geführt und wurde dann im-

vier Säulen, aber die wichtigsten sind der

mer öfter für Projekte rausgeholt.

Kulturbetrieb, der Kunstverein und der Ver-

Über den aktuellen Bauantrag zur Ertüchti-

walter Karle. Die spannende Frage ist, was

gung der Halle, hat er wieder zu seiner

passiert, wenn der Verwalter Karle in naher

ursprünglichen Aufgabe gefunden. Mit Aus-

Zukunft weg geht, da das Gelände zur Stutt-

nahme vom Veranstaltungsbereich. Alle

gart 21 Logistikfläche wird. Dann ist nicht

losen Individuen mit ihren unterschiedlichen

nur die Materialquelle für uns Künstler weg,

Zielen sind nun in diesem Kunstverein als

sondern auch die Person, die quasi von der

gemeinsam formulierte Stimme versammelt.

Stadt als Vertrauensperson oder Vermitt-

Gemeinsam hat man die Planung in Angriff

lungsperson und Organisationsorgan ange-

genommen, wie wir eigentlich unseren Ort

sehen wird. Die Mietverträge laufen ja

hier haben wollen. Ganz konkret, hier die

über seine Verwaltung. Es ist schon so, dass

Halle, dort die Klos. Das ist aber jetzt schon

der Kunst- verein als Organ dient. Nur war

wieder am Sterben, weil der Bauantrag

das bis zu diesem Bauantrag nicht wirklich

auf Eis gelegt ist. Und die Aktivität im Kunst-

der Fall und auch nicht notwendig. Bis jetzt

verein ist auch wieder weg. Für Projekte

gab es immer diese jährlichen Duldungen

wie den Workshop, den wir kommendes Jahr

und dann ist das alles so vor sich hingelau-

machen, wird der Kunstverein dann wieder

fen. Aber im Zuge dieses Umnutzungsan-

rausgeholt. Es geht ja nicht nur um den

trags bei dem die Fläche und die Gebäude

Kunstverein, aber es stellt sich die Frage,

von der Bahn an die Stadt übergeben wer-

welche Rolle der hier spielt. Denn er ist ei-

den, ist dieser Beirat entstanden. Offiziell

gentlich ein sehr ambivalentes Konstrukt hier.

arbeiten hier ja keine Leute, weil alles noch

SB

Bahngelände mit Wageninstandsetzungs­

Bei der NDSM in Amsterdam ist der

p.194

Kunstverein (Stichting Kinetisch Noord) das ei-

halle ist.

gentliche Sprachrohr zur Stadt. Bei der man

SB

immer einen Ansprechpartner hat. Da gibt es

Stadt und sollte von der Bahn als freie Fläche

z.B. jemanden, der durch die Halle läuft und

übergeben werden.

Aber es gehört schon seit 2003 der

schaut, dass keine brennbaren Sofas im Flucht­-

PW 2003 ging das Gelände an die Stadt

bereich stehen etc.

über, die vermutlich erst mit dem Bau von

PW Das ist auch hier mittlerweile so. Wenn

Stuttgart 21 rechtlicher Eigentümer wird.

der Karle mit der Stadt über die Wagenhallen

Der Gedanke war, dass man aus den jähr-


Reibungen geben muss. Man lässt zwei unter-

fristiges machen kann. Das hat aber nicht

schiedliche Interessengruppen aufeinander ­

funktioniert, weil die Besitzverhältnisse noch

los und schaut, ob ein anständiges Ergebnis

unklar waren.

dabei rauskommt. DB Das mit deinem Friktionsgedanken wür-

taltungen organisiert mit Leuten, die

de ich bestätigen. Es gab z.B. mal den

irgendwie Bock hatten etwas zu machen:

Versuch, den Vorstand des Kunstvereins zu

Theaterveranstaltungen, Skulpturenausstel-

vergrößern …

lungen oder die „Hermannsschlachten“ (Theaterstück). Auch die Kulturnächte in

LL … aber die Leute wurden ganz schnell wieder rausgemobbt.

Stuttgart wurden über den Verein organi-

SB

siert. Es wirkte so, als wäre der Verein die

etablierten Kern und wenn jemand versucht,

Es gibt in Kreativquartieren oft einen

Institution für die Leute, die Initiative

dort mitzumischen, hat er es erst mal sehr

ergriffen haben. Einerseits als Name nach

schwer. Seine Meinung ist nicht gleichwertig,

außen und andererseits, um Gelder zu

es dauert eine Weile bis er akzeptiert wird.

beantragen bei verschiedenen Stiftungen.

Auch Markus Miessen schreibt in seinem Buch,

Es ist so: Du kannst nicht kommen und

dass der Außenseiter eigentlich immer neue

sagen, wir sind ein loser Haufen aber wir

Ideen mit in eine Gruppe bringen kann, da er

machen gute Sachen. Da wissen die bei der

das ganze Konstrukt noch nicht durchschaut

Stadt nicht, was sie in ihr Formular schrei-

hat. Demokratie kann nicht echt sein, wenn

ben sollen.

Leute von vorn herein ausgeschlossen werden.

SB

Funktioniert eine Kooperation mit der

DB Partizipation und Demokratie und zum

Stadt gut, wenn ihr dem Projekt Stuttgart 21

anderen Sich-Einbringen und Vielfalt sind

eher kritisch gegenübersteht?

ja in diesem Fall nicht das Gleiche. Wichtig

LL Ja, aber ob das gute Verhältnis wirklich

ist immer, dass man Ideen einbringt, damit

am Kunstverein liegt bezweifle ich. P W Es ist eher die persönliche Initiative von

es vielfältig wird. Auf der anderen Seite: Demokratie in dem Kontext ist immer scheis-

einzelnen Leuten die machen dann Pro-

se. Demokratie im kuratorischen oder orga-

jekte im Namen des Kunstverein und ­alle an-

nisatorischen Umfeld ist der Tod.

deren die im Kunstverein sind, die machen nichts. Es gibt also keine inhaltlich festgesetzten Vereinssitzungen und alle helfen

LL Du kommst einfach nicht zum Punkt, du kommst nicht zum Machen... DB Es ist schon so, dass der, der neu dazu

dann ehrenamtlich mit. Die offizielle Satzung

kommt, keine wirkliche Hilfe ist. Wenn man

ist sehr sehr offen formuliert.

ein Projekt macht, dann kommt man irgend-

SB

Es ist also eher ein informelles Gewebe,

wann an den Punkt, wo die meisten Dinge

wo jeder was dazu beisteuert und dann auch

laufen. Wenn dann wieder jemand Neues da-

wieder profitiert. Nach 1999 waren bereits Leu-

zukommt, dann musst du nochmal alles

te da, oder? Und das Ganze hat dann 2003 so

überarbeiten. Man muss irgendwann aufhö-

richtig angefangen.

ren und vielleicht sogar Leute zu einem

DB Ja, das waren mehrere federführende

gewissen Zeitpunkt des Projekts ausschlie-

Personen. Später gab es dann Differenzen,

ßen, sonst kommt einfach nur Schrott raus.

aber die sind nicht fürs Protokoll. SB

Für mich ist das ein wichtiger Aspekt,

dass es in einer solchen Konstellation immer

LL Also als Partizipation würde ich das hier nicht beschreiben. Es ist eher so, dass sich ein paar Leute finden, die etwas gemeinsam

p.195

PW Über den Verein wurden dann Verans-

Interview

lichen Duldungen vielleicht etwas Länger-


Wagenhallen — Stuttgart

machen wollen. Und das läuft dann eben

halt anders nicht vereinbar. Und ein Regel-

projektbezogen.

werk ist mit der Künstlerszene auch nicht

SB

wirklich vereinbar.

Das ist doch das Potenzial hier, dass

jeder sein eigenes Projekt machen kann mit

SB

Es ist ja oft so, dass Kreativquartiere

eigener Initiative, immer mit dem Kunstverein

aus einem informellen Gefüge entstehen.

im Rücken. Eine ganz andere Vorgehensweise

So wie z.B. die Binz in Zürich, dort gibt es kei-

findet im MuseumsQuartier Wien statt. Da wer- ne Fluchtwege, die Treppen sind viel zu schmal den Leute mit Hilfe von Stipendien ausgesucht,

und Sachen sind wild übereinander gebaut.

die dort für einen Zeitraum arbeiten dürfen.

Die NDSM in Amsterdam hat einen ähnlichen An-

Der Schwerpunkt – würde ich sagen – liegt also

fang, allerdings wurde die Kunststad im Inne-

eher auf einer ökonomischen Verwertung des

ren gemeinsam mit den Nutzern, der Stadt und

Künstlers, der ein gewisses Qualitätslevel vor-

Architekten geplant. Jetzt gibt es natürlich

weisen muss, zumindest bei seiner Bewerbung.

Leute, die davor schon dort waren und das Gan-

DB Ein Qualitätslevel gibt es hier nicht,

ze nicht wollten. Und die anderen wollen voran

hier kann jeder kommen und machen was er

kommen, ein Café und andere Attraktionen in

will. Manchmal mieten sich auch Leute ein,

den Hallen unterbringen, damit mehr Touristen

die nichts machen und nur die Räume be-

kommen. Es ist natürlich ein Potenzial, wenn

setzen. Das ist natürlich das Schlechteste

die gezeigte  Kunst   ein  breiteres  Publikum findet.

für  den  Ort.

Aber auch eine Gefahr. Nun gibt es also differ-

LL DIe Leute, die die Räume besetzen, be-

enzierte Meinungen und der Konflikt ist so-

zahlen ja ihre Mieten. Aber wenn du sie

zusagen schon vorprogrammiert. Wie bei den

loswerden willst, kannst du nichts machen,

Waggons, die ich eher als rein autonomes

weil es dafür keine Instrumente gibt.

Gebilde sehe, kann man erkennen, dass sie

SB

Wollt ihr solche Instrumente haben?

wohl ohne Regeln von der Stadt schon längst geschlossen worden wären. Man sieht also,

Auf dem Weg zur Institutionalisierung

dass die Leute in den Waggons daraus etwas anderes machen wollen, als das, was es an-

LL

Es  gab  immer   wieder   Ansätze,  Versuche

und Ideen, wie man solche Instrumente

etablieren, um den Erhalt zu sichern.

oder Regeln entwickeln kann, aber das ist

DB Es ist eine Form von Gentrifizierung.

immer nach hinten losgegangen. DB Ein Beispiel sind die Waggons auf der

Da kommt einer an einen Ort, nistet sich ein und strickt irgendwelche Tangas. Später

anderen Seite des Geländes, deren Nutzer

kommt dann noch die Freundin dazu und

aus der Not heraus nun einen Konsens

der Freund vom Freund und irgendwann

gefunden haben. Die haben ihre Waggons

kommt einer der verkauft Drogen. Das ist für

jetzt also „institutionalisiert“ aufgrund

mich so das normale Prozedere in einem

ihrer Erfahrung mit Trittbrettfahrern oder

Kreativquartier. Dann hast du jede Menge Är-

irgendwelchen Leuten, die Drogen verkau-

ger. Es ist eine andere Form von Gentrifizie-

fen usw. Das ganze war irgendwann so

p.196

fangs einmal war. Sie wollen oder müssen sich

rung.

wirr, das sie sich selbst Regeln auferlegt

SB

haben, um die Chance zu nutzen, dort

Wagenhallen standen ja auch schon auf dem

bleiben zu können. Dann mussten sie sich

Abrissplan der Stadt. Dann haben sich aber

natürlich gefallen lassen, dass die anderen

Leute zusammengefunden, die sich für den Er-

sie als Nazis beschimpfen. Aber das ist

halt   eingesetzt  haben.  Im Falle der Waggons

Vielleicht eine Gegenläufige? Die


SB

wurde wieder mal auf unbestimmte Zeit ver-

in der Halle und  da  war sie schön  leer.  Eine  freie

längert. Wenn also das Interesse entsteht, Din-

Aktionsfläche. Heute ist die Halle wieder voll

ge zu erhalten oder zu etablieren, dann muss

mit Autos, Wohnwagen, Weihnachtsmarktstän-

man einen Konsens finden. Und dieser Konsens

den, Baumaterial, etc.

könnte vielleicht sogar schon der Stillstand

LL Die Fläche wird als Lagerfläche vermie-

sein. Der Fokus liegt dann sozusagen nur noch auf der Selbsterhaltung.

tet. Das war jetzt jedes Jahr so im Herbst. DB Man muss dazu sagen, dass man mal

PW Das kann schon sein...

SB

beschlossen hat, das nicht mehr zu machen.

Wenn jetzt in der Binz – als autonomem

Die Baustelle des beruflichen Schulzentrums

Beispiel – die Leute wirklich machen was sie

vorne an der Straße weitet sich immer mehr

wollen und unerwünschte Leute rauswerfen,

aus. Hier in und um die Hallen herrscht

dann herrscht doch dort ein ganz anderes kre-

eher  so  ein  stilles Abkommen.  Man  beschliesst

atives Potenzial als in der Amsterdamer NDSM

etwas  gemeinsam  und  dann  macht jeder,

oder sogar im MuseumsQuartier Wien.

was er will.

DB Ich glaub, dass die Binz als solche nicht

PW Es gibt hier ja schon eine Öffentlichkeit,

sehr lange bestehen kann. Ohne die Touris-

was Sascha bereits angesprochen hat.

ten haben die Hallen keinen Rückhalt durch

Aber wenn das zu publik wird, dann wird es

die Stadt. Christiania in Dänemark z.B. funk-

eben offiziell, wie z.B. beim Bauantrag, da

tioniert ja nur, weil dort Touristen kommen

kommen  irgendwelche  komischen  Sanierungs-

und es im Reiseführer steht.

maßnahmen die teilweise völlig absurd sind.

SB

Auf der anderen Seite gibt es die Vermietung-

Die  Öffentlichkeitsarbeit  und  das  Institu-

tionelle an den Wagenhallen ist also schon ge-

en,  die  ja  auch  dazu  da   sind,  um   Geld  einzu-

wollt und wird auch gefördert, um den Erhalt zu

nehmen für Nebenkosten usw. Andererseits

sichern? Denn wenn das nicht so wäre, dann

will man das eben auch nicht haben, dass

wären  die  Hallen  vielleicht abgerissen?

die tolle Aktionsfläche vollgestellt ist; aber

PW Ja,  ich  glaub  schon.  Als  einer  der Verant-

der  Karle  als  Vermieter  sagt eben, wir müs-

wortlichen nicht mehr da war, war hier

sen wirtschaften. Keiner hat so wirklich den

auch so ein bisschen Anarchie bei der Raum-

Überblick.

verteilung. Dieses Jahr kam der Schritt mit

SB

Würdet ihr sagen, dass man sich per-

dem Bauantrag, das Ganze zu institutionali- manent in einer Art Schwebezustand befindet. sieren und auch zu organisieren. Unter-

Also in dem Sinne zwischen Bauantrag/Sanie-

schiedliche Leute müssen auf einmal an ei-

rung und dem ökonomischen Verwalten der Ak-

nem Strang ziehen und müssen sagen, wie

tionsfläche?

sie das gerne hätten mit Wänden und

Brandabschnitten. Man muss also ein Kon-

als Verwalter muss natürlich für die Stadt das

zept entwickeln. Das hat auch geklappt ­

Geld einbringen, will aber auch nicht investie-

auf eine Art und Weise, aber dann wurde der

ren. Ist ja auch verständlich, wenn noch nicht

ja von der Stadt wieder gekappt wegen zu

mal  sicher  ist,  in  welcher Form und ob das Ge-

hoher Kosten und dem einsturzgefährdeten

bäude überhaupt bestehen bleibt.

Gebäude. Im Moment  gibt es  also  einen

SB

Baustopp und es herrscht fast wieder

walter des Geländes mit seinem Schrottplatz,

Anarchie. Viele fangen wieder an, einfach

dem Gelände vor den Wagenhallen und den Hal-

irgendetwas zu bauen.

len selbst und Vermittler gegenüber der Stadt?

DB Kann man schon so sagen. Der Karle

Der Karle ist sozusagen der obere Verp.197

Ich war vor fünf Wochen das letzte mal

Interview

hat das ja erst mal geklappt und ihre Duldung


Wagenhallen — Stuttgart

PW Und er ist Vermittler zwischen dem

für das eigene Schaffen. Der eine macht

Veranstaltungsbereich vorne und dem

Veranstaltungen, der andere macht Bilder,

ganzen anderen Haufen von Individuen. Der

der nächste Skulpturen und der übernächs-

Kunstverein ist eine Art Partei in dem

te röstet Kaffee. Es gibt viele Interessen

Ganzen. Es gibt je einen Beirat bestehend aus dem Kunstverein, Karle, Gutbrot-Mell-

und dann entstehen eben auch mal Konflikte.

man (Veranstaltungsbereich), den Hauspa-

wenn 60 Leute zusammenkommen. Es gibt

ten und einem Vertreter aus dem Gemein-

verschiedene Meinungen und die müssen

derat. Der Kunstverein ist eine Art

ausgetauscht werden. PW Du findest immer Leute, die dagegen

Zusammenschluss von den Leuten, die hier wohnen und/oder arbeiten. Vor kurzem war

sind und andere sind dafür. Manchen ist es

schon der zweite Bauantrag. Der erste

egal und dann ist die Frage, wer entschei-

Vorschlag kam vom Veranstaltungsbereich,

det und was passiert. DB Manchmal gibt es Projekte wo Leute

die Halle mit einer fetten Mauer zu teilen. Das war natürlich ein klares Zeichen. Der

das Maul aufreißen, was für ein wundervol-

eine Teil wäre der, der primär wirtschaftet.

les Projekt sie vorhaben und meistens wird

Wir wirtschaften ja auch, aber halt anders.

dann doch nichts draus. In den meisten

Aber der Veranstaltungsort produziert

Fällen ist das auch gut so.

natürlich die größte Öffentlichkeit. DB Du musst das so sehen: Hier gibt es immer den Kreativschaffenden und den

SB

Nochmal zum Zwiespalt zwischen dem

Autonomen und dem Institutionellen. Es kommt dann die Frage auf, ob die Wagenhallen sich

Geschäftsmann. Das ist nur in einem

immer mehr institutionalisieren um das

gewissen Maße vereinbar, zumindest nicht

Gebäude letztendlich zu erhalten. Es gibt

in der selben Person. Also mir fallen viel-

Gespräche mit der Stadt, den umliegenden

leicht fünf bis sechs Leute ein, die hier

Anwohnern etc. und ihr müsst ein einheitliches

professionell künstlerisch arbeiten.

Meinungsbild formulieren und dann sind

SB

Professionell künstlerisch Arbeiten

plötzlich diese individuellen Wünsche wieder

heißt für dich, so viel Kunst zu produzieren,

eingeschränkt. Man formuliert also einen

dass man davon leben kann?

Konsens. Wir wollen herausfinden, welche

DB Nicht nur. Aber die fünf Leute hier, die

Wirkung ein Kreativquartier auf die Stadt hat

davon leben können, schon. Dazu kommen

und natürlich auch anders herum. Die Frage

natürlich die Architekten, Grafiker usw. Das

der Institutionalisierung kommt in diesem

ruft natürlich Konflikte mit den Leuten

Zusammenhang immer wieder auf und noch

hervor, die nur Dollars im Kopf haben. Wenn

mehr die Frage, wie wichtig diese ist, z.B. beim

man das will, braucht man mehr Frequen-

Erhalt des Gebäudes.

tierung, Parkplätze usw. Da liegt es nahe,

D B Ich würde sagen es gibt unterschiedli-

einfach eine Mauer hochzuziehen, dann hat

che Formen von Rückhalt und Institutionali-

man das ganze Durcheinander mit den

sierung.

anderen nicht. Natürlich etwas schade, weil

LL Das wurde uns ja auch schon vorge-

es von der Ideologie der freien, kreativen

worfen, dass wir als solches Konstrukt nicht

Spaßgesellschaft abkommt. Die funktioniert

sichtbar werden.

halt irgendwann nicht mehr, wenn man p.198

LL Ich denke das ist nicht sonderbar,

jeden Euro zweimal umdreht. PW Es geht ja eher um bezahlbaren Raum

DB Ja genau, dass wir uns nach außen hin ganz schlecht vertreten. Angefangen von der fehlenden Beschilderung bis hin zum


PW Aber eigentlich gibt es kein Geld von

Gelände zu bringen.

der Stadt. Nur für Projekte über den Verein,

PW ... so ‘ne Veranstaltung, wo die Leute

wie 72 HUA oder die Hermannsschlachten.

hinschlappen können oder ein Showroom

Dafür gab es Geld, aber keine institutionelle

oder Museums-Shop. Das MuseumsQuartier

Förderung an sich.

Interview

Thema: jährlich Öffentlichkeit auf das

Wien besteht ja aus Museen. Die Binz oder die Wagenhallen sind auch Produktionsstät-

Die Frage nach dem Kreativquartier

ten. Aber ihr macht ja schon immer mit bei

SB

Die Frage ist, ob ein Kreativquartier

der Stuttgart-Nacht und der Museums-Nacht.

planbar ist. Wie sieht für euch ein Kreativquar-

Also eine gewisse öffentliche Wirkung haben

tier aus?

die Wagenhallen mittlerweile schon. Das

PW Ich würde sagen, Kreativquartiere gibt

Binz-Areal hat logischerweise keinen Muse-

es schon sehr lange. Kreativquartier in dem

ums-Shop, die NDSM und die Wagenhallen

Sinne verstehe ich als etwas, das schon von

auch nicht. Aber das MuseumsQuartier Wien

Institutionalisierung ausgeht, weil es

hat einen, ist also zu was ganz anderem

eigentlich ja schon etwas Fassbares dar-

geworden.

stellt. Im Gegensatz zu Zwischennutzungen

SB

oder besetzten Häusern, in denen sich

Wenn sich die Wagenhallen so weit

institutionalisieren wie das MuseumsQuartier Wien, dann sind diese nicht mehr von der

etwas entwickelt. DB Ich sehe es als so etwas wie ein Überbegriff: Stell dir mal vor, eine Person

Stadt weg zu denken und werden zur Kulturstätte. Dann gibt es öffentliche Gelder für

hier zieht aus und macht etwas mit acht

Sanierung, Veranstaltungen und Projekte.

Parzellen. Mit Leuten, die wie sie denken,

PW Das haben wir ja mit der 72 HUA (72

die nerven nicht, die hören keine laute

Hour Urban Action) über den Gemeinderat

Musik, die wollen nur arbeiten, sonst nichts.

versucht. Es gab 150.000 Euro für das

Die Infrastruktur passt, dann hat sie ihr

Festival und die Unterstützung war gebun-

Kreativquartier, aber völlig ohne Institutio-

den an die Ertüchtigung der Halle. Es gibt

nalisierung. Das sind dann acht Leute und

also Geld, aber nicht allein für Kulturpro-

jeder arbeitet vor sich hin an seinem eigenen Arbeitsplatz.

duktion, sondern eigentlich für die Bestandssicherung der Halle. Die Stadt selbst

S B

hat nur 7.100 Euro dazu beigesteuert.

quartier wenn jemand ein Bürogebäude

Andere Gelder kamen von Stiftungen etc.

anmietet und nur an Architekten und Grafiker

Daraus entstand der Bauantrag und die

untervermietet?

Umnutzungsgeschichte und keiner wusste

D B Das wäre ja auch ein Kreativquartier.

wo die 150.000 Euro investiert werden

LL Nee. Ein Kreativquartier wird es erst

Aber ist das dann wirklich ein Kreativ-

sollen. Das Festival hat jetzt stattgefunden,

dann, wenn der gesamtstädtische Kontext

aber wir durften das Geld dafür letztendlich

stimmt. PW Ja, das glaube ich auch.

nicht benutzen, weil es keine baurechtli-

chen Möglichkeiten gab, das Geld zu

DB Dann reden wir aber über eine Rele-

verwenden. Es gibt jetzt ein paar Hilfsstüt-

vanz. Sozusagen eine „Hallo-hier-bin-ich-

zen in der Halle – vielleicht wurden die

Relevanz“ und das wird dann wichtiger als

damit bezahlt – sozusagen als Kulturstüt-

die Mikromanufaktur. Wichtig ist doch die

zen.

Produktion, das ist das A und O.

p.199

SB


Wagenhallen — Stuttgart

LL Je nachdem für wen was wichtig ist.

SB

Also für dich wäre die Produktion wichtig.

lich verbunden sind und sich des öfteren über

DB Ja klar, ohne deine Produktion kannst du das doch in der Pfeife rauchen.

Aber sind sie befreundet, weil sie ört-

den Weg laufen? LL Also wenn ich jemanden nicht leiden

PW Das wäre dann die Mischung von Pro-

kann, dann wäre ich froh, wenn der endlich

duktion und Rezeption vielleicht. Vielleicht

von meiner Bildfläche verschwindet.

einfach nur ein Museum. Konsum, Museums- DB Wenn man es nicht besser wüsste, könnShop... SB

te man sagen, hier ist totale Harmonie und

Vielleicht kann man das unter dem Be-

Händchenhalten.

griff der Öffentlichkeitsarbeit zusammenfassen. PW Wenn hier eine Produktion ist, ist es na PW Ihr meint ja Produktion, Rezeption und

türlich naheliegend, dass jemand von hier

irgendwelche Begleiterscheinungen wie

mitmacht und seine Profession dafür einsetzt.

Café, Restaurants, Veranstaltungen, also so

Da ist schon auch etwas dran, an dieser

eine Mischung.

Idee von einem Pool auf den man zugreifen

DB Dann ist aber die Frage, aus welcher

kann aufgrund der örtlichen Begebenheit.

Sicht man das betrachtet. Wenn da z.B. ein

Aber das ist nicht so selbstverständlich oder

Gebäude ist, das abgerissen werden soll, aber der Bildhauer Häberle arbeitet dort und

alltäglich.

hat zweimal im Jahr Museumsnacht und Kulturnacht. Dafür öffnet er sein Atelier und

LL Das findet nicht in einer so romantischen Ausformulierung statt. PW Auch wenn der Kunstverein intern nicht

das übrige Jahr arbeitet er nur vor sich

wirklich aktiv ist, hat er mittlerweile so eine

hin. Kurz: Zweimal im Jahr ist es offen und

Art Name oder Standing. Aber das hat sich

alle finden es geil. Dann kannst du das

eher über Einzelproduktionen ergeben.

Gebäude nicht abreißen, weil Feedback oder

DB Das ist kein Kunstverein, in dem man

Rückhalt in der Gesellschaft da ist. Dann

sich einmal die Woche trifft. Aber der

hast du ein Kreativquartier.

Kunstverein ist in erste Linie ein Instrument.

SB

Nehmen wir mal an, da ist ein Gebäude

in dem nur Grafiker sitzen. Die haben alle

Entstehung & Definition

eine ähnliche Ansicht und Arbeitsweise. Im Fall

eines Kreativquartiers

der Wagenhallen wäre das ein ganz anderes Potenzial. Sagen wir du machst jetzt ein Gemäl- SB de und anschließend eine Vernissage. Dann

Zwischennutzungsmanagement der Stadt

gehst du zum hauseigenen Grafiker und lässt

Stuttgart. Die Stadt hat eine Broschüre heraus-

von ihm einen Flyer machen. Es ist also eine

gebracht, in der 35 Kreativquartiere in Stutt-

Art Kooperation untereinander da.

gart gelistet und näher beschrieben sind.

LL Es ist gar nicht so sehr das Miteinander. Ich würde das nicht überbewerten.

DB Was du vielleicht meinst ist die Option,

p.200

Es gibt seit April ein Leerstands- und

PW Welches zum Beispiel?

SB

Zum Beispiel das L22 im Stuttgarter

Westen mit dem Begleittitel „Kreativareal“.

dass man das könnte.

Das wäre für mich so ein Beispiel für eine Büro-

PW Wenn bei dem Festival z.B. Künstler, Ar-

gemeinschaft. Keine öffentlichen Veranstaltun-

chitekt und Grafiker zusammenarbeiten,

gen, geringer kultureller Beitrag, lediglich

dann liegt das ja daran, dass sie befreundet

angemietete Büroräume.

sind.

PW Das ist halt ein Haus. SB

Genau, in dem jeder seinen Arbeitsplatz


Da stellt sich die Frage, was genau das ist. Für mich ist es primär Leerstand. Dann hat jemand

Interview

hat. Solche Orte entstehen überall in der Stadt.

die Idee, an Künstler mit geringerem Anspruch zu vergeben. Es werden niedrige Mieten gewährt und man nennt es Kreativquartier. Das ist ein anderer Ansatz, als in den Wagenhallen. Hier war das Ganze eine Entwicklung. Bei den anderen Beispielen springt man auf das Phänomen Kreativquartier einfach auf und versucht Gebäude zu belegen. DB In den Wagenhallen gab es am Anfang auch billige Mietflächen und jetzt hat es sich mit dem Kunstverein zu den heutigen Wagenhallen entwickelt. Das braucht einfach seine Zeit. Wenn du nur zwei oder drei Jahre Zeit hast, dann passiert nichts. SB

Du würdest eher sagen, so etwas

entwickelt sich über die Zeit und kann nicht von vorn herein geplant werden? DB Doch, auch. Wenn man die richtigen Leute findet, dann kann das schnell gehen. Image und Außenwirkung der Wagenhallen SB

Im Vergleich mit anderen Kreativquar-

tieren oder sagen wir besser „kreativen Ansammlungen“ – wie seht ihr das Image der Wagenhallen von außen? LL Das würde ich auch gern mal wissen. SB

Was auffällt ist, dass mittlerweile auch

in der U-Bahn Plakate hängen für Veranstaltungen in den Wagenhallen. Sie sind aus der Stuttgarter Kulturszene nicht mehr weg zu denken. Und es steigert sich weiter. DB Ja, das ist der Kulturbetrieb hinten, die haben natürlich eine gute Publicity – brauchen sie natürlich auch für ihre Konzerte. Aber es ist immer das große Missverständnis. Wenn die Leute an die Wagenhallen denken, dann denken sie gleich an DJ Schanke. Im Trittbrett und profitiert gegenseitig.

p.201

Grunde fährt man da gegenseitig auf dem


Wagenhallen — Stuttgart

Das Gelände auf dem Weg zu S21 ? SB

Könnte man den Post 21 Workshop und

die Begleitveranstaltungen als eine Art Öffentlichkeitsarbeit sehen, um den Bekanntheitsgrad der Wagenhallen zu erhöhen? PW Es war eigentlich schon gedacht, mit diesen Veranstaltungen ein paar räumliche Setzungen zu machen. Für die nächsten 10 - 20 Jahre ist hier hinten die Logistikfläche für Stuttgart 21 geplant. Es gibt keine Investoren für das Gelände, die Stadt macht auch erst mal nichts – hat vielleicht auch Angst. Dann haben wir gesagt, dann machen wir einfach was. Das hatte eine Außenwirkung und die Halle hat sich etabliert. Jetzt ist es mehr oder weniger ein gefestigter Haufen. Es war auch mal gedacht, den Städtebau nach diesem Bedarf zu planen. Also mit den Leuten und den Bedürfnissen, die schon da sind. Ein städtebaulicher Plan ist ja immer spekulativ für irgendwelche zukünftigen Nutzer. Wir sind schon da. Dann machen wir halt das, was wir brauchen. Eine Art Anknüpfungspunkt, Ausgangspunkt oder Impulsgeber. SB

Was passiert, wenn die Wagenhallen

abgerissen werden? Ist es für euch ein Problem, woanders hin zu gehen? PW Das ist ja die allgemeine Praxis, dass man davon ausgeht, dass die Leute wieder woanders hingehen. SB

Das sehe ich auch als Potenzial. Dann

gibt es eben wieder eine neue Mischung von Leuten aus der Kultur- und Kreativwirtschaft. Es entstehen neue Beziehungen, neue Konflikte und neue Konflikte sind wiederum neues Potenzial. PW Es ist so, dass wenn du fünf mal einen Ort neu entwickelt hast, du irgendwann einfach kein Bock mehr hast. Vielleicht schon p.202

nach dem ersten mal nicht. DB Der jugendliche Enthusiasmus spielt da sicherlich eine Rolle. Sich auszuprobieren,


keinen Sinn, das hier einfach aus Spaß zu

eigentlich will.

machen... SB

Wenn du behauptest, man kann ein Kre-

denken, das ist der Mittelpunkt des Univer-

ativquartier programmatisch steuern, planen

sums und der Harmonie.

und gewisse Rahmenbedingung schaffen, dann

PW Das Problem, an einen anderen Ort zu

wird das allmählich zu einem typologischen

gehen hat schon auch mit den Möglichkeiten

Ansatz. Die Frage ist: Kann das dann zu einer ei-

zu tun. Die Potenziale des Ortes sind wich-

genen Typologie werden? Also Bahnhof, Flug-

tig. Es ist nicht völlig egal, wo man ist.

hafen, Kreativquartier?

Es gibt Rahmenbedingungen, die hier bes-

PW Aber die Räume sind ja schon getrennt

ser sind als irgendwo anders. Dann entwickelt sich etwas, das möglicher-

in bedachte, unbeheizte Räume, bedachte, beheizte Räume, kleinteilige Räume, großtei-

weise zum Kreativquartier wird. Vielleicht

lige Räume, beheizt oder unbeheizt usw....

kann man das sogar steuern, wenn man be-

Ja klar kann man das dann planen...

stimmte Leute dort hin holt.

SB

Mittlerweile bezweifeln wir, ob der Typo-

DB Scheiß auf Kreativquartier.

logiebegriff überhaupt noch Sinn macht, weil

L L Ich glaub du kannst das nicht program-

eh alles anders aussieht und letztendlich nur die

matisch planen aber man... SB

...kann Rahmenbedingungen vorgeben.

DB Ich würde behaupten, du könntest so ein Format entwickeln. Da ist eine Stadt, die

programmatische Definition übrig bleibt. Man könnte vielleicht besser von einer Methode sprechen. DB Sehen wir das mal rein kaufmännisch:

sagt, wir haben etwas Geld und wir bauen

Du hast die Marktlücke Kreativquartier

innerhalb von einem Jahr ein Kreativquartier,

entdeckt. In Rottenburg am Neckar gibt es

mit Räumen, Showroom, Public-Viewing, mit

eine Kulturnacht. Wofür? Gibt’s halt ein-

einer Kombination. Die dann ein ähnliches

fach... Wenn man sagt, du bist eine abge-

Programm fahren, wie wir. Ähnlich wie das

fuckte Stadt, was brauchst du alles? Ein

Format der Museumsnacht. Das wird bei

Rotlichtviertel, Kreativquartier oder Flug-

jeder Stadt jetzt aufgesetzt. Genauso kön-

hafen? Wie beim Spiel SimCity, da gibt es

ntest du so ein Kreativquartier-Konzept

dann auch das Kreativquartier zum Einsetzen.

erstellen. Vielleicht kommt es darauf an, der

Dann hat die Stadt halt erst ‘ne halbe Mil-

Stadt ein Format Kreativquartier zu verkau-

lionen Einwohner, später dann zwei. Gerade

fen. All inclusive.

mit Stipendien kannst du ja Leute ziehen,

LL Pass mal auf: Kein Mensch macht ein

die du dort haben willst.

Kreativquartier, um ein Kreativquartier zu

SB

machen. Sondern diese Orte entstehen und

Hamburg, Stuttgart,... Jede Stadt versucht, die

heißen dann so. Aber was wir doch alle wol-

Kreativen an sich zu binden.

len ist doch, unseren Job zu machen und un-

DB Also Kreative gibt es genug. Die Frage

sere Existenz aufzubauen. Wir brauchen

Das macht aber mittlerweile jede Stadt.

ist nur nach der Qualität der Kreativen. Ein

Räume, in denen wir anfangen können. Und

Kreativquartier muss ja auch nicht an sich

solche Räume bilden die Möglichkeit dazu.

qualitativ hochwertig sein um zu funktionie-

Sie sind günstig, sie sind experimentierfähig

ren. Es gibt wohl genug Potenzial oder

und keine Ahnung was weiß ich noch was.

sagen wir Menschen-Material für solche Kre-

Es geht nicht darum, ein Kreativquartier zu

ativquartiere.

machen, das ist der Punkt. Das macht doch

p.203

DB Es gibt sicher ein paar Leute hier, die

Interview

um später zu entscheiden, was man kann und


Wagenhallen — Stuttgart

SB

In Karlsruhe hat man versucht, ein Kre-

ativquartier am alten Schlachthof zu planen. Das ist aus meiner Sicht voll in die Hose gegangen. Denn durch den planerischen Charakter ist die Stadt von Anfang an mit eingebunden. Wenn die Stadt dabei ist, müssen sanitären Anlagen auf einem gewissen Stand sein, Brandschutzmaßnahmen, Fluchtwege etc. erfüllt werden. Dann erreicht man schnell einen Quadratmeterpreis von 10 Euro pro Monat und es ist für eine gewisse Schicht von Künstlern einfach nicht mehr bezahlbar. Dann kommt nicht mehr der autonome Künstler und macht seine Sachen... DB Das ist die Frage, ob es nicht ein Problem ist, wenn Toiletten fehlen. Ist natürlich auch die Frage, ob das freie Unternehmertum damit umgehen kann. Sanitäre Anlagen sind gleich Kosten, die sich auf den Mietpreis schlagen. Dann ist das zu teuer für Künstler. Das ist ein Teufelskreis. SB

Der Prozess ist beim MuseumsQuartier

Wien schon abgeschlossen. Es gibt Fluchtwege, ausreichend Toiletten, der Brandschutz ist erfüllt etc. Wenn die Wagenhallen auch in Richtung der Institutionalisierung gehen, dann gibt es vielleicht bald ein neues Dach, mehr Toiletten, Fluchtwege usw. und der Mietpreis steigt ebenfalls. Dann werden hier bestimmt andere Menschen arbeiten. DB Aber das ist einfach so. Das ist die Gentrifizierung. That’s life. Es wird immer als ein Unwort dargestellt, aber das ist ganz normal. Die böse Natur.

L L So, wie sich alle Städte ständig verändern. Es gibt Zustände, die kann man nicht halten.

DB Schwierig ist, wenn man den Zustand als Gottgegeben annimmt. PW Man kann gewisse Situationen und Zustände schon steuern. p.204

DB Genau. Die Frage ist, ob das wirklich alles so ist oder ob man da noch einen Einfluss hat.


SB

DB Nein, eher aktiv. Tillmann Eberwein,

dringende Frage nach dem Verbleib der Hallen

Das wäre dann auch der Ausblick. Die

ein Künstler hier in den Wagenhallen, hat das

und was mit ihnen passiert. Auch mit der

mal ganz passend gesagt, dass wir uns

Schule dort hinten und der Logistikfläche für

selbst „von innen heraus gentrifizieren“

Stuttgart 21.

müssen.

PW Die haben ja schon Ideen dort hinten

SB

Wie unser Gespräch gerade, das findet

hier in der Küche statt, was ja in gewisser Weise auch für das Geschehen hier in den Wa-

auch Hochschulen hinzustellen, weil es dort vorne mit der Schule so gut geklappt hat. LL Ich glaube, das ist gerade ‘ne ganz hei-

genhallen spricht.

ße Phase hier. Irgendwas Komisches wird

PW War alles etwas improvisiert.

hier passieren...

SB

Aber genau so hatte ich mir das vorge-

stellt.

Interview

LL Die Illusion einer Partizipation oder was?

PW Ja. Sporthalle für die Berufsschule zum Beispiel.

PW Das spiegelt wieder, dass wir uns über

SB

Ich danke Euch für das Gespräch.

das Eigentliche mehr Gedanken machen als über unser Auftreten. Es entsteht alles

Das Gespräch wurde am 29.11.2012 in Stutt-

aus einem Tun heraus. Wer macht mit, wer

gart geführt.

hat Bock. Nicht nach irgendwelchen Vereinssitzungen und so. Es wird nix evaluiert oder geplant in dem Sinne, außer jemand hat ein Projekt und holt dazu Leute von hier oder außerhalb. SB

Wäre jetzt komisch, wenn hier jeder im

Anzug sitzen würden... L L Aber wir haben schon manchmal einen Anzug an, z.B. wenn wir zur Stadt müssen. SB

Das ist aber dann der Weg zur Instituti-

on. Wenn du was willst, kommst du persönlich selbst als Institution dort hin.

LL Ja das stimmt, als graue Eminenz. Hatten wir ja vorher schon.

Ausblick SB

Die Duldungen wurden die letzten Jah-

re immer jährlich vergeben. Ich habe gehört, dass die bevorstehende Duldung für die kommenden fünf Jahre gültig sein soll, wenn das Gebäude ertüchtigt ist. PW Ja weil das jetzt nicht mehr offiziell so geduldet werden kann. Dazu haben die dieninteresse.

p.205

Wagenhallen mittlerweile ein zu großes Me-


Exkurs — Interview

UWE STUCKENBROCK, Architekt und Stadtpla-

stellt man fest, dass Menschen zusam-

ner, war bis vor kurzem Leiter der städtebauli-

menkommen müssen, die kreativ sind. Was

chen Planung der Stadt Stuttgart, im Gespräch

auch immer das zunächst zu bedeuten hat.

mit Daniel Springer

Ein Bekannter von mir, der verschiedenste

Einführung

suche mir eine Idee aus und setze sie um.

Patente angemeldet hat, sagte einmal: „Ich Erst dann erweist sich, was Kreativität ist.“

p.206

DS

In unserem Research geht es um die

Da kommt nämlich die Kehrseite der Krea-

Fragestellung, welches innerstädtische Poten-

tivität zum Vorschein. Wenn man eine neue

tial Kreativquartiere haben. Genauer unter-

Idee hat, wird man die Neuigkeit dieser Idee

sucht haben wir dabei das MuseumsQuartier

am Widerstand der anderen Menschen mes-

Wien (MQ), die Wagenhallen in Stuttgart, die

sen können. Ich muss dann mit allen Mitteln

NDSM-Werft in Amsterdam und die Binz in Zü-

des Bazars, also der Ellenbogen, dieser

rich. Diese vier Quartiere stellen eine gewisse

Idee einen Freiraum verschaffen. Denn das

Bandbreite dessen dar, was wir unter einem

wirklich Neue ist immer fremd. Für einige

Kreativquartier verstehen. Während wir auf

ist es zunächst unbedeutend. Aber viele

der einen Seite das MQ als institutionalisiertes

andere sehen ihre Existenz dadurch eventu-

Kreativquartier bezeichnen, lässt sich auf der

ell bedroht. Das bedeutet, dass zum Krea-

anderen Seite die Binz in Zürich als autonom

tivquartier eben auch der Kontext gehört.

besetztes Quartier beschreiben. Die Mitte bil-

Eine Mentalität, die den kreativen Prozess

den die Wagenhallen und die NDSM. Was halten

anregt. Einen Prozess des Fortschritts und

sie von dieser Aufteilung?

der Erneuerung. Eine Aufmerksamkeit, die

US Man sieht hier vier verschiedene Orte,

nicht gleichgültig ist, sondern gefährlich

an denen sich Leute treffen. Was ich sehr

oder interessant sein kann. Dieser sehr ag-

interessant finde, sind die Funktionsbedin-

gressive Prozess sollte unterstützt werden.

gungen eines solchen Ortes. Ich verfolge

Zudem stellt sich die Frage, ob der Ort die

eine ähnliche Fragestellung bei Plätzen.

nötigen Potentiale bietet, die einen Anstoß

Wann ist ein Platz ein urbaner Platz? Viele

hervorrufen können? In Wien, Amsterdam,

Architekten und Stadtplaner denken, wenn

Stuttgart und Zürich gibt es solche Potenti-

ich schöne Häuser und bestimmte Propor-

ale, solche Umbruch- und Erneuerungspo-

tionen vor Ort habe, dann ist das ein guter

tentiale.

urbaner Platz. Und ich war ganz überrascht

DS

als ich in Marrakesch auf dem Djemaa el

vität zu einer gewissen Infrastruktur geworden.

Fnaa 1 war. Der Platz ist so groß, dass man

Sie bedingt Räume mit einer bestimmten Grö-

Gerade in den letzten Jahren ist Kreati-

die Ränder nur ganz begrenzt wahrnimmt.

ße oder auch mit bestimmter Veränderlichkeit,

Er lebt durch sich selbst und zwar durch

in denen man etwas schaffen kann.

die Menschen. Und seit der Zeit ist mir be-

US Das ist richtig. Es sind auch manchmal

wusst, dass die Menschen der bestimmende

ganz materielle Dinge. Strom- und Internet-

Faktor sind. Die Menschen sollten eine Hülle

anschluss zum Beispiel, ein Kopiergerät und

vorfinden, die sie erstens nicht behindert

eine Kaffeemaschine und letztendlich Raum,

und zweitens in ihren Aktionen noch be-

in den es nicht hineinregnet. Bedingungen,

günstigt. Das heißt, ich muss mir die sozia-

die das Leben leichter machen und durch

len Aktionen vorstellen. Was sind notwendi-

die man selbst nicht mit Daseinsvorsorge

ge Voraussetzungen für Kreativität? Dabei

abgelenkt ist. Dann gibt es vielleicht auch


Strategien werden langfristige und temporäre

die noch eine gewisse Neugier und vielleicht

Aktionen gesteuert.

sogar auch Erwartungshaltung an solche

US Aber merken sie, dass hier diese

Orte mitbringen. Es gibt also viele Faktoren,

Innovation gezähmt wird? Schon im Zu-

die so ein Quartier begünstigen und somit

stand des Planens verliert das Neue an

auch ermöglichen können.

Schrecken. Das Neue ist oft überraschend.

DS

Diese vier genannten Gebäudekomplexe

Wenn ich es institutionalisiere, dann führe

wurden ursprünglich für andere Nutzungen

ich eine Verstetigung ein. Ich komponiere

geplant. D.h. es handelt sich bei allen vier Kre-

eine soziale Plastik 2, die einen bestimm-

ativquartieren um Transformationen.

ten Wechsel hat. Ich entwerfe eine Villa

US Dabei darf man nicht vergessen: Es

Massimo 3, so dass jedes Jahr neue Leute

gibt in solchen Quartieren eine Pionier-

kommen und dadurch immer wieder neue

phase. Und wenn diese erfolgreich ist, weil

Uwe Stuckenbrock

Universitäten und Institutionen in der Nähe,

Orte entstehen.

ein Potential vorhanden ist, dann geht das

DS

Gerangel der Kräfte los. Und es ist ganz

daher auch weltweit bekannt. Deshalb müssen

schwierig diese Phase lange auszudehnen,

Künstler, die dort arbeiten, einen bestimmten

denn die Etablierung setzt irgendwann ein.

Bekanntheitsgrad mitbringen, oder zumindest

Die Nutzer erheben Geltungsansprüche. Sie

ökonomisch verwertbar sein.

sagen dann nicht, ich bin jetzt älter, jetzt

US Angenommen ich gehe in das MQ, weil

muss ich wieder raus. Sondern sie sagen,

ich diese Anforderungen erfülle, dann wird

es ist jetzt gerade schön, ich bleibe hier.

etwas von mir erwartet. Das ist dann aber

Das MQ ist touristisch ausgerichtet und

Und das macht die Sache uninteressant.

nicht das, worauf man käme, wenn man

Denn die Quartiere leben von den Pionieren,

sich nicht beobachtet fühlt, wenn man

bzw. von dem inneren Zittern, klappt es

sich selbst überlassen ist. Das sind zwei

oder klappt es nicht. Es ist diese Not, die

verschiedene Prozesse, denke ich. „Ich

das Neue stark macht. In dem Augenblick,

bin eingeladen und bekomme Raum und

indem die Nutzer wissen, wir haben jetzt

Geld dafür“ ist ein äußerlicher Prozess.

10 Jahre Zeit, uns zu etablieren, ist das

Der innerliche Prozess hingegen findet

zwar schön, aber es geht so ein bisschen in

unbeeinflusst von so etwas statt. Ich hörte

Richtung „Cappuccino“. Den Mechanismus,

neulich ein Interview mit Günther Wand

der einen konstanten Erneuerungsprozess

4. Da sagte er über die Symphonien von

hervorruft, den sehe ich im Augenblick

Bruckner, dass man die erste Symphonie

noch nicht.

vergessen könne und er bei seiner 7. oder 8. Symphonie versucht habe, an den Erfolg

Das MuseumsQuartier Wien

seiner 5. Symphonie anzuknüpfen, er aber nicht geschafft hat. Solche Erfolge sind

Es war das Erfolgsmodell des MQ, viele

kulturelle Institutionen an einen Ort zu bringen,

Singularitäten. Vielleicht ist ein fluktuierendes Potential in einer Stadt das geeignetste.

die durch eine Hierarchiestruktur gesteuert

Meistens ist es immer nur rückblickend

werden. D.h. es gibt einen Vorsitzenden und

ein besonderer Ort. Irgendwo haben sich

diverse Zuständige auf unterschiedlichen Ebe-

Potentiale aufgetan und es ereignete sich

nen. Es gibt einen öffentlichen Raum im Innen-

etwas. Oftmals müssen nur zwei oder drei

und Außenbereich, der als Kulisse dient und

Leute zufällig aufeinandertreffen und eine

dauerhaft bespielt wird. Durch planerische

Möglichkeit vorhanden sein. Und wenn Po

p.207

DS


Exkurs — Interview

tential da ist, dann findet sich meistens ein Ort,

die durch ein Informationssystem über die

wo es sich entfalten kann.

wechselnden Bewegungen in der Stadt und die Möglichkeiten der Zwischennutzung in-

Leerstellen und Potential

formiert. Damit sind aber auch viele recht-

DS

ist nicht darauf eingestellt, so flexibel auf

liche Fragen verbunden. Die Bauverwaltung Leerstellen gibt es ja immer mal wieder

in Städten.

US Etwa 3-5 % im Durchschnitt.

DS

Gibt es Pläne dafür, wie man solche

eingestellt auf Investorenprojekte, also zum Beispiel ECE-Projekte 5 mit 500 Millionen

Leerstellen zwischenzeitlich nutzen könnte?

Investitionssumme. Diese Prozesse sind in-

Eine Plattform für solch eine Organisation gibt

stitutionalisiert. Man müsste Zwischennut-

es noch nicht?

zungspotentiale so frei institutionalisieren,

US Für meine Begriffe ist das noch nicht

dass man spezielle Befreiungen akzeptiert,

gut organisiert. Es ist immer wieder ein

zum Beispiel im Falle von Stellplätzen oder

hinterhereilendes Bemühen, wenn jemand

den Brandschutzanforderungen.

in Not gerät. So wie ich es beobachtet habe, ist es nicht wirklich institutionell oder pro-

DS

So dass es zum Beispiel für den Typ

„Zwischennutzung“ mehrere Auflagen gibt, je

fessionell. Ein Problem ist es, das Vertrauen

nach Grad und Nutzung? In diesem Fall würde

der Vermieter herzustellen, in diesem Fall

der Vorgang einen rechtlichen Rahmen be-

das der Zwischennutzer, wenn diese nach 3

kommt.

Monaten, nach 6 Monaten oder nach einem

US Ja. Man müsste ein Verfahren dafür

Jahr schon wieder weiterziehen. Daher stel-

schaffen. Denn wenn ein Gebäude ein

le ich mir vor, dass dafür zum Beispiel die

Jahr zur Verfügung steht, dann darf es

Stadt bürgen könnte. Sie müsste die Kom-

dafür nicht ein dreimonatiges Baurechts-

munikation mit den Mietern übernehmen.

verfahren benötigen. Diese Bedingungen

Hinzu könnten auch gewisse Bürgschaften

könnte man sicher verbessern. Wenn man

kommen, um Misstrauen zu umgehen. Ein

verallgemeinernd spricht, handelt es sich

anderes Thema wären da noch Kredite.

ja um transitorische Orte, bzw. Interims-

Manchmal muss zum Beispiel die Elekt-

nutzungen. Dabei stellt sich die Frage, wie

rizität im Gebäude vor Einzug überprüft

man den normalen Wandel einer Stadt, der

werden. Neben der blanken Information des

immer Leerstellen beinhaltet, garantieren

freigewordenen Ortes und solcher Kredite,

kann, um die Stadt weiterhin intelligent nut-

wären Zwischennutzungen eine unendliche

zen zu können. Gebäude werden abgerissen

Hilfe, kreatives Potential an eine Stadt wie

und dann heißt es: In zwei oder drei Jahren

zum Beispiel Stuttgart zu binden. Und es

wird etwas Neues gebaut. Das würde dann

wären dann auch Bedingungen für wirkli-

bedeuten, Freiflächen interimsweise zu

che Kreativität gegeben, so dass ein Pro-

nutzen, zum Beispiel als Kleingartenanlage

jekt fluktuieren kann und den natürlichen

oder dergleichen. Andere Räume sollten

Wechsel nutzt, den es in jeder Stadt gibt.

modernisiert werden. In der Summe dessen

Es ist etwas anderes, wenn man Kernzellen

ergibt das Potentiale, die in ihrer Dynamik

schafft. Die haben das Problem, dass sie

eine Gruppe am Leben erhalten können.

nicht mehr sterben können. Und was nicht p.208

solche Fälle zu reagieren. Sie ist super

DS

Diese intelligente und kreative Nutzung

richtig sterben kann, lebt auch nicht. Eine

beinhaltet das, was wir uns heute unter Stadt

Idee wäre es, eine Förderung zu installieren,

vorstellen. Auch aufgrund dessen, weil der


Kreativ- oder Kulturinstitutionen. Die Binz ging

das kreative Potential einer Stadt an oberster

aus einer Hausbesetzung hervor und seitdem

Stelle steht. Ich persönlich finde an Stuttgart

kämpfen die autonomen Besetzer und Nutzer

interessant, dass sie zu den Städten zählt, die

gegen die Auflösung einerseits und gegen

unter der Abwanderung der Kreativen leidet,

die Etablierung andererseits. Hier spürt man

aber dennoch ein gewisses Potential aufweist,

ganz andere kreative Kräfte, die schon eher im

nämlich durch ihre Größe und auch die Nähe

Rebellischen verankert sind.

zu anderen Städten in Europa.

US Aber das Rebellische, ich würde es

US Was verstehen sie unter Stuttgart? Wie groß ist Stuttgart für sie? DS

Gefühlt ist das der „Stuttgarter Kessel“

Uwe Stuckenbrock

Städtewettbewerb sehr aktuell ist und dadurch

auch als das Irreguläre bezeichnen, ist ein Merkmal an dem man die kreativen Kräfte spürt. Das Institutionalisierte bzw. das

mit ca 200.000 Einwohnern. Jedoch weiß ich,

Reguläre ist bezüglich dessen schon fast

dass der Verwaltungsbereich ca. 750.000 Ein-

ein Widerspruch in sich. Wenn die Züricher

wohner hat und die Metropolregion, also der

solch ein Wachstum geschehen lassen,

Einzugsbereich, auf ca 2,5 Millionen kommt.

obwohl sie es aus Gründen der öffentlichen

US Diese drei Ebenen Stuttgart wahrzu-

Sicherheit stoppen müssten, dann wäre das

nehmen, gehören eigentlich alle zusammen,

Unterlassen von scharfen Kontrollen eine

denn die Grenzen verschwimmen. Insofern

Bedingung für das Wachstum von kreativen

bin ich ein bisschen zuversichtlich, was

Situationen. Ob das so geht weiß ich nicht,

das Gesamtpotential der Stadt betrifft. Man

aber es könnte sein, dass eben der Zustand

muss die wesentlichen Faktoren betrachten.

der ständigen Unsicherheit diese Situatio-

Zum Beispiel die Erreichbarkeit. Ausbil-

nen noch weiter begünstigt – kommen sie,

dungspendler, die oft kurz vor den Toren

oder kommen sie nicht; prüfen sie, oder

der Stadt wohnen und täglich zu den Schu-

prüfen sie nicht; machen sie dicht, oder

len in die Stadt pendeln, nehmen folglich

machen sie es nicht. Jedoch ist das mehr

auch am öffentlichen Leben Stuttgarts teil.

eine gelebte Praxis. Das bedeutet in dem

Alles ist relativ schnell erreichbar. Die Frage

Augenblick, indem man sie formulieren wür-

ist, wie man den Prozess der Nutzung von

de, wäre sie unrechtmäßig. Aber das Irre-

Leerständen organisieren kann und dafür

guläre gehört meines Erachtens in diesem

gleichzeitig eine Vertrauensbasis findet.

Prozess auch dazu. Alles andere wird sehr

Wahrscheinlich müsste man zu erst einmal

schnell langweilig.

Begriffe dafür finden. Und sobald ein Stan-

DS

dardbegriff für Interimsprojekte definiert

das zukünftig vorstellen? Könnte man eine Per-

ist, läuft ein Programm ab. So etwas wäre

spektive einräumen, oder muss alles letztend-

Was denken sie, wie könnte man sich

eine günstige Bedingung für das Kreativpo-

lich immer in gesteuerte und geregelte Bahnen

tential zum Beispiel in Stuttgart.

geleitet werden? US In Kopenhagen gibt es zum Beispiel die

Die Binz und das Rebellische

Christiania 6. Die Leute dort haben gesagt:

DS

geln gelten. Das ist meines Erachtens doch

als ein Gegenprojekt zum MuseumsQuartier

ein bisschen die Idee der Kreativen. Ein Ort,

Wien. Die Binz liegt etwas außerhalb des Stadt-

an dem andere Regeln gelten als in der Ge-

zentrums, ist öffentlich zugänglich, aber ohne

sellschaft. Und die Gesellschaft ist dadurch

touristische Ausrichtung, d.h. ohne klassische

charakterisiert, dass

p.209

Wir machen einen Staat, in dem eigene ReDen Fall Binz, in Zürich, betrachten wir


Exkurs — Interview

sie ihre Regeln hat. Die Kreativen wollen ihre

wahrscheinlich viel mehr, dass man darauf

Identität gerade dadurch gewinnen, dass sie

achtet, bestimmte Dinge zu unterlassen,

nicht Teil dieser Gesellschaft sind. Und dieser

die man in einem normal Planungsprozess

Punkt ist schwierig, weil wir einen Grundsatz

machen würde. Das würde einen negativen

haben, der besagt, dass es überall gleiche

Planungsprozess bedingen, der sagt: Halte

Lebensbedingungen geben muss. Das ist

dich zurück, lass es geschehen, entwerfe

zunächst einmal positiv, aber es bedeutet

vielleicht eine kleine goldene Pforte, so

eben auch, dass rechtsfreie Räume schwer zu

dass man weiß wo man reingeht. Wir spre-

etablieren sind. Die einzige Möglichkeit ist die

chen hier von einer ganz anderen Planungs-

Hausbesetzung, das möglicherweise legitime

logik. Das heißt man muss wissen, wie man

aber illegale Mittel. Das kann man natürlich

Anreize schafft. Daraufhin müsste man

nicht propagieren. Das ist auch extrem schwie-

es geschehen lassen. Wenn man so denkt,

rig. Alles andere ist schon wieder viel weniger

könnte das eine Form der Planung sein.

Abenteuer und erfordert viel weniger Not.

DS Das würde also bedeuten, nicht auf

Und dadurch wird dieser Erfindungsreichtum

klassische Art und Weise einen Funktionskata-

schon wieder gezähmt. Die Kreativen werden

log abzuhandeln.

auch in eine Paradoxie verwickelt. Stellen

US Nein, dann hätte man ein Standard-

sie sich mal vor, die Stadt würde sagen: So

quartier eines schicken Architekten. Aber

jetzt seid doch mal kreativ! Das würde ihnen

alle wären gleich auf der Welt.

jegliche Kraft nehmen. Es funktioniert nicht

DS Wenn man ein Kreativquartier als „Ty-

auf Befehl. Das heißt es ist eine richtige Kunst.

pologie“ verstehen würde, dann könnte man es

Wahrscheinlich bekommt man für jeden Ort

auch mit einem Flughafen oder Fußballstadion

eine etwas andere praktische Lösung. Insofern

vergleichen. Man könnte einen Katalog entwer-

ist es interessant zu sehen, wo und wie sich

fen, der besagt, wie viel Verkehrsfläche man

diese Kreativbiotope in Wien, Amsterdam und

benötigt oder welche Funktionen hinzukom-

anderen Städten entwickelt haben.

men. Wenn man berücksichtigt, dass Richard Florida vielleicht Recht hatte mit seinem Buch

Planung eines Kreativquartiers

„The Rise of the Creative Class“, dann müsste man vielleicht von nun an beginnen, für Krea-

DS

Im Studium waren wir kürzlich mit der

tive zu planen und diese „Typologie“ zu ent-

Aufgabe befasst, ein Kreativquartier für Ham-

werfen? Wie könnte ein Architekt mit diesem

burg zu planen. Das bedeutet, dass unsere

angesprochenen Paradox umgehen? Klassi-

junge Architektengeneration nun damit auf-

sche Bürogebäude sind vielleicht nicht ideal,

wächst, solche „Typologien“ als etwas Gegebe-

um diesem Typus gerecht zu werden.

nes bzw. Notwendiges wahrzunehmen. Dabei

US Ich glaube, eine Bedingung ist, dass

wurden wir dazu aufgefordert, grundlegend

der Architekt nicht als Außenstehender

darüber nachzudenken, ob derartige Quartiere

plant, sondern selbst Teil des Prozesses ist

überhaupt planbar sind?

und auf die anderen angewiesen ist. Das

p.210

US Ein netter Gedanke zunächst einmal,

wäre ein Selbstorganisationsprojekt. Parti-

aber dennoch eine Paradoxie, ein Krea-

zipation ist letztendlich obrigkeitsstaatlich

tivquartier planen zu können. Es müsste

gedacht. Jemand mit einem staatlichen Auf-

eher heissen: Schaffe günstige Voraus-

trag beteiligt die Leute. Für meine Begriffe

setzung für die Möglichkeit der Entfal-

kommt der Ausdruck der sozialen Plastik

tung von Potentialen. Und das bedeutet

dem am nächsten. Die Vorstellung, einen


man das auch als Teil dieses Prozesses

dessen Lebendigkeit davon abhängt, dass

sehen. Ein Kreativquartier ist ein Ort, der

die Menschen aktiv mitwirken.

diese Anfangsphase besitzt, in der es rich-

DS Im Moment sind es hauptsächlich Ide-

tig lebendig ist. Dann geht es über in eine

enwettbewerbe, die versuchen Lösungsansätze

Etablierungsphase, in der es auch andere

hervorzubringen. Zum Beispiel im Fall des

Gruppen anspricht und nach zehn Jahren

Oberhafen Quartiers in Hamburg oder einem

stirbt es.

Uwe Stuckenbrock

sozialen Bewegungsprozess zu gestalten,

neuen Wettbewerb für ein Kreativareal in MünTreffpunkt Kreativquartier

chen. US Nach dem Motto: Gib mir eine alte Eisenbahnfabrik, Hauptsache alt. Das garan-

DS

tiert schon 90 % des Erfolgs. Dann macht

Kreativquartieren sind meistens sehr interes-

Die Architektur und die Menschen in

man etwas formal Schönes rein – aber

sant, gerade wenn man an die Verknüpfung

es darf nicht zu neu sein, sonst sind die

von künstlerischer Arbeit und Kunstkonsum

Anderen irritiert – das ist ja nicht kreativ.

denkt. Daher besuche ich gerne Kreativquar-

Kreativ ist eine Chiffre für das, was viele

tiere wenn ich andere Städte bereise. Mit dem

schon erwarten. Meine Auffassung ist eher

Wissen, dass es nun diese Architektur – oder

die, wenn etwas Neues entsteht, irritiert es

besser – diese Bewegung auch in anderen

oftmals erst. Gerd Binnig 7 hat in seinem

Städten gibt, fühlt man sich empfangen, weil

Buch „Aus dem Nichts“ versucht zu erklä-

es vielleicht einfacher erscheint, Leute zu tref-

ren, wie es zu der Erfindung des Raster-

fen, die ähnliche Interessen haben.

tunnelmikroskops gekommen ist. In einem

US Das finde ich ja interessant. Ich hatte

Forschungslabor von IBM hatten die For-

vorher angesprochen, dass es um die Men-

scher totale Freiheit. Binnig hat analysiert,

schen geht. Wenn ich nun einen Standort

dass die Voraussetzung zur Emergenz von

betrachte, der natürlich auch Teil eines dy-

Neuem ein Kommunikationsprozess ist, der

namischen Systems ist, dann bedeutet das,

fraktal gestaltet ist. Das heißt, Informatio-

dass dieser Standort davon lebt, dass die

nen werden eingesammelt und gebündelt,

Milieus sich wechselseitig austauschen und

danach wieder neu eingesammelt und neu

voneinander lernen. Dann sind das interna-

gebündelt, usw. In jedem Schritt entstehen

tionale Stützpunkte oder kosmopolitische

dann wieder neue Assoziationen. Wenn

Stützpunkte in einer Stadt, von denen ich

einem solchen Prozess keine Widerstände

weiß, dass ich nicht erst mühsam alle Kräf-

entgegenstehen, dann ist die Möglichkeit

te zusammensammeln muss, um Kontakte

groß, dass Neues entsteht. Für meine

für mein Interesse zu finden. In diesem Fall

Begriffe ist die Frage interessant, ob man

würde eine Institutionalisierung auch ihren

notwendige innerliche Bedingungen herbei-

Sinn haben, nämlich wenn der internationa-

führen kann, damit solche Prozesse be-

le Austausch dadurch begünstigt wird. Und

günstigt werden. Und welchen äußerlichen

das rekombiniert sich in diesen Zentren

Rahmen man schaffen kann, der dem nicht

ständig. Das finde ich eine interessante

entgegensteht.

Idee. An dem Beispiel würde das natürlich

Im Zusammenhang mit Kreativquartie-

ren könnte man deuten, dass es auf Dauer an Attraktivität verliert? US Ja, das kann sein. Aber vielleicht muss

bedeuten, dass man für diesen Wechsel Einheiten plant, welche nicht zu groß sind. p.211

DS


Exkurs — Interview

Sie müssten offen sein, so dass Kontaktberei-

Chancen bietet. Eigentlich das, was Stadt

che und Zufallsbegegnungen entstehen. Das

früher ganz primär bedeutet hat. Der Ort

könnte man durchaus planen.

mit den meisten Möglichkeiten. Auf dem

DS

Land, zwischen zwei oder drei Bauernhö-

Das Spannende ist, dass man bei jedem

Besuch etwas Neues entdeckt. Das heißt der

fen, hat man eben nur eine begrenzte Wahl.

Ort unterliegt einer ständigen Veränderung

Stattdessen wird heute durch die moderne

oder Anpassung durch die Leute, die das

Telekommunikation und schnelle Infrastruk-

Gebäude im Moment nutzen. Muss das Kreativ-

tur auch eine Existenzform eröffnet, die

quartier einer ständigen Veränderung unterlie-

Kombinationen in einem größeren Netzwerk

gen um interessant zu sein?

zulassen.

US Es gehört allerdings auch dazu, dass etwas gleich bleibt. Ich hatte mich vorher

DS Gerade zum Beispiel wenn die Wagenhallen in Stuttgart nicht existieren würden,

auf diese Idee des Fluktuierenden in der

dann könnte die Stadt für einen jungen Kreati-

Stadt bezogen. Wenn ich es jetzt einmal

ven unattraktiv wirken.

allgemein aus einem Stadtgedanken he-

US Ja gerade wenn man das Muster schon

raus betrachte, dann ist es gut, wenn es

einmal in anderen Städten wahrgenommen

irgendwo einen Ort gibt, der auch stabil ist.

hat. Wenn eine Stadt nicht wach genug ist

Dann kann das andere wandern und sich

und solche Zusammenhänge nicht ganz

verändern. Da ist wieder dieser fraktale

einordnen kann, dann nimmt sie an einem

Gedanke: Ein Netz von kreativ wandelnden

bestimmten Spiel nicht teil. Stattdessen

Stützpunkte, aber auch etwas, das sich in

wundert sie sich, warum sie nicht attraktiv

wenigen Dingen als konstant erweist. Ich

wirkt.

spreche von Orten, in denen starke Rekombinationen möglich sind. Das könnte dann

Städtewettbewerb und Kreativität

auch eine Bedingung an den Ort sein. Dass er wandelbar ist, dass er mit Muskelkraft

DS

veränderbar ist, aber auch dass er sich

quantitativ zu messen. Sie nehmen nur am

intellektuell wechselnden Bedingungen

Rande am ökonomisch verwertbaren Prozess

anpassen kann. Dann wäre das nämlich ein

teil. Aber dennoch ist das Bewusstsein gestie-

ganzes System weltweit, in dem es immer

gen, diese Menschen mit ihrer ganzen Umwelt

irgendwelche Kristallisationspunkte gibt,

an eine Stadt zu binden, weil sie einerseits

die kommunikativ zusammenhängen.

global verknüpft sind und andererseits eine

p.212

DS

Es ist relativ schwer, kreative Berufe

Unsere Generation ist stark geprägt

gewisse Szene und somit Potential mit sich

von Kurzanstellungen, gerade bei den Krea-

bringen. Daher könnte es in naher Zukunft

tivschaffenden. Das beeinflusst unser ganzes

möglich sein, das gewisse Städte in diesem

Leben. Der konkrete Arbeitsplatz hat sich

Wettbewerb um die kreativen Köpfe verlieren,

aufgelöst und wir arbeiten auf dem Weg oder

weil die Anreize fehlen.

in unterschiedlichen Städten. Kreativquartiere

US Vermutlich ja. Wenn ich überlege, was

sind dabei Zentren, die in regem Austausch

mich an eine Stadt bindet, dann sind das

untereinander sind und ein Netzwerk bilden, in

die Menschen. Von Häusern allein kann ich

dem man immer wieder Leute aus demselben

nicht leben. Für einen kreativen Menschen,

Milieu trifft, die aus verschiedenen Städten

der ständig nur auf taube Ohren stößt, wird

kommen.

es in dem Augenblick interessant, in dem

US Es ist auch ein soziales Netzwerk, das

er einen einzigen Menschen findet, der


falsche oder schlampige Kopierung von Ge-

noch einen. Dann fängt es an, für ihn inter-

nen etwas anderes, das sich dann prüft und

essant zu werden. Die kreativen Menschen

merkt, ob es zurecht kommt oder stirbt.

sind ja nicht die typischen „Citizens“, also

Das sind quasi diese Events. Sie blühen auf,

nicht die Menschen mit einem gewissen

obwohl eigentlich ein ständiges Angebot an

Maß für Recht und Ordnung, mit Lebens-

Dingen vorhanden ist, und plötzlich bleibt

versicherung und Lebensplanung. Es sind

dann etwas Neues. Aber dadurch, dass

die Menschen, die eben dieses Nomadi-

ständig Alternativen produziert werden,

sche denken und leben können Es sind die

wird im Prinzip ein morphologischer Raum

Seefahrer oder Weltraumfahrer, sprich es

aufgespannt, der bei einer bestimmten Zahl

ist eine andere Lebensform, die mit wech-

von Elementen, kontinuierlich Millionen von

selnden Bedingungen umgehen kann. Im

Kombinationen durchspielt. Am Beispiel des

Bild des Seefahrers sind sie eigentlich sehr

Projekts 72HUA 8 in den Wagenhallen haben

gut aufgehoben. Leute, die mit vielen ver-

die Teilnehmer begonnen zu kombinieren

schiedenen Situationen navigieren können

und schließlich kam etwas dabei heraus,

und damit zurechtkommen. Dazu gehören

das überrascht hat. Es ist also ein ständiger

eben auch Häfen, wenn man diese Metapher

Rekombinationsprozess durch Menschen,

nun weiterverwendet. Diese Häfen, das

die sich zusammenfinden und Gedanken

sind Strukturelemente oder vielleicht auch

austauschen. „Pop-Up“ oder das Event ist

Kreativhäfen, an denen Gefahr lauert, in

im Prinzip das äußere Geschehen, das sich

der Form des Neuen und Unkonventionellen.

während dieses Prozesses abspielt.

Diese Häfen ziehen an. Das ist Parsifal, von

DS

dort kommen die Ritter her. (lacht)

Aktionen ist der, öffentliche Reaktionen zu

Uwe Stuckenbrock

genauso tickt wie er. Und dann vielleicht

Der Reiz bei solchen temporären

produzieren bzw. auch zu provozieren. ManReiz des Improvisierten

che Leute sind verärgert, andere unterstützen das. Die Meinungen sind gespalten. Aber eben

DS

Derzeit ist der Begriff des „Pop-Up“

das finde ich interessant. Dass eine gewisse

sehr aktuell. Dinge entstehen kurzfristig und

Aufmerksamkeit hervorgerufen wird, die die

verschwinden dann wieder. Der Reiz des Un-

Diversität in der Stadt unterstützt.

vorbereiteten, des Improvisierten und letzt-

US Das setzt meines Erachtens parallel

endlich auch des Events, das heißt des öffentli-

dazu voraus, dass man öffentlich für eine

chen Machens. Auch wenn dies nur kurzfristig

gewisse Liberalität wirbt. Nämlich dass

stattfindet, kann es dennoch bedeuten, dass

sich nicht an jeder Ecke ein Klu-Klux-Klan

durch dieses kurze Aufleben ein gewisser Geist

gründet, der so etwas aktiv bekämpft, son-

bestehen bleibt, der im Zuge dessen neue Din-

dern dass vor dieser alten Kulisse unseres

ge entstehen lässt.

Denkens und unseren Handelns sich etwas

US Man könnte das mit der Natur verglei-

ereignet, das immer wieder punktuell etwas

chen. Die Natur ist ja enorm verschwende-

Neues ist. „Sei neugierig“ könnte es als

risch, wenn man betrachtet, wie biologisch

öffentliche Aufforderung heißen.

Neues in die Welt kommt. Sie produziert ständig Menschen, Pflanzen und Tiere, die

Wer produziert Stadt?

beginnen zu wachsen und schließlich über-

DS

leben oder sterben. Dabei entsteht durch

tion von Stadt. Diese Tatsache drängt sich

Das heißt, wir sind alle Teil der Produk-

p.213

dann in einem Umfeld entstehen, folglich


Exkurs — Interview

immer mehr in das Bewusstsein der Menschen.

werden können, oder ständig einer inneren

Jeder Mensch ist Nutzer der Stadt und kann

Umdeutung unterliegen. Wir haben festge-

diese auch verändern, egal ob er am Fließband

stellt, das z.B. die Gründerzeitquartiere da-

oder im Kreativbüro arbeitet.

für sehr gut geeignet sind. Sie bieten zum

US Gerade dieser Rollenwechsel vom

einen dieses Konstante und schöne Gebäu-

Zuschauer zum Selbermachen ist wichtig.

de, aber im Inneren lassen sie ganz viele

Wahrscheinlich würde zu so einem Konzept

Umdeutungen zu. Das bedeutet, es sind

auch dazugehören, dass die Städte ver-

ganz viele Zukünfte möglich ohne haltlos zu

suchen, sich weltoffen zu zeigen. Meines

sein. Womöglich ist das beste Kreativquar-

Erachtens ist die Relation von Konstantem

tier nicht eine große Halle, sondern einfach

und Veränderbarem eine wichtige Bedin-

eine Mischung aus Konstantem und Ver-

gung. Eine Klagemauer, die 5000 Jahre

änderbarem. Also ich neige nicht mehr so

lang steht, ist ein heiliger Ort oder garan-

sehr zu dem Begriff der Typologie, sondern

tiert unverändert, obwohl sich die Umge-

beeinflusst durch Christopher Alexander 10

bung ständig verändert und die Menschen

zu dem Begriff des „Pattern“. Ich glaube,

immer neue Dinge hervorbringen. So

vom Ansatz her sind es Funktionspatterns,

entsteht eine Dialektik, bei der immer etwas

die sich verräumlichen. Es sind Logiken des

Neues entsteht, aber das Wesentliche im-

Verhaltens, die stark an die Ontologie des

mer gleich bleibt, nämlich der Mensch mit

Menschen bzw. an seine Eigenart gebun-

seiner Kreativität vor dieser archaischen

den sind. Und wenn man das etwas näher

Kulisse. Beim Entwurf eines solchen Zent-

beleuchtet, wäre es interessant herauszu-

rums könnte ich mir vorstellen, dass man

finden, ob es solche Patterns, also solche

zeitlose Elemente integriert, in denen sich

Kreativpatterns, gibt.

das Leben entfalten kann. Spielräume zum

DS

Leben eröffnen, wie das Ulrich Conrads 9

Gespräch!

Herr Stuckenbrock, vielen Dank für das

mal genannt hat: „Städte sind Spielräume für Leben.”

Das Gespräch wurde am 26.08.2012 in Stuttgart geführt.

Ist der Begriff der „Typologie“ obsolet? DS

Wir haben festgestellt, dass sich der

Begriff der „Typologie“ nach seiner klassischen Definition durch den Gebäudetyp des Kreativquartiers auflöst bzw. nicht mehr aktuell ist. Das heißt Ort, Substanz und Nutzung vollziehen vollständige Transformationen und bedingen keinen Neubau. Die Hülle ist vorhanden, die Nutzung wurde zeitgenössisch angepasst und transformiert und der Ort oder die Wirkung des Ortes hat sich durch die Nutzung verändert. Bedeutet das, dass wir den Begriff p.214

der Typologie vielleicht erweitern müssen? US Ich denke wir sprechen hier eher von Metatypologien. Orte, die umgedeutet


Uwe Stuckenbrock

1 Djemaa el Fnaa, Zentraler Marktplatz in Marrakesch, Marokko. 2 Soziale Plastik, Dies ist ein Begriff der von Joseph Beuys geprägt wurde. Dabei vertritt er die Vorstellung einer gesellschaftsverändernden Kunst, nämlich dass jeder Mensch durch kreatives Handeln die Gesellschaft verändern kann. 3 Villa Massimo, ist eine Deutsche Akademie in Rom, die einjährige Stipendienaufenthalte an herausragende deutsche Künstler vergibt. 4 Günther Wand, 1912-2002, deutscher Dirigent. Bekannt für die Einspielung der 5. Symphonie von Anton Bruckner mit dem WDR Sinfonieorchester Köln 1974. 5 ECE, steht für EinkaufsCenter-Entwicklungsgesellschaft. Diese Firma ist europäischer Marktführer auf dem Gebiet von innerstädtischen ShoppingCentern.

7 Gerd Binnig, *1947, deutscher Physiker und Nobelpreisträger. 8 72HUA, 72 Hour Urban Action; Architektur-Wettbewerb, bei dem 10 internationale Teams in 3 Tagen und 3 Nächten Projekte im Stadtraum planen und gleichzeitig realisieren. 9 Ulrich Conrads, *1923, deutscher Architekturkritiker und Autor. 10 Christopher Alexander, *1936, US-amerikanischer Architekt, Architekturtheoretiker, Systemtheoretiker und Philosoph. Autor des Buches „A Pattern Language: Towns, Buildings, Construction“.

p.215

6 Christiania, die Freistadt Christiania liegt in Kopenhagen und besteht seit 1971 als eine staatlich geduldete autonome Kommune. Sie ist heute ein bekanntes und auch touristisches Ziel in Kopenhagen.



NDSM | Kreativquariter in Amsterdam Einführung p. 216 – 225 | Urbaner Kontext p. 226 – 235 |  Städtebaulicher Wandlungsprozess p. 236 – 241 |  Geschichte p. 242 – 247 | Gebäude p. 248 – 257 |  Organisation p. 258 – 259 | Interview mit Rob Post p. 260 – 261 |  Interview mit Eva de Klerk p. 262 – 263 | Akteure p. 264 – 273 |




p.220

NDSM — Amsterdam


p.221

Einführung


p.222

NDSM — Amsterdam


p.223

Einführung


NDSM — Amsterdam

Einleitung NDSM | Das Gelände befindet sich in un-

mittelbarer Nähe zur Amsterdamer Innenstadt. Gegenüber des Hauptbahnhofes befindet sich die NDSM auf der nördlichen Uferseite des Flusses Ij. Das gesamte Areal der 1984 in Konkurs gegangenen Nederlandsche Dok en Scheepsbouw Maatschappij umfasst rund 86.000 qm. Die NDSM-Werft – Im Laufe einer autonomen Hausbesetzung Ende der 1980er Jahre wird die Kommune Amsterdam-Noord auf die Akteure aufmerksam. Die Stichting Kinetisch Noord, verschiedene Hausbesetzer der ersten Stunde und Vertreter der Stadtverwaltung kommen zusammen, um einen Wettbewerb für die Halle zu formulieren. Das Konzept sieht die temporäre Ansiedlung kultur- und kreativwirtschaftlicher Nutzer vor. Dynamo Architekten aus Utrecht gewinnen mit ­ihrem Beitrag den Wettbewerb und das Projekt wird kurz darauf mit allen Beteiligten realisiert. Die große Produktionshalle wird instandgesetzt und im Zuge eines Nutzungsvertrages der Initiative übergeben. 1

p.224

Administration – Die zu diesem Zweck gegründete Initiative „Kinetisch Noord“ operiert als Trägerorganisation


terdams, Künstlern, Theaterschaffenden, Skatern und

Einführung

und setzt sich aus den ehemaligen Besetzerszenen AmsArchitekten zusammen. 1 Zur Füllung der KunststadStruktur (siehe Grundrisse im Abschnitt Gebäude) kann jeder Mieter selbst über Kosten, Design und Qualität seines eigenen Raumes mitbestimmen. 2 Projektergebnis – Heute präsentiert sich die NDSM mit der Kunststad als kultureller und kreativer Anziehungspunkt. Weit über 100 Akteure, die primär der Kulturund Kreativwirtschaft zugeschrieben werden können befinden sich heute in den Hallen. Sie organisieren sich im Bottom-Up-Prinzip. Mit regelmäßigen Veranstaltungen (Partys, Lesungen, Ausstellungen, Theater, Flohmarkt) und Kunstprojekten auf der Außenanlage des Areals ist die Hafenbrache als neuer öffentlicher Raum

1 2

vgl. Overmeyer 2004, 49 vgl. Webseite NDSM www.ndsm.nl Bezirk Noord

p.225

eine belebte Ergänzung zum Stadtraum.


NDSM — Amsterdam p.226

NDSM

NDSM-werf kinetisch noord tt Neveritaweg 15 1033 WB Amsterdam Amsterdam-Noord

1 : 10 000


Urbaner Kontext in Amsterdam-Noord Fläche ca. 86 000 m2

p.227

NDSM-Werft Gelände


NDSM — Amsterdam

Wiese Wiese Wald Wald Wasser Wiese

Wasser Wiese

Wald

Wald

Wasser

Wohnen

Wasser

Wohnen

Handel und Gewerbe weiß, Outline 0,1 mm20%

Handel und GewerbeGastronomie

Houthavenveer

Gastronomie

Gastronomie

Kreativquartier

Gastronomie

Industrie

Kreativquartier

er M-W NDS

r fvee

öffentliche Gebäude / Sonderbauten Bus Industrie Tram Bus Tram Kreativquartier U-Bahn S-Bahn/Zug?

p.228

schwarz 80% 60% schwarz,20% Outline 0,

40% schwarz 80% Outline 0, weiß,schwarz, Outline 0,1 mm100

er Gebäude / Sonderbauten 60% schwarz eöffentliche egv w l e t undDGewerbe 20% schwarz, Outline 0, is

Handel Kreativquartier

Infrastruktur

20% schwarz, Outline40% 0,

öffentliche Gebäude / 40% Sonderbauten 60% schwarz,weiß, Outline 0, Wohnen Outline

und Gewerbe Industrie öffentliche GebäudeHandel / Sonderbauten

Industrie Wohnen

we

Bus U-Bahn Tram

S-Bahn/Zug?

U-Bahn

Citybike Station

S-Bahn/Zug?

Citybike Station Bus Bus

Fähre CitybikeStation Station Citybike

Fähre Tram

Haltestelle Haltestelle Fähre

Haltestelle U-Bahn

Haltestelle

100% schwarz80% schwarz

40% schwarz, Outline 0,

100% schwa

60% schwarz, Outline 0, Lin 80% schwarz, Outline 0, Lin Linie 0,25 mm, gestriche

mm Linie 0,25 mmLinie 0,25Lin 100% schwarz

Linie 0,25 mm

Lin Linie 0,35 mm, 50% schw Linie 0,5 mm

Linie 0,35 mm

Lin

Linie 0,5 mm

Linie Durchmesser Lin Linie 0,25, 0,25 mm, gestriche

Besonderheit: Linie 0,25, D Hauptstraßennetz Auto 41%, gemischt 59%Linie 0,25 mm Fahrradstraßennetz Fahrrad 37%, gemischt 63%

Linie 1,8 Linie 0,25 0,25 mm, mm gestriche

1,84 mm, sch 1,84 Liniemm, 0,35 schwarz mm, 50% schw


Urbaner Kontext Gründfläche Wohnen & Gründfläche Wohnbaufläche Gemeinbedarf & Grünfläche

Gemeinbedarf Gemischte Baufläche Gemischte Baufläche (Verwaltung) Gewerbliche Baufläche

p.229

Flächennutzung


NDSM — Amsterdam

Wiese Wiese Wald

p.230

Natur

Wasser

Wald Wiese

Wasser

Wasser


Urbaner Kontext U-Bahn

Fähre

Haltestelle

Strasse

p.231

Umgebungsaxonometrie


NDSM — Amsterdam

250 m 32 0

p.232

r fvee ND

Wer SM-

Houthavenveer

m

ÖPNV

Erreichbarkeit

320 m NDSM-Werft (Fähre) 250 m Klaprozenweg (Bus)

1 : 5 000


Urbaner Kontext < 1943

> 2000

1943 – 1985

keine Angabe

1985 – 2000

p.233

Gebäudealter


NDSM — Amsterdam p.234

Nutzung 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

NDSM Scheepsbouwloods (Kunststad) IJ-Hallen, NDSM Maschinenhalle (leer) Café Restaurant Noorderlicht Huisvesting Studenten (Studentenwohnheim) MTV Networks Headquarter Niederlande Red Bull Headquarter Niederlande Greenpeace Headquarter (ab 2014) IJ-kantine Pllek Strand-Bar & -Restaurant Amstel Botel Amsterdam Stichting Beheer NDSM-werf Oost

12 13 14 15 16 17

Kleingewerbe Hulshoff&Verhuizingen Logistikunternehmen Spinhex & Industrie Drukkerij (Druckerei) KaderLyceum Schule Pantar Amsterdam Schiffsbau- und -reparaturbetrieb


Urbaner Kontext

12 12 15

12

16

13 12

12

14 12

2 8 5 10

7 12

12

17

1

6

9

3

11

p.235

12


NDSM — Amsterdam

Städtebaulicher Wandlungsprozess Der städtebauliche Wandlungsprozess vollzieht sich in der Stadt ­ Amsterdam hauptsächlich an zwei Orten: der Innenstadt und entlang des Flusses Ij. Im Bereich der Innenstadt kann man beobachten, dass viele alte Gebäude renoviert und teilweise in Museen umgewandelt werden. Der Anteil von Museen im Innenstadtbereich ist prozentual sehr hoch und das Gebiet wandelt sich zu einem interkulturellen und internationalen Museumsvorplatz für Touristen. Der städtebauliche Wandlungsprozess entlang des Flusses Ij hat schon vor vielen Jahren begonnen. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Werften reihenweise ihren Betrieb einstellten oder auf ein günstigeres Gelände nord-westlich der Innenstadt verlegt wurden, entstanden nach und nach neue Siedlungen. Borneo Sporenburg, als eine der bekanntesten Wohn- und ­ ­Arbeitsstätten entlang des Ij und weitere Großprojekte wie die Zeeburgereiland, KNSM-eiland, Westerdokseiland, Silodam folgen auf der südlichen Seite des Flusses. Nördlich des Flusses entstehen heute zahlreiche Prestigebauten. Direkt gegenüber dem neu gestalteten Bahnhofsdach wurde 2012 das EYE Film Institute von Delugan Meissl Associated Architects auf der nördlichen Seite eröffnet. Weitere Investorenprojekte folgen entlang des Ij in nord-westlicher Richtung: Sixhaven, Tolhuistuin oder Buiksloterham werden in den nächsten Jahren zu Wohnund Arbeitsstätten umgewandelt. Nach der Ansiedlung von Kreativen auf dem Gelände der NDSM-Werft ist hier ein großangelegtes Projekt namens Mediawharf geplant. Die Kreativwirtschaft auf dem Werft-Gelände wird hier als Instrumentarium für die kommunale Stadtentwicklung von ganz Amsterdam-Noord gesehen. Schon heute befinden sich die Headquarter von MTV Networks BV und Red Bull Nederland auf dem Gelände der NDSM. Greenpeace soll 2014 in die Hallen neben Red Bull einziehen. Im hinteren Teil Amsterdam-Noord befinden sich heute hauptsächlich Wohnhäuser, die aus der Zeit des Schiffbaus stammen und teilweise noch von ehemaligen Arbeitern bewohnt werden. Aufgrund der günstigen Wohnvoraussetzungen haben sich dort auch viele Bürger unterschiedlicher kultureller Herkunft angesiedelt. Wie sich dieses Gebiet nach den großen Investorenpro-

p.236

jekten am Nordufer des Ij entwickelt, ist fraglich.


Städtebaulicher Wandlungsprozess

Bebauung*

1925

2013

2030

1 : 10 000

p.237

* Investeringsbesluit NDSM-werf, Concept 26 September 2011, Gemeente Amsterdam Noordswaarts, Self-Made-City und Media-Werf


NDSM — Amsterdam

NDSM-werf Kultur Media-werf + Self-Made-City

Cornelis Douwes Arbeiten

NDSM-Werft Kultur Media-werf + Self-Made-City

Buiksloterham gehobenes Wohnen & Arbeiten

Das zentrale IJ-Ufer und die Internationalisierung der Nord- und Südflanke

Sixhaven/ Tolhuistuin Park & Kultur

Silodam Wohnen & Hotel

Houthavens (Timber Docks) Wohnen

Westerdokseiland Wohnen & Hotel

Hauptbahnhof & Station Island

p.238

De Ruijterkade Arbeiten

Quelle: Investeringsbesluit NDSM-werf, Concept 26 September 2011, Gemeente Amsterdam Noordswaarts


Hamerstraat gemischtes Wohnen & Arbeiten

Zeeburgereiland gemischtes Wohnen & Arbeiten

Städtebaulicher Wandlungsprozess

Nieuwendammerham Arbeiten

Borneo/ Sporenburg peninsula gehobenes Wohnen & Arbeiten Passenger Terminal Amsterdam

p.239

Oosterdokseiland gemischtes Wohnen & Arbeiten

NDSM-Werft Kultur Media-werf + Self-Made-City


p.240

NDSM — Amsterdam


p.241

NDSM Gelände


NDSM — Amsterdam p.242

Geschichte der NDSM 1895 – 1978

Besitzer:

NSM-Werft Amsterdam-Noord

1894 Am 25. August gründet sich die NSM im Osten Amsterdams aus einem im Jahr 1891 konkurs gegangenen Schiffsbaubetrieb für dampfbetriebene Schiffe. Im Zuge der beginnenden Industrialisierung konnte im Jahr 1876 ​​die Kanalverbindung zwischen der Nordsee, Amsterdam und dem Hinterland fertiggestellt werden und ermöglichte den Gütertransport zu weit entfernten Kolonien.

1919 – 1920*1 Bau der Werft unter dem Architekt G. J. Langhout, die Stahlkonstruktion lieferten die Dortmunder Union-Werke. Die ursprünglich Werft im Osten ist zu klein geworden.

Bis 1928 werden alle noch brauchbaren Hallen und Lager der umliegenden aufgegeneben Werften demontiert und auf dem NSM-Gelände Noord wieder aufgebaut.


Geschichte

* Insgesamt verfügte die Werft seit 1919 über drei betonierte Ablaufplätze. Zwei davon sind heute noch erhalten. 1920 erweiterte sich der Baubestand um zwei Lagerhallen sowie einen Maschinenraum unter dem oberen Ende der Schiffsschlitten. Zudem wurde eine große Werfthalle errichtet, die aufgrund ihrer großzügig angelegten Dachfenster sehr hell war und eine Empore für Schiffsmodelle besaß. 1928 konnte die NSM den bekannten Amsterdamer Bauingenieur G.J. Langhout gewinnen, der fortan alle notwendigen Baumaßnahmen beaufsichtigte. Die Größenverhältnisse der erhaltenen Anlagen sind bis heute beeindruckend. Allein die Werfthalle bedeckt eine Fläche von 20.000 Quadratmetern. Dazu kommen die Docklandhal mit nahezu 6.000 Quadratmetern und die beiden Ablaufplätze mit gut 2.000 bzw. 10.000 Quadratmetern.

1946 Im Februar schließen sich die beiden konkurierenden Betriebe NDM + NSM*1 zur NDSM (Nederlandsche Dok en Scheepsbouw Maatschappij) zusammen. Sie konzentriert sich ab den 1960er Jahren aus den Bau von Supertankern wie die Melania (1969).

*1 Im Jahr 1937 war der ältere der beiden Betriebe (NSM) zeitweise der größte Schiffsbauer der Welt. (Tankerschiffe und Passagierschiffe)

teilweise Leerstand

27. Sept. 1978 Das Ausbleiben von Aufträgen, die   asiatische Konkurenz und Arbeiterstreiks   zwingen die NDSM in den Konkurs.

Die Ölkrise von 1973 und 1979 ließ den Tankermarkt zusammenbrechen und führt in den 80er Jahren zur Werftenkrise und Schließung unzähliger Werften der westlichen Welt.

p.243

NDSM-Werft


NDSM — Amsterdam

Hausbesetzer (Kraaker) Wiederrechtlicher gemeinschaftlicher Einzug in ein leer stehendes und/oder zum Abbruch bestimmtes Gebäude. (Duden) Oft erfolgt dies gegen oder ohne Berücksichtigung des Willens des Eigentümers. Die Hausbesetzer-Bewegung (kraakbeweging) begann im Amsterdam der 60er Jahre. Vor dem 1. Oktober 2010 war es unter bestimmten Voraussetzungen geduldet, ein Haus in den Niederlande zu besetzen und war bis dorthing kein Hausfriedensbruch, wenn weder Schlösser aufgebrochen wurden, noch das Haus durch eine andere Person in Gebrauch war. 1980 gab es allein in Amsterdam 20.000 Hausbesetzer, heute sind es nach Schätzungen noch etwa 300. Quelle: Doris Rothauer, 23.11.2009 und Wikipedia

Geschichte der NDSM 1880 – 2001

Besitzer:

Zwischennutzung + Leerstand + Besetzung

1980 Im Mai öffnen die Tore für das Festival of the Fools* in den verlassenen ADM-Hallen im Osten. Die Organisatoren des Theater „Noordwesterwals“ haben die Hallen von der Stadt Amsterdam gemietet.

1984/1985 Trotz Neugründung der NSM und ADM (Reparatur), geht diese bereits im Mai 1984 wieder konkurs und  markiert das Ende der Niederländischen Schiffsbauera. 1985 beendet auch die ADM ihre 100 jährige Geschichte.

1987 Der Reparaturbetrieb Shipdock Amsterdam kauf den westlichen Teil des Geländes. Nach einer Umformung 2005, besteht sie heute noch.*

*Der größte Teil des   Geländes wird zum „squatter‘s heaven (Hausbesetzer) aus der sich eine unabhängige Künstler Gemeinschaft entwickelt, die noch heute besteht.

p.244

*Das jährlich stattfindende internationale Festival of Fools fand zwischen 1975 und 1984 in Amsterdam statt und war ein illustres Treffen unabhängiger Theater-Künstler.


Geschichte

Broedplaats Initiative Broedplaatsen (Brutplatz) wurde 1999 von der Stadt Amsterdam als speziell auf die Kreativwirtschaft ausgerichtetes Programm gestartet. Es soll das Raumangebot für Künstler, die kulturellen Szenen der Stadt und kreative Startups verbessern. Das Programm Broedplaatsen ist auf Druck der Künstler und der kulturellen Szenen initiiert worden. Anfänglich wurden dabei leer stehende Gebäude an angehende Künstler günstig vermietet. Das Programm wurde als Public-PrivatePartnership mit einem Maßnahmenetat von 4 Mio. Euro unterstützt. Diese Initiative wurde 2007 in das Büro Boedplaatsen (PMB) umgewandelt und aggiert gemeinsam mit kreativen Unternehmern, Gemeinden, Makler, Bauträger und Banken und untersteht der Stadt Amsterdam. Zahlreiche weitere regionale und überregionale Programme und Initiativen (z.B. Creative Cities Amsterdam Area (CCAA), Innovation Platform, Amsterdam Innovation Motor,...) folgten. Quelle: Kreativwirtschaftsbericht 2012 für Hamburg

1. Offizielle Zwischennutzung

Kinetisch Noord

2. Zwischennutzung

1992-1998 Industriefirmen und die Stadt Amsterdam-Noord unterzeichnen einen Vertrag zur Anmietung der NDSM unter EU-Subventionen. Als Teile der Halle zum Nährboden krimineller Aktivitäten wurde, wurde der Vertrag 1998 wieder aufgelöst. Professionell organisierte squatter Gruppen kamen mehr und mehr auf das Gelände.

1999 Gründung Kinetisch Noord 1999 als Teil des squatter networks zur Neustrukturierung der Werft.

2001 Kinetisch Noord und Dynamo Architecten präsentieren Pläne zur gemischten Nutzung des Areals .

p.245

Wettbewerbsausschreibung der Stadtverwaltung gemeinsam mit Kinetisch Noord. Ein Konzept zur temporären kulturellen Nutzung soll das Gebiet aufwerten und ihm ein neues Image verpassen.


NDSM — Amsterdam

Getrifizierung auf dem Rücken der Kreativen? Im Jahr 1999 wurde von der Stadtverwaltung ein Wettbewerb ausgeschrieben, mit dem Ziel ein Konzept für eine temporäre kulturelle Nutzung des Geländes der ehemaligen Werft zu finden und das Gebiet so schrittweise aufzuwerten und mit einem neuen Image zu versehen. Das Gebiet wurde neu entwickelt und es entstanden Wohn- und Bürogebäude für Kreative unter der Erhaltung des alten architektonischen Charakters. Durch die bewusste Förderung einer solchen Zwischennutzung soll sich letztendlich in den folgenden Jahren ein zwei Quadratkilometer großer Stadtteil mit über drei Millionen Quadratmeter Geschossfläche entwickeln. Die Kreativwirtschaft auf dem Werft-Gelände wird hier als Instrumentarium für die kommunale Stadtentwicklung von ganz Amsterdam Nord gesehen.

Besitzer:

Kinetisch Noord

Geschichte der NDSM 1880 – 2001

Beginn der Gentrifizierung ?

2001 – 2005 Bau Kunststad, Einweihung der Struktur im Dezember 2004. Eigene Fertigstellung der Nutzer bis ca. 2007

p.246

seit 2005 Stichting SkatePark Amsterdam eröffnet auf einer 7m hohen Plattform in der alten NDSM-Halle seinen 1750 m2 großen Skateparkt.

2007 Over het Ij Festival. 25 Theater-Shows  werden in 11 Tagen im  Sommer gezeigt. Weitere Festivals folgen wie z.B. das Voltt Loves Summer Festival u.A.

seit 2007 Media Warft MTV, IdTV, Discovery Channel, HEMA, u.A. MTV Networks Headquarter Niederlande. Die „Mediawharf“ beheimatet auch die Niederländische Film- und TV-Produktionsfirma IDTV, die in den spektakulären Neubau „Kraanspoor“ eingezogen sind. Weitere international aggierende Firmen folgen.


Geschichte 2011: Ende des Mietvertrages mit Option auf Verlängerung um weitere 10 Jahre.

2011 Red Bull Headquarter Niederlande zieht auf das NDSM-Gelände.

2011 Red Bull Headquarter Niederlande zieht auf das NDSM-Gelände.

Auf dem Gelände der NDSM, vor allem zwischen den Docks und in den IJ-Hallen, findet regelmäßig ein Flohmarkt statt, der viele Menschen auch aus dem Umland anzieht.

p.247

2008 NDSM wird zum National bzw. Industrie Monument erklärt.




NDSM — Amsterdam

Zugänge 3 × große Rolltore davon 1 × Hauptzugang im Süd-Westen div. Nebenzugänge

Hard Facts Architekt   Dynamo Architecten, Utrecht:    Edo Keijzer, Charlotte Ernst,    Peter de Bruin Projekt Architekt    Peter de Bruin Stadtplaner    Dynamo Architecten, Utrecht    I.S.M. Huurders/with Tenants    en/and Filip Bosscher Fertigstellung    2004 – 2007 Bauherr    Stichting Kinetisch Noord Vertragspartner    Volf Kunststad (Amstelviet    en/and MVB-Bouw), Amster   dam Statiker    Buro Boerkoel, Utrecht

p.250

Struktur-Baukosten    € 1 650 000 Baukosten   € 220 je Quadratmeter


Gebäude

0 5 10

25m

Querschnitt Richtung Westen

Längsschnitt Richtung Westen

21

4

4

7

6

1

6

6

6

6 6

6

6

6

6

6 5 6

6

4

3

5

6

2

6

2

4

6

1 Kranspur; 2 Straße; 3 diagonale Straße; 4 Freifläche/Aktionsfläche; 5 Brücke; 6 Ateliers; 7 SkatePark

p.251

7


NDSM — Amsterdam p.252

* Grundlage dieser Untersuchung sind die laufenden Meter Wand aus vorliegendem Planmaterial der entsprechenden Jahre. Damit sind auch die einzelnen Stellwände und Änderungen der Kreativen messbar.


Verhältnis* vorgefundene Bausubstanz 1999 zu Einbau und Umbau durch Kreative 2012

65 % vorgefundene Bausubstanz

3 % abgerissen

Gebäude

97% noch vorhanden

32% Ein- und Umbau

p.253

Verhältnis* ursprüngliche Bausubstanz 1920 zu noch vorhandenem Bestand 2013


NDSM — Amsterdam

Gebäudenutzung Das Innere der NDSM-Halle (auch Scheepsbouwloods genannt) wird sehr unterschiedlich genutzt. Besonders charakteristisch für die NDSM als Kreativquartier sind ihre Einbauten: die Kunststad und der Skatepark auf der zweiten Etage. Die Kunststad Der Kern des Gebäudes wurde mit containerartigen Raumzellen gefüllt, ohne die konstruktiven Elemente der Halle sowie das Führerhaus der Kranspur usw. anzutasten. In dieser eingebauten Struktur arbeiten kreativ Schaffende, die der Kreativ- und Kulturwirtschaft zugeschrieben werden können. Die Kunststad ist aus zwei Ebenen aufgebaut. Die Erdgeschossebene besteht hauptsächlich aus Lagerflächen und Werkstätten. Auf der zweiten Ebene befinden sich Büros und Künstlerateliers, die mit einem Erschließungs- und Wegesystem verbunden sind. Eine dritte Ebene ist zwar eingeplant, wird aber bis heute nur teilweise genutzt. Die Erschließung der dritten Ebene erfolgt ausschließlich über die Räume der zweiten Ebene. Freiflächen in den Scheepsbouwloods Alle Akteure teilen sich die freie Fläche unter einem gemeinsamen Dach. Zeitweise wird die freie Fläche für Performances, Installationen oder Theaterstücke verwendet. Besonders der hintere Teil der Halle mit dem hohen Dach inspiriert die Akteure. Wenn ein Künstler zeitweise eine größere überdachte Fläche benötigt, genügt eine Absprache mit den zuständigen Personen. Das Innere der Scheepsbouwloods wird von seinen Akteuren kontinuierlich verändert, neu inszeniert oder anders

p.254

genutzt.


Gebäude Dachhaut Fachwerk mit Oberlicht Konstruktion unter Decke

Da

Fac Kra

Dachkonstruktioin (2. Obergeschoss) potenzielle Erweiterung Skatepark (bis 2014)

(2

Erschließung OG Treppen- und Wegesystem mit zentralem Aufzugskern

Er

1. Obergeschoss hauptsächlich Büroflächen, Ateliers, div. Medien

1.

pot Ska

Trep zen

hau Kün

Er

Erdgeschoss hauptsächlich Werkstätten und Lagerfläche, auch Ateliers

ko

Ein frei p.255

konstruktives Raster Einbauraster Kunststad freie Atelier-/Aktionsfläche

hau und


NDSM — Amsterdam p.256

NDSM-Kunststad bei ca. 124 doppelte Raumzellen (Stand Jan. 2013) ca. 51 Büros ca. 46 Werkstätten ca. 18 Lagerstätten ca.10 Andere


p.257

Gebäude


NDSM — Amsterdam

Organisation Durch den städtischen Wandlungsprozess fühlen sich die kreativ Schaffenden der ersten Stunde bedroht, weswegen sich mehrere Organisationen auf dem Gelände der NDSM gebildet haben. Allen voran geht die „Stichting Kinetisch Noord“, die sich bereits zum Zeitpunkt des Wettbewerbs (1999) der Kunststad gebildet hat. Gemeinsam mit der Stadt Amsterdam und dem Stadtteil Amsterdam-Noord wird ein Wettbewerb ausgeschrieben. Auch die „Broedplaats“ Initiative ist damals ­ schon mit von der Partie. Aufgrund sehr unterschiedlicher Interessenvertreter, die auf das ehemalige Gelände der NDSM ­einwirken, gibt es heute zahlreiche solcher Organisationen. Im Schaubild rechts sind nur die offiziellen und wichtigsten Organisationen genannt und in ihrem Zusammenspiel sehr vereinfacht dargestellt. Ihre Mitglieder nehmen oft mehrere Funktionen ein, so ist der Vorsitzende der „Vereniging De Toekomst NSM“ auch im Beirat der „Stichting Kinetisch Noord“ vertreten. Die allgemeine Koordination des Geländes untersteht der „Stichting Beheer NDSM-werf Oost“, welche die Freiflächen im Außenbereich verwaltet und z. B. Konzerte oder Flohmärkte organisiert. Das gesamte Areal untersteht wiederum der „BV Durf“. Sie ist direkter Vermittler zwischen dem Gelände und der Stadtverwaltung. Der Stadtteil Amsterdam-Noord und die Stadt Amsterdam entscheiden gemeinsam über eine Vielzahl von Initiativen, die dem Gebiet zugute kommen, wie der „Broedplaats“ Initiative und vielen mehr. Gerüchten zufolge werden sich zukünftig zahlreiche internationale Firmen auf dem Areal ansiedeln. Deren Mitspracherecht ist teilweise noch ungeklärt. Der Erhalt der interkulturellen und internationalen Szene um die Kultur- und Kreativwirtschaft ist aber sicherlich auch von MTV Networks

p.258

und Red Bull Nederland gewünscht.


Organisation Stadt Amsterdam

Broedplaats Initiative

(SDAN) Stadteil Amsterdam-Noord

Stichting Beheer NDSM-werf Oost

Vereningen De Toekomst NSM

Stichting Kinetisch Noord

Flohmarkt Flächenvermietung Veranstaltungen etc.

Verwaltung Entwicklung Technik Hauhaltsführung

Finanzierung Geb.-Instandhaltung Kreativ-Programm Büro/Verwaltung

Physische Verwaltung des Gebietes(Reinig­ ung, Landschaftsbau, Beleuchtung, Sicherheit)

Stellt Vereinsvorstand, der die Interessen gegenber der BV Durf u. Stadt A‘ dam vertritt.

Sie verwaltet die Vermietung der Flächen an Kreative und Start-ups für niedrige Mietpreise.

p.259

Kunststad

Skatepark

Freiflächen

Noorderlicht

Oostvleugel

Hochkreative

BV DURF (gesamtes NDSM Areal)


NDSM — Amsterdam

Interview mit Rob Post in der Funktion als „Stadsdeelvoorzitter van Amsterdam-Noord“ Dieses Interview wurde in mehreren Schrit-

SB

If we regard the creative industry as an

urban economy, how does a creative space influence reurbanisation? Are there any standard

ten via E-Mail von Sascha Bauer im Zeitraum

planning strategies?

November-Dezember 2012 geführt.

RP Creative industry is indeed a major development force of the urban economy.

The City

That is true especially for our post-industrial Amsterdam Noord. Creative spaces at NDSM

SB

What was the response to the NDSM

might in the future lead to reurbanisation

creative space in 2012?

when NDSM can partly become a residential

RP The response was positive despite the

area. General reurbanisation along the north

financial crisis which clearly has an impact

bank of the river IJ is already taking place,

on NDSM. There are new perspectives for

influenced by the establishment of arts spa-

three of the most “problematic” buildings in terms of redevelopment. The monumental

ces, such as the EYE Film Institute. Strategic plans are part of a number of “be-

Crane (urban hotel), The Lasloods (welding

stemmingsplannen” (zoning schemes) and

hall) (boxpark contemporary high-end

“structural visions” (general spatial plans)

shopping mall), The Smederij (headquarters

from the City of Amsterdam as well as from

of Greenpeace International). In 2011 and

the Stadsdeel.

2012, new companies, both large and small, came to the Wharf, including a well-known

The Building of NDSM

Amsterdam Gallery, the HISWA Yachting Fair, and the headquarters of retail chain HEMA. SB

Obviously, all this growth is not without

For a creative quarter to exist in the long

term, the applicants need to come together

risk. Success implies popularity which implies

and form an organization. As a result, it may

urban revitalization. How do you judge the ur-

lose its appeal for some subcultures and crea-

ban revitalization process in Amsterdam-

tive artists. Is the institutionalisation of cre-

Noord as a result of the NDSM?

ative spaces mandatory to prevent them dissol-

RP Stadsdeel Amsterdam Noord sees urban

ving?

revitalization as something hardly avoi-

p.260

SB

RP This is easier in some areas in Noord

dable and only for a small part under the in-

than in others. Since the collapse of the

fluence of the Stadsdeel. Revitalization at

shipbuilding industry in the eighties, the

NDSM itself does indeed take place. But the

NDSM has developed as a jig saw puzzle of

Stadsdeel protects the raw and original

organisations and stakeholders in the com-

character of NDSM by supporting cultural in-

mercial and cultural fields. The Stadsdeel

itiatives, protecting the artists’ studios

sees this puzzle as one of the strong points

complex in the shipbuilding hall, and suppor-

of NDSM but recognizes and supports the

ting the NDSM Foundation that looks after

need for promoting cooperation between

public space and organises festivals and cul-

them. The goal is to create a network of

tural programmes. Revitalization of the

organisations that know and respect each

residential areas north of the NDSM is not

other’s role and will work on a number of

an issue. The Stadsdeel sees the arrival of

common objectives.

new and young inhabitants in these areas as positive: it creates a better mix.


Organization and process

SB

Interview mit Rob Post

How do you handle temporary usage in

a judicial way, for example, make available or rent fallow land or abandoned buildings and would it be possible for the city to assist developers? Or do you see it as a risk in case of urban development? RP Slowly but surely, all key partners (project developers, housing corporations, the city and the Stadsdeel) have realised that temporary use is one of the keys for continuing redevelopment in times of crisis. In fact, most of the developments at NDSM have a temporary character. Unused areas

— Site of „The monumental Crane“ (urban hotel) in front of the NDSM

can be made available for short projects such as events, festivals, and marketplaces. The Stadsdeel does not see much risk. On the contrary: temporary projects and contracts prevent deterioration of buildings and public space at NDSM. SB

What would you think of reducing the

rights of ownership in the case of vacancies? RP This has already happened for a number of the NDSM buildings in order to stimulate

„Creative industry is indeed a major development force of

building restoration and development. The

urban economy. That goes

Stadsdeel believes it is a useful instrument.

especially for our post-industrial Amsterdam Noord.“

Today and future SB

How is the relationship between the city

and the temporary users today? RP Generally speaking, very good.

Quelle Foto

http://www.dsm.nl Tim Stet

p.261


NDSM — Amsterdam

Eva De Klerk, Stichting Kinetisch Noord und

company, Greenpeace, HISWA, garages, etc.

Initiatorin der Kunststad, im Gespräch mit

that have hardly anything to do with a

Sascha Bauer

creative quarter.

Dieses Interview wurde im Zeitraum Novem-

The NDSM

ber-Dezember 2012 in mehreren Schritten via E-Mail geführt.

SB

We heard of riots in Amsterdam in the

late 90s. Many artists took to the streets to

Intro

protest about the lack of alternative and affordable workspaces. Were there earlier ideas

SB

Our research deals with the questions re- for a conglomeration of creative people in Am-

garding potential urban creative spaces. Spe-

sterdam? And how did you eventually come

cifically, we examined the Museumsquartier in

across the NDSM site?

EK I have worked for many art initiatives Vienna, the Wagenhallen in Stuttgart, the ‘NDSM- Warf’ in Amsterdam, and the Binz in Zurich.

and theatre companies and we started our bu-

These four creative spaces represent a certain

sinesses in the squats along the river IJ.

range of what can be understood as types of

When we were threatened with eviction as a

creative quarter. While we refer to the Museums-

result of urban development plans, we set

quartier in Vienna as an institutive creative

up a think tank and prepared a manifesto out-

quarter, the Binz in Zurich can be described as

lining our participation in city development,

an autonomous occupied quarter. The Wagen-

but from the bottom up and by ‘doing it toge-

hallen and the ‘NDSM’ are in between. What do

ther’ (DIT). We believed that urban deve-

you think of this classification?

lopment is at its best when it is done both

EK I don’t know much about Wagenhallen

ways – from the top down (like in the mu-

and Binz, so it is hard to say. It seems like

seum quarter or any other area) and from

you are comparing apples with pears. We

the bottom up (like the NDSM Shipbuilding

also have a Museumquartier in Amsterdam,

Warehouse, Het Veem, Ot301, Pakhuis Wilhel-

which you cannot compare with NDSM, and

mina, etc.). I think we were initially accep-

there is no direct link other than that some

ted and internationally recognised as essen-

p.262

artists are exhibited in the museums. A mu-

tial for the cultural, social, and economic

seum is about consuming art. It is governed

climate of the city when we moved into the

by a city council and is important for the

Guild of Industrial Buildings along the river IJ.

city’s cultural profile. NDSM is about the pro-

Obviously, there were agglomerations be-

duction space. It is initiated by the people

fore but they focussed more on social hou-

and represents a plea for affordable space

sing. From social housing came affordable

to accommodate all sorts of low threshold

workspaces and job creation. Amsterdam

disciplines, including skateboarding, arts,

was so focussed on selling land and maxi-

crafts, boat workers, hip-hoppers, cultural

mising profit that important groups were

entrepreneurs, social and educational

excluded. I came across NDSM when I was

projects, sustainable energy groups, local

working for a site-specific theatre group,

initiatives, and so on. It is also important

while campaigning for space to develop our-

for the city’s dynamics and cultural climate.

selves at the same time. They are user

NDSM, however, is also home to a dock,

generated, assimilate naturally into the neigh-

yachts, a steel company, the Hema retailing

bourhood/environment and often more


government for it; it is also up to the people

but decided to enter a competition for

to fight for their rights and make a state-

reusing the NDSM because I believe that go-

ment and hold out. Subculture is everywhere,

vernment should allow and provide self-

even in the most unexpected of places. It

initiated and self-managed space to the peo-

should not be too organised :-)

ple in stead of a total sell-out to developers. And we were ready for the next stage and

Eva, thank you for this conversation!

more certainty in our business careers.

Interview mit Eva de Klerk

successful. I first thought about squatting

The City SB

In several publications and reports,

you refer to interactions with real estate developers and municipals and the changing political climate. During our on-site research, we picked up on a typical problem of Amsterdam: the ‘erfpacht’. Can you explain briefly what ‘erfpacht’ is and explain to what extent it was a problem for the NDSM and Kunststad to the ‘Industrial Monument’? EK The city of Amsterdam owns all land and ‘leases’ it (erfpacht) for a certain period, say 50 to 100 years. In this way, Amsterdam is always in control of what is happening in the city. I do not see it as a problem, other than that Amsterdam’s economic model depends on generating high income by selling

— „Street“ between the southern free space and the Kunststad

most land to the highest bidder. As a result, land is preferably sold to developers and it is hard to get a slice of the cake when you are a group of people who, in some cases, can actually pay the same price. It’s about trust. But now, due to crisis, we have to rethink city economics. SB

The creative potential of a city is increa-

singly becoming the focus of attention. In the case of Amsterdam, the whole city has been transforming into a museum forecourt but the creative people are increasingly displaced to the periphery. Do you think this makes sense? EK This is a normal cycle and has been haphundreds of years. There are some places in the centre too. And I would not blame the

Quelle https://helanonline. cn/article/1438

p.263

pening everywhere in the world for over


NDSM — Amsterdam

Akteure Seitdem die Stadt Amsterdam gemeinsam mit ehemaligen Mitgliedern der Besetzerszene Amsterdams, Künstlern, Theaterschaffenden, Skatern und Architekten mit Hilfe eines Wettbewerbs das Gelände, die Hallen und die Wasserbecken den Kreativen zur Verfügung gestellt hat, entwickelt sich das Gelände zu einem fantastischen Areal für Kunst und Kultur. Auf dem gesamten Areal arbeiten mehrere Verbände, Vereine und andere Gruppierungen. Aber auch internationale Firmen, die die kreative und hippe Szene zu schätzen gelernt haben, sind mittlerweile anzutreffen. Die Vielfalt kennt keine Grenzen. Künstler, Architekten, Theatergruppen, Designer, Musiker und Freidenker haben hier eine zweite Heimat gefunden. Neben den Künstlerproduktionsflächen gibt es diverse Veranstaltungsräume, Veranstaltungen unter freiem Himmel, Cafés und Räumlichkeiten, in denen regelmäßig Ausstellungen, Konzerte oder Tanzabende stattfinden. Veranstaltungen auf dem Außengelände, wie Flohmärkte, Konzerte, Theateraufführungen usw. locken weitere Besucher an. Es ist ein Ort der künstlerischen Begegnung geworden, ein Ort für Experiment und Forschung, der sich in ständigem Wandel befindet. Genau dieser Wandel macht es schwierig, eine genaue Zählung und Zuordnung der Kreativen vorzunehmen. Anhand ihres primären Tätigkeitsbereichs wird versucht, die Akteure unter Zuhilfenahme der Definition Kultur- und Kreativwirtschaft (siehe Abschnitt Typus) einzuordnen. Kreative, die mehrere Tätigkeitsfelder bedienen, werden auch prozentual mehrfach zugeordnet. Das Ergebnis entspricht einer subjektiven Quantifizierung anhand genannter Definitionen, um eine Vergleichbarkeit der

p.264

Quartiere zu ermöglichen.


Akteure Pressemarkt 06%

Architekturmarkt 16%

Werbemarkt 04%

Sonstiges 02% Designwirtschaft 04%

Musikwirtschaft 20%

Darstellende Künste  24%

Kunstmarkt 14%

Filmwirtschaft 08%

p.265

Rundfunkwirtschaft 02%




NDSM — Amsterdam Abb. vorangegangen Stichting Skatepark Amsterdam Michael Groenewegen Vorsitzender für Skateboards, Inline-Skater, Bikes and more Schnupperkurse, Skate-Kurse, Privatstunden Veranstaltungen, Wettbewerbe

p.268

Abb. links Draisma Industrial Design Eibert Draisma industrial design, products art, performative installation public space, events

Abb. rechts Stichting Klean Peter Smith and others Direktor und Botschafter, Fotografie, Kunst, Installation Entwicklung kreativer Konzepte Public Space, Intervention


p.269

Akteure




p.272

NDSM — Amsterdam


Akteure Abb. vorangegangen Studio Anton Surink Dipl.-Ing. Anton Surink Hausboote, Office, Apartments interiors and exteriors teilt das Atelier mit Elvira Vroomen Leder- und Textildesign

Abb. rechts Interieur architectuur Conny Deerenberg Innenarchitektur Möbeldesign, Küchendesign Inneneinrichtungen

p.273

Abb. links Mark Knoester Meubelmaker Mark Knoester Schreiner und Designer, Möbelbau, Küchen, Inneneinrichtungen, Treppenbau, Gestaltung


Exkurs — Interview

KLAUS OVERMEYER, Prof. Dipl.-Ing. Land-

gewünscht. Der neue Abrisstermin steht jetzt

schaftsarchitekt, Co-Initiator des Forschungs-

im Juni 2013 an.Die Kooperation mit der Stadt

projektes Urban Catalyst (2001-2003), Büro-

wäre wahrscheinlich eine Möglichkeit, den

gründung Studio UC/ Klaus Overmeyer 2004,

Erhalt der Binz zu sichern. Bei dem Gedanken

Professur für Landschaftsarchitektur an der

hat sich die Idee entwickelt, dass ein solcher

Bergischen Universität Wuppertal, im Gespräch

Ort vielleicht zu einer eigenen Typologie wer-

mit Sascha Bauer

den kann. Als Phänomen würde ich es bereits jetzt schon bezeichnen. Würdest du es auch

Einführung

in dem Kontext Kreativquartier so sehen, dass die leerstehende Architektur eine Ressource

SB

Vor etwa anderthalb Jahren haben wir

einen Entwurf bearbeitet, dessen Aufgaben-

nur ein Label?

stellung die Planung eines Kreativquartiers am

K O Das sind jetzt verschiedene Dinge, die

Hamburger Oberhafen, direkt neben der Ha-

hier zusammen kommen. Vielleicht fangen

fenCity umfasste. Während des Entwurfs kam

wir mit dem Begriff „Kreativquartier“ an.

die Frage auf, ob ein Kreativquartier überhaupt

Das ist ein Term, den es noch gar nicht so

planbar ist. Was ist überhaupt ein Kreativquar-

lange gibt, der erst in den Debatten der

tier? Die Aktualität des Themas veranlasste

letzten 3-4 Jahren aufgekommen ist. Ich

uns dazu, das Projekt weiter auszudehnen und

glaube, der Begriff wird sehr weit benutzt,

mehrere Leute dazu zu befragen. Begonnen

von Städten, Immobilienentwickler und

hat alles mit der Frage, ob ein Kreativquartier

anderen. Ich kann mir vorstellen, dass der

in den nächsten Jahren zu einer Typologie

Begriff Kreativquartier eine ähnliche Karri-

werden kann. Eine wichtige Frage ist auch hier

ere wie der Begriff der Gartenstadt macht

die Zwischennutzung und deren etwas unkon-

und irgendwann zu einem Allerweltsbegriff

ventionelle Variante der Hausbesetzung und

wird, den die Leute für ihre Absichten ins-

Aneignung. Damit ein Kreativquartier erhalten

trumentalisieren. Zunächst einmal hat der

werden kann, muss für mich ein gewisser

Begriff Kreativquartier unterschiedliche

Grad an Öffentlichkeit entstehen. Also eine

Wurzeln und mittlerweile auch starken

Aufmerksamkeit von verschiedenen Seiten, wie

Einfluss auf die Stadtentwicklung, aber auch

den Touristen oder der Stadt. Mit dem Privileg

auf die Immobilienentwicklung. Dort wollen

der Aufmerksamkeit ändert sich die Besucher-

sie Urbanität; alles muss dicht geplant und

struktur und das Gebiet wird mit immer mehr

vernetzt sein. Für die Entwicklung heißt es

Auflagen belegt, sowohl aus den eigenen Rei-

dann primär, dass es interessante Nutzun-

hen als auch von Außen. Das Kreativquartier

gen mit Kunst und Kultur, aber natürlich

wird also zu einer Art Institution. Man könnte

p.274

für Kreative ist? Begriffsfrage Kreativquartier –

auch Kommerz und Versorgung gibt.

nun sagen, dass das MQ (MuseumsQuartier

SB

Wien) in unserem Vergleich das Endstadium

nem Kreativquartier zählen? Ich nenne jetzt

eines solchen Prozesses ist mit überproporti-

mal bewusst und überspitzt den Flagship-Store

Würden für dich solche Nutzungen zu ei-

onaler Ausstellungsfläche, Museen, Cafés usw.

im Kreativquartier.

Wenn ein Kreativquartier zu einer Institution

KO Nicht unbedingt. Aber ich würde schon

geworden ist, hat auch die Stadt ein Interesse

sagen, dass die ökonomische Wertschöp-

daran und der Erhalt ist gesichert. In der be-

fung eine Rolle spielt, damit Geld erwirt-

setzten Binz in Zürich ist das Gegenteil der Fall.

schaftet wird. Ich bin skeptisch, dass man

Eine Öffentlichkeit wird von den Nutzern nicht

als Immobilienentwickler wertorientiert


kreativen Räumen. Eine Alternative zu her-

nung, Stadtgebrauch und Teilhabe an Pro-

kömmlichen Verwertungslogiken.

jekten mit unterschiedlichen Formen von

SB

Öffentlichkeit zu tun. Insofern passt dieses

Bottom-Up oder Top-Down? Wir sehen den Be-

Entwicklung von Kreativquartieren –

Label „Kreativquartier“ eigentlich nicht so

ginn der Entwicklung solcher kreativen Räume

gut, weil dieses eben sehr instrumentalisiert

in einer autonomen Grundhaltung. Erst später

wird. Im Endeffekt geht es nur um den Ver-

kommt in manchen Fällen das Interesse der

kauf. Ich glaube, darin besteht eine große

Stadt hinzu. Bei der NDSM in Amsterdam wurde

Gefahr.

ein Wettbewerb ausgeschrieben. Dann wird

SB

Das ist schon passiert, hier in Stuttgart.

Es gibt seit April 2012 ein Leerstands- und

Klaus Overmeyer

bauen kann. Es hat sehr viel mit Stadtaneig-

gemeinsam mit einem Architekten geplant. Anschließend sind die bisherigen Zwischennutzer

Zwischennutzungsmanagement der Stadt Stutt- vielleicht doch nicht mehr so zufrieden und gart. In einer Broschüre, die die Stadt heraus-

wollen vermutlich wieder etwas anderes.

gebracht hat, sind 35 Kreativquartiere auf-

KO In Amsterdam hat die Stadt als Eigen-

gelistet, unter anderem auch Bürogebäude, in

tümer diese Werft an einen Verein vergeben,

denen nur Grafiker und Architekten sitzen. Für

Kinetisch Noord. Der Verein hat sich

uns war dann die Frage: Ist das ein Kreativ-

in der Ursprungsphase gegründet und sich

quartier oder ist es einfach eine Bürogemein-

dann auch eingehend Gedanken über die

schaft, in der alle Nutzer ähnliche Interessen

Nutzungsstruktur gemacht. Zusammen mit

verfolgen? Daraufhin haben wir begonnen,

einem Architekten haben sie ein Briefing

eine Programmatik zu entwickeln. Einerseits

und ein Raumprogramm entwickelt. Dieses

auf der Basis der mitteleuropäische Definition

wurde dann auch gestalterisch umgesetzt.

der Kultur- und Kreativwirtschaft und wer zu

Der Architekt hatte hier eine sehr wichtige

dieser Gruppe zählt. Andererseits auf Basis

Rolle, er hat mit den Nutzern zusammen

der möglichen Öffentlichkeit im Gebäude.

gearbeitet. Es war nicht so, dass die Stadt

KO Also von meiner Seite gesehen hätte ich

gesagt hat: „Hier hast du 20.000 qm Halle, bau’ da mal was Schickes rein.“

che Unterschied in der Stadtentwicklung ist

SB

für mich, dass diese eher konsumentenba-

Willen bzw. das Wohlwollen der Stadt passiert.

In Amsterdam ist das also durch den

siert ist. Man überlegt sich einen Endnutzer

In Karlsruhe ist etwas ähnliches passiert,

oder Endverbraucher und dafür baut man

allerdings mit einem anderen Ausgang. Da hat

ein Quartier. Für mich ist eigentlich die Ini-

die Stadt gemeinsam mit Architekten einen

tialzündung für solche Kreativräume nicht

Schlachthof zu einem Kreativquartier umgebaut.

der Nutzer, der am Ende steht, sondern

Jetzt sind die Mietpreise so hoch, dass sich

der am Anfang des Prozesses steht. Eine

das wahrscheinlich nicht mehr jeder Künstler

vom Nutzer getragene Entwicklung, bei der

leisten kann. Das wäre für mich mit dem MQ

die Nutzer selbst auch zu Raumproduzen-

vergleichbar: Atelierräume nur für Stipendiaten.

ten werden. Da geht es meines Erachtens

Ergo nur, wenn der Künstler für die Stadt oder

nicht um die Vermarktung von kreativen

das Konstrukt MQ ökonomisch verwertbar ist

Produkten, sondern darum, dass die Nutzer

und einen Mehrwert bieten kann.

eine eigene Idee von Raum und Raumge-

Was passiert also, wenn die Stadt und der

brauch entwickeln und selbst zu einer Art

Architekt eingegriffen haben? Man könnte das

„Projekt-Akteur“ werden. Das finde ich, ist

mit einem Gentrifizierungs-Prozess verglei-

das Interessante an der Entwicklung von

chen, dabei werden die Nutzer zwangsläufig

p.275

einen anderen Zugang dazu. Der wesentli-


Exkurs — Interview

ausgetauscht. Jemand der neu dazukommt,

Mehrwert für alle Beteiligten bieten. In den

kann nicht mehr wirklich partizipieren, da ja

vergangenen Jahren sind so eine Reihe von

schon alles da ist. Das Konstrukt fällt schnell

innovativen Projekten, Ideen und Immobi-

in einen Erhaltungsdrang und kommt der Idee

lienprojekte entstanden. Ich glaube, was

einer Institution sehr nahe.

jetzt noch aus der alten Stadtentwicklung

KO Wien kann das MQ international ver-

kommt, ist der Umgang mit Transforma-

markten und dadurch viele Touristen, Inves-

tionsarealen. Da gibt es in der Stadtent-

toren usw. anziehen. Das ist – ganz klar –

wicklung unzählige Beispiele, bei denen die

ein Top-Down gesteuerter Prozess. Das hat

Zwischennutzer oder Besetzer sich Gebiete

aber meines Erachtens noch viel mit den

spontan angeeignet haben und es dabei

90er Jahren zu tun, als man versucht hat,

permanent zum Konflikt mit der herkömm-

Städte über Events oder Ikonen-Architektur

lichen Stadt- und Projektentwicklung kam.

zu vermarkten. Daraus entstand, glaube

Ganz unterschiedliche Entwicklungspfade

ich, auch die Idee, dass jede Stadt ein MQ

gibt es da hinsichtlich Immobiliendruck und

braucht.

lokalen Akteuren. In den seltensten Fällen

SB

Im Dezember 2012 haben wir ein erzählt,

dass auch das MQ eine Vorgeschichte mit halb-

und ihr eigenes Biotop daraus gemacht.

legalen Zwischennutzungen hat. Da das Gebäu-

In den meisten Fällen wurden sie instrumen-

de stadtzentral ist, war die Stadt schon immer

talisiert oder verdrängt. Relativ neu in der

daran interessiert, es verwertbar zu machen. An

Stadtentwicklungsdebatte ist, dass diese

diesem Beispiel hat die Stadt sehr stark in das

Kreativquartiere eben nicht von oben ge-

Gebilde eingegriffen, es wurde zur städtischen

plant werden können, sondern dass man

Institution. Bei der NDSM in Amsterdam lief

versucht, gerade in Städten mit sehr hohem

das sanfter ab, bei den Wagenhallen Stuttgart

immobilienwirtschaftlichen Druck, zu einer

noch mehr. Die Stadt als Eigentümer lässt die

anderen und neuen Form von Stadtent-

Künstler agieren, da es wohl eh irgendwann

wicklung zu kommen. Es geht nicht darum,

im Zuge der Gebietsentwicklung abgerissen wer-

dass die Nutzer aus Kreativbranchen kom-

den soll. In der Binz in Zürich versucht die

men, sondern es geht eher um Fragen der

Stadt, die autonomen Besetzer los zu werden.

Teilhabe der organischen Entwicklung und

Der Abriss ist erneut angekündigt, diesmal für

der Integration von Bestand in eine ergeb-

Juni 2013. Es stellt sich also die Frage, was

nisoffene Entwicklung. Die lokalen Akteure,

passiert, wenn ein Investor oder die Stadt das

also nicht nur Bürgerbewegte, sondern

Potenzial eines Ortes erkannt hat und in wie weit

auch Unternehmen, Initiativen und Genossen-

der Architekt in deren Auftrag dann eingreift.

schaften, werden in einer solchen Entwick-

KO Die ganze Diskussion um Creative Cities

p.276

haben die Besetzter das Gebiet übernommen

lung stärker mit einbezogen.

ist ja schon relativ alt, angestoßen durch

SB

Richard Florida und Charles Landry. Ich

schen Planungsstrategie als Stadtplaner, in

glaube diese Diskussion hat in verschiedene

der eine Gebietsentwicklung quasi offen bleibt

Du sprichst also vom Wandel der klassi-

Bereiche der Stadt- und Projektentwicklung

und gemeinsam mit dem späteren Nutzer ge-

ausgestrahlt. Vor allem Immobilienentwick-

plant werden kann. Also eine neue Entwick-

ler sind darauf aufmerksam geworden. Sie

lungsstrategie?

vertreten die Ansicht, dass sich Räume

KO Genau. Der Entwickler überlässt den

von Co-Working-Spaces mit kombiniertem

Nutzern ein gewisses Feld. Wie sie das Feld

Wohnen gut vermarkten lassen und einen

bespielen, wissen beide Seiten noch nicht.


lung dieser Quartiere. Eine solche organische

ternative Ökonomie- und Verwertungsstra-

Entwicklung braucht eine zeitliche, aber auch

tegien, der Umgang mit Bestand und auch

eine ökonomische Perspektive die wiederum

andere Raumstrategien spielen eine Rolle. All

Teilhabe an Gemeinschaftsräumen oder Grund-

das hat nicht unbedingt etwas mit städte-

besitz ermöglicht. So dass die Nutzer, die sich

baulichem oder architektonischen Entwerfen

engagieren, auch eine Möglichkeit der Teilhabe

zu tun. Das finde ich eine sehr interessante

habe. Gleichzeitig denke ich aber auch, dass

Klaus Overmeyer

Sie wissen nur: Nutzer spielen eine Rolle. Al-

Entwicklung und Tendenz. Ich glaube, auf die- es für solche Quartiere wichtig ist, eine Art sem Feld gibt es enormen Forschungsbe-

Durchlauferhitzer zu haben. Zonen, die per de-

darf.

finitionem immer nur temporär sind. Wo Leute landen können, aber klar ist, dass nach einem

Die Frage der Zwischennutzung – Start-Up

bestimmten Zeitraum wieder etwas anderes

mit begrenzter Dauer?

passieren wird. Ich denke, dass man das in Form von Spielregeln ganz gut in den Entwurf

Ich möchte in einem kurzen Gedanken-

modell behaupten, neue Gebäude können keine

integrieren kann. Um auf deine Frage zurück zu kommen: Für mich ist der Neubau mit dem

Kreativquartiere sein. Die Mieten für kreativ

Potenzial der Transformation nicht ausgeschlos-

Schaffende wären zu hoch. Zwischennutzungen

sen. Ich bin natürlich auch ein Verfechter von

von Brachen oder leer stehende Gebäuden sind

Muck Petzet und Lacaton et Vassal, deren Liebe

eine echte Alternative. Der Begriff „Zwischen-

dem Bestand gilt. Davor habe ich sehr hohen

nutzung“ deutet ja im Wort selbst schon darauf

Respekt und versuche, zuerst die Energie, die im

hin, dass sie lediglich für eine begrenzte Dau-

Bestand liegt, zu wecken oder zu transformieren.

er existiert. Aber gibt es für Zwischennutzun-

gen letztendlich nur die Möglichkeit, sich zu

Nutzerwechsel. Sagen wir mal, ein Kreativ-

institutionalisieren oder sich aufzulösen?

quartier wird für die begrenzte Dauer von

SB Das bedingt aber auf jeden Fall einen

KO Ich glaube bei der Entwicklung von

drei Jahren entwickelt. Die Bekanntschaften

solchen Kreativquartieren spielen die Erneu-

untereinander haben in dieser Zeit auch zu

erung und der Jungbrunnen eine sehr große

Freundschaften und Kooperationen geführt.

Rolle. Die herkömmliche Stadtentwicklung

Es hat sich also ein Netzwerk gebildet, das

denkt ja stark in diesen Polen, temporär oder

nicht unbedingt ortsgebunden sein muss.

dauerhaft, und kommt am Ende vielleicht zum

Das Netzwerk wird durch eine Auflösung des

Dauerhaften. Was man bei vielen Zwischen-

Kreativquartiers und die örtliche Verteilung

nutzungsprojekten sieht ist, dass die Leute äl-

der Kreativen – evtl. auch in entferntere Orte –

ter werden und irgendwann auch mal „Ruhe“

permanent größer. Erst weiten sich die Ma-

haben wollen. Gleichzeitig kann man bei vielen

schen und anschließend werden die Lücken mit

Zwischennutzungsprojekten erkennen, dass

neuen Kontakten gefüllt. Genau da sehen wir

eine Erstarrung eintritt. Man merkt, dass aus

ein Potenzial. Ist das Temporäre eine große

den Zwischennutzern und Aktivisten Immobili-

Chance für die Branchen der Kultur- und Kre-

enbesitzer geworden sind, die sich ihr eigenes

ativwirtschaft?

Königreich geschaffen haben und damit in die

KO Grundsätzlich glaube ich, dass man

Rente segeln wollen. Für mich wäre es eine gro-

Stadt nicht einfrieren kann. Stadt ist eher

ße Herausforderung, erst einmal eine dauer-

ein Komposthaufen, der ständig in Wand-

hafte Perspektive zu schaffen. Die ist meines

lungsprozessen steht. Jedes einzelne Pro-

Erachtens sehr wichtig, gerade in der Entwick-

jekt, das einmal temporär gestartet ist – ob

p.277

SB


Exkurs — Interview

die Akteure das wollen oder nicht – befindet

entwickelt, mit der die restlichen 13.000

sich in einem solchen Umwandlungsprozess.

m2 vermietet werden können. Sie haben es

Die Kunst dabei ist es, je nach Projekt her-

so gut entwickelt, dass heute alle Räumlich-

auszufinden, wie wichtig es ist, den richtigen

keiten belegt sind und auch die Eigentums-

Zeitpunkt des Absprungs zu finden. Also die

rechte etc. geklärt sind. Von Außen kann

Auflösung des Projektes nach einer gewissen

ihnen eigentlich nichts mehr getan werden.

Zeit. Oder hat das Projekt das Ziel, als Noma-

Sie haben sich so eine „Burg“ gebaut.Der

de ganz unterschiedliche Orte zu besetzen?

Raum ist zu diesem Zeitpunkt durch die

Das kann auch ein Prinzip sein. Oder ist das

Wagenhallen definiert. Da gibt es Mauern,

Projekt eher als ein Rhizom an-

eine Art Schutzraum. Aber in der Keimzelle

gelegt, das an einem Ort Keimwurzeln schlägt,

brodelt es noch ziemlich. Es ist nicht so,

sich ausbreitet und dabei Kraft ent-

dass Nutzung, Finanzierungsform oder

faltet. Unterschiedlichste Konzepte sind mög-

Nutzungsart zwischen Akteur und Bauherr

lich und man muss sich in dem Prozess sehr

übereinstimmt und sich eine Burg daraus

stark Reflektionen unterwerfen. Immer wieder

entwickeln kann. Sehr spezifisch für diese

schauen: Wo stehen wir eigentlich und wo

organischen Kreativquartiere ist, dass sie

wollen wir hin? Was macht unser Pro-

sehr stark mit Oszillationen zu tun haben.

jekt eigentlich aus? In welche Richtung wollen

Es gibt ein starkes Ausloten und

wir uns entwickeln?

Austarieren zwischen den Nutzungen in der näheren Umgebung. In vielen Gebieten es

Der städtebauliche Kontext – Segen oder Fluch?

geht knallhart um die Raumfrage: Wer hat die Hoheit über den Raum? Wer kann den Raum gebrauchen? Es geht dabei um

SB

Die Wagenhallen in Stuttgart, als Solitär

in dem Gebiet, werden immer mehr zugebaut.

len kommt es dann auch zu einer Phase, in

Gleich nebenan entsteht die Duale Hochschule

der das Ganze zu einem Krieg führt. Dann

Baden-Württemberg, nach deren Fertigstellung

versuchen alle, Bauträger, Immobilienbe-

sich täglich 1500 Schüler auf dem Gelände

sitzer, Stadtverwaltung oder kreative Nutzer,

bewegen werden. Die Aktionsfläche vor den Hal-

irgendwie die Oberhand zu gewinnen und

len und der Raum vor den Ateliers könnte eine

haben jeweils ihre eigene Strategie. Entweder

enorme Einschränkung erfahren, da die Flächen

durch rechtliche Festsetzungen, durch Kauf

als Erweiterung des Schulhofes herangezogen

des Geländes oder auch durch Festivals,

werden könnten. Welche rechtlichen Konsequen-

Besetzung und öffentliche Aufmerksamkeit.

zen das haben würde, kann man sich ausmalen.

Es gibt oft Phasen, in denen diese Interes-

KO Bei den Orten, die wir in unserem Ge-

p.278

Finanzierung und um Geld. In vielen Fäl-

sen sehr stark miteinander konkurrieren.

spräch untersucht haben, gibt es fast

SB

immer einen Kristallisationskern, der seine

Kreativquartieren vorhanden und zumindest

Zeit zur Entwicklung benötigt. Wir nehmen

in den Wagenhallen braucht es diesen auch,

als weiteres Beispiel das Gelände der Exro-

denn nur durch diesen Konflikt ist das Ganze

taprint in Berlin, eine aufgegebene Fabrik.

entstanden. Es gibt dort jetzt den Kunstverein,

Zwei Schlüsselakteure ziehen als Mieter ein

eine Kooperationen mit der Stadt, Veranstal-

und haben 2.000 m2 von den gesamten

tungsreihen und den Veranstaltungsbereich. Das

15.000 m2. Sie haben ein Geflecht, eine

alles hat sich meines Erachtens nur durch

Organisationsform und Finanzierungsform

diesen Konflikt ergeben. Denn die Leute, die

Dieser Konfliktaspekt ist bei fast allen


private Eigentümer, einen Bezug zum Ge-

essiert was dort sonst so passiert, sie wollten

biet aufbauen, ist man schon einen Schritt

nur arbeiten.

weiter. Optimal wäre natürlich, wenn diese

KO Klar. Der Konflikt ist ein Katalysator,

noch erkennen, dass das Kreativquartier

der oft zu einer Umbildung oder Formalisie-

zu ihrem Projekt wird und sie damit etwas

rung führt.

verändern können. Dann steigt plötzlich

Klaus Overmeyer

von Anfang an da waren, hat es wenig inter-

das Engagement von allen Seiten. Für Ausdehnung des Kreativquartiers im städti-

eine Schule zum Beispiel spielen interne

schen Kontext – die vernetzte Stadt

Dinge eine Rolle. Was im Umkreis passiert, ist dabei weniger wichtig. Angenommen, die Schule würde auf die Idee kommen,

Idealzustand eines Kreativquartiers denkt,

30 Prozent ihrer Klassenräume in die WH

dann wäre es für mich super, wenn es nicht

auszulagern, dann verändert sich die Situ-

nur um eine Immobilie geht. Eine Halle

ation. Dann entsteht eine vernetzte Stadt,

oder ein Gebäude, in dem ein paar Kreative

eine andere Idee von Lernen, Bildung und

arbeiten. Anders wäre das, wenn das Ganze

Wissenschaften. Dann denkt man Schu-

nun eine große, kritische Masse erreicht,

le zusammen mit beruflichen Biografien.

wie z.B. in München. Bei diesem Wettbewerb

Genauso könnte auch eine Kulturinstitution

in München wurde nicht über einzelne Ge-

handeln oder ein Investor, der Wohnungen

bäude gesprochen, sondern über eine Art

entwickeln will.

Labor-Quartier und zwei Hallen auf einem

SB

Also die Auflösung der klassischen

Gebiet von 3-5 ha. Dieses Gebiet wird zu ei-

Funktion von Gebäude.

ner Schutzzone erklärt, in der man zwar

KO Stadtplaner und auch Immobilienent-

politisch verankert, dass es Wohnungen

wickler haben einen gemeinsamen Nenner,

gibt, aber der man auch einräumt, dass sie

was als Quartier bezeichnet wird. Es wer-

sich langsamer entwickeln darf als andere

den Nutzflächen geschaffen. Diese werden

Gebiete.

verkauft und die Stadt macht „ein bisschen

SB

Also den Quartiersbegriff im städtebau-

lichen Maßstab gedacht? KO Genau. Damit spannt man ein Feld auf,

öffentlichen Raum“ als Gegenleistung. Insofern alles veräußert werden kann, funktioniert das auch. Der Begriff Quartier ist

in dem es andere Rahmenbedingungen gibt,

ein ökonomisches Rechenmodell, das sich

ohne herkömmliche Verwertungslogik, quasi

für die Stadt rechnet, weil Steuerzahler

ergebnisoffen. Es gibt zwar einen städte-

einziehen und sich das natürlich auch für

baulichen Entwurf, verschiedene Ökonomien

den Eigentümer oder Immobilienentwick-

und es werden Organisationsmodelle ent-

ler rentiert. Aber dieser Quartiersbegriff

wickelt. Dafür nehmen wir uns Zeit, fünf Jah-

hat nichts zu tun mit den gesellschaftli-

re beispielsweise, ein Spielfeld, das wir uns

chen Herausforderungen, denen wir uns

selbst erschaffen haben. Grundsätzlich

in Zukunft stellen müssen. Fragen wie: Wie

macht es auch sehr viel aus, wenn sich in der

wollen wir leben? Wie ist unser Zusammen-

Stadt und unter allen Beteiligten die Hal-

leben? Was macht eigentlich Spiritualität

tung entwickelt, dass alle davon profitieren

aus? Wie bewegen wir uns fort? Wie lernen

können. Wenn man an den Punkt kommt, an

unsere Kinder? Wie ernähren wir uns? In

dem auch die angrenzenden Akteure, ob

dem herkömmlichen Quartiersbegriff wird

Bauträger, Schulen, Kulturinstitution oder

das alles nur reduziert auf eine quantifi

p.279

KO Wenn man jetzt an den möglichen


Exkurs — Interview

zierbare und technologisch wirtschaftliche Berechnung mit Goal-Standards, Energieeffizienz-Zertifikaten und Menschen, die mit Erdgasbussen fahren. Das ist alles top, aber an den wesentlichen Fragestellungen geht das eigentlich vorbei. SB

Die Charta von Athen im stadtplaneri-

schen Sinne, wie auch die einzelnen Gebäudetypologien, scheinen sich also immer weiter aufzulösen. Da stellt sich für mich die Fragen ob der herkömmliche Typologiebegriff überhaupt noch Bestand hat? KO Ich glaube, dass der Architekt immer einen Hang zur Autonomie hat. Architekten wollen sich mit den gesellschaftlichen Transformationsprozessen oft nicht auseinandersetzen. Sie ziehen sich auf eine autonome Position zurück und behaupten, sie bauen Stadt und definieren Räume, in denen Stadt entsteht. Dem fügen sie die Begriffe Nutzungsmischung, europäische Stadt und Urbanität hinzu, und das Kapitel ist für sie zu Ende. Ich hasse diesen Begriff „Kreativquartier“, weil er so oft gebraucht oder sogar missbraucht wird. Was für mich den Reiz ausmacht ist die offene Situation und dass über Stadtentwicklung neu verhandelt und neu debattiert wird. Dass diese Situation auch damit zu tun hat, dass nicht nur über feste Bilder und Renderings diskutiert wird. Wichtiger ist eher, wie man mit Bestand umgeht, wie man sich zusammen organisiert, welche Vorstellung man als Individuum hat, aber auch welche Vorstellungen wir von Gemeinschaft haben. Man merkt, dass der Raum eine viel stärker formbare Masse ist und wie diese Masse geformt wird, bestimmt nicht allein der Architekt. Das Thema wird in eine größere Debatte einbezogen, aus der letztendlich die Form entsteht. p.280

SB

Und dann entstehen Gebäude oder

Städte, die diesen Randbedingungen gerecht werden? Überspitzt gesagt: Baut dann wieder


SB

stehenden finanziellen und materiellen Mitteln?

logie. Könnte das Kreativquartier also nicht

KO Dafür bin ich zu wenig Architekt. Ich

im Sinne eines städtebaulichen Gefüges, son-

Abschließend noch eine Frage zur Typo-

will das auch nicht „brandmarken“. Es gibt

dern als Gebäude oder vielleicht Gebäudean-

da ganz hervorragende Sachen. Es geht

sammlung zu einer eigenständigen Typologie

nicht darum, sich aus den Sachzwängen zu

werden?

verabschieden und zu sagen, „wir machen

hier neue Ökonomien“. Es gibt ganz klar

logien, sonder eher in Methoden. Wenn man

eine wirtschaftliche Seite und die muss sich

dieses Quartier als einen bestimmten Prozess

auch rechnen. Dann müssen sich die Leute

oder Methode sieht, dann ist das für mich viel

damit auseinander setzen. Mir geht es

mehr Wert. Wenn man sich dem annähert und

eigentlich nur darum, dass Architektur und

ergebnisoffen agiert.

Städtebau in einem anderen Kontext disku-

SB

Klaus Overmeyer

jeder seine eigene Hütte mit den zur Verfügung

KO Ich denke hier nicht in baulichen Typo-

Ich bedanke mich für das Gespräch.

tiert werden und nicht nur in irgendwelchen Fachjurys, in denen auch nur Architekten

Das Gespräch wurde am 12.02.2013 in

sitzen. Wir müssen davon wegkommen,

im Bistro 21 des Bahnhofsturms Stuttgart

dass das die einzige Ebene der Diskussion

geführt.

ist. Regelwerk und geistige Freiheit SB

Man sieht oft, dass es viele Ideen gibt

und irgendwie scheitern die Pläne immer an irgendwelchen öffentlichen Stellen. Die letztendliche Umsetzung eines Projektes ist nur ein ganz kleiner Teil des Gesamtprozesses. KO Das ist überall so. Auch in München. Aber für diese Diskussion haben sie Raum geschaffen. In München in Form eines Wettbewerbs. Der Wettbewerb war Auslöser dafür, dass diese offenen Parameter nun in der Stadtverwaltung, in der Politik und bei den Parlamentarien festgesetzt sind. Ein Labor – drei Hektar groß – das Ganze nennt sich Kreativquartier. So haben sie sich einen Freiraum und einen Spielraum geschaffen. Ein erster Schritt wäre, zu sagen: „Wir nehmen uns Zeit. Über den Raum reden wir später. Wir denken Stadt einmal anders. Wie genau, das wissen wir noch nicht. Wir stellen erst einmal Fragen.“ Das ist ein Städte in den Griff bekommen.

p.281

großer Schritt. Ich glaube dann können wir



Museumsquartier | Kreativquartier in Wien Einführung p. 282 – 289 | Urbaner Kontext p. 290 – 301 | Geschichte p.  302 – 305 |  Gebäude p. 306 – 319 | Institutionen als Akteure p. 320 – 325 |




p.286

Museumsquartier — Wien


p.287

Einführung


Museumsquartier — Wien

Einleitung — Museumsquartier | „Kunstgenuss und  Le-

benslust – das MuseumsQuartier Wien ist mit rund 70 kultur­ ellen Einrichtungen nicht nur eines der weltweit gesehen größten Kunst- und Kulturareale sondern mit seinen Innen­höfen, Cafés und Shops auch eine Oase der Ruhe und Erholung inmitten der Stadt.“ Auf dem etwa 90.000 qm großen Gelände des MQ sind nahezu alle Bereiche der Kultur- und Kreativwirtschaft, von bildender und darstellender Kunst, Architektur, Musik, Mode, Theater, Tanz, Literatur, Kinderkultur, bis hin zu Game Culture, Street Art, Design oder Fotografie vertreten. Kunst und Kultur wird hier nicht nur produziert, sondern auf professionelle Art und Weise auch vermarktet. Der Gedanke der parallelen Produktion und Konsumption war immer Teil der Planung des Quartiers und ­somit Kriterium dafür, mit in unsere Untersuchung aufgenommen zu werden. Diese Tatsache macht das MQ einzigartig und zum Kreativquartier, welches sich ­ somit von dem ähnlichen Komplex der Museumsinsel

p.288

­abgrenzt. Das im Areal angesiedelte Quartier 21 beherbergt u. a. Künstlerateliers, die über Stipendien verge-


duzieren und das Ausstellen als einheitliches Konzept

Einführung

ben werden, sowie etliche weitere Räume, die das Probehandeln. Als touristische Einrichtung ist das MQ aus Wien nicht mehr wegzudenken. Über 300 Jahre sind ver­gangen ­ seit dem Bau der ursprünglich kaiserlichen Hofstallungen. Eine informelle Vorgeschichte mit anschließender langer Planungsphase haben den Komplex MQ zu dem gemacht, was es heute ist. Ein – in planerischer Hinsicht – abgeschlossenes Projekt, das sich zwar weiterentwickelt und verändert, aber sein Ziel einer etablierten Einrichtung erreicht hat. Als „fertiges Projekt“ stellt das MQ ein mögliches Entwicklungsszenario eines Kreativquartiers dar. Im Gegensatz dazu sind die anderen drei Quartiere auf dem Weg, zur Institution zu werden oder

p.289

gar sich aufzulösen.


Museumsquartier — Wien p.290

Museumsquartier

Museumsplatz 1 1070 Wien Österreich

1 : 10 000


Urbaner Kontext

1.

7.

6. 4.

Bezirke

1. Bezirk (Zentrum) 3,01 m2 16 854 Einwohner

6. Bezirk

7. Bezirk

1,48 m2 29 623 Einwohner

1,61 m2 30 392 Einwohner

p.291

5.


Museumsquartier — Wien p.292

Infrastruktur

Bus

Citybike Station

Tram

U-Bahn


Urbaner Kontext Sondergebiet Wohngebiet Wohngebiet/Geschäftsviertel Baugebiet/Geschäftsviertel

Gemischtes Baugebiet Nicht definiert

p.293

Flächennutzung


Museumsquartier — Wien

Wiese Wald

p.294

Natur

Wasser

Parkflächen


Urbaner Kontext Bus Tram

Citybike

p.295

Städtebauliche Axonometrie


p.296

Museumsquartier

1:5 000

Museumsquartier — Wien


Urbaner Kontext Kernzone

AuĂ&#x;enzone

p.297

Flächennutzung


Museumsquartier — Wien

40

m

m 50

110 m

p.298

Schwarzplan / Entfernungsringe

1:5 000


Urbaner Kontext < 1943

> 2000

1943 – 1985

keine Angabe

1985 – 2000

p.299

Gebäudealter


Museumsquartier — Wien Politik & Justiz

Kultur

1 2 3 4

1 2 3 4 5 6

Parlament Justizpalast Bundesministerium für Justiz Stiftskaserne

Erziehung

Konsum

1 Österreichische Geographische Gesellschaft 2 Akademie der Bildenden Künste 3 Technische Universität Wien

1 Maria-Hilfer Straße ist eine der größten Einkaufsstraßen in Wien 2 Gumpendorfer Straße: Cafés und kleine Geschäfte 3 Siebensterngasse: Cafés und Geschäfte 4 Burggasse: Cafés und Geschäfte

Nutzung

p.300

Volksgarten Volkstheater Naturhistorisches Museum Kunsthistorisches Museum Hofburg Semperdepot


1

2 3 2

3

5

Urbaner Kontext

1

4

4

6

4

3 1 1 3 2

1:5 000

p.301

2


Geschichte des MQ 1719 – 1918

Museumsquartier — Wien

Phase I: Hofstalllung

1719 Beginn der Bauarbeiten. Der Idealplan - als Vorbild dient Fischer von Erlachs Rekonstruktion der „Domus Aurea Neronis“ - sieht u.a. Stallungen für 600 Pferde, einen „Wagenschupfen“ für 200 Karossen- und Galawagen, ein Amphitheater für die ZuschauerInnen von „Carousel´s“ im großen Hof und eine Pferdeschwemme vor.

1725 Fertigstellung der Hauptfront. Die Hofstallungen erweisen sich schon bald als zu klein.

Geschichte des MQ 1921 – 1982

Phase II: Messepalast

1921 Die Wiener Messe nutzt die Hofstallungen als Ausstellungsgelände. Hinter der Winterreithalle wird eine große Halle errichtet. 1922 entsteht die Bezeichnung „Messepalast“.

1940 – 1945 Im Messepalast finden Propagandaveranstaltungen statt.

p.302

Geschichte des MQ 1983 – 1990

Phase II: Messepalast

1983 Fischer gibt das Konzept für ein Kulturforum in Auftrag.

1986 – 1987 Ausschreibung der ersten Stufe eines Architekturwettbewerbs. Zwingend unterzubringen waren unter anderem eine Ausstellungshalle und das Museum Moderner Kunst. Unter 88 eingereichten Projekten ermittelt die Jury sieben PreisträgerInnen, darunter die Brüder Laurids und Manfred Ortner.


Geschichte 1918 Nach dem Ende der österreichisch-ungarischen Monarchie wird ein Großteil der Bestände versteigert. Die Hofstallungen hatten bereits durch die Erfindung des Automobils ihren Verwendungszweck als Stall- und Wagenburg verloren.

1946 Die Wiener Messe nimmt ihre Tätigkeit wieder auf, es kommt zu weiteren Um- und Zubauten, die zum Teil provisorischen Charakter haben. Im Haupthof werden in der Folge zwei große Hallen errichtet.

1982 Diskussionen um die Nutzung des Messepalastes als Shopping-City (Bautenminister Karl Sekanina, SPÖ), Hotel (Finanzstadtrat Hans Mayr, SPÖ) oder Kulturforum (Wissenschaftsminister Heinz Fischer, SPÖ).

1989 Busek bezeichnet das Areal erstmals als „MuseumsQuartier. Der Schwerpunkt des neuen „enthistorisierten“ Konzepts liegt nunmehr auf zeitgenössischer Kunst und Kultur.

1990 April: Die Jury empfiehlt einstimmig den OrtnerEntwurf zur Ausführung. Er sieht unter anderem zwei Türme (einen schlanken mit elliptischem Grundriss für die Bibliothek und einen zylindrischen für Büros) vor.

p.303

1850 – 1854 Kaiser Franz Joseph I. lässt die Hofstallungen von Leopold Mayer umgestalten und erweitern. Die Winterreitschule im klassizistischen Stil und eine Sommerreitbahn kommen hinzu.


Museumsquartier — Wien Geschichte des MQ 1995 – 2006

Museumsquartier Bauphase

1995 Dritte Redimensionierung: Die Kubatur ist gegenüber dem Wettbewerbsprojekt um die Hälfte verkleinert, der Turm gekappt, die maximale Höhe beträgt 24 Meter. Das MUMOK verliert ein Stockwerk, die Grundfläche ist um 25% kleiner. Die Neuplanung beginnt. Nach langen Auseinandersetzungen fällt die Entscheidung gegen den alsarchitektonisches Zeichen geplanten Leseturm. Es starten Pilotprojekte zur kulturellen Nutzung (Architekturzentrum Wien, Kunstraum, Depot, Kindermuseum, Public Netbase u. a.).

p.304

Geschichte des MQ 2008 – 2011

2008 3,6 Mio. BesucherInnen jährlich, 1,3 Mio. BesucherInnen in den kulturellen Einrichtungen.

1997 Baubewilligung und positiver Bescheid des Denkmalamts. Im Dezember erfolgt der Spatenstich. 1998 Baubeginn

2001 Abschluss der Bauphase I. Offizielle Eröffnung des MQ durch Bundespräsident Thomas Klestil, Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, Bildungs- und Kulturministerin Elisabeth Gehrer, Bürgermeister Michael Häupl.

2011 Das MuseumsQuartier feiert Ende Juni das 10-jährige Jubiläum seiner Eröffnung.


Geschichte 2002 Abschluss der Bauphase II d.h. Renovierung des historischen Fischervon-Erlach-Trakts und Errichtung des quartier21 (Eröffnung am 13. September).

Juni 2004 Aufgrund von Frequenzzählungen werden bereits 2,5 Millionen MQ-BesucherInnen pro Jahr errechnet. 95% der BesucherInnen sehen das MQ als Bereicherung für die Stadt. Fertigstellung MQ West, Breite Gasse. DSCHUNGEL WIEN Theaterhaus und Glacis Beisl feiern Eröffnung. Abschluss der Bauphase III. Der 100. Künstler des Artist-in-Residence Programms des quartier21 zieht ein.

2006 Nach 5-jährigen  Bestehen startet das  Museumsquartier einen Ideenwettbewerb mit der Frage, wie das Areal 2020 aussehen könnte.

p.305

2011 Erweiterungsentwurf von Ortner & Ortner. Das Projekt mit dem sogenannten Titel „Libelle“ sieht einen Anbau am Leopold Musuem vor.




Museumsquartier — Wien

Hof 6 Hof 7 Hof 4

Hof 5

Hof 8

Haupthof 1

Hof 3

Hof 2

Vorplatz

Architekturmuseum

Museum Moderner Kunst Wien

Halle E+G Zoom Kindermuseum

Kunsthalle Wien

Leopold Museum

Tanzquartier

Quartier 21

Quartier 21

wienXtra Kinderinfo

p.308

Theaterhaus Dschungel Wien


Gebäude

Nutzungsfläche Gesamt

Vorplatz ca. 13.000 m2

Innenhöfe ca. 4.800 m2

Vorplatz ca. 13.000 m2

Haupthof ca. 10.000 m2

Quartier 21 7.000 m2

Gemischte Nutzung

WienXtra Kinderinfo 251 m2

Gemischte Nutzung

Tanzquartier Wien 985 m2

Performance

Theaterhaus Dschungel Wien 1.198 m2

Theater/ Performance

Zoom Kindermuseum 1.786 m2

Museum

Architekturmuseum Wien 1.914 m2

Museum

Halle E+G 2.862 m2

Theater/ Performance

Kunsthalle Wien 4.654 m2

Museum

Museum Moderner Kunst Wien 13.156 m2

Museum

Leopold Museum 11.298 m2

Museum

p.309

Nutzungsfläche Innenräume


Museumsquartier — Wien

Zugänglichkeit

Gebäudeeingriff

Gebäudeeingriff

p.310

Gebäudeeingriff


p.311

Gebäude


Entrance Floor

2

1

5

1

1

2

Leopold Museum

Museumsquartier — Wien

Leopold Museum

Grundriss Hautpeingang

p.312

Schnitt

Ansicht 1

5

Leopold Museum North - East Elevat

Eingangsbereich Ausstellungsflächen


Gebäude

Kunsthalle Wien

Grundriss Hautpeingang KUNSTHALLE wien 1

5

Groundfloor

KUNSTHALLE wien 1

5

Ansicht 1

5

Long Section

Eingangsbereich Ausstellungsflächen

KUNSTHALLE wien

South East Elevation

p.313

Schnitt


Museumsquartier — Wien

MUMOK Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien

1

2

2

1

MUMOK Museum moderner Kun Stiftung Ludwig Wie 1

5

Entrancefloor

Grundriss Hautpeingang

MUMOK Museum moderner Kuns Stiftung Ludwig Wien

Schnitt

p.314

1

5

Section 2 - 2

Eingangsbereich Ausstellungsflächen

Ansicht

MUMOK


Gebäude

Quartier 21

Grundriss und Schnitt Gebäudebestand & Transformation Visuelle Geschichtsbezüge

Skulpturen als Referenz

Säulen und Gewölbe

Fassaden und Öffnungen

p.315

Decken und Beleuchtung


Museumsquartier — Wien

Kunstproduktion Artists in Residence

Studio 501

Studio 01 Studio 802

Studio 513

Studio 02

Studio Black Sea

Studio 513

Studio 513

Studio 501

Studio 01 77 m2

Studio 513

43 m2

Studio 02 53 m2

Studio 613

43 m2

Studio 802 43 m2

p.316

Studio 713

74 m2

Studio Black Sea 67 m2

54 m2


Gebäude

Öffentlicher Raum

Stizmöbel „Enzi“

p.317

Methoden der Organisation


p.318

Gastronomie

Überwachung

Museumsquartier — Wien


Gebäude

Cafe Leopold Glacis Beisl Kunstgenuss Halle

Corbaci

Kantine

MQ Daily

p.319

MQ Daily


Museumsquartier — Wien p.320

— Marketing/Werbung im Museumsquartier


nen mit wechselnden Gesichtern. Bei den unterschiedlichen Institutionen handelt es sich um Museen und andere kulturelle Einrichtungen. Sie haben eine eigene feste Hierarchiestruktur, die unter dem Begriff Muse­ umsquartier als eigenständige Einrichtungen agieren.

Institutionen als Akteure

Im Falle des Museumsquartiers sind die Akteure Institutio-

p.321

Institutionen als Akteure


p.322

Museumsquartier — Wien


p.323

Museumsquartier Gelände


p.324

Museumsquartier — Wien


p.325

Museumsquartier Gelände


Zeitungsauszug von Andrea Schurian

Wien - 1981 wurde von der damaligen Wissen-

der Reduktion der Gebäude. Einigen war die

schaftsministerin Herta Firnberg eine Arbeits-

neue Architektur zu wenig offensiv. Doch

gruppe für die Neustrukturierung der Bundes-

das MQ war eines der ersten Projekte, wo die

museen eingesetzt. Deren Empfehlung: den

Vermischung zwischen Alt und Neu konkre-

Messepalast in eine Museumsinsel zu verwan-

te Formen bekam. Das war eine Herausfor-

deln. Doch es dauerte. Zuerst galt es ja noch zu

derung im innerstädtischen Bereich und

klären, ob nicht vielleicht doch ein Shopping-

betrifft alle europäischen Metropolen. Und

center ins Areal der Hofstallungen einziehen

von der Figuration her ist das MQ von der

sollte. Oder gar ein Hotel? 1986 wurde die er-

ersten Minute an so gewesen, wie es jetzt

ste Wettbewerbsstufe ausgeschrieben, aus 88

dasteht. Man kann ruhig stolz darauf sein,

Projekten kamen für die Jury sieben in die en-

dass das architektonische Konzept gehalten

gere Wahl. 1990 gewannen Laurids und Manfred Ortner den Bewerb. Doch es dauerte wieder:

hat. AS

Jeder neue Mumok-Direktor baut erst

Erst elf Jahre, etliche Adaptionen und heftige po- einmal um. Edelbert Köb hat das gemacht, litische Kontroversen später wurde einer der

Karola Kraus tut es wieder. Ein Zeichen von Pla-

größten Kulturkomplexe weltweit eröffnet.

nungsmängeln?

Aber ohne Leseturm, der mit 66 Metern das

MO Wenn jemand ein Haus übernimmt, wird

Wahrzeichen des MQ werden sollte.

er ein paar Korrekturen anbringen wollen.

(Andrea Schurian, DER STANDARD - Printausga-

Das erachte ich als selbstverständlich. Vor

be, 28. Juni 2011)

zehn Jahren war es gang und gäbe, gläserne Museen zu machen, busweise die Landbe-

AS

Tut es Ihnen um den Leseturm noch leid?

MO Natürlich fehlt er als architektonisches

man vorgeworfen, ein monolithischer Block

Signet, als Stachel im Fleisch, den das Stadt-

zu sein. Ja! Wir sind bewusst den umgekehr-

bild schon vertragen hätte. Ich bin erstaunt,

ten Weg gegangen, das halte ich für richtig

dass er bis jetzt nicht von außen, von der Po-

und wichtig. So, wie wir es damals geplant

litik oder den Medien, reklamiert wird. Man

haben, fängt man heute, zehn Jahre später,

könnte sagen: Nach zehn Jahren sei man klü-

an, sich der Kunst zu nähern: ein wenig

ger geworden, weil man sieht, was in ande-

vorsichtiger, konzentrierter, demütiger viel-

ren Metropolen möglich ist. Und weil man

leicht sogar. Man stellt Orte der Konzen-

erkennt, wie wichtig das Kulturprofil für Stä-

tration her, die unabhängig von Quoten das

dte ist. AS

Unumstritten war das MQ nie. Wie oft

leisten, was von Museen verlangt wird: ein Ort der intensiven Auseinandersetzung

mussten Sie in den elf Jahren eigentlich um-

mit Kunst zu sein. Ich glaube, das ist uns

planen?

besser geglückt als diesen gläsernen Kisten.

MO Das wird immer ein bisschen infam hin-

p.326

völkerung herbeizukarren. Dem Mumok hat

Die Rätselhaftigkeit, die ein Kunstbau wie

gestellt. Es gab weniger Umplanungen als

dieser auch braucht, ist im Mumok vorhan-

für ein so großes Projekt üblich sind. Aber

den.

es stimmt, wir mussten die Gebäude um

AS

25 Prozent reduzieren, auch wegen der Kro-

miteinbezogen?

nen Zeitung, die vom „Museumsmonster“

MO Ja, es gibt kleinere Einladungen. Ich ha-

Sind Sie in die Jubiläumsfeierlichkeiten

schrieb. Diejenigen, die das MQ von Anfang

be Dietmar Steiner vorgeschlagen, eine

an vehement verteidigten, fühlten sich dann

Präsentation all dessen zu machen, was an

verraten vom Wegfall des Leseturms, von

baulichen Ergänzungen vorgesehen war:


Hut bringen kann, ohne beliebig zu werden?

dass das MQ eine Art Work in Progress ist

MO Natürlich besteht diese Gefahr. Aber wir

und verschiedenste Dinge dazukommen, wie Anlagerungen. AS

Passiert das?

MO Nein. Bisher nicht. Wolfgang Waldner

alle werden mit Einladungen überschwemmt. Gegen diese Inflation muss man strategisch vorgehen und wieder größere Zusammenhänge herstellen - auch international. Das

war als MQ-Geschäftsführer eher ein Major-

könnte wie bei Biennalen sein, dass es ein

domus, der dafür sorgte, dass das Areal in

großes Leitthema gibt.

Ordnung gehalten wird, Schanigärten hinein- AS

Das MQ schneidet im Vergleich zu ähn-

kommen und die Besucher gut verköstigt

lichen Kulturbezirken wie der Berliner Muse-

werden. Das ist ja auch alles geglückt. Aber

umsinsel immer überraschend gut ab. Woran,

was von allem Anfang an verabsäumt wur-

glauben Sie, liegt das?

de, ist ein übergeordnetes Programm.

MO Die Berliner Museumsinsel und David

AS

Täuscht der Eindruck, oder sind Sie

nicht vorbehaltlos zufrieden, wie sich das Mu-

Chipperfields Neues Museum sind wie eine Erfolgswelle um die Welt gegangen, wäh-

seumsquartier entwickelt hat?

rend wir uns mit dem MQ zuerst einmal ge-

MO Da gibt es schon einige Vorbehalte. Es

genseitig die Köpfe eingeschlagen haben.

war ja als ein großes kulturelles Zentrum

Es ist das mit Abstand am besten ins städt-

konzipiert. Doch es hat sich zu einem großen

ische Geflecht integrierte Areal. Eines der

populären und populistischen Zentrum ent-

großen Vorurteile war ja, dass sich das Neue

wickelt, wo Kultur nachrangig ist. Da müsste

gegen das Alte durchsetzen muss. Aber das

man wieder nachjustieren und zurückre-

ist völlig anachronistisch. Es gibt ein intelli-

klamieren, was ursprünglich gedacht war.

gentes Miteinander.

Da hängt viel davon ab, was der neue Direk- AS tor oder Leiter des MQ können soll. AS

Und was sollte der Ihrer Ansicht nach

denn können?

MO Sicher ist erfreulich, dass das Areal fast

Interviewe mit Manfred Ortner

pold-Museum. Die ursprüngliche Idee war,

Vielleicht also doch kein gemeinsames

Thema? Gerade die Vielfältigkeit wird in allen Studien als Besonderheit des MQ betont.

MO Das eine schließt das andere nicht aus. Der Pluralismus bleibt ja. Trotzdem müsste

Wiens gute Stube geworden ist. Doch jetzt

man größere Aufhänger schaffen, um dem

wäre notwendig, dass man die Kultur wieder

Ganzen den Pep zu geben, den es verdient.

zurückholt. Das MQ ist ja nicht als heterogener Haufen diverser Kulturinstitutionen angetreten. Sie alle sollten wie ein Ensemble gemeinsam denken, agieren, gemeinsam geführt werden. Das Wichtigste ist, dass die neue Leitung ein Programm entwickelt, das die vorhandenen Institutionen zu einem großen Ganzen macht und nicht jeder für sich sein Süppchen kocht. AS

Aber es sind doch sehr unterschiedliche

Institutionen - Leopold-Museum, Mumok, Tanzmit sehr unterschiedlichen Interessen. Glauben Sie wirklich, dass man die inhaltlich unter einen

p.327

quartier, Ovalhalle, Architekturzentrum etc. -


Exkurs — Interview

ELKE KRASNY, Kulturtheoretikerin und Stadt-

wurden, bis hin zu einem Bottom-Up-Modell

forscherin, unterrichtet an der Akademie der

(Binz), welches kurz vor der Auflösung steht.

bildenden Künste Wien und hat 2012 die Aus-

EK Auch das MQ hat eine informelle Nut-

stellung „Hands-On Urbanism 1850 - 2012“ im Architekturzentrum Wien kuratiert,

zungsgeschichte. Sogar eine sehr lange, bevor es das wurde, was ihr heute als Institution bezeichnet.

Im Gespräch mit Sascha Bauer und Daniel

DS

Springer

tivquartier eine Typologie ist, welche anhand

Wir möchten herausfinden, ob ein Krea-

von spezifischen Anforderungen und RandbeEinführung

dingungen entworfen und geplant werden kann. Wenn dem so ist, dann könnten wir als

DS

Sie sehen hier vier Kreativquartiere:

Architekten und Architektinnen – ganz klas-

das Museumsquartier in Wien, die Wagenhal-

sisch – mit Hilfe von gebauten Beispielen die-

len in Stuttgart, die NDSM in Amsterdam und

ser Typologie arbeiten, ähnlich wie man es

das Binz in Zürich. Wir beschäftigen uns unter

bei Flughäfen, Bürogebäuden oder Schulen

anderem mit der Frage nach der Vergleichbar-

machen würde.

keit solcher Quartiere.

SB

EK Das sind alles Umnutzungen.

und Platz machen für ein Neubauprojekt. Bei

SB

der NDSM war das anfänglich auch der Fall. Da

Aber alle mit einem unterschiedlichen

Die Binz soll zeitnahn aufgelöst werden

Ansatz. Auf der einen Seite haben wir ein Quar- das Gebäude unter Denkmalschutz steht, wurtier, das wir mit dem Begriff der Institution

de die Zwischennutzung jedoch geduldet.

beschreiben, zwei Quartiere befinden sich an

Daraufhin wurde aus der Zwischennutzung ein

der Schwelle und ein weiteres bezeichnen wir

festgeschriebenes Konzept. Die Wagenhallen

als autonom. Bei der NDSM kann man den

entstanden aus einer ähnlichen Situation, wäh-

Weg der Institutionswerdung bereits feststellen.

rend der Diskussion um Stuttgart 21. Wobei

Gemeinsam mit Architekten hat die Stadt eine

sie sich durch Öffentlichkeitsarbeit und auf-

„Kunststadt“ im Inneren der alten Hallen ge-

grund von engagierter Kulturarbeit als fester

plant und umgesetzt. Die Binz ist ein autonomes

Bestandteil in der Kulturlandschaft Stuttgarts

Gelände in Zürich, das sich eher introvertiert

verankern konnten. Anhand mehrerer Aktionen

und auf unverschiedlichen Ebenen diamet-

ist es nun fast unmöglich, diese Kulturinsel zu

ral zum MQ verhält. Da stellt sich die Frage:

entfernen oder wegzudenken.

Können diese Gebäudekomplexe eine architektonische Typologie sein? Was haben sie ge-

Eine Begriffsklärung

meinsam und worin unterscheiden sie sich? Wenn sie eine Typologie sind, muss dann der

DS

Begriff der Typologie neu gedacht werden, um

diese Gebäudekomplexe eine Typologie sind,

die Anforderungen an diesen Gebäudetyp zu

dann ist interessant, in welchen politischen oder

verstehen?

diskursiven Umständen sie verankert sind

p.328

DS

Da stellt sich auch die Frage, inwieweit

Angenommen wir gehen davon aus, dass

und letztendlich auch, welchen Status sie in der

diese Gebäude überhaupt miteinander ver-

aktuellen Städtediskussion haben. Dabei kann

gleichbar sind? Für uns stellen diese vier Quar-

man feststellen, dass sie sehr unterschiedlich

tiere eine Bandbreite dar: Vom Top-Down-Modell

wahrgenommen werden. Das MQ ist ein Top-

(MQ) über zwei „Schwellenquartiere“ (NDSM,

Down-Modell mit Finanzierung, Architekturwett-

Wagenhallen), die durch Besetzung initiiert

bewerb, usw. Diesen Prozess haben wir als


Den Gegenpol könnte man in einer ökonomische

stitution ist nun bekannt unter der Marke MQ

Verankerung der Nutzer in der Kultur- und Kre-

und somit auch weltweit touristisch attraktiv.

ativwirtschaft sehen. Nutzer, die sozusagen Teil

Dabei wird es auch finanziell von verschiedenen

eines verwertbaren Prozesses sind. Die folg-

Interessenten unterstützt.

lich Geld verdienen. Innerhalb dieser Spanne be-

Elke Krasny

„Institution-geworden“ beschrieben. Diese In-

EK Es wird eigentlich nur von zwei Interes- finden sich die beiden gewählten Quartiere, sengruppen unterstützt. Vom Staat (Öster-

NDSM und Wagenhallen.

reich) und vom Bund (Wien).

Ich denke da an die verschiedenen

nomie und Institution funktionieren als

Kulturinstitutionen vor Ort, Museen wie das Leo-

selbsterklärende Begriffe. Man müsste einen

pold, mumok, Kunsthalle, usw.

Begriff dafür finden, was ihr durch die

EK Das sind eigentlich alles staatlich unter-

Schwelle zum Ausdruck bringen wollt. MQ

stützte Institutionen, die teilweise hinter-

und Binz bilden die Bandbreite (Autonomie,

gründig eine private Schenkungsgeschichte

Institution). Dazwischen gibt es die anderen

haben. Ein Besitz sozusagen, der in die

Kreativquartiere. Der gesuchte Begriff da-

Republik übergegangen ist. Was ich viel in-

für müsste selbsterklärend sein. Das heißt,

teressanter finde ist, dass hier (Museums-

es geht primär um eine Einteilung und Gra-

quartier) irrsinnig viele Leute wohnen und

dierung dieser Strukturen.

einfache Mieter sind. Ich würde behaupten,

DS

dass es also eine sehr hybride Einrichtung

spiele, die durch Bottom-Up-Strategien oder

ist. Und das wird für mich aus diesem Be-

auch durch partizipative Strukturen geprägt

In ihren Untersuchungsbereich fallen Bei-

griff der Institution nicht klar. Das MQ ist

sind. Ein Kreativ- oder Kunstquartier lebt oft

ja nicht nur ein Kulturquartier, sondern es

durch diesen Hang zur Partizipation. Viele Men-

gibt dort auch Kindergärten, Restaurants,

schen, die verschiedenste Ideen haben, sich

Bewohner und Bewohner mit so alten Miet-

austauschen und verwirklichen wollen. Wenn

verträgen, die man gar nicht mehr kün-

man das Wort „Kreativität“ übersetzt, bedeutet

digen könnte. Der Begriff „Hybrid” würde für

es: Etwas zu machen und/oder zu erschaffen.

mich sehr viel besser passen, als der Be-

EK Ich bin mir nicht sicher, ob man diese

griff „Typologie”. Aber ich würde trotzdem

Quartiere als Kreativquartiere bezeichnen

nochmal gerne zu den anderen Begriffen

kann. Es sind alles sehr hybride Einrichtun-

zurückkommen. Das MQ wird als „Institu-

gen mit unterschiedlichen Nutzungen.

tion” gefasst. Aber was bedeutet die

Noch etwas zur Geschichte des MQ: Das MQ

„Schwelle”, unter der ihr die NDSM und die

hat mit temporären Nutzungen angefangen.

Wagenhallen eingeordnet habt? Eine Schwel-

Man kann sagen, dass es dort selbstorgani-

le zwischen was?

sierte oder informelle Clubs, Künstlerate-

SB

Es meint den Bereich zwischen zwei Po-

liers, Bildhauerwerkstätten und dergleichen

len. In diesem Fall Organsiationsstrukturen,

auf legaler und illegaler Ebene gegeben hat.

zwischen autonom selbstorganisierten Struktu-

In der Zeit sind erste Anker-Kultureinrich-

ren (Bottom-Up-Modell) und institutionellen

tungen wie das Depot oder das Architektur-

Strukturen (Top-Down-Modell). In autonom orga-

zentrum eingezogen, noch bevor der Umbau

nisierten Quartieren können Nutzer, dem An-

überhaupt begonnen hat. Zum Beispiel hat

schein nach, völlig frei agieren. Der ökonomi-

sich das Architekturzentrum Wien (Az W) mit

sche Druck ist geringer, denn die Räume sind

Containern in den Hof gesetzt. Gabriele

besetzt, d.h. die Nutzer zahlen keine Mieten.

Kaiser hat sich in ihrem Buch „unsichtbare

p.329

DS

EK Ich glaube, es ist viel komplizierter. Auto-


Exkurs — Interview p.330

Architekturen“ sehr ausführlich mit dieser

dort einen Sicherheitsbeauftragten, der darauf

Bespielungsgeschichte auseinandergesetzt,

achtet, dass keine brennbaren Dinge in den

die dort stattgefunden hat. Die politischen Dis-

Gängen stehen. Während des regelmäßigen Floh-

kussionen darüber hat der Journalist Thomas

marktes auf dem Gelände wird die Halle ab-

Tränker genauer verfolgt. Was heute so gefes-

geschlossen. Bei den Wagenhallen ist das noch

tigt und institutionell aussieht, hing damals an

nicht der Fall. Aber direkt neben den WH ent-

einer Stimme im Gemeinde-

stehen zwei große Schulen. Ich denke, dass sich

rat. Genau eine Stimme mehr hat dafür ge-

diese Situation ändert, sobald diese Schulen

stimmt, dass es dort überhaupt eine per-

fertig gestellt sind. Dann wird es nicht mehr den

manente kulturelle Nutzung gibt. Und das fin-

Bildhauer geben, der Schrottgegenstände

de ich sehr bemerkenswert. Für viele

und andere Dinge vor der Tür liegen lassen kann.

lokale und nicht-lokale Nutzer ist es heute

Die WH befinden sich im Wandel zu einer, wie

schwer vorstellbar, dass das MQ nicht exis-

wir es nennen würden, Institution. Mit Schließ-

tiert. Letztendlich war es politische Wil-lensbil-

zeiten, Hausmeister und weiteren Regulierungen

dung. Dennoch finde ich, dass Top-

wird das Quartier immer weiter institutionali-

Down-Prozesse immer hybrider werden.

siert. Die andere Möglichkeit ist nur die Auflö-

Bestehende Hierarchien und Institutionen sind

sung und folglich der Abriss, der von den Nut-

geschlossen auf das Gelände des

zern natürlich nicht gewollt ist.

MQ übergesiedelt. In diesem Zusammenhang

DS

gibt es dort ganz viele Spektren

diesem Weg verloren?

von Ordnungsverhältnissen, Nutzungen, Aneig-

EK Ich glaube, dass das die entscheidende

Wir fragen uns dabei: Was geht auf

nungen und Debatten. Zum Beispiel

Frage ist. Was geht verloren oder was kann

was die Hofzone anbelangt. Oder welche Ein-

ich wieder gewinnen? Das Quartier ist also

und Ausschlüsse das Konstrukt produziert.

nicht eindeutig eine Typologie, sondern

DS

beherbergt in sich die Möglichkeit zu unter-

2008 wurde versucht, den Innenhof des

MQ zu privatisieren. Weil man verbieten wollte,

schiedlichen Typologien. Ich finde, genau

mitgebrachte Speisen und Getränke dort zu kon-

das zeichnet diese Quartiere aus. Die zeitge-

sumieren. Infolgedessen gab es Proteste und

nössische künstlerische Produktion beispiels-

Demonstrationen im Hof.

weise, zeichnet sich dadurch aus, dass sie

EK Rechtlich ist der Hof schon immer pri-

unterschiedliche Räume benötigt. Ich würde

vat. Die MQ-Betreibergesellschaft hat die

nun vielmehr recherchieren, wo diese Sub-

rechtliche Hoheit. Aber es waren nicht die

typologien zu finden sind. Wo finde ich kleine

Lokal- und Restaurantbetreiber, sondern

oder große Räume? Wo finden sich öffentliche

die Betreibergesellschaft selbst, die das Ver-

Räume? Und wo entstehen Platzsituationen?

bot wollte. Das Thema ist eine interessante

Mit Hilfe dessen würde ich anschließend ver-

Debatte für all diese Quartiere, die wir uns

suchen, Kategorien und Vergleichbarkeiten

hier anschauen: Öffentlich - nicht öffentlich,

zu schaffen. Quasi eine Gegenüberstellung

zugänglich - nicht zugänglich, usw. Auch

der Subtypologien im Inneren und nicht et-

autonome Kunstareale haben ihre Inklusio-

wa der Gesamterscheinung des Quartiers.

nen und Exklusionen. Was kann man dort

Wenn man sich bestimmte Typologien an-

machen und was nicht? Das finde ich eine

schaut, wie etwa Spitale, Hotels, Universi-

interessante Frage.

täten, Parlamente, usw. dann würde ich

SB

Was Sie für das MQ ansprechen, ist auch

im Falle der NDSM ähnlich. Seit kurzem gibt es

sagen, dass man in den letzten 10 Jahren eine Tendenz feststellen kann: Es gibt zwar


Planung eines Kreativquartiers

wenn ich das Foyer betrete, dann weiß ich nicht mehr, worin ich mich befinde. Das Hotel, die Universität, das Parlament und das

EK Diese Quartiere haben für mich viel mit Produktion zu tun. Es geht also nicht nur

Spital empfangen mich alle in einem Foyer,

um das Ausstellen, sondern auch um das

das identisch aussieht. Damit will ich sagen,

Produzieren von Kunst und Kultur. Im MQ

dass der Fokus auf die Unterscheidung im

trifft das nur sehr bedingt zu. Die ansässi-

Inneren gelegt werden muss. Ist das Kreativ-

gen Ateliers sind absolut dysfunktional. Man

quartier öffentlich oder nicht öffentlich?

kann sie für die Produktion nur bedingt ver-

Gibt es typologische Verfahren, die mir mit

wenden. Was ich in der Debatte wesentlich

den Mitteln der Architektur verständlich

interessanter finde ist, dass auch das auto-

machen, dass es ein Kulturquartier ist und

nome Kulturareal eine Institution ist – eine

welche Flächen öffentlich und nicht öffent-

autonome Institution. Und in diesem Sinne

lich zugänglich sind? Das würde ich mich

sind auch Inklusion und Exklusion Untersu-

sehr genau fragen.

chungsparameter. Man müsste hier also die

DS

Denken Sie, dass unsere vier Kreativ-

Prozesse der Institutionswerdung untersu-

quartiere auf eine Art und Weise vergleichbar

chen. Die meisten besetzten Kulturzentren

sind?

sind Institutionen geworden, sofern sie sich

EK Ja. Weil sie in sich viele kleinere Einhei-

erhalten konnten. Sie haben ihre eigenen

ten bergen. Das herrschende Paradigma

Regeln und Verwaltungsstrukturen produ-

ist dabei die Robustheit des öffentlichen

ziert. Was ich nochmal nachfragen wollte:

Raums. Ich glaube auch, dass Richard Flori-

Warum ist der Typologiebegriff so wichtig?

das Theorie in dieser Hinsicht überholt ist.

DS

Jeder beginnt damit, sich solche Gebilde mit

Aufgabe, ein Kreativquartier zu entwerfen.

Hilfe von Florida anzuschauen. Er hat da-

EK Verstehe. Also woran orientiert man

mals aber etwas anderes untersucht: Zum

Wir hatte im vergangenen Semester die

sich...

einen hat er versucht, den Klassenbegriff

DS

wieder einzuführen und zum anderen beob-

tekturdenken verankert. Es gibt immer Refe-

achtet, was in der Stadt überhaupt notwen-

renzen oder bestimmte Gebäudetypen, an de-

dig ist, damit sich eine kreative Klasse dort

nen man sich beim Entwurf orientieren kann,

ansiedelt. Ihr betrachtet jedoch nicht die

bei den Fragen, wie etwas funktioniert oder wie

Gesamtstadt an sich, sondern schaut auf ein

es zu funktionieren hat. Man kann sich davon

ganz bestimmtes Kulturareal.

natürlich auch wieder abgrenzen, aber dennoch

SB

Wir haben Florida herangezogen, weil er

in der Diskussion der Kultur- und Kreativwirt-

Elke Krasny

diese unterschiedlichen Typologien, aber

Genau. Der Typologiebegriff ist im Archi-

fungieren sie als Ansatzpunkt. Wir konnten damals nichts in der architektonischen Aufarbei-

schaft sehr häufig auftritt. Die Niederlande ha- tung finden, an dem wir uns orientieren hätben sich in dieser Hinsicht, bis vor kurzem,

ten können. Es gibt zwar einige Beispiele, aber

sehr stark an Florida angelehnt. Nun haben sich

die sind nicht untersucht. Im Bereich der The-

die Begriffe zur Beschreibung eines kreativen

orie wurde viel darüber geforscht, aber im Be-

chen der Kultur- und Kreativwirtschaft in un-

wenige bis gar keine Untersuchungen. Aus die-

serer Untersuchung berücksichtigt, um eine

ser Problematik entstand unsere Fragestellung.

Ebene der Vergleichbarkeit zu schaffen.

EK Die Schwierigkeit ist die, dass diese Areale nicht als solche entworfen wurden.

p.331

Umfeldes stark geändert. Wir haben die elf Bran- reich des architektonischen Modells gibt es nur


Exkurs — Interview p.332

Architekturen“ sehr ausführlich mit dieser

dort einen Sicherheitsbeauftragten, der darauf

Bespielungsgeschichte auseinandergesetzt,

achtet, dass keine brennbaren Dinge in den

die dort stattgefunden hat. Die politischen Dis-

Gängen stehen. Während des regelmäßigen Floh-

kussionen darüber hat der Journalist Thomas

marktes auf dem Gelände wird die Halle ab-

Tränker genauer verfolgt. Was heute so gefes-

geschlossen. Bei den Wagenhallen ist das noch

tigt und institutionell aussieht, hing damals an

nicht der Fall. Aber direkt neben den WH ent-

einer Stimme im Gemeinde-

stehen zwei große Schulen. Ich denke, dass sich

rat. Genau eine Stimme mehr hat dafür ge-

diese Situation ändert, sobald diese Schulen

stimmt, dass es dort überhaupt eine per-

fertig gestellt sind. Dann wird es nicht mehr den

manente kulturelle Nutzung gibt. Und das fin-

Bildhauer geben, der Schrottgegenstände

de ich sehr bemerkenswert. Für viele

und andere Dinge vor der Tür liegen lassen kann.

lokale und nicht-lokale Nutzer ist es heute

Die WH befinden sich im Wandel zu einer, wie

schwer vorstellbar, dass das MQ nicht exis-

wir es nennen würden, Institution. Mit Schließ-

tiert. Letztendlich war es politische Wil-lensbil-

zeiten, Hausmeister und weiteren Regulierungen

dung. Dennoch finde ich, dass Top-

wird das Quartier immer weiter institutionali-

Down-Prozesse immer hybrider werden.

siert. Die andere Möglichkeit ist nur die Auflö-

Bestehende Hierarchien und Institutionen sind

sung und folglich der Abriss, der von den Nut-

geschlossen auf das Gelände des

zern natürlich nicht gewollt ist.

MQ übergesiedelt. In diesem Zusammenhang

DS

gibt es dort ganz viele Spektren

diesem Weg verloren?

von Ordnungsverhältnissen, Nutzungen, Aneig-

EK Ich glaube, dass das die entscheidende

Wir fragen uns dabei: Was geht auf

nungen und Debatten. Zum Beispiel

Frage ist. Was geht verloren oder was kann

was die Hofzone anbelangt. Oder welche Ein-

ich wieder gewinnen? Das Quartier ist also

und Ausschlüsse das Konstrukt produziert.

nicht eindeutig eine Typologie, sondern

DS

beherbergt in sich die Möglichkeit zu unter-

2008 wurde versucht, den Innenhof des

MQ zu privatisieren. Weil man verbieten wollte,

schiedlichen Typologien. Ich finde, genau

mitgebrachte Speisen und Getränke dort zu kon-

das zeichnet diese Quartiere aus. Die zeitge-

sumieren. Infolgedessen gab es Proteste und

nössische künstlerische Produktion beispiels-

Demonstrationen im Hof.

weise, zeichnet sich dadurch aus, dass sie

EK Rechtlich ist der Hof schon immer pri-

unterschiedliche Räume benötigt. Ich würde

vat. Die MQ-Betreibergesellschaft hat die

nun vielmehr recherchieren, wo diese Sub-

rechtliche Hoheit. Aber es waren nicht die

typologien zu finden sind. Wo finde ich kleine

Lokal- und Restaurantbetreiber, sondern

oder große Räume? Wo finden sich öffentliche

die Betreibergesellschaft selbst, die das Ver-

Räume? Und wo entstehen Platzsituationen?

bot wollte. Das Thema ist eine interessante

Mit Hilfe dessen würde ich anschließend ver-

Debatte für all diese Quartiere, die wir uns

suchen, Kategorien und Vergleichbarkeiten

hier anschauen: Öffentlich - nicht öffentlich,

zu schaffen. Quasi eine Gegenüberstellung

zugänglich - nicht zugänglich, usw. Auch

der Subtypologien im Inneren und nicht et-

autonome Kunstareale haben ihre Inklusio-

wa der Gesamterscheinung des Quartiers.

nen und Exklusionen. Was kann man dort

Wenn man sich bestimmte Typologien an-

machen und was nicht? Das finde ich eine

schaut, wie etwa Spitale, Hotels, Universi-

interessante Frage.

täten, Parlamente, usw. dann würde ich

SB

Was Sie für das MQ ansprechen, ist auch

im Falle der NDSM ähnlich. Seit kurzem gibt es

sagen, dass man in den letzten 10 Jahren eine Tendenz feststellen kann: Es gibt zwar


Planung eines Kreativquartiers

wenn ich das Foyer betrete, dann weiß ich nicht mehr, worin ich mich befinde. Das Hotel, die Universität, das Parlament und das

EK Diese Quartiere haben für mich viel mit Produktion zu tun. Es geht also nicht nur

Spital empfangen mich alle in einem Foyer,

um das Ausstellen, sondern auch um das

das identisch aussieht. Damit will ich sagen,

Produzieren von Kunst und Kultur. Im MQ

dass der Fokus auf die Unterscheidung im

trifft das nur sehr bedingt zu. Die ansässi-

Inneren gelegt werden muss. Ist das Kreativ-

gen Ateliers sind absolut dysfunktional. Man

quartier öffentlich oder nicht öffentlich?

kann sie für die Produktion nur bedingt ver-

Gibt es typologische Verfahren, die mir mit

wenden. Was ich in der Debatte wesentlich

den Mitteln der Architektur verständlich

interessanter finde ist, dass auch das auto-

machen, dass es ein Kulturquartier ist und

nome Kulturareal eine Institution ist – eine

welche Flächen öffentlich und nicht öffent-

autonome Institution. Und in diesem Sinne

lich zugänglich sind? Das würde ich mich

sind auch Inklusion und Exklusion Untersu-

sehr genau fragen.

chungsparameter. Man müsste hier also die

DS

Denken Sie, dass unsere vier Kreativ-

Prozesse der Institutionswerdung untersu-

quartiere auf eine Art und Weise vergleichbar

chen. Die meisten besetzten Kulturzentren

sind?

sind Institutionen geworden, sofern sie sich

EK Ja. Weil sie in sich viele kleinere Einhei-

erhalten konnten. Sie haben ihre eigenen

ten bergen. Das herrschende Paradigma

Regeln und Verwaltungsstrukturen produ-

ist dabei die Robustheit des öffentlichen

ziert. Was ich nochmal nachfragen wollte:

Raums. Ich glaube auch, dass Richard Flori-

Warum ist der Typologiebegriff so wichtig?

das Theorie in dieser Hinsicht überholt ist.

DS

Jeder beginnt damit, sich solche Gebilde mit

Aufgabe, ein Kreativquartier zu entwerfen.

Hilfe von Florida anzuschauen. Er hat da-

EK Verstehe. Also woran orientiert man

mals aber etwas anderes untersucht: Zum

Wir hatte im vergangenen Semester die

sich...

einen hat er versucht, den Klassenbegriff

DS

wieder einzuführen und zum anderen beob-

tekturdenken verankert. Es gibt immer Refe-

achtet, was in der Stadt überhaupt notwen-

renzen oder bestimmte Gebäudetypen, an de-

dig ist, damit sich eine kreative Klasse dort

nen man sich beim Entwurf orientieren kann,

ansiedelt. Ihr betrachtet jedoch nicht die

bei den Fragen, wie etwas funktioniert oder wie

Gesamtstadt an sich, sondern schaut auf ein

es zu funktionieren hat. Man kann sich davon

ganz bestimmtes Kulturareal.

natürlich auch wieder abgrenzen, aber dennoch

SB

Wir haben Florida herangezogen, weil er

in der Diskussion der Kultur- und Kreativwirt-

Elke Krasny

diese unterschiedlichen Typologien, aber

Genau. Der Typologiebegriff ist im Archi-

fungieren sie als Ansatzpunkt. Wir konnten damals nichts in der architektonischen Aufarbei-

schaft sehr häufig auftritt. Die Niederlande ha- tung finden, an dem wir uns orientieren hätben sich in dieser Hinsicht, bis vor kurzem,

ten können. Es gibt zwar einige Beispiele, aber

sehr stark an Florida angelehnt. Nun haben sich

die sind nicht untersucht. Im Bereich der The-

die Begriffe zur Beschreibung eines kreativen

orie wurde viel darüber geforscht, aber im Be-

chen der Kultur- und Kreativwirtschaft in un-

wenige bis gar keine Untersuchungen. Aus die-

serer Untersuchung berücksichtigt, um eine

ser Problematik entstand unsere Fragestellung.

Ebene der Vergleichbarkeit zu schaffen.

EK Die Schwierigkeit ist die, dass diese Areale nicht als solche entworfen wurden.

p.333

Umfeldes stark geändert. Wir haben die elf Bran- reich des architektonischen Modells gibt es nur


Exkurs — Interview

SB

Es stellt sich natürlich die Frage nach

dem Topos, dem Typus und der Tektonik. Eine

viel mehr „Kreativquartier“ ist als das MQ, ist das WUK.

Untersuchung aus mehreren Richtungen.

Das WUK, eine ehemalige Lokomotivfabrik in

Darin enthalten ist auch die Frage nach dem

Wien, ist Kultur, Werkstätte und Lebensraum

programmatischen Inhalt. Was passiert im

auf 12.000m². In einem der größten unabhän-

Quartier? Wer gehört zu den Akteuren? Welche

gigen Kulturzentren Europas trifft im WUK

Flächen sind öffentlich, welche privat? Und

künstlerische Praxis, Labor und politisches En-

wie sehen sie aus? In erster Linie also eine Rück- gagement aufeinander. Das WUK versteht betrachtung. Die Frage zielte im Folgenden

sich als offener Kulturraum und bietet Platz

schnell daraufhin ab, in wieweit ein Kreativquar-

zum Verweilen, Diskutieren und Erproben.

tier überhaupt planbar ist. Oder ob es zwangs-

(Quelle: Homepage www.wuk.at).

läufig aus dem informellen Milieu entsteht und

Eine ehemalige Lokomotivfabrik, in der wirk-

sich lediglich aus einem Bottom-Up-Prozess

lich wahnsinnig viel produziert wird. Das

heraus entwickeln kann? Sozusagen im partizi-

WuK ist in einem Partizipationsprozess ent-

pativen Verfahren. Das hat sich immer weiter

standen, der über 10 Jahre gedauert hat.

hochgeschaukelt, bis wir uns irgendwann die

Wenn ich mir eure vier Kreativquartiere an-

Frage nach der Aktualität des Typologiebegriffs

schaue, dann würde ich sagen, dass man

gestellt haben. Vor allem im Bezug auf Kreativ-

bei diesem Projekt auf viel interessantere Art

quartiere war schon im Gespräch, den Begriff

und Weise ableiten kann, wie eine solche

der Typologie mit dem des Phänomens oder

Typologie funktioniert. Im MQ kann man ei-

der Methode zu ersetzen.

gentlich nur gut lernen, was alles nicht

DS

Aber dann stellt sich für mich die Frage,

DS

gien denken können, wenn die Grenzen begin-

die Untersuchung aufgenommen, weil es ähn-

nen zu verwischen bzw. sich aufzulösen? Vor

liche Nutzungen und eine ähnliche Geschichte

allem, wenn man sich solche hybriden Struktu-

aufweist, wie die anderen Quartiere. Mit einem

ren anschaut, die sich selbst entwickelt haben

starken Bezug auf das Event wird Kunst ausge-

oder durch Bottom-Up-Prozesse entstanden

stellt und produziert.

sind.

EK Dort sind aber riesige Museen mit Samm-

EK Ich glaube, ihr beantwortet die Frage gerade selbst. Man müsste sich radikal fragen:

p.334

funktioniert.

ob wir heutzutage überhaupt noch in Typolo-

Wir haben das MQ aus dem Grund mit in

lungen angesiedelt. Das ist etwas total anderes.

Was eignet sich überhaupt für eine Um- bzw.

DS

Nachnutzung? Was bringen diese Gebäude

wenn man den vollen Weg der Institutionali-

mit? Und warum eignen sich andere Gebäude

sierung geht, in dem die Stadt das KQ für ihre

Wir sehen es dennoch als Endprodukt,

nicht so gut? Daraus würde ich ableiten,

Zwecke verwertbar macht.

was eine solche Typologie benötigt. Vermut-

SB

lich wird das Ergebnis das sein, dass diese

mer mehr mit Regeln und Sicherheiten belegt,

ehemaligen Manufakturen oder industriell

dann wird es irgendwann zur „Institution“.

Anders formuliert: Wenn man ein KQ im-

genutzten Gebäude das größte Flexibilitäts-

Während die Binz, die wir als autonom bezeich-

raster aufweisen. Das Seltsame ist immer,

nen, noch Freiheiten in Entscheidungsprozessen

dass das was ehemals die meisten Normen

hat, ist das MQ hingegen schon sehr in seinem

erfüllt hat, im nachhinein die größte Flexi-

eigenen Selbsterhaltungsdrang gefangen.

bilität an Nutzungen ermöglicht. Ein Projekt,

DS

das sehr lokal und meines Erachtens nach

einen Kaugummi vorstellen, auf dem Kreativ-

Vielleicht kann man sich als Metapher


auseinander, so erhält man dabei eine lange Dehnung, die exemplarisch für die Bandbreite der Typologie des Kreativquartiers steht. An

Elke Krasny

quartier steht. Zieht man diesen Kaugummi

jedem Ende gibt es ein Extrem. Diese beiden Extreme haben wir versucht, mit der Binz auf der einen Seite und dem MQ auf der anderen, zu platzieren. Zwischen den beiden Extremen gibt es unterschiedliche Ausschläge. EK Es ist allerdings nicht so, dass eine Institutionalisierung in jedem Fall angestrebt wird. So darf dieses „Endprodukt“ nicht verstanden werde. DS

Ich glaube schon, dass der Binz ähnli-

ches widerfahren könnte wie dem MQ. Angenommen die Stadt Zürich würde auf die Binz zugehen und ihnen die Möglichkeit des Erhalts anbieten, mit der Auflage, ein städtisches oder staatliches Museum dort zu verankern. Die Binz würde sich dadurch komplett ändern. Was ich damit sagen will ist, dass diese Entwicklung von den Impulsen und dem Dialog abhängt. Im Falle des MQ hat sich die Stadt mit unterschiedlichen Akteuren zusammengesetzt und gemeinsam etwas verändert. Das Areal liegt direkt im Stadtzentrum, wurde restauriert und eine Kulturlandschaft mit unterschiedlichen Interessenten geplant. Bei der Binz besteht diese Logik nicht. Hier ist die geographische Lage eine andere. Das Grundstück liegt nicht im Zentrum und ist daher auch weniger interessant für die Stadt. Leerstellen & Potential SB

Das Hauptmerkmal aller vier Quartiere

ist die Zwischennutzung und die ist per se temporär. Sie kann den Weg hin zur Institution oder eben zur Auflösung gehen. Jetzt mal etwas sehr schwarz-weiß gedacht. E K Die Sezession in Wien ist eine Zwischennutzung. Es war als temporäres Projekt vorgesehen, das nun mittlerweile schon über 100 Jahre steht. Was ich damit sagen

p.335


Exkurs — Interview

möchte ist, „temporär’ ist also relativ. DS

Interessant fand ich den Vergleich in ih-

rem Vortrag über Cedric Price, bezüglich Detroit und „the Pottery Thinkbelt“. „The Pottery Thinkbelt“ war ein Vorschlag von Price, für eine industrielle Brachfläche in Staffordshire in England, in den Sechzigern. Aber in Detroit gab es zur gleichen Zeit ähnliche Probleme. EK Cedric Price hat auch schon in den Sechzigern einen Vorschlag für Detroit gemacht. Das sogenannte „Thinkgrid“. DS

Das ist interessant, weil man von die-

sem Projekt nicht besonders viel mitbekommen hat, im Vergleich zum „Thinkbelt“. Worauf ich hinaus will ist, dass bei diesem Projekt die Stadt durch gewisse Unachtsamkeit zum Experimentierfeld avanciert ist. Das heißt, die ganze Stadt ist durch ihre Leerstellen zur Brutstätte für Leute mit dem Interesse zur Veränderung geworden. EK Politisch wurde das extrem problematisch. Aber wenn man die Metapher Detroit auf das Kreativquartier anwendet, dann würde sich herausstellen, was eine Stadt verliert, wenn sie kein Kreativquartier hat oder dessen Potential nicht erkennt. Detroit könnte für wenig Geld ein optimales Experimentierfeld für viele Architekten sein. Allerdings wäre es die Verantwortung des Architekten, an dieser Stelle nicht zu experimentieren, im Sinne von neuen Hausbehübschungen. Viel interessanter ist die Frage, in was man hier investieren kann, das wieder einen „content“ hervorbringen kann. Wie kann Architektur aus ihrer Profession heraus einen Beitrag zu der Problematik leisten. Anhand eurer Recherche wäre es dann wichtig zu ermittlen, was diese Strategien sind. Das Gebäude an sich ist nämlich nicht sonderlich interessant. Interessant ist der „content“, also die Leute p.336

die durch ihren Gebrauch und ihre Energie einen Inhalt hervorrufen. DS Wir haben mit Uwe Stuckenbrock vom


Wie kann ich verhindern, dass die Kreativen an

geführt. Ihm ist der Prozess der Wagenhallen

die Peripherie gedrängt werden?

nicht unbekannt und er hat sich mitunter auch

EK Und wie man über die unerwünschten

für das Projekt eingesetzt. Das Bewusstsein,

Nebeneffekte nachdenken kann. Stichwort

dass diese Kreativanker in der Stadt heute eine

Gentrifizierungsprozess. Da gibt es so vie-

wichtige Rolle spielen, scheint also vorhanden

le Fragen, die sich dort anlagern. Und die mei-

zu sein. Genauso wie ein Flughafen in den 70er

nes Erachtens nach viel interessanter sind,

Jahren wichtig für jede Großstadt war. Mann

als die Typologiefrage.

Elke Krasny

Amt für Stadtplanung Stuttgart ein Interview

könnte also behaupten, dass jetzt Kreativquartiere für Großstädte notwendig sind. Es sind

Frau Krasny, vielen Dank für das Gespräch!

Orte, an denen gewisse Szenen eine Bündelung finden. Szenen, die immer größer werden und

Das Gespräch wurde am 13.12.2012 in Stutt-

internationale Netzwerke bilden.

gart an der Staatlichen Akademie der Bilden-

EK Ja. Und es ist wichtig, sich ihre Wir-

den Künste geführt.

kungsweisen anzuschauen. Doris Rothauer, ehemalige Direktorin des Künstlerhauses Wien, hat relativ viel über die Kreativquartiere in Amsterdam geforscht. Sie hat sich sehr pragmatisch angeschaut, welche Wirkungen sie haben. SB

Ich glaube eben das Interessante dabei

ist unsere Rolle im Entwurfs-Prozess.

DS Wir haben uns bereits damit beschäftigt, wie man Prozesse planen kann. Diesen Versuch kann man auch bei Cedric Price ablesen. Zum Beispiel bei der Zeichnung von Zeitplänen. Städtewettbewerb & Kreativität SB

Ich glaube auch, dass es schwierig ist,

wenn man heute als Architekt noch so plant, als könnte man die Entwicklung der nächsten 100 Jahre voraussehen, wie es zum Beispiel bei der Planstadt Brasilia mit ihrer in Beton gegossenen Programmatik der Fall ist. Die Gebäude der Kreativquartiere sind fast immer umgenutzte Industriegebäude. In Amsterdam – und auch in anderen Städten – wird die kreative Szene durch hohe Mietpreise im Stadtzentrum an die Peripherie gedrängt. Was diesen Städten ativen Leuten. Man muss diesen Prozess allerdings umgedreht denken.

p.337

dabei verloren geht, ist der Benefit dieser kre-


Exkurs — Interview

MATTHIAS KÜPER, Galerist in Peking und

Galerien. Wie sie dort rein gekommen sind,

Kenner des Kunstareals 798, im Gespräch mit

ist mir ein Rätsel, da eigentlich alles über

Daniel Springer

das Militär geht. Aber man hat dort plötzlich ein Geschäft gewittert. Und das Geschäft

DS

Wann haben sie ihre Galerie in Peking

eröffnet?

MK Vor ca. drei Jahren.

DS

Kannten sie den Kunstbezirk 798 davor

interessant, dass es sich rasend schnell auch zu einem abartigen Tourismusmagnet entwickelt hat – eben das, was es heute

schon?

ist. Jiuxianqiao (Name des Straßenviertels in

MK Ja. Ich bin 2007 nach Peking gekommen,

dem 798 liegt) ist heute ein Gebiet mit be-

kurz vor der Olympiade. Damals wurde wahn-

stimmt  20-30  exzellenten  Galerien,  dazu  kom-

sinnig viel umgebaut. Die Galerie wurde im

men bestimmt noch 200-300 weitere kleine

Oktober 2009 eröffnet.

Galerien. Nebenbei gibt es sehr viele Bars,

DS

War 798 damals auch ein Anstoß für Sie,

Restaurants und auch sehr viele Shops. Es

dort hin zu gehen?

ist ein Publikumsmagnet, in dem am Wo-

MK Selbstverständlich. 798 ist grandios.

chenende kaum ein Durchkommen ist. Dort

Zum ersten Mal war ich dort im Jahr 2007.

lassen Chinesen, die sich mit Kunst brüsten

Ich fand ein Gelände vor, das noch relativ

wollen, ihre Hochzeitsaufnahmen machen.

leer war. Es fing gerade langsam an. Ge-

Kunst ist in China ein sehr teures Studium

startet hat es, meines Wissens, so in etwa

(zeigt Aufnahmen). Das sind Aufnahmen

2002. Einer der Mitbegründer ist der Künst-

von chinesischen Bräuten. Sie lassen sich in

ler Huang Rui, der in China und vor allem in

der verbotenen Stadt fotografieren, auf

Peking sehr bekannt ist.  Das  war  eine  Gruppe

der  Mauer  und  nun  auch  im  Kunstdistrikt  798,

von zehn bis zwölf Leuten, der wohl auch

weil das für sie wirklich wichtig ist – hip,

Ai Weiwei angehört oder angehört hat. Ur-

modern und high-class.

sprünglich  war  das  Gelände  eine  Waffen-  und

DS

Munitionsfabrik, also ein hochgeheimes Ge-

Kunstbezirk die Funktion eines öffentlichen

lände der Chinesen in Peking. Gebaut wurde

Gebäudes einnimmt, in dem Kunst produziert

das Gebäude von der DDR im Bauhausstil.

wie auch konsumiert werden kann? Indem

Kann man also sagen, dass der gesamte

Als die Fabrik nicht mehr produzierte, haben

Kunstkäufer und Galeristen dem Künstler direkt

sich dort langsam Künstler in kleinen und

gegenüberstehen? Kann man es auf eine Art

großen Ateliers angesiedelt – kalt und unbe-

und Weise als Shopping-Mall für Kunst begrei-

heizt. Eigentlich sollte das Gelände von der

fen? Oder ist das zu weit gegriffen?

Regierung geräumt und schließlich platt ge-

MK Das ist zu weit gegriffen. Zum einen ist

macht werden. Das war der eigentliche Plan

es – Gott sei Dank – noch nicht so weit.

für das Gebiet. Die Chinesen sind dafür

Und zum anderen ist alles, was dort passiert,

bekannt, dass die Dinge nicht lange halten.

noch im Entstehen und sehr experimentell.

Was ich manchmal besser finde, als dieses

Da macht heute eine Galerie auf und in fünf

„super Alte“ zu bewahren – aber das ist Ge-

p.338

wurde innerhalb kürzester Zeit so groß und

Wochen ist sie wieder weg, weil sie sich

schmackssache.  Auf  jeden  Fall  hat  sich  dann

verspekuliert hat. Es werden manchmal

alles sehr rasant entwickelt. Es kamen im-

einfach Bauten hingestellt, von denen man

mer mehr Künstler, da es sozusagen freies

sagt, die kann man vielleicht irgendwann

Gelände war. Und plötzlich haben sich erste

an jemanden vermieten, jedoch stehen die

Galerien angesiedelt, auch internationale

dann oft sehr lange leer.


bäude solche Planungen dann von der Stadt

zu sehen was ausgestellt und was produziert

oder von der Regierung aus? Oder läuft alles

wird?

selbstfinanziert?

MK Klar. Der Zustand ist total wichtig und

MK Alles läuft selbstfinanziert. Mittlerweile

dass man ihn erlebt – oder besser – erleben

ist die Regierung soweit, dass sie es duldet.

darf. Also zu sehen, was sich hier wirklich

Weil sie verstanden hat, dass es sich als

abspielt. Es ist nämlich eine sehr starke Ge-

ein ähnlicher Puplikumsmagnet entwickelt

fühlssache. Für uns Galeristen ist es wich-

wie SoHo in New York. Es ist also nicht zu

tig, zu erkunden, welche Richtungen es gibt.

vergleichen mit einer Shopping-Mall, in der

Wir befinden uns in einem wuchernden

unheimlich viel drin ist. Es ist vielmehr zu

Konglomerat von produzierenden Künstlern.

sehen wie ein Konglomerat, das sich durch

DS

Uns geht es um den Inhalt, den diese Ge-

Zufall zusammengefunden hat. Das viel-

biete hinsichtlich Kunst produzieren und da-

leicht zur Shopping-Mall werden könnte, es

durch gewisse Attraktivität ausstrahlen, die über

aber nicht unbedingt möchte.

die Stadtgrenzen hinaus geht. Zum Beispiel

DS

Wie kann man sich also die Organisa-

handelt es sich oft um Leerstände, die sich aber

tionsstruktur im Bezirk vorstellen? Gibt es

durch die Inkubation von Künstlern, Kreativen

eine Hierarchieform unter den Gründern? Oder

oder Aktivisten zu einem Magnet entwickelt

passiert alles ohne Kontrolle?

haben.

MK Dazu kann ich keine konkrete Aussage

MK Das  798  ist  dann  mit  Sicherheit  eines  der

machen. Wenn Kontrolle da ist, dann läuft

besten Beispiele. Wobei es bei weitem

die  im  Normalfall  über  Erfolg  und  Nicht-Erfolg.

nicht das einzige Gebiet dieser Art in Peking

Das heißt, auch wer es bezahlen kann. Es

ist. Es gibt noch 4-5 weitere. Das Gebiet

gibt keine Steuerung in diesem Sinne, wenn

Caochangdi in dem ich bin, ist in seiner Ein-

ich das richtig weiß – und man weiß vieles

heit kleiner mit etwa 40 Galerien. Dort

in China definitiv nicht. Ich kann mir vorstel-

haben sich noch keine Shops oder derarti-

len, dass eine Kontrolle bestimmt über die

ges angesiedelt. Man findet noch keinen Tou-

Vermieter erfolgt. Mit den Gründern gibt es

rismus vor. Es kommen nur Leute, die wirk-

möglicherweise auf einer intellektuellen Ba-

lich interessiert sind. Etwas weiter entfernt

sis „im Untergrund“ eine Übereinkunft.

kommt das Gebiet Song Juan, welches noch

Sie sind einigermaßen einflussreich, aber

um ein vielfaches größer ist als das 798,

nicht zu vergleichen mit dem, was das Geld

allerdings aber nicht die gleiche Qualität hat.

bewirken kann. Insofern ist es ein offenes

Dann gibt es noch I Hao Di, das etwas klei-

Konglomerat, das voranwuchert, aber das

ner ist und das Black Bridge, das ist noch

auch zum Teil begrenzt wird. Die „Creative

etwas kleiner. In Peking bedeutet klein 200-

Brain Factory“ von VW ist jetzt zum Beispiel

300 qm, während große Ateliers dagegen

im 798, weil sie wollen, dass ihre Designer,

2.000 - 3.000 qm haben. Von all denen ist

Entwickler und Künstler dort sind. Sie haben

das 798 das stadtnächstgelegendste Gebiet.

ein sehr großes Areal mit ca. 200 Leuten,

Es befindet sich im Chaoyang District, im

glaube ich.

Osten der Stadt.

DS

Wie betrachten Sie einen solchen Kunst-

DS

Also ist das Quartier sehr gut erreich-

bezirk und diese Ansammlung an vielen kre-

bar? Da das oft ein wichtiges Merkmal ist, ob

ativen Menschen und Künstlern? Ist dieser Aus-

ein Quartier gut funktioniert oder nicht.

tausch, der dort entsteht, wichtig? Auch aus

Matthias Küper

Gehen in einem ehemals so wichtigen Ge- ihrer Sicht als Galerist? Das heißt, gleichzeitig

p.339

DS


Paritizipation

MK Mit der U-Bahn ist es schlecht erreich-

der Fassade als Gesamtkunstwerke betrachten.

bar, aber mit dem Taxi überhaupt kein Prob-

MK 798 ist sicherlich in erster Linie aus der

lem. Das weiß dort auch jeder. Das Gebiet

Not heraus entstanden. Die Leute brauchten

heißt Dashanzi und es ist wirklich bekannt.

Räume. Das ist eine ähnliche Herangehens-

DS

Womöglich hat die Transformation in ein

weise. Aber die Chinesen sind dabei sehr

Kunstareal auch dazu beigetragen, dass der

schnell merkantil, das heißt viel schneller als

ganze Bezirk immer mehr aufgewertet wurde?

irgendwo anders. Das ist kein 68er-Idea-

MK Selbstverständlich. Das ist noch nicht

lismus; Gott sei Dank nicht. 798 ist zielgerich-

ganz abgeschlossen. Dazu bedarf es noch ein

tet. Die machen das natürlich, um damit

bisschen mehr Presse. Im Moment sind Di-

Geld zu verdienen. Und zwar relativ schnell.

mension und Anspruch etwa vergleichbar mit

Das ist kein „Spaß“. Das ist es in China nie.

dem New York Status. Wobei New York ja

Dieser Gesellschaftsteil fehlt noch, also der,

eine Art Gesamtkunstwerk ist. Das 798 wird

den wir uns in den letzten 25 Jahren ge-

ein bisschen zu touristisch. Man sieht dort

leistet haben, nämlich etwas just-for-fun zu

sehr viele Italiener, Spanier, Deutsche, Eng-

machen. Das gibt’s dort nicht.

länder, Franzosen, Russen und Japaner –

DS

Oder den Drang aus einer theoretischen

also hochgradig international, aber noch

Basis heraus etwas zu verändern? So in dem

nicht super-professionell. Dafür gibt es

Sinne „wir zweckentfremden dieses Gebäude für

noch keinen Dachverband, der das steuert.

unsere Ideale“ oder derartiges?

Es wuchert noch. Das betrifft die gesamte

MK Nein. In China ist fast alles pragmatisch,

Kunstszene in China. DS

Wie betrachten sie das Wuchern für die

mehr als irgendwo anders. Also wenn sie mit einem Chinesen über Theorie reden,

Kunstproduktion an sich? Speziell wenn man

dann macht der das ganz gut, aber irgend-

die Räume betrachtet. Bedingt es informelle

wann wird er fragen „was bringt uns das?“,

Räume, das heißt Räume in denen man Freihei-

und das finde ich richtig so. Die Chinesen

ten hat, etwas zu verändern?

sind hungrig. Sie wollen viel erreichen und

MK Das kann ich schwer beurteilen, aber im

bringen dadurch viel mehr vorwärts.

großen und ganzen sieht es so aus – wenn

DS

ich an das 798 denke – dass es so wäre.

der Idealismus oder das Experiment mit.

DS

Die Frage zielt darauf ab, dass die Ten-

Hier in Europa schwingt doch oftmals

MK In China geht es ganz klar darum Ziele

denz dieser Quartiere dahin geht, dass sie

zu erreichen. Das ist wichtig und vielleicht

entweder ankommen oder eingehen. Also dass

auch viel besser. Es wirkt befriedigender.

es Zeitspannen sind, die entweder kurz oder

Sie haben dort auch angefangen zu experi-

lang sind, aber eigentlich transitorisch. Wenn

mentieren, aber nicht mit dem Hintergedan-

man an das MQ in Wien denkt, hat sich dieser

ken „wir machen das aus experimentellen

Zustand nun verfestigt oder verankert. Aber

Gründen“, sondern weil Räume frei sind

viele andere sind in einem Schwebezustand.

und Räume gebraucht wurden.

Gerade wenn man bedenkt, dass diese Quar-

DS

tiere oftmals als Hausbesetzungen anfingen,

ich ihn mir vorstelle, sehr gut funktionieren.

In dem Fall würde ein Komplex, so wie

p.340

bei denen die Nutzer programmatisch damit an- Sie haben die merkantile Eigenschaft der Chigefangen haben, Räume zu benutzen, die

nesen erwähnt – somit wäre es ideal, wenn die

leerstanden. Mit „Benutzen“ meine ich die Pro-

enge Verbindung von Kunstproduktion parallel

duktion. Wenn man so will, könnte man diese

zum Konsum von Kunst bzw. dem Verkauf an

Gebäude mit ihren Skulpuren und Slogans an

einem Ort stattfindet? Mir kommt die Metapher


natürlich, wie auch hier, gerne an die Orte,

MK Das ist richtig, es funktioniert sehr gut.

die vielversprechend sind. DS

Vielleicht dieselbe Situation wie in

Wenn ich irgendwo eine Ansammlung von Ga- Deutschland mit Berlin. MK Nur Berlin ist arm und bietet „Gedöns“.

lerien habe, könnte man das durchaus

auch als Marktplatz sehen. Aber auf einem

DS

Marktplatz stehen eben Gemüsestände.

gleich mit New York. Bezüglich des Kunstaktio-

Wenn man den Marktplatz etwas übergeord-

nismus und der Prozesse der 70er und 80er

neter als ein Zusammenkommen von Busi-

Jahre in SoHo. Könnte man sich das verglei-

ness zu Business sieht, dann ist es sicher

chend vorstellen?

richtig, aber auch falsch.

MK Also ich war zwar in den 70er und 80er

DS

Ich denke da an einen öffentlichen Ort,

Zurück zu dem angesprochenen Ver-

Jahren nicht in SoHo. Aber von dem was

an dem Menschen zusammenkommen, um

ich darüber weiß, könnte ich mir das so vor-

Austausch zu betreiben, quasi ein offener Ort.

stellen. Eine andere Metapher: Immer wenn

MK Dann ist es wirklich als offener Ort zu

ich in Europa ankomme, habe ich das Ge-

verstehen, an dem ständig „Connections“

fühl ich steige aus dem Flugzeug und stehe

gestrickt werden – sehr schnell und sehr ge-

im Pattex. Jedoch wenn ich in China an-

waltig. Aber sie werden auch schnell wieder

komme, habe ich immer das Gefühl die Gulli-

fallen gelassen.

deckel springen in die Luft vor lauter Ener-

DS

Das haben wir an allen untersuchten Or-

ten festgestellt. Sie alle vermitteln den Ein-

gie. Es passiert dauernd und jeden Tag etwas Neues. Du kannst jeden Tag etwas Neues

druck eines offenen Gebäudes. Das heißt, es

wahrnehmen. Jeden Tag etwas Neues sehen.

gibt Marktplatz-ähnliche Strukturen entweder

Danach muss man hier ewig suchen.

im Inneren des Gebäudes oder im Äußeren.

DS

Die Inklusionen oder Exklusionen sind entweder

Bauhaus-Stil gestalteten Gebäudekomplex des

groß oder klein, je nach Hierarchie und Kont-

798. Gibt es dort auch eine ähnliche Wahrneh-

rolle des Ortes. Wir betrachten das Ganze also

mung zum Thema Denkmalschutz und Erhal-

auch aus solchen verschiedenen architektoni-

tung wie hier?

schen Situationen heraus.

MK Das weiß ich nicht. Aber es sieht im Mo-

MK Das Quartier 798 ist in diesem Sinne  viel

Noch eine andere Frage zu dem im

ment so aus, dass dort niemand auf die

zu groß um es zu kontrollieren. Es geht den

Idee kommen würde, das Gebäude abzurei-

Leuten  dort  um  ein  Ziel, nämlich um Erfolg  zu

ßen. Im Gegenteil, man wird es eher aktiv

haben und nicht, um irgendetwas auszu-

vermarkten. Man wird es dann vermutlich

probieren. Und sie gehen ganz speziell dort

unter dem Gesichtspunkt des Denkmal-

hin, weil dieser Ort einen gewissen Erfolg

schutzes vermarkten, ziemlich sicher sogar,

verspricht. Das hat natürlich auch wieder mit

weil das öffentliche Ansehen des Gebäudes

der gesellschaftlichen Einstellung zu tun,

sehr gut ist. Und das öffentliche Ansehen ist

das heißt, mit Medizin, Feng Shui, etc.

im Allgemeinen sehr wichtig für die Chine-

DS

In dem Buch „Arrival City“ von Doug

sen.

Saunders wird dieses Modell auch beschrieben:

DS

An einen Ort zu gehen, der Erfolg verspricht.

Sie das Gefühl, dass viele internationale Ga-

MK Das Hingehen alleine verspricht noch

Aus ihrer Perspektive als Galerist, haben

lerien auch gerade durch vorher beschrieben

nicht den Erfolg. Die Chinesen sind nämlich

Phänomene auf Peking aufmerksam geworden

zudem sehr einsatzbereit. Aber man geht

sind?

p.341

Gerade wenn ich mir das 798 anschaue.

Paritizipation

eines Marktplatzes in den Sinn.


Paritizipation

MK Klar, das ist der kommende Markt. Ohne Zweifel. Es sind hunderte von Museen in

Dort spielt das Umfeld auch eine wichtige

China geplant. Natürlich wieder aus   Gründen

Rolle. Das heißt, Produzieren will man dort,

des Prestiges. Im Moment ist es noch der

wo man auch die optimalen Möglichkeiten

Trend, sie mit chinesischer Kunst zu füllen,

hat. Bezüglich des Präsentierens kann das

aber die ersten großen Sammler beginnen

wiederum irgendetwas Gewachsenes sein,

damit, amerikanische und europäische Kunst

z.B. 798, oder aber auch etwas ganz neu

zu kaufen und das für sehr viel Geld.

und extra dafür Gebautes. In Peking gibt es

DS

Welche Künstler vertritt ihre Galerie

das „Inside-out Art Museum“ ein privates

hauptsächlich?

Unternehmen, welches leider sehr schlecht

MK Wir arbeiten vorwiegend mit Chinesen,

gelegen ist. Dafür besitzt es aber riesen-

aber auch mit internationalen Künstlern,

große Präsentationsflächen und ist mit Ate-

das heißt Amerikanern, Jamaikanern und

liers und Shopping-Malls ausgestattet. Ein

Deutschen – unter anderem auch aus prag-

privater Investor, der das sozusagen aus

matischen und logistischen Gründen.

Spass macht. Auch das 798 hat mittlerweile

DS

Uns geht es darum, solche Prozesse zu

sehr große Räume und Präsentationsflä-

verstehen. Prozesse die stark mit unserer

chen. Aber dazwischen sind immer noch die

Arbeit als Architekten zusammenhängen. In der

Ateliers, in denen produziert wird. Und die

Architektur sprechen wir von Typologien, der

Ateliers sind normalerweise nur für Leute

Art und dem Nutzen eines Gebäudes. Wir lernen

da, die auch etwas zeigen – für Galeristen

gerade damit umzugehen, für den Markt den

und auch für Kunden. Es geht hauptsäch-

sie beschrieben haben und der immer umfang-

lich darum, dass man überall an den großen

reicher wird. Ganz einfach gefragt: Wie bringt

Adressen auch große Shows bekommt. Und

man Kunstproduktion und -konsum zusammen,

die sind entweder vor Ort vorhanden und

rein architektonisch betrachtet? Zum Beispiel,

von jemandem betrieben bzw. bezahlt, oder

wenn wir neue Gebäude planen, wie sollen

es wird extra für diese Personen etwas zur

sie aussehen und funktionieren? Welche Rolle

Verfügung gestellt, wie im „Inside-out Art

spielen sie dabei? Oder braucht es dafür eine

Museum“ “. Ansonsten gibt es noch das

alte Substanz? Spielt der Leerstand dabei

„Today Art Museum“, welches man für etwa

eine übergeordnete Rolle? Ist Leerstand der

30 000 Euro im Monat anmieten kann. Das

Zustand der von den Künstlern gesucht wird?

sich aber auch nicht jeder leisten kann.

Oder funktioniert das auch, wenn alles bereit

DS

gestellt wird, zum Beispiel in einem Neubau,

sierte Orte, die einen Leerstand thematisieren

das heißt klimatisierte Räume, ordentliche

bzw. ausnützen, wie etwa „Pop-Up-Galerien“?

Erschließung, etc?

Die sich mit ganz wenigen Mitteln darstellen

MK Es funktioniert beides.

DS

p.342

kann man sie in Gebieten wie dem 798.

Gibt es denn auch viele selbstorgani-

und daraus auch ein Event machen?

Also sie meinen es bedingt gar nicht die- MK So etwas gibt es auf jeden Fall. Aber

sen Akt des selber Suchens oder Machens aus

nicht auf dieser Low-Budget-Ebene, wie hier.

der Perspektive eines Künstlers? Das heißt ent-

Dort wird richtig hart dafür gearbeitet. Hier

weder ihr gebt uns einen Raum, egal welchen,

wird das so gemacht, weil vielen, die sich

oder wir suchen uns den einfach.

verwirklichen wollen, das nötige Geld fehlt.

MK Es geht hauptsächlich um die Frage wo

Man findet es hip, aber meistens kommt

man seine Kunst präsentieren kann und wo man sie produzieren kann. Produzieren

nicht viel dabei heraus.


mit Kunst zu tun hat, als Shanghai. Auf der

immer hybrider wird. Produktion und Konsum.

anderen Seite übernimmt Peking momentan

Das, was man produziert auch gleichzeitig

aber auch nicht sehr viel Verantwortung

auszustellen. Das merkt man zum Beispiel an

dafür. Das heißt, dass die Stadt nicht viel

all den erdgeschossigen Ladenzonen, die als

Geld dafür in die Hand nimmt, lediglich für

Ateliers oder Architekturbüros genutzt werden.

wirklich große Events. Die kleineren Provin-

Es bedingt eben dieses Sehen und Gesehen-

zenhauptstädte machen mehr als Peking,

Werden. Man könnte sage: Kleine Typologien,

weil Peking überhaupt nicht die Zeit hat, all

die mit wenig Geld aus einer Theorie und ei-

das zu initialisieren. Das ist natürlich auch

nem gewissen Erfolgsdrang heraus entstehen.

politisch bedingt. Peking selbst ist mo-

MK Sind die erfolgreich?

DS

mentan mit Sicherheit in China für Kunst die

Manche werden erfolgreich, manche

absolut interessanteste Stadt. Aber das

nicht, denke ich. Auch wenn nicht jeder Erfolg

heisst nicht, dass die Stadt viel dafür tut, son-

hat, vielleicht ist es der Vierte der kommt und

dern dass die Szene einfach da ist. Ähnlich

durch den Geist der Vorherigen Erfolg hat.

wie in Berlin, nur wesentlich größer und we-

Stichwort Kommerzialisierung: Lassen sich da

sentlich erfolgreicher. Aber für sie ist der

Tendenzen ablesen? MK Man findet im 798 mittlerweile alles.

planerische Sektor interessant? DS

Ja, auch die Aufgabenverschiebung des

Shops mit Kleidung, Arts and Crafts und an-

Architekten in der Hinsicht. Wir planen immer

derem Schnickschnack. Es gibt junge

mehr für den wachsenden Kunstsektor. Daher

Modedesigner, etc. Jeder der Geschäfte wit-

sind andere Anforderungen nötig, die wir aber

tert, geht dort hin und bezahlt auch die

noch besser herausfinden müssen. Zum Beispiel

Mieten. Und ich denke, dass es sich sogar

flexibel zu planen, temporär anpassbar. Wie

wirklich lohnt.

gehen wir mit Hüllen um? Welche sind fix und

DS

Gibt es auch Tendenzen, dass Künstler

welche wandelbar? MK Und das ist nicht planbar!

abwandern, die weniger Mittel haben, gerade

weil das Quartier zu attraktiv wird?

DS

MK Natürlich. Wer kann, der versucht dort

Kann man das als Architekt steuern?

zu bleiben. Aber wer nicht kann, der geht

Genau. Letztendlich ist das die Frage:

MK Man kann sich einklinken, aber es ist

in die anderen noch nicht so attraktiven

nicht planbar. Man müsste dafür einen

Kunstquartiere, die etwas weiter außerhalb

enorm freien Geist haben, um die Dinge lau-

sind. In Caochangdi zum Beispiel, gibt es

fen zu lassen. Dann kann man den Prozess

alte Gewächshäuser, in denen sich Künstler

im Untergrund ganz zart beeinflussen. Aber

einquartieren. Da kriecht man eigentlich

im Prinzip ist das nicht planbar. Vergleich-

durchs Fenster hinein.

bar mit einer Krake. Was in den Wagenhallen

DS

Ist Peking generell eine Stadt in China,

passiert ist o.k., aber das macht man eher

die sehr viel mit Kunst zu tun hat?

zum „Spass“ und zum Überleben, aber

MK Also wenn sie das mit einer Menge an-

nicht für den Erfolg. Anders beim 798 – das

derer Städte dieser Welt vergleichen, dann

macht man um Erfolg zu haben. Und das ist

hat Peking wahnsinnig viel mit Kunst zu

ein sehr großer Unterschied.

tun. Weil sie alles dafür tut und auch vieles

DS

duldet, so dass dort eine Szene entste-

angesprochen haben. Die Frage nach dem Ziel?

hen kann. Es wird für Peking in Anspruch

MK Ja. Die Künstler müssen ja von etwas

genommen, dass die Stadt wesentlich mehr

Paritizipation

Ich glaube, dass hier einfach alles

Ein  sehr  interessanter  Punkt,  den  sie  nun

leben.

p.343

DS


Paritizipation

DS

In den Wagenhallen arbeitet derzeit ei-

Situation umgehen kann. Die Stadt verfolgt ei-

ne Architektengruppe, die das Prinzip der

ne Logik, die sehr viel mit dem von ihnen

Partizipation im Entwurfsprozess mitlebt. Das

Erwähnten zu tun hat. Nämlich, wie kann man

heißt, man ist als Architekt Teil des Prozesses

das eigene Gebilde intelligent nutzen. In China

und kann diesen quasi mitsteuern.

ist das sicherlich ähnlich?

MK Man muss sich darüber im Klaren sein,

MK Ja, nur geht es dort um privaten Profit,

dass Künstler nicht so ohne weiteres zu

der in die Regierungskreise versinkt. Es

beeinflussen sind. Zum Teil sind sie des-

geht nicht um das Interesse an dem einzel-

halb Künstler, weil sie frei sein wollen. Viele

nen Ding, es sei denn es ist sehr hoch an-

nehmen dafür auch in Kauf, dass sie nicht

gesehen.

viel Geld verdienen. Andere machen es, um

DS

frei aber eben auch erfolgreich zu sein.

testens seit Mitte der 2000er erkannt, dass

Bei der Architektur im Allgemeinen geht es

sie aus den Kreativen/Künstlern Profit ziehen

um Strukturen und Klarheit. Die Künstler

können. Das entspricht einem unsichtbaren

und Galeristen sind hochgradige Individua-

Erfolgsmodell, weil dieser Erfolg eben nicht

listen. Dafür müsste man eine selbstwach-

messbar ist. Ein aktueller Punkt in der Stadt-

Hierzulande haben die Städteplaner spä-

sende Struktur beaufsichtigen. Schon allein

planung ist es, darüber nachzudenken, wie

der Verdacht, dass etwas beaufsichtigt

man das Potential der kreativen Menschen

wird, ist schwierig. Das ist in China etwas ein- an die eigene Stadt binden kann, so dass sie facher, weil die Leute eh wissen, dass sie

nicht abwandern. Was bedingt das also? Was

beaufsichtigt werden. Und ich weiß nicht, ob

macht einen Bezirk attraktiv und zum Anzie-

die Idee gut ist, sich einzumischen. Ich

hungspunkt? Wer wird dadurch vertrieben?

denke, diese Idee ist vor allem „hip“.

Die Stadtplaner haben nun das Interesse, aus

DS

Sie betrachten das sehr stark aus einem

Erfolgsprinzip heraus. MK Ich muss das so sehen, weil ich es mir nicht leisten kann, zu spielen. Ich habe

„Nachmachen“ geht nicht, es ist eben ein Selbstorganisationsprozess. MK Das geht nicht. Erstens auf Grund

Lust, genau das zu machen und damit auch

der Gebäudestruktur und zweitens – und

Erfolg zu haben. Erfolg heisst für mich

noch viel wichtiger – auf Grund der Men-

aber nicht, im Geld zu schwimmen, sondern

schenstruktur. In Deutschland ist alles sehr

auch viel zu erfahren und erlebt zu haben.

dekadent. In China muss man für den Erfolg

Aber ich bewundere es, wenn es in eine

wirklich hart arbeiten. Wenn man nun aus

strukturierte Richtung geht, und das sehe

der Perspektive der Stadtplanung ein sol-

ich vor allem bei vielen Leuten in China.

ches Quartier erhalten möchte, dann sollte

Die gehen klar in eine Richtung. Und sie er-

man die Mieten möglichst minimalistisch

warten das auch von den Leuten, mit denen

niedrig halten oder sie sogar ganz wegfallen

sie zusammen arbeiten.

lassen. Es werden Verträge für Künstler

DS

p.344

Prozessen, wie dem des 798 zu lernen. Aber

Dieses Erfolgsprinzip einmal gesehen

auf eineinhalb bis zwei Jahre vergeben. Am

aus der Sicht der Stadt: Sie hat gemerkt, dass

Ende gibt es Ausstellungen, die einem Aus-

Leerstellen auch ein Potential haben, eben für

wahlverfahren entsprechen. Wenn nicht or-

Künstler und andere Leute, die kreativ arbei-

dentlich gearbeitet wird, ist man raus oder

ten. Um dieses Potential nicht zu vernach-

man muss das und das nachweisen. Ohne

lässigen, hat sie angefangen, sich Gedanken

Druck passiert nichts. Und das hat nichts

zu machen, wie man erfolgreich mit dieser

mit Freiheit und Kreativität zu tun. Die


nationaler Künstler momentan nach Peking ge-

die muss man fördern. Dabei handelt es

hen kann und dort die Chance hat, auch Erfolg

sich um wenige Prozente, aber es geht eben

zu haben?

darum, diese kleine Anzahl herauszufil-

MK Klar. Das ist eine Frage des Einstiegs.

tern. Dieser Prozess passiert in China von

Es dauert noch eine Weile, bis es so richtig

ganz alleine. Ich bin da gerade knallhart

auf der Höhe ist. Noch maximal 5-10 Jahre.

chinesisch. Wenn es für die Stadt wirklich

Das kann aber auch schneller gehen.

nützlich sein soll, dann darf es niemals

DS

Nun zum Schluss nochmal zurück zum

nur ein soziales Projekt sein, es muss ein

Entwurf eines solchen Quartiers. Wir selbst

qualitatives Projekt sein. Und dann wird es

haben festgestellt, dass wir dabei Probleme

auch zur Kunstmetropole. Ein Projekt mit

haben.

durchdachtem Konzept. Nur dann kann es

MK Sie werden ein solches Quartier nie

auch Erfolg haben. DS

Berlin brüstet sich ja auch selbst mit

entwerfen können. Ich muss sie dabei leider enttäuschen (lacht). Man kann das 798 als

dem Titel als Kunstmetropole.

Vorbild nehmen, oder es versuchen nach-

MK Nein. Berlin zählt zur Zeit als eine hip-

zumachen, aber es wird sich nicht dasselbe

pe Metropole. Es fehlt einfach das Geld für

ereignen. Und das war die Frage nach den

eine wirkliche Kunstmetropole.

bereitgestellten und den entstandenen

DS

Mir kommt es dabei so vor, als wäre die

Räumen. Das schafft man nicht. Ein sol-

Stadt ein Experimentierfeld für Erfolg gewor-

ches Projekt muss wachsen. Kennen sie die

den. Damit meine ich, dass Leute es innerhalb

Struktur von 798?

einer bestimmten Zeit – z.B. 6 Monate – versu-

DS Nein.

chen. Gerade internationale Künstler. Und wenn

MK 798 ist einfach nur eine Hausnummer.

es nicht funktioniert, dann sind sie wieder weg.

Im Gebiet findet man aneinandergereihte

MK So ungefähr. Es werden gerade jetzt

Straßenzüge. Im Endeffekt vergleichbar mit

viele Menschen von Berlin angezogen, eben

dem New-York-Raster. Dort sind auch heute

weil es Erfolg verspricht. Doch viele haben

noch Fabriken, also produzierende Unter-

nicht das Durchhaltevermögen. Das ist

nehmen dazwischen. Es gibt auch größere

völlig normal. Und Berlin erholt sich jetzt

und offizielle Werke in diesem Areal.

schon, das sieht man an den Immobilien-

DS Kann man dort noch günstig essen?

preisen.

MK Oh ja. Im 798 gibt es am Eingang die

DS

Dabei spielt die Architektur wieder eine

teuren Lokale und im Hintergrund die Bil-

andere Rolle. Das sieht man an der Investoren-

ligen. Bei mir um die Ecke kann ich nachts

architektur und der Diskussionen um die Medi-

um vier Uhr eine Suppe für 60 Cent essen.

aspree, etc. Das kann dann auch ganz schnell

Paritizipation

wirklich guten Künstler sind motiviert und

Ein Bier dazu für 40 Cent.

wieder an Attraktivität verlieren.

DS Herr Küper, vielen Dank für das Ge-

MK Oder gewinnen. Je nachdem. Es verliert

spräch!

an Attraktivität für die große Anzahl von Kreativen und Pseudo-Kreativen, sowie an

Das Gespräch wurde am 29.01.2013 im Café

hippen Events. Die sollte es immer geben,

des Kunstmuseums Stuttgarts geführt.

das finde ich auch gut. Aber es müsste werden. DS

Würden sie sagen, dass man als inter-

p.345

dann kräftiger und qualitativ hochwertiger



Kreativquartier | Exkurse Exkurs Partizipation p. 348 – 367 | Exkurs Zwischennutzung p. 370 – 377 |  Exkurs Typologie p. 378 – 391 | Schlussanmerkungen p. 392 – 397 |



Exkurs — Partizipation


Kreativquartier — Vertiefung

Exkurs — Partizipation | Gilles Deleuze beschreibt den

gesellschaftlichen Wandel in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als den Wandel von der Disziplinargesellschaft zur Kontrollgesellschaft 1 . Mit dem Begriff Empire 2 erklären Hardt und Negri eine neue Weltordnung, die alles umfasst, in der Grenzen sich auflösen und in der keine klare Macht identifizierbar ist. Arbeit ist in dieser Ordnung immateriell und beruht auf Kommunikation und Netzwerken. Ein Zustand „autonomer Entfremdung“ (d.h. eine selbst gewählte, nicht von außen aufgezwungene Entfremdung), deren Erschaffer die Multitude 3 ist. Diese ist die Masse innerhalb des Empire – „Singularitäten, die gemeinsam handeln“ 4 – und deren Ziel es ist, eine globale Demokratie herzustellen. Kommunen und Netzwerke sind Beispiele dieser Gemeinschaften, sie handeln und entscheiden gemeinsam und bevorzugen kooperative Beziehungen an Stelle von Autoritäten. Aktuell zeigen zahllose Protestaktionen und Bewegungen, welche Macht von kollektiven Systemen ausgehen kann. In den 1990er Jahren kommt die

p.350

„Reclaim the Streets“ Bewegung auf, die erste „Critical Mass“ Aktion findet 1992 in San Francisco statt, seit


Demokratie und „Open Access“ propagieren, Ende 2010 beginnt der „Arabische Frühling“ und nicht zuletzt ernennt die times „The Protester“ zur „Person of the Year

Exkurs Partizipation

2006 entstehen weltweit Piratenparteien, die direkte

2011“. Wenn die Multitude also fähig ist, sich Raum anzueignen und wenn Metropolen weltweit jenseits von Planbarkeit und Kontrolle entstehen, dann wird die Effektivität herkömmlicher Planungsinstrumente und damit auch die klassische Rolle des Architekten * radikal in Frage gestellt. Seit der Postmoderne versuchen Architekten auf diesen Wandel zu reagieren. Ein Instrument, welches adäquate Lösungsansätze im Planungsverfahren hervorrufen kann, ist die Partizipation. Der folgende Essay beleuchtet Partizipation im architektonischen Planungsprozess anhand ihrer Entstehung genauer und analysiert deren Potenziale und Grenzen. 1 Gilles Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaft (l‘autre journal, Nr.1, Mai 1990) 2 Michael Hardt, Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung (Campus, Frankfurt am Main 2002) Vorwort

* *In der vorliegenden Arbeit wird zur Erleichterung des Leseflusses bei Personenangaben die männliche Form.ese schließt die weibliche Form ein.

p.351

3,4 Michael Hardt, Antonio Negri: Multitude. Krieg und Demokratie im Empire (Campus 2004) S. 123


Kreativquartier — Vertiefung

„The right to the city is far

Partzizipation in der Architektur

more than the individual

1968 erhob Henri Lefebvre im Zuge der Unzufriedenheiten

liberty to access urban

in der Bevölkerung das Recht auf Stadt in seinem gleichna-

resources …“

migen Buch „Le droit à la ville“ 1 , welches David Harvey später mit der Aussage ergänzt „The right to the city is far more than the individual liberty to access urban resources: it is a right to change ourselves by changing the city. It is, moreover, a common rather than an individual right since this transformation inevitably depends upon the exercise of a collective power to reshape the process of urbanization.“ 2 Die gesellschaftlichen Veränderungen in der Nachkriegszeit gelten als signifikant für den Beginn einer partizipativen Architektur. Wohnen für die Massen durch Standardisierung und Typisierung steht im Widerspruch zum Wunsch der uneingeschränkten Entfaltung des Individuums. Die Transformation des „homo faber“ (des arbeitenden Menschen) zum „homo ludens“

Abb. 1 ATBAT-Afrique , Cité Verticale Casablanca, 1953 — Die Architektengruppe untersucht traditionelle Hofhaustypen in Marokko.

(dem spielenden Mensch) verdeutlicht den aufkommenden Lebenshunger und das Streben nach Selbstverwirklichung ­ ­einer neuen Generation deutlicher denn je. In den Studentenbewegungen der 1960er Jahre bringt eine neue Architektengeneration ihre Kritik an den autoritären Planungsmethoden der klassischen Moderne zum Ausdruck. Begriffe wie Demokratisierung und Selbstbestimmung beherrschen die Diskussionen um eine Architektur „mit“ dem Nutzer und nicht „für“ ihn. In ­Zukunft sollte das Individuum im Mittelpunkt stehen und ergo der Nutzer zum Bestandteil des Planungsprozesses werden.

Abb. 2 Gerrit Rietveld entwirft 1924 ein Wohnhaus in Utrecht, welches durch Einsatz von Falt- und Schiebemodulen im Inneren verschiedene Raumsituationen ermöglicht.

Jesko Fezer und Mathias Heyden unterscheiden in ihrem Buch „Hier Entsteht“ zwischen drei Konzepten partizipativer Architektur, die sich in der Nachkriegszeit bis tief in die 1980er Jahre hinein entwickelt haben 3 . „Vernakuläre Architektur“, bei der durch Reflexion traditioneller Bauweisen die wirklichen ­Bedürfnisse der Nutzer erkannt werden sollen Abb.1 . Das „Flexible System“ verfolgt die Strategie der spontanen Veränderbarkeit durch Modulbauweise Abb.2,3 . Das dritte Konzept ist der „offene Raum“. Das Gebäude und darin Enthaltenes beeinflussen sich hier reziprok. Der Plan ist ad hoc unfertig und lässt

p.352

auf diese Weise individuelle Raumkonzepte zu Abb.3 .

Abb. 3 Moshe Safdie, Habitat 67 Montreal, 1967 – Eine Großstruktur, die Flexibilität und Erweiterbarkeit propagiert und letztendlich auf die Ausstaffierung der individuellen Wohneinheit verweist.

Von der Moderne zur kritischen Aus­einandersetzung in der Nachkriegszeit Nach Vorträgen von Vladimir Bodiansky und Marcel Lods im Jahre 1949 in Casablanca zum Thema „Moderne Konstruktionsmethoden und Stadtplanung und das moderne Leben“ entsteht die Architekten-Gruppe ATBAT-Afrique. Georges Candilis,


2 David Harvey: The right to the city (New Left Review 53, Sept.Oct. 2008) 23 3 Jesko Fezer, Mathias Heyden (Hg.): Hier Entsteht (metroZones3, b_books, Berlin 2004) 18 ff

Shadrach Woods und der Ingenieur Henri Piot stoßen zwei .1 . In einer beachtlichen Anzahl von Pro­Jahre später hinzu 1

jekten in den Folgejahren findet man stets einen umfassenden ­Vergleich zwischen ihrer eigenen Architektur in den Carrières Centrales und den Strukturen der traditionellen Altstädte und der informellen Hüttensiedlungen. Die Architekten versuchen die erzwungene Individualisie-

Exkurs Partizipation

1 Henri Lefebvre: Le droit à la ville (Anthropos, Paris 2009) (Quelle: http://de.wikipedia. org/wiki/Recht_auf_Stadt)

rung der Flachbausiedlungen und das historische Erbe zu überwinden und fassen mehrere Wohneinheiten zu einem Gebäude zusammen 2.1 . Candilis und Woods beschreiben und konzipieren die Gebäude in geradezu paternalistischer Weise. Doch der mitteleuropäische Kanon der Nachkriegsmoderne war ein anderer. Der Perspektivwechsel der Nachkriegszeit stellt die universalistisch-technokratischen Planungsmethoden des Modernismus in Frage, die bisher der Nutzung und Aneignung durch die Bewohnerinnen und Bewohner kaum Rechnung getragen haben 3.1 . Erst die spätere Entwicklung der in Nordafrika entstandenen Gebäude führt zu ihrer Transformation

1.1 vgl. Cohen: The Maroccan Group and the Theme of Habitat, 1992, S. 62

und Anpassung an lokale Gewohnheiten, Sitten und Bräuche. 4.1 Die modernisierten Kasbahs der ATBAT entfachen eine Debatte in ganz Europa, in deren Rahmen das angemessene Wohnen verschiedener Bevölkerungsgruppen in sozialen Wohnungsprojekten thematisiert wird. 5.1  Die gebauten Projekte in Nordafrika zeigen: Das Ziel, die Menschen durch die Architektur einer modernen Lebensweise näher zu bringen, scheitert; im Gegenteil, die Menschen okkupieren und transformieren die Architektur. Nach Ansicht von Candilis und Woods, müssen demnach die

2.1 vgl. AnArchitektur, GAMMA Grid 2008, S. 72

gemeinsamen archaischen Bedürfnisse der menschlichen Spe-

3.1 vgl. AnArchitektur, GAMMA Grid 2008, S. 96f

vereinbart werden; unter Ablehnung physiologischer Bedürfnis-

4.1 vgl. Jesko Fezer, Mathias Heyden, Hier entsteht (metroZones3), b_books, Berlin 2004, S. 66 5.1 vgl. Eleb: An Alternative to Functionalist Universalism, 2000, S 67 6.1 vgl. Eleb: An Alternative to Functionalist Universalism, 2000, S 68 7.1 vgl. Cohen, Eleb: Casablanca, 2002, S. 379 8.1 vgl. Cohen: The Maroccan Group and the Theme of Habitat, 1992, S. 64

zies und die Realität verschiedener Kulturen festgestellt und se kultureller Prägung. 6.1 Die kulturspezifischen Impulse und die universalistische Denkweise der Architekten geraten zwar bisweilen in Widerspruch, die kulturellen Unterschiede werden aber in der Folgezeit relativiert und als Ungleichzeitigkeiten der Entwicklung verschiedener Gesellschaften gedeutet, was wiederum als Rechtfertigungsargument des internationalen Charakters der Architektur dient. 7.1 Candilis, Josic, und Woods kommentieren diesen Sachverhalt folgendermaßen: „The younger members of CIAM demand as a ‚première proposition de l’Habitat‘ the voluntary effacement of architecture. We must prepare the ‚Habitat‘ only to the point at which man can take over. We aim to provide a framework in which

p.353

Von der Moderne zur kritischen Auseinandersetzung in der Nachkriegszeit – Umformulierter, zusammengefasster Auszug aus: CIAM-Urbanismus der Nachkriegszeit und die Re-Konfiguration städtischer Gewebe, Sandra Meireis, Diplom 2009/10, erschienen im Studentenkatalog AK10, 2011


Kreativquartier — Vertiefung

man can again be master of his house. In Marocco they have „Team 10 is Utopian, but made a principle of habitat that man shall have the liberty to

Utopian about the present.

adapt for himself. “ 8.1

Thus their aim is not to theorize but to build, for only

TEAM 10

through construction can a

„Team 10“ ist eine Gruppe junger Architekten, die aus den

Utopia of the present be

„CIAM“ 2  hervorgeht. Die „Familie“, wie sie sich selbst be- realized.“ 1 zeichnen, trifft sich in den Jahren etwa zwischen 1953 und

— Alison Smithson 1962

1981 regelmäßig Abb.4 . Sie verurteilten insbesondere die dogmatischen Vertreter der von der CIAM in Frankfurt und Hoddes- „In reality, architecture has don erarbeiteten Vorschläge zum „Wohnen für das Existenzmi- become too important to be nimum“ 3 und der „Funktion des Stadtzentrums“ 4 . Als wohl

left to architects.“

härteste Kritiker der klassischen Moderne und zugleich größte Verfechter einer partizipativen Architektur hinterfragen sie ­beständig die soziale Funktion des Architekten im gesellschaftlichen Kontext und versuchen Lösungsansätze für alternative Planungsmethoden zu erarbeiten, in denen der Fokus auf dem Nutzer liegt. Die Mitglieder entwickeln autonome Projekte, in denen Sie mit neuen Raumsystemen experimentieren und dabei auf basisdemokratische Arbeitsgemeinschaften Wert legen. Jeder Partizipant soll im Prozess gleichberechtigt sein und die Möglichkeit haben, mit zu bestimmen. „In reality, architecture has become too important to be left to architects. A real metamorphosis is necessary to develop new characteristics in the practice of architecture and new behavious patterns in its authors: therefore all barriers between builders and users must be abolished, so that building and using become two different parts of the same planning process.“ 5 Giancarlo de Carlo (1919 – 2005), italienischer Architekt und Schlüsselfigur der Partizipationsbewegung war einer der schärfsten Kritiker der Moderne. Architektur und Politik waren für ihn immer untrennbar und so galt sein großes Interesse der Gemeinschaft und den sozialen Beziehungen als den konkreten Dingen des Lebens. 6 In der Partizipation sieht Giancarlo de Carlo die Lösung für die Entwicklung nachhaltigerer Gebäudestrukturen. Durch genaue Ermittlung der Bedürfnisse der Betroffenen und deren Beteiligung am Entwurfsprozess von Beginn an, so glaubt de Carlo, nehmen diese das Gebäude besser an und können sich p.354

damit besser identifizieren. Standardisierung und Planungen für einen „Otto Normalverbraucher“ würden unterdrückend und keinesfalls gerechtfertigt sein. Da die späteren Nutzer sich

Abb. 4 Team 10 in Holland (Jaap Bakema, Georges Candilis, Aldo van Eyck, Alison und Peter Smithson, Giancarlo de Carlo,…) 1 http://www.team10online. org/team10/introduction.html 2 CIAM steht für Congrés Internationaux d‘Architecture Moderne; internationale Kongresse für moderne Architektur (1928 und 1959) 3 CIAM 2 Frankfurt Kongress 1929 - Die Wohnung für das Existenzminimum. Folge/Kritik: Verlust der Wohn- und Lebensqualität ärmerer Klassen 4 CIAM 8 Hoddesdon Kongress 1951 - „Das Herz der Stadt“ (Funktion des Stadtzentrums) Folge/Kritik: Luxusstadtzentren - räumliche Klassentrennung 5 Giancarlo De Carlo: Architecture‘s Public, in Architecture and Participation, ed. by Peter Blundell Jones, Doina Petrescu and Jeremy Till (Abingdon: Spon Press, 2007), 13 6 http://www.spatialagency. net/database/giancarlo.de.carlo


was genau sie wollen, sei es die Aufgabe des Architekten, aus

der Leute, die ihre Erwartun-

seinen eigenen Analysen, sowie den Wünschen der Nutzer, gen an den gebauten Raum Spektren an Möglichkeiten zu entwickeln. Der Architekt müsse hier seine technischen Fähigkeiten zur

offenbaren (...) selbst den inaktivsten Architekten auf

Verfügung stellen. Es sei eine Illusion, vom Nutzer genaue Vor- Ideen bringen, die ihm vorher schläge zu erwarten. Dennoch soll dieser aber beim gesamten

vielleicht nicht einfielen.“

Exkurs Partizipation

zu Beginn des Prozesses aber oft nicht im Klaren darüber sind, „(...) Information und Wünsche

Prozess dabei sein und die Möglichkeit haben, von einer vorhandenen Auswahl an Möglichkeiten auszuwählen. De Carlo versteht die Partizipation im architektonischen Prozess als kontinuierlichen Kreislauf von „Ermittlung der Bedürfnisse“, „Formulierung der Hypothesen“ und „Verwalten und Benutzen“, der erst mit der physikalischen und technischen Obsoleszenz des Objekts abbricht. Die Interaktion zwischen Arbäudes auf Nutzer und gebauten Raum 7 . Giancarlo de Carlo sieht Partizipation trotz weit verbreiteter Skepsis als enorme Bereicherung, nicht nur für den Erhalt lebendiger Gebäudestrukturen, sondern auch für die Sprache der Architektur im Allgemeinen. Weil, so de Carlo, „(...) Information und Wünsche der Leute, die ihre Erwartungen an den gebauten Raum offenbaren (...) selbst den inaktivsten Architekten auf Ideen bringen, die ihm vorher vielleicht nicht einfielen.“ 8 Abb.5 & 6

Abb. 5 Giancarlo de Carlo, Arbeitersiedlung Matteotti 1969-75 Bedingung des Architekten an die Auftraggeber der Siedlung war die Einbeziehung der späteren Bewohner von Beginn an des Planungsprozesses. Anhand von Diskussionen und Beratungen ermittelte de Carlo die Wünsche und Vorstellungen der Beteiligten, mittels derer er innerhalb eines Grundrasters 45 Varianten entwarf, aus denen die Bewohner wählen konnten.

Abb. 6 Grundrissvarianten Giancarlo de Carlo, Arbeitersiedlung Matteotti 1969-75 7 Giancarlo de Carlo im Interview mit Mario Broggi; Arbeiterwohnungen in Terni, (WERK 3/ 1972) 142 und Giancarlo De Carlo: Architecture‘s Public, in Architecture and Participation, ed. by Peter Blundell Jones, Doina Petrescu and Jeremy Till (Abingdon: Spon Press, 2007) 8 Giancarlo de Carlo im Gespräch mit Lore Ditzen (ARCH+ 57/58, Aachen 1981) 55

p.355

chitekt und Nutzer verlagert sich nach Fertigstellung des Ge-


Kreativquartier — Vertiefung

Utopien und Partizipation

„psychologischen und ästheti-

Mit dem Beginn der Luft- und Raumfahrt erscheint die Er- schen Bruch mit der altehroberung des Raumes in der dritten Dimension nun auch

würdigen Vorstellung der an

technisch uneingeschränkt möglich und eröffnet neue Perspek- den Boden gebundenen tiven. Physikalische Grenzen werden zur Herausforderung und

Architektur“

zumindest im Planungsprozess nicht mehr als unumgänglich klassifiziert. Die Eroberung des Planeten in der Vertikalen hat begonnen. Eine ganze Generation junger Architekten feiert den „psychologischen und ästhetischen Bruch mit der altehrwürdigen Vorstellung der an den Boden gebundenen Architektur“ 1 . Diverse urbanistische Konzepte eines Yona Friedman  –  und ­anderer – propagieren die „Kolonialisierung des Raumes“. Ein weiterer Umstand versetzt die Planer in Tatendrang: Ein Szenario der zu erwartenden Bevölkerungsexplosion aufgrund des Kriegsendes, der wirtschaftlich guten Situation in den 1950er Jahren und der damit einhergehenden Erkenntnis, dass unser Erdball zu klein für diese Menschenmassen sein wird. Der Glaube der Menschheit an die eigene Fähigkeit, ständiges Wachstum und immerwährenden Wandel, lassen in der Nachkriegszeit megalomane Metaphern und städtebauliche Utopien

Abb. 5

aufkommen. Der Maßstab solcher Entwürfe reicht von der Größenordnung eines Dorfes mit 6000 Einwohnern (Trichterhausprojekt „Intrapolis“ von Walter Jonas 1960 Abb.7 ) bis hin zu großstädtischen Dimensionen für 200.000 und mehr Bewohner bei Yona Friedman und Paolo Soleri. Diese Größenordnung lässt vor allem die Frage aufkommen, welche Rolle das ­Individuum und seine gewohnten Gruppierungen noch spielen.  2  Der nun imaginäre unbegrenzte Bauraum, so die Vorstellung, könnte sich von allen bekannten städtebaulichen Problemen und Besitzverhältnissen lösen und die Idee des Gemeinsamen zu einer neuen Gesellschaftsform entwickeln. Um dies einzuleiten, werden die Begriffe Wachstum, Wandel, Dynamik und Flexibilität auf die Fahnen geschrieben und wenige Zeit später als ungeschriebene Gesetze der Visionäre akzeptiert. Dem Bewohner wird in vielen Entwürfen eine Raumstruktur zur Verfügung gestellt, welche dem Allgemeinwohl dient und eher quantitativ ausgelegt ist. Der qualitative Aspekt wird in die Hände des Individuums gelegt, dem in einer Art Raum-Zelle freie Hand gelassen wird. Die Bewältigung der Massen scheint ein neues Problem zu sein, das gelöst werden will. Der partizipatorische Ansatz Yona Friedmans scheint hier seinen Anfang zu finden. p.356

Die „Massenorganisation“ 3 wird zum Kredo und die rasche Reproduzierbarkeit der einzelnen Zelle zum wesentlichen Prinzip. Doch ein wichtiger Aspekt des Zusammenlebens bleibt bei den

1 Rey ner Banham, Clip-on Architektur. In: Bauen und Wohnen, 5/1967, Seite 167 2 Andrea Gleininger-Neumann, Technologische Phantasien und urbanistische Utopien, In: Vision der Moderne. Das Prinzip Konstruktion, Heinrich Klotz, Prestel 1986, Seite 56-57, ISBN 9783791307558 2 Walter Jonas: Das Intrahaus, Zürich 1962, Seite 32 4 Andrea Gleininger-Neumann, Technologische Phantasien und urbanistische Utopien, In: Vision der Moderne. Das Prinzip Konstruktion, Heinrich Klotz, Prestel 1986, S.59, ISBN 978-3791307558


Kriterien, die städtebaulichen oder raumordnenden Regelun- die städtebaulichen oder gen trifft, wer die Verteilung von Nutz-, Wohn- und öffentlichen

raumordnenden Regelungen

Flächen, d.h. die ‚Sekundärstruktur’ innerhalb der festinstal- trifft, wer die Verteilung von lierten Primärstruktur organisiert, und wie sie organisiert wird,

Nutz-, Wohn- und öffentlichen

bleibt unklar.“ 4

Flächen, d.h. die ‘Sekundär-

New Babylon ist Constant Nieuwenhuys’ Vision einer „world

struktur’ innerhalb der

wide city for the future“ Abb.8  , in der Landflächen der

festinstallierten Primärstruk-

Gemeinschaft gehören, Arbeit voll automatisiert ist und die ­

tur organisiert, und wie sie

Notwendigkeit für den Lebensunterhalt zu arbeiten durch eine

organisiert wird, bleibt

nomadisch, spielerische Lebensgestaltung ersetzt wird. New

unklar.“

Exkurs Partizipation

städtebaulichen Utopien meist ungewiss. „Wer, nach welchen „Wer, nach welchen Kriterien,

Babylon wird vom „homo ludens“ bewohnt, der nichts muss, außer seiner Kreativität im Alltag freien Lauf zu lassen. 5 Auch Cedric Price beschäftigt sich mit dem Partizipativen in der Architektur. Eines seiner bekanntesten Projekte ist der Fun Palace (1961), den er gemeinsam mit der Theater-Regisseurin Joan Littlewood entwickelt. Obwohl dieses Projekt nie verwirklicht wird, beeinflusst seine flexible Raumgestaltung andere Architekten, wie Richard Rogers und Renzo Piano, beim Entwurf des Centre Georges Pompidou in Paris. Price selbst wendet sein

Abb. 5

Konzept in bescheidenerem Maßstab beim Inter-Action Centre in Kentish Town in London (1971) an. Die Funktionstrennung, wie sie die Moderne versucht hat einzuführen, erfolgt bei Price durch das Ausklammern von Lösen spezieller Aufgaben hat isolierenden Charakter: Jeder Bau erfüllt seine Aufgabe, indem er alle denkbaren Nebenaufgaben ausklammert.“ 6 Die Utopien der Nachkriegszeit können als eine Kritik an der Funktionstrennung der Moderne (Charta von Athen) gelesen werden, verfolgen jedoch selbst eine systematische Trennung von Funktion und Bedingung und können sich so von ihren Vorbildern nur bedingt lösen. Yona Friedman unternimmt den Versuch, ein Konzept der kreativen „Stadtplanung“ und des partizipativen Bauens zu entwickeln. Hierzu zählen diverse Schriftstücke und Vorträge wie „städtebauliche Anleitung für Jedermann“ 7 , „Technische Hilfeleistung für maximale Freiheit – Selbstplanung und Eigenbau“ 8 und noch einige mehr. Das Konzept der „Architecture Mobile“ findet bei Friedmann’s Projekt der „Ville Spatial“ Ende der 1950er Jahre seinen ersten Ansatz. Drei Bedingungen soll die Architektur erfüllen: 1. Den Erdboden nur auf minimaler Grundfläche berühren 2. demontabel und umsetzbar sein und 3. von individuellen BenutzerInnen beliebig verändern werden können. 9

5 Drawing Papers 3, Another City for Another Life: Constant‘s New Babylon. An Hommage to Constant by Catherine de Zegher, The Drawing Center, New York, 1999, p.3 6 Lucius Burckhardt, Wert und Sinn städtebaulicher Utopien, In: Wer plant die Planung?, Architektur, Politik und Mensch, MSV 1957, S.148 ISBN 3-927795-39-9 7 Yona Friedmann: Meine Fibel,. Wie die Stadtbewohner ihre Häuser und ihre Städte selbst planen können. Düsseldorf, 1974, S.17-19 8 Yona Friedman, In: Jesko Fezer und Mathias Heyden, Hier entsteht, Strategien partizipativer Architektur und räumlicher Aneignung, metroZones 3, b_books, ISBN 3-933557-53-4, S.141 9

ebenda

p.357

­bewohnbarem Raum und anderen städtischen Funktionen. „Das


Kreativquartier — Vertiefung

In den 1960er Jahren trägt nahezu jeder Planer einen „Wo nahezu alle messbaren ­Entwurf zur Diskussion bei: Iannis Xenakis, Kiyonori Kikutake,

Bedürfnisse des Individuums

Paolo Soleri, Constant Nieuwenhuys, Wolfgang Döring, ­

räumlich optimiert und

­uller, Walter Jonas, R. Dietrich, Moshe Safdie, Buckminster F

systematisch verpackt  wer-

Cedric Price, Richard Rochers, Walter Schwangenscheidt, den, ist der Behältnischarak­ rchigram, Yona Friedman und viele weitere. Eine ­Simon Webb, A

ter nicht nur dem Wortsinn

solche Fülle unter den visionären Utopien bringt eine immer

nach auf erschreckende

schwierigere Differenzierung mit sich. Die Primärstruktur ver- Weise präsent. Das Missverfällt ­ immer mehr in eine Art symbolische Erscheinungsform

ständnis ‚Wohnmaschine‘ ist

und es geht letztendlich nur noch um die aufgeregte Form der

hier in all seiner Konsequenz

einzelnen Projekte. Je mehr also der Großform an Beachtung

zu Ende ­gedacht.“

geschenkt wird, umso unflexibler werden die Zell- und Kapselelemente. „Wo nahezu alle messbaren Bedürfnisse des Individuums räumlich optimiert und systematisch verpackt werden, ist der

„Die Stadt Yona Friedmanns offeriert eine Flexibilität, die niemals ausgenutzt werden

Behältnischarakter nicht nur dem Wortsinn nach auf erschre- wird, so wenig wie sich Wagen ckende Weise präsent. Das Missverständnis ‚Wohnmaschine‘ auf einem Parkplatz oder die (nach Le Corbusier) ist hier in all seiner Konsequenz zu Ende

beweglichen Stände auf

­gedacht.“ 10

einem Markt frei über das

Die Großform selbst wird, entgegen ihrem Leitmotiv, immer

Gelände verteilen können.“

unflexibler, zu einer durchrationalisierten und totalitären Organisation mit nicht unverkanntem ökonomischen Hintergrund. So orientiert sich der Spielraum für Wandel, Wachstum und Veränderbarkeit nicht an dem Individuellen, sondern an ökonomischen und allgemein gesellschaftlichen ­Notwendigkeiten zur Rationalisierung. „Die Stadt Yona Friedmanns offeriert eine Flexibilität, die niemals ausgenutzt werden wird, so wenig wie sich Wagen auf einem Parkplatz oder die beweglichen Stände auf einem Markt frei über das Gelände verteilen können.“ 11

p.358

10 Andrea Gleininger-Neumann, Technologische Phantasien und urbanistische Utopien, In: Vision der Moderne. Das Prinzip Konstruktion, Heinrich Klotz, Prestel 1986, S. 62 ISBN 978-3791307558 11 Lucius Burckhardt, Wert und Sinn städtebaulicher Utopien, In: Wer plant die Planung?, Architektur, Politik und Mensch, MSV 1957, S.153 ISBN 3-927795-39-9,


„Er (ein partizipativer Planungsprozess) dauert viel länger,

„Er dauert viel länger, er kostet viel mehr und er wird

er kostet viel mehr und er wird von allen scheel angesehen. von allen scheel angesehen. Von den Architekten, weil sie fürchten, dadurch eingeengt zu

Von den Architekten, weil sie

werden. Von Bürokraten und Verwaltungen, weil sie die Kosten

fürchten, dadurch eingeengt

scheuen, von Politikern, weil die Partizipation so etwas ist, wie

zu werden. Von Bürokraten

ein ins Wasser geworfener Stein. Sie schlägt weiter Wellen, sie

und Verwaltungen, weil sie die

dehnt sich aus. Wer einmal ‘partizipiert‘ hat, unmittelbar an

Kosten scheuen, von Politi-

Exkurs Partizipation

Grenzen der Partizipation

Entscheidungen beteiligt worden ist, der will weiter partizipie- kern, weil die Partizipation so ren. Und die Politiker schätzen das nicht sehr, dass die Leute

etwas ist, wie ein ins Wasser

partizipieren, weil die gesamte politische Struktur auf dem

geworfener Stein. Sie schlägt

System der Delegierung beruht.“ 1

weiter Wellen, sie dehnt sich

Unökonomisch, aus politischer Sicht problematisch und bei

aus.“

Desinteresse der Beteiligten gar nicht erst praktizierbar, gerät Partizipation auch in technologischer Hinsicht in die Kritik. A priori wollen alle Ansätze partizipativer Architektur dem Anspruch gerecht werden, flexibel, erweiterbar und anpassungsfähig zu sein. Dieses Versprechen wird jedoch in dem Moment zur Farce, in dem man es in Beton gießt. Am Beispiel der Arbeitersiedlung Matteotti von Giancarlo de Carlo wird dem Partizipierenden im Moment der Planung größtmögliche Freiheit in der Wahl seines zukünftigen Wohnraums ermöglicht, der Nutzer ist zufrieden, die Gesamtstruktur funktioniert. Doch was passiert, wenn sich die Bedürfnisse mit wechselnder Bewohnerschaft verändern? Endet der „Kreislauf der Partizipation“, den de Carlo theoretisiert, nicht schon mit dem Auszug der ersten

2 Giancarlo de Carlo im Gespräch mit Lore Ditzen (ARCH+ 57/58, Aachen 1981) 55

p.359

Bewohnerschaft?


Kreativquartier — Vertiefung

Partizipationsromantik Demokratie auf dem Prüfstand

„Die ‚Liquid Democracy‘ soll die repräsentative

Im Zuge der inflationäre Verwendung des Begriffes „Partizi- ­Demokratie ablösen  –  in den pation“ in den Medien und anderswo, drängt sich die Frage

Augen der Piraten ein halb­

auf, ob jeder überall mitmachen darf und bei jeder Entschei- demokratischer Kompromiss, dung beteiligt werden soll.

bei dem jeder in Echtzeit wie

Die Heilslehre Partizipation wird besonders von den Piraten- im Parlament abstimmen parteien auf dem Silbertablett präsentiert. Das Wahl-Programm

kann.“

namens „Adhocracy“ macht Anfang 2012 seinem Name alle Ehre und skizziert das vor wenigen Jahren noch unmöglich

Die Auswirkungen unserer

G ­ edachte. „Die ‚Liquid Democracy‘ soll die repräsentative „demokratischen“ EntscheiDemokratie ablösen   ­ –   in den Augen der Piraten ein halb­ dungen sind uns längst ­nicht demokratischer Kompromiss, bei dem jeder in Echtzeit wie im Parlament abstimmen kann.“ 1 Aber wer generiert den Inhalt der Abstimmungs-Buttons, die dem Bürger als einziges Mittel zur Abstimmung übrig bleiben?

mehr bewusst“, sagt Rezai. „Es wird permanent im Namen der Demokratie, des Friedens und der Menschenrechte

Wird die Sachkenntnis durch einen einfachen Klick des Ah- die eigene sowie die Freiheit nungslosen ersetzt? Die All-inclusive Demokratie der Piraten

anderer beschnitten.“

liebäugelt mit dem Wunschtraum eines Dabeiseins ohne Stress und Verantwortung. Wie weit man den gesellschaftlichen Drang zur Partizipation treiben kann, zeigen zwei Künstler aus Berlin. Imam Rezai und Rouven Materne starteten ihre Aktion „Das Experiment“, bei der online abgestimmt werden konnte, ob das Lamm „Norbert“ mit einer bunten Guillotine hingerichtet werden soll. Am 18.05.2012 verkündete der Spiegel Online das Ende der Aktion. Bis zum Ende zählte die Internet-Abstimmung mehr als 2,5 ­Millionen Stimmen gegen die Tötung und weitere 1,7 Millionen votierten dafür – einschließlich unzähliger Kommentare zur ethischen Dimension der Aktion. Mit ihrem Experiment wollen die Künstler die Demokratie auf die Probe stellen. „Die Auswirkungen unserer „demokratischen“ Entscheidungen sind uns längst nicht mehr bewusst“, sagt Rezai. „Es wird permanent im Namen der Demokratie, des Friedens und der Menschenrechte die eigene sowie die Freiheit anderer beschnitten.“ 2 Verabschiedung der partizipativen Illusionen Wenige Monate nach dem Lamm-Experiment verkündet das soziale Netzwerk „facebook“ eine Abstimmung der Nutzer zur Regeländerungen, vornehmlich des Datenschutzes. Eine Beteiligung von 350.000 Nutzern klingt viel, sind aber nur 0,04 p.360

Prozent der erforderlichen 30 Prozent aller Mitglieder, einer selbst auferlegten Hürde. Daraufhin stellt facebook das Experiment am 21.11.2012 wieder ein. 1.1

1 Markus Miessen und Hannes Grassegger, Albtraum Partizipation, Zeit online, Artikel vom Juni 2012) 2 Die Welt online, 15.05.12 , Muss Schaf Norbert unter der Guillotine sterben?, dpa/bas 1.1 Die Welt online, Artikel vom 21.11.12, Facebook schafft das Mitspracherecht wieder ab, dpa/fp, http://www.welt. de/111376917)


Verantwortlichen des Datenschutzes zu stellen. Somit kann ein

weder ein moralischer

konkreter Vorschlag vom Nutzer kommentiert werden. Über- Wert an sich, noch liefert steigt die Beteiligung erneut die Marke von 7000 Kommentaren,

sie eine Gewinnstrategie.“

wird automatisch eine Abstimmung ausgelöst. Eine Abstimmung über die Abschaffung der Abstimmung? Nehmen an einer Abstimmung weniger als 30 Prozent der Mitglieder teil, setzt

Exkurs Partizipation

Der Nutzer wird nun lediglich gebeten, Fragen direkt an die „Partizipation ist deshalb

Facebook nach der bisherigen Regelung die Änderungen ­einfach in Kraft. Eine 30-prozentige Beteiligung bei über einer Milliarde Nutzern scheint ohnehin utopisch. Sind wir schon zu müde, bei allem unsere Meinung zu ­sagen? Hier könnte sich die Frage stellen: Was sind denn die wichtigen Themen? Auch die Wissensplattform Wikipedia schränkte neuerdings die Bearbeitungsrechte wieder ein. Der partizipative Ansatz machte die Plattform immer nutzloser: Endlose Beiträge, für die Wissenschaft unbrauchbar, unverständliche Fachsprache und mit einhergehend wachsendem Verwaltungsaufwand. Und es gibt noch weitere Beispiele: Occupy Wallstreet versinkt in Diskussionsrunden und avanciert zur Party-Veran­ staltung; die Piraten sind gefangen im Dauerstreit um interne ­Organisationsfragen. „Partizipation ist deshalb weder ein moralischer Wert an sich, noch liefert sie eine Gewinnstrategie.“ 2 Wo führt das hin, wenn man immer und überall abstimmen soll und nach seiner Meinung gefragt wird? Der Bürger als ­Abstimmungswerkzeug? Fast auf jeder Internet-Seite ist marginal ein Feld zu finden, woran sich der Besucher der Seite an ­irgendeiner mehr oder weniger belanglosen Abstimmung beteiligen kann. Wenn jeder mitstimmen kann, zählt irgendwann nur noch das populistische Meinungsbild? Bürgerbeteiligung oder Volksabstimmung wird zum verschwommenen Meinungsbild der ohnehin schon medial übersättigten Gesellschaft. Partiziation als Werkzeug zur Lösungsverhinderung Bis wohin wollen wir die Basisdemokratie verstanden haben? Markus Miessen kommt zu dem Schluss: „Partizipation? Ein Albtraum.“ 1 Ein konfliktorientiertes Verständnis von PartizipaLösungsansatz zu sein. Die Politikwissenschaftlerin Chantal ­ Mouffe pocht dabei auf die Einigung, dass wir uns nicht einig sind. So zeichnet sich ein altbekanntes Bild ab: Man muss die Aktivitäten, Interessen und Ziele seines Gegenübers kennen, um diesen nachhaltig beeinflussen zu können. Man muss die Polaritäten des Systems kennen, um Konflikte auszutragen. Um

2 Die Welt online, Artikel vom 21.11.12, Facebook schafft das Mitspracherecht wieder ab, dpa/fp, http://www.welt. de/111376917) 1 vgl. Markus Miessen und Hannes Grassegger, Albtraum Partizipation, Zeit online, Juni 2012

p.361

tion scheint nach Markus Miessen und Chantal Mouffe ein


Kreativquartier — Vertiefung

das System zu verstehen, muss man es gestalten. Aber darin „Man liefert ihr sein Selbst  aus liegt auch die Gefahr: Der Außenseiter kämpft gegen die Etab- und verzichtet auf alles, was lierten. Durch den Willen, das System neu zu gestalten oder zu- an Kraft und Stolz damit  zumindest zu verändern, entstehen neue Verantwortlichkeiten,

sammenhängt, man verliert

die es ebenfalls zu gestalten gilt.

seine Integrität als Individuum

An diesem Punkt zeigt sich die eher negative Dimension be-

und verzichtet auf seine

kannter Partizipationsstrukturen. Sie kann leicht zu einer Tak- Freiheit. Aber man gewinnt tik dafür verwendet werden, sich Verantwortungen zu entzie- dafür eine neue Sicherheit hen und diese den Beteiligten zu übertragen, während man

und einen neuen Stolz durch

praktisch weiterhin zuständig ist. Um ein einigermaßen positi- Teilhabe an der Macht, in der ves Gesamtsystem zu erhalten, muss es zumindest teilweise

man aufgeht.“

autoritäre Strukturen geben. 2 In seinem Buch „Die Furcht vor der Freiheit“ beschreibt „Weil wir uns von den älteren, Erich Fromm die Rolle des Individuums und dessen Flucht in

unverhüllten Formen der

die Autorität aus mangelnder Selbstwertschätzung und Verant- Autorität freigemacht haben, wortung gegenüber sich selbst. „Man liefert ihr (der Autorität)

merken wir nicht, dass wir

sein Selbst aus und verzichtet auf alles, was an Kraft und

einer neuen Art von Autorität

Stolz damit zusammenhängt, man verliert seine Integrität als

zum Opfer ­gefallen sind. Wir

Individuum und verzichtet auf seine Freiheit. Aber man ge- sind zu Konformisten geworwinnt dafür eine neue Sicherheit und einen neuen Stolz durch

den, die in der I­llusion leben,

Teilhabe an der Macht, in der man aufgeht.“ 3 Diesen Ansatz

Individuen mit eigenem Willen

führt er in „Illusion der Individualität“ in ein demokratisches

zu sein.“

Verständnis über und erkennt, dass überall auf der Welt ein fruchtbarer Nährboden für den Faschismus zu finden ist: der Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht des Individuums  4  . Projizieren wir dies nun auf die Theorie der Multitude oder auf ein Partizipationssystem, so erkennen wir, dass das Individuum ­ seine Bedeutung verliert, denn der Einzelne hat innerhalb der „absoluten Demokratie“ keinen Einfluss mehr und wird seiner Fähigkeiten nahezu beraubt, wenn er von der populistisch agierenden Menge überstimmt wird. Eine mögliche Folge könnte nach Erich Fromm diese sein: „Weil wir uns von den älteren, unverhüllten Formen der Autorität freigemacht haben, merken wir nicht, dass wir einer neuen Art von Autorität zum Opfer ­gefallen sind. Wir sind zu Konformisten geworden, die in der ­Illusion leben, Individuen mit eigenem Willen zu sein.“ 5 In einem ähnlichen Zusammenhang verweist Markus Miessen wiederum auf den Begriff der Verantwortung. Denn eine „Entscheidung gegen die Mehrheit und ohne die Beteiligung der allerletzten Schnarchnase können richtig sein – solange jemand die Verantwortung trägt.“ 6 p.362

Wenn es nach Erich Fromm und anderen einer Autorität ­bedarf, um gegen die bestehende Autorität anzukämpfen und das bestehende System teilweise autoritärer Geflechte neu zu

2 Markus Miessen, Albtraum Partizipation, Merve Verlag Berlin 2012, S. 149–150, ISBN 978-3-88396-277-1 3 Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, dtv 11. Auflage 2003, S. 116-117 ISBN 3-423-35024-5 4 Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, dtv 11. Auflage 2003, ISBN 3-42335024-5, S.174 5 Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, dtv 11. Auflage 2003, ISBN 3-42335024-5, S. 183 6 Markus Miessen und Hannes Grassegger, Albtraum Partizipation, Zeit online, Juni 2012)


beschreiben. Die Multitude wird selbst zur Autorität, die auf- ern, dass Politiker ihre grund ihrer ‘critical mass’ den Willen des Individuums vernach- Verantwortung auf Votings lässigt um eine kollektive Intelligenz zu erreichen. Die Kurzerklärung von Hardt und Negri zur Multitude

­„Singularitäten, die gemeinsam handeln“ 7 wirft die Frage nach

einer anonymen Crowd abschieben   können und wir so hinter der Mitmach-

der Richtung der Partizipation innerhalb der Multitude auf.

Fassade in einer pseudo-

­Top-down oder Bottom-up? Oder reicht es wirklich, aus Kanälen

partizipativen Scheindemo-

Exkurs Partizipation

gestalten, verändert sich die Multitude, wie sie Hardt und Negri „Wir müssen daher verhind-

der Selbstorganisation ein gemeinsames Miteinander zu gestal- kratie enden.“ ten?  8,9 Die Multitude sollte keinerlei Form von Zugehörigkeit haben. Nur auf diese Weise, so Hardt und Negri, ist es möglich, die „absolute Demokratie“ zu verwirklichen. Quasi eine Demokratie abseits jeglicher Form von Institution, Machtanspruch oder innerpolitischer Zwangsjacke. Doch dies würde eine Grundvoraussetzung der Demokratie untergraben, denn ohne Machtbeziehungen und ohne Konflikt verschwindet der Pluralismus und mit ihm die Möglichkeit für Diskussionen und Konflikte. Die bereits angeführte Pluralität einer Gesellschaft der Teilhabe könnte man nicht besser formulieren als Markus Miessen dies tut: „Wir müssen daher verhindern, dass Politiker ihre Verantwortung auf Votings einer anonymen Crowd abschieben können und wir so hinter der Mitmach-Fassade in einer pseudo-partizipativen Scheindemokratie enden.“ 10 Platons Verständnis von einer theatralisierten Demokratie schlägt sich somit nahezu direkt auf eine Partizipationsroman11 Das öffentliche Zusammenkommen wird zum tik nieder.

Spektakel und zur Schlacht zwischen Interessenvertretern und Eine Einigung, so meint man, erfolgt nur durch Abstimmungen oder Befragungen. Deren Ergebnisse wiederum werden nicht zwangsläufig von allen Beteiligten akzeptiert und der partizipative Prozess beginnt von Neuem.

7 Michael Hardt, Antonio Negri: Multitude. Krieg und Demokratie im Empire. Campus 2004, ISBN 3593374102 8 Michael Hardt, Antonio Negri: Multitude. Krieg und Demokratie im Empire. Campus 2004, ISBN 3593374102 9 vgl. Markus Miessen, Albtraum Partizipation, Merve Verlag Berlin 2012, S.151, ISBN 978-3-88396-277-1 10 Markus Miessen und Hannes Grassegger, Albtraum Partizipation, Zeit online, Juni 2012 11 vgl. Juliane Rebentisch, Die Kunst der Freiheit – Zur Dialektik demokratischer Existenz, suhrkamp 2012, S. 271, ISBN 978-3-518-29613-4

p.363

Individuen.


Kreativquartier — Vertiefung

Ein neuer Ansatz So scheint der aktuelle Gedanke der Partizipation von einem bestehenden Machtverhältnis auszugehen, nämlich dem, der Teilhabe von oben bewilligt. Die heutzutage überhand­ nehmende Verantwortungsverweigerung mancher politischer Vertreter macht den Zugang zur Partizipation an gesellschaftlichen und politischen Themen erst möglich, drängt aber das eigentliche Potential in die Ecke. Ein partizipativer Gedanke, der dem des Bottom-up-Prinzips folgt, bedeutet lediglich, dass auch der „ungeladene Außenseiter“ sich Zutritt verschaffen kann. 1 D ­ emnach wird Partizipation erst ohne jegliche Randbedingungen möglich. So entsteht ein weiteres Potential der Partizipation: Wenn der Außenseiter seine Botschaft unter Fremden vermitteln kann und nicht nur in den Kraftfeldern, Machtbeziehungen oder politischen Verwicklung Gleichgesinnter, so ermöglicht diese Vorgehensweise eine Art Weckruf im System, welches von Insidern nur noch bedingt in Frage gestellt werden kann. „Damit Demokratie im partizipativen Zeitalter funktioniert, muss jeder sich immer wieder selbst ermächtigen. Das Mitmach-Zeitalter braucht ein neues Selbstverständnis. Wir ­ sollten autonomer und verantwortlicher handeln, damit Parti-

p.364

zipation nicht zum Albtraum wird.“ 2


pativen Zeitalter funktioniert, muss jeder sich immer wieder selbst ermächtigen. Das   Mitmach-Zeitalter braucht ein neues Selbstverständnis. Wir sollten autonomer und   ver-

Exkurs Partizipation

„Damit Demokratie im partizi-

antwortlicher handeln, damit Partizipation nicht zum  Albtraum wird.“

2 Markus Miessen und Hannes Grassegger, Albtraum Partizipation, Zeit online, Juni 2012

p.365

1 vgl. Markus Miessen, Albtraum Partizipation, Merve Verlag Berlin 2012, S.148 ISBN 978-3-88396-277-1


Kreativquartier — Vertiefung

NDSM Grenzen der Partizipation aufgezeigt am Beispiel der NDSM-Werft, Kunststad in Amsterdam. In einer ehemaligen Schiffswerft entsteht Amsterdams Kunststad: hunderte containerartige Raumeinheiten, jede für sich ein Unikat. Gelegen im Amsterdamer Norden, umfasst das gesamte Areal der 1984 in Konkurs gegangenen Nederlandschen Dok en Scheepsbouw Maatschappij rund 86.000 qm. Die Kunststad befindet sich in einer Halle von rund 20.000 qm. Ein Großteil der Halle ist heute von Vertretern der sogenannten Kreativwirtschaft in Beschlag genommen. Der Verein heißt Kinetisch Noord, ist Hauptmieter und Gebietsentwickler und aus dem Zusammenschluss jener „Hausbesetzer“ entstanden, die Mitte der Achtzigerjahre die brachliegenden Hallen in ­Beschlag nehmen. Er wird geduldet von den lokalen Behörden und der Stadtregierung. Der Verein hat mit dem derzeitigen Besitzer des Areals, dem Bezirk Amsterdam-Noord, einen Mietvertrag, der vorläufig bis 2027 befristet ist. Die Stiftung Stichting Kinetisch Noord, verschiedene Hausbesetzer der ersten Stunde und Vertreter der Stadtverwaltung treten zusammen, um einen Wettbewerb für die Halle zu formulieren. Der Wettbewerbsbeitrag zur Kunststad, gewonnen von Dynamo Architecten aus ­Utrecht, wird mit allen Beteiligten 2004 – 2007 für knapp 1,7 Mio. Euro realisiert. 1 Auf der angemieteten Fläche in der Kunststad kann sich ­jeder Nutzer seine Einheit selbst bauen und gestalten. In den Zwischenräumen entsteht Freiraum für soziale Begegnungen, Ausstellungsflächen, Performances, Partys. Im Freien erinnern die verrosteten Rampen, Kräne und Docks an den ehemaligen Schiffsbau. 2 Heute präsentiert sich die Kunststad als kultureller und kreativer Anziehungspunkt. Jedoch erschweren gelegentlich ­ auftretende

Meinungsverschiedenheiten

ein

geschlossenes

Meinungsbild gegenüber der Stadtverwaltung. Der partizipative Charakter der Kunststad wird ständig auf die Probe gestellt. ­­So werden partizipative Möglichkeiten bei Neuvermietung kaum genutzt und Räumlichkeiten werden übernommen, ohne bauliche Veränderungen daran vorzunehmen. So stellt sich die Frage, ob Partizipation nur in einer Entstehungsphase voll zur Geltung kommt und schon nach kürzester Zeit durch ein selbst auferlegtes Regelwerk erhebliche Einp.366

schränkungen erfährt? „Das Konzept der Kunststad ist auf dem Gedanken der ­Kooperation und Partizipation aufgebaut, eine kulturelle Brut-

1 Bauwelt 22/2008, NDSM Atelierstad Amsterdam, Ulrich Brinkmann 2 Quelle: teil Umformulierte Auszüge aus dem Bericht von Doris Rothauer /DER STANDARD / Printausgabe / 28.11.2009


können sich hier ein loses und informelles Netzwerk mit Gleich- ist auf dem Gedanken der gesinnten aufbauen. Und indem sich jeder seine Einheit selbst

­Kooperation und Partizipation

baut und darin investiert, entsteht eine starke Bindung an das

aufgebaut, eine kulturelle

Gelände. Die meisten bleiben, wenn sie einmal hier sind, for- Brutstätte, die die Künstler mieren Interessenverbände, treten gemeinsam gegenüber der

und Kreativen fördert. Unsere

Bezirksverwaltung und potenziellen Investoren auf“, erklärt El- Mieter können sich hier ein len van Baal. 3

Exkurs Partizipation

stätte, die die Künstler und Kreativen fördert. Unsere Mieter „Das Konzept der Kunststad

loses und informelles Netz-

Nicht nur das Zitat lässt eine gewisses Maß an „Partizipati- werk mit Gleichgesinnten onsromantik“ 4 erahnen. Tatsächlich mag dies in den ersten

aufbauen. Und indem sich

Wochen der Kunststad gut funktioniert haben, doch schon nach

jeder seine Einheit selbst baut

kurzer Zeit setzt sich bei etablierten Nutzern der Kunststad, so

und darin investiert, entsteht

die Vermutung, ein Erhaltungsdrang durch, der es den Nachfol- eine starke Bindung an das genden erschwert, ihre eigenen Ideen umzusetzen. Der partizi- Gelände. Die meisten bleiben, pative Ansatz des Neuankömmlings wird reduziert auf das Maß,

wenn sie einmal hier sind,

welches der Erhaltungsdrang der Etablierten und bereits nach

formieren Interessenverbän-

kurze Zeit entstehenden Verordnungen von Seiten der Stadt- de, treten gemeinsam gegenverwaltung (Brandschutz, Fluchtwege,...) zulässt. Partizipation

über der Bezirksverwaltung

wird in enormem Umfang beschnitten, wenn der Neuankömm- und potenziellen Investoren ling teilnehmen möchte, aber zunehmend wegen fehlenden In- auf“ formationen über Beschlüsse, die die etablierten Nutzer schon ausdiskutiert haben, scheitert. Dieser Konsens unter den Etablierten verhindert den Gedankenfluss zwischen dem Außenseiter und den Etablierten und beschwichtigt den Konflikt unter den Etablierten. Dem Neuankömmling als Außenseiter wird der Zugang indirekt verwehrt. Das Gebilde avanciert zur Pseudopartizipation und minimiert die individuelle Beteiligung durch vorgegebene Muster. Die inflationäre Verwendung des Begriffes „Partizipation“, lässt sie als Allheilmittel zur Vermittlung kontroverser Meinungen und Möglichkeit zur übergeordneten Lösungsfindung erscheinen. Spätestens nach einer Überhäufung solcher Pro­ zesse, teilweise unter Ausschluss diverser Gruppierungen, kann man hier von Nostalgie sprechen. Um Strategien für eine post-nostalgische Praxis zu entwickeln, muss in einem vollkommen demokratischen Prozess jeder beteiligt werden. 5 Interessenkonflikt. Die Möglichkeit der partizipativen Rauman­ eignung als Teil des Ganzen, wird durch die ansässigen Nutzer eingeschränkt. Der Neuankömmling zieht sich in seine vorgefundene Räumlichkeiten zurück, um Konflikten zu entgehen. Er lässt den kooperativen und kommunikativen Zwischenraum zum größten Teil außer Acht und verkriecht sich ins Innere. Das lose und informelle Netzwerk der Kunststad verliert vorerst

3 Quelle: Doris Rothauer / DER STANDARD / Printausgabe / 28.11.2009 4 vgl. Markus Miessen, Albtraum Partizipation, 2012, S. 43 5 vgl. Markus Miessen, Albtraum Partizipation, 2012, S. 43

p.367

Der Neuankömmling befindet sich in einem persönlichen


Kreativquartier — Vertiefung

­einen Mitstreiter und die Protagonisten müssen sich bemühen, „Summum templum architecdas Interesse des vermeintlichen Außenseiters für das intelli- turae“, Vitruv nennt sie die gente Kollektiv zur repräsentativen und einheitlichen Meinungs- höchste Kunst. Und zweitauvertretung gegenüber der Stadtverwaltung erneut zu wecken.

send Jahre später steht in

Gelingt dies nicht, entwickelt sich keine Bindung zum Gelände

der Charta von Athen ge-

oder zu den übrigen Nutzern.

schrieben, dass „(...) der

Durch die Ansiedlung weiterer etablierter Unternehmen wie z.B. MTV Networks BV, Red Bull Nederland, welche die Vorteile

Architekt, (…) die vollkommene Kenntnis vom Menschen

des positiven Schattens der Kultur- und Kreativwirtschaft nut- besitzt“ zen möchten, ergeben sich weitere Nutzeransprüche. Der Gentrifizierungsprozess ist im vollen Gange. Das vermeintlich parti- „Erfinder und Gestalter von zipative

Kollektiv

wird

stetig

erweitert

und

zunehmend

handlungsunfähig.

Strukturen“, innerhalb derer dem Individuum ermöglicht wird, sich frei zu entfalten

Die Rolle des Architekten „,Summum templum architecturae‘, Vitruv nennt sie die höchste Kunst. Und zweitausend Jahre später steht in der Charta von Athen geschrieben, dass „(...) der Architekt, (…) die vollkommene Kenntnis vom Menschen besitzt“ 1 . Was jedoch ist aus der Profession des Architekten geworden, in Zeiten partizipativer Planungsmethoden? Keine Generation hat die klassischen Planungsmethoden des Architekten je so sehr in Frage gestellt, wie die der Nachkriegszeit. Sowohl realistische Ansätze der Mitglieder des Team 10, wie auch utopische Visionen von Architektengruppen wie Archigram verfolgen die selben Gedanken: Das Bauen für den Nutzer, für das Individuum. In realisierten Gebilden, wie auch in utopischen Gedankenmodellen, wird der Architekt immer wieder zum „Erfinder und Gestalter von Strukturen“, innerhalb derer dem Individuum ermöglicht wird, sich frei zu entfalten und zu verwirklichen. Er wird außerdem zum „Ermöglicher“, indem er dem unwissenden Bauherrn Varianten aufzeigt, die dieser eventuell selbst nicht in der Lage wäre, zu formulieren. In jeder Hinsicht kann bei der Partizipation eine Machtver-

und zu verwirklichen. Er wird außerdem zum „Ermöglicher“ „Stadtbewohner sind für uns ebenso Spezialisten, denn keiner kennt sich so gut mit der jeweiligen Situation aus wie diejenigen, die tagaus tagein mit diesen Orten   umgehen müssen. So können wir wertvolle Informationen  gewinnen über Geschichten, Ängste, Wünsche, existentielle Bedürfnisse oder auch  Defizite, die wie ein unsichtbares Geflecht über jeder räumlichen Situation liegen. Wir impfen dieses gesammelte Wissen über die Situation mit einer Portion Imagination.“

schiebung festgestellt werden. Hierarchische Strukturen im Planungsprozess ändern sich. Der Architekt verlässt seine autoritäre Position des „Allwissenden Gestalters“, lässt zu gewissem Maße Gestaltungsfreiraum zu und nimmt als „Spezialist“ Funktionen wie Beratung, Vermittlung, Unterstützung, Moderation und Forschung ein. Die Planung wird zum Dialog. „Stadtbewohner sind für uns ebenso Spezialisten, denn keip.368

ner kennt sich so gut mit der jeweiligen Situation aus wie diejenigen, die tagaus tagein mit diesen Orten umgehen müssen. So können wir wertvolle Informationen gewinnen über Ge-

1 aus der Charta von Athen 1933, CIAM 4 über “die Funktionale Stadt”


auch Defizite, die wie ein unsichtbares Geflecht über jeder räumlichen Situation liegen. Wir impfen dieses gesammelte Wissen über die Situation mit einer Portion Imagination.“ 2.1 Schlussanmerkung Partizipation ist eine Lösung und doch nur ein Kompromiss, denn wie Fezer in seinem Buch den Begriff Partizipation treffend definiert ist „Partizipation (...) (ist) Beteiligung oder Mitbestimmung an etwas bereits Vorgegebenem“. 1 Wenn Par-

2.1 http://www.raumlabor. net/?page_id=2 1 Jesko Fezer, Mathias Heyden (Hg.): Hier Entsteht. Strategien partizipativer Architektur und räumlicher Aneignung (metroZones3, b_books, Berlin 2004) S.14

Exkurs Partizipation

schichten, Ängste, Wünsche, existentielle Bedürfnisse oder

3 Architektur-Automat von KAISERSROT (Forschungsgruppe aus Zürich) Vortrag von Steffen Lemmerzahl an der ABK Stuttgart (12.Juni 2012)

tizipation aber zur extrasystemischen Angelegenheit wird, dann bedeutet sie Selbstorganisation, frei von architektonischem Zutun. Trotz aller sozialen und politischen Absichten in der Partizische Tätigkeit nehmen lassen. Partizipation besteht noch immer aus strukturierten Hierarchien. Mario Carpo erläutert dies kritisch im aktuellsten Diskurs über digitale Raumproduktion. ­ Die rasch vorangeschrittene Entwicklung partizipatorischer Werkzeuge im Computer Aided Design wird von den Architekten nicht sehr enthusiastisch angenommen, so Carpo. Gestalter sind nicht bereit, Kontrolle über die Form abzugeben. Aber da die Verfahren der Partizipation in der digitalen Produktion durchaus sehr ökonomisch sind, befürchtet Carpo, dass wenn der Architekt sie nicht annimmt, es an seiner Stelle die Bauindustrie tut. 2 Doch ist die alleinige Erfüllung vorgegebenen Parameter die Lösung für die Produktion qualitativ hochwertigen Raums? Die Zweifel bleiben, ob bei all der Fokussierung auf die Wünsche des Individuums und der Selbstverwirklichung des Einzelnen die immateriellen Werte, sozusagen der Gemeinschaftsgedanke vernachlässigt werden. Wenn es „den Architekt“ in der Multitude gibt, so produziert dieser keine Machtsymbole mehr. Sein Fokus liegt auf dem interstitiellen Raum, in dem Kommunikation, Kreativität und Erfolg generiert werden. Dieser „Architekt“ produziert Konzepte.

Abbildungsverzeichnis: Abb. 1 Rietveld-Schröder-Haus (Quelle: http://www.tageswoche. ch/de/2012_20/kultur/424073/ eigenwilliger-pionier.htm) Abb. 2 Habitat 67 (http:// en.wikipedia.org/wiki/ File:Habitat_panorama.jpg) Abb. 3 Plan Obus für Algier von Le Corbusier (Quelle: http://architecturewrassi3ali. blogspot.se/2011/09/le-corbusier-en-algerie.html) Team 10 (Jaap Bakema, Abb. 4 Georges Candilis, Giancarlo de Carlo, Aldo van Eyck, Alison und Peter Smithson, Shadrach Woods, u.a. (Quelle: http://www. team10online.org/) Abb. 5 Arbeitersiedlung Matteotti in Terni, Italien (Giancarlo de Carlo) (Quelle: http://www. lombardiabeniculturali.it/ fotografie/schede/IMM3g010-0026537/) Abb. 6 Varianten für die Arbeitersiedlung Matteotti in Terni, Italien (Giancarlo de Carlo) (Quelle: http://architettura.it/books/2005/ 200509022/index.htm) Abb. 7 Intrapolis, Trichterhausprojekt von Walter Jonas Abb. 8 New Babylon von Constant Nieuwenhuys (1959-74)

p.369

pation hat sich der Architekt bis heute nicht seine schöpferi-



Exkurs — Zwischennutzung


Kreativquartier — Vertiefung

Exkurs — Zwischennutzung | Nicht selten entwickeln

sich Kreativquartiere aus einer Zwischennutzung, die dem Individualisten - ob Konsument oder Produzent – eine Plattform im bereits angesprochenen Möglichkeitsraum bietet. Als Prinzip der Raumaneignung wollen wir das Thema der Zwischennutzung im Folgenden näher beleuchten. „Als Ort des sinnlich wahrnehmbaren Verfalls ist die Brache eine Leerstelle im Funktionsdickicht der Stadt. Als physisches Zeichen eines Nicht-mehr und Noch-nicht erzeugt sie momentane Ratlosigkeit und situative Offenheit.“ 1 In Folge des ökonomischen Strukturwandels werden Städte mehr und mehr zu fraktalen Gebilden. Großflächige Industrieareale verlagern sich heute in die Peripherie und Dienstleistungsunternehmen in den Städten bedürfen deutlich weniger Fläche. Am Beispiel Deutschlands können wir zudem die Auswirkungen des demografischen Wandels auf die Zergliederung der Städte deutlich verfolgen. Diese Faktoren führen dazu, dass in den letzten Jahrzehnten ein Umdenken in der Verwer-

p.372

tung und Nutzung von städtischem Raum und Räumlichkeiten in der Stadt passiert.


um Aufmerksamkeit, Akzeptanz und Unterstützung.

1 Jürgen Hasse (Zitat aus dem Dokumentarfilmessay ‘NICHT MEHR / NOCH NICHT’ von Daniel Kunle und Holger Lauinger; D 2004; 82 min.)

Exkurs Zwischennutzung

lung hat sich etabliert, kämpft hier jedoch nach wie vor

p.373

Der Begriff der Zwischennutzung in der Stadtentwick-


Kreativquartier — Vertiefung

Was ist Zwischennutzung? Zwischennutzung ist kreativ. Zwischennutzung fördert loka- „Zwischennutzung revitalisiert le Ökonomie und Urbanität. Zwischennutzung passiert auf

Brachen mit einem Minimum

brachliegenden Nutzflächen. Zwischennutzung ist Möglich- an monetärem Kapital.“ keitsraum für soziokulturelle Nutzung und individuelle Selbstverwirklichung. Zwischennutzung ist ephemer, jedoch selten ohne bleibende Bedeutung. Zwischennutzung ist eine Zeitlücke im Stadtentwicklungsprozess. Zwischennutzung ist bezahlbar. Zwischennutzung bedient die akute Nachfrage nach Raum in der Stadt. Zwischennutzung ist im ersten Moment nicht offensichtlich lukrativ für die Eigentümer. Zwischennutzung ist nicht gleich

absolute

Gewinnmaximierung

für

den

Eigentümer.

­Zwischennutzung lebt von Netzwerken und strategieorientierten Prozessen. „Zwischennutzung revitalisiert Brachen mit einem Minimum an monetärem Kapital.“ 2 Zwischennutzung ist nachhaltig, vorhandene Ressourcen werden neuen Nutzungen zugeführt. Zwischennutzung schafft weite Netzwerke mit unterschiedlichsten

Akteuren.

Zwischennutzung

funktioniert

meist an Orten mit einem Minimum an vorhandener Infrastruktur. Zwischennutzung ist Katalysator für Stadt- und Standortentwicklung. Zwischennutzung ist … Wer oder was ist Zwischennutzer?

Architekten Konzerte

Kunst- und Musikszene

Clubs Dienstleistungen

Gewerbe Handwerker Flohmärkte Industrie

soziale Initiativen

Migrantenökonomien

Gemüseanbau Tierhaltung Sportler Werkstätten

p.374

Erfinder

Alternativ-, Jugend-, Pokultur

Start-Up-Unternehmen

2 Klaus Overmeyer, „Hier Entsteht. Strategien partizipativer Architektur und räumlicher Aneignung“; Jesko Fezer, Mathias Heydn (Hg.); 08.2004; b_books Berlin; S. 46


Auch über die Dauer eines Zwischennutzungsprojekts hin- „Zwischennutzung entwickelt aus profitieren Kunst- und Kulturschaffende von diesen

sich nicht isoliert (...)“,  „Ver-

Netzwerken. Durch die begrenzte Dauer der Projekte, knüpfen

fügbarer Raum, experimen-

die Nutzer immer wieder neue Kontakte und bauen auf diese

telle Milieus mit hoher Anzie-

Weise ihr Netzwerk kontinuierlich aus. Diese Vernetzung trägt

hungskraft und niedrigen

letztendlich auch zur Aufwertung der Umgebung bei. Eine be- Hemmschwellen für Neulinge,

Exkurs Zwischennutzung

Mehrwert Zwischennutzung?

lebte Zwischennutzung kann im Idealfall so stark auf ihre Um- aber auch die permanente gebung abstrahlen, dass ein ganzer Stadtteil in vielerlei Hin- Unsicherheit, sowie der sicht davon profitiert. Wir sprechen hier also nicht von

kollektive Druck sich gegen-

baulichen Interventionen, sondern von wiederbelebten Struktu- über den Interessen des ren mit Hilfe neuer Entwicklungs- und Organsiationsmodelle im

Eigentümers durchzusetzen,

urbanen Raum.

führen nach kurzer Zeit zur

Anders als bei der klassischen Planung unter zielorientierter

Bildung stark vernetzter

Projektsteuerung, agieren diese Modelle in einem Nutzer-enga- Mikrogemeinschaften.“ 3 gierten Entwicklungsprozess ohne fixiertes Endprodukt quasi ergebnisoffen. Ziel ist es vielmehr, Rahmenbedingungen für eine sich entwickelnde Eigendynamik zu schaffen. Je mehr Nutzer und Betroffene in die Planung integriert werden, desto umfassender wird das Bild und gleichfalls der Erfolg des Projekts, denn Urbanität entsteht, wenn unterschiedliche Akteure Netzwerke bilden, Interessen sich überlagern und sich daraus et-

3 Philipp Misselwitz, Philipp Oswalt, Klaus Overmeyer iin ihrem Artikel „Brutkasten Stadt“ (im Magazin berliner 2/2003 veröffentlicht)

p.375

was entwickelt.


Kreativquartier — Vertiefung

Konflikt und Potenzial Primäres Interesse des Nutzers ist es, kostengünstigen Raum in der Stadt zu beleben. Gute Erreichbarkeit und ein Minimum an gebauter Infrastruktur spielen dabei mitunter eine wichtige Rolle. Der Eigentümer hat das Interesse, seine Immobilie kostengünstig aufzuwerten. Es besteht also eine AngebotNachfrage-Situation, die es zu moderieren gilt. In vielen Fällen blockieren „kulturelle Differenzen“ zwischen Nutzer und Eigentümer das soziale und ökonomische Potenzial der Zwischennutzung im Stadtgefüge. Das alte Bild des Hausbesetzers, des unangepassten Überlebenskünstlers, der wenig kooperativ aber dafür umso leidenschaftlicher um Raum kämpft, hemmt den Eigentümer, seine Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen. Das alte Bild des Hausbesetzers, des unangepassten Überlebenskünstlers und der wenig kooperativen Handlungsweise, ist noch immer in den Köpfen der Gruppe Eigentümer verankert, welche primär aus älteren Generationen bestehen. Die staatliche Verwaltung steht dabei zwischen beiden Interessengruppen und könnte zukünftig vermehrt als Moderator fungieren. Da Brachen und leerstehende Gebäude in der Stadt nicht nur Vandalismus provozieren und die Stadt kein Geld für eigene Projekte und Investitionen zur Problemlösung hat, stellt die Unterstützung von Zwischennutzungsprojekten eine große Chance für alle Beteiligten dar. Im Gegenteil zu den Häuserbesetzungen der 68er-Jahre entstehen die heutigen Zwischennutzungen viel weniger aus einem politischen Interesse heraus. Im Vordergrund stehen Ideale und Visionen von Individuen oder gemeinnützige Ziele im Kollektiv. Die Projekte suchen geradezu nach Öffentlichkeit und schaffen dadurch neue Potenziale für urbane Räume.

Der Architekt in der Zwischennutzung Wie auch im partizipativen Planungsverfahren werfen Zwi- „Der Architekt wird zum   Erschennutzungen die Frage auf, welche Rolle der Architekt in

möglicher. Der Entwerfer

diesen Projekten einnimmt. Studio Urban Catalyst aus Berlin

wird zum Kurator. ­

bezeichnen diese Rolle als „Key-Agent“.

Der Planer wird zum Dienst-

Der „Key-Agent“ übernimmt die Funktion des Organisators,

leister. Die Nutzer wer-

Moderators, Beraters, Koordinators, Unterstützers, Agenten, den zu Autoren. Die Frage Mediators oder des Mittlers. Er stellt die Plattform zwischen

nach der Form wird zur

Nutzer, Eigentümer und Kommune, er verbessert minimale Inf- Frage nach dem Programm.“ p.376

rastrukturen oder kümmert sich um genehmigungsrechtliche Fragen und bauliche Minimalinterventionen, wie zum Beispiel die Verkehrssicherheit, etc.


Exkurs Zwischennutzung

Konflikt und Potenzial

Raum-Nachfrage

Raum-Angebot

Zwischennutzer (die unangepasste Szene)

Konflikt kulturelle Differenz

Eigentümer (erfolgs- und ververwertungsorientiert)

Vertreter öffentlicher Interessen

Staatliche Verwaltung unterstützt und moderiert

Vertreter öffentlicher Interessen

p.377

Leerstand



Exkurs — Typologie


Kreativquartier — Vertiefung

Exkurs — Typologie | Der vorliegende Text versucht,

­einen historischen Abriss des Diskurses über die Typologie aufzuzeigen. Es geht dabei nicht um eine theoretische Aufarbeitung des Begriffs „Typus“ oder „Typologie“, sondern um einen Überblick. Der Vergleich der Ver­ wendung des Begriffs „Typus“ wird zeigen, dass dieser über die Jahrhunderte sehr unterschiedlich verwendet wurde und im Zuge der vorliegenden Untersuchung der Kreativquartiere in seiner Verwendung erst definiert werden muss. In einer Rückbetrachtung vergangener Stilepochen beginnt diese Auflistung in der Zeit nach der Renaissance und streckt sich über den Klassizismus, den

p.380

­Historismus und die Moderne bis in die Gegenwart.


p.381

Exkurs Typologie


Kreativquartier — Vertiefung

Der Traum eines Architekten „Der architektonische Entwurf, ein stringentes Verfahren! Wer möchte nicht davon träumen!“ schreibt Werner Oechslin zu Beginn seines Aufsatzes „Theorie der Praxis – Eine weitere Begründung“. Im Zuge der Geschwindigkeit und Effizienz beim Bauen träumt man heimlich gerne von Kausalitäten, die das Handeln auf verlässliche Weise „berechenbar“ erscheinen lassen. 1 Mit der Gründung der Architekturakademien am Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts wurde bereits ein möglichst verbindliches Regelwerk zur Architektur-Lehre eingefordert. Der französische König wollte seine Akademie mit Hilfe eines Regelwerkes in der Vorreiterrolle der französischen Architektur sehen. 2 Hätte man „die“ Regel, könnte man das ganze Universum auf einfachste Weise darstellen, so Abbé Batteux in seinem Werk „Les Beaux Arts réduits à un même principe“ von 1746.

Eine sehr übersichtliche Abhandlung über den Begriff des Typus und der Typology formuliert Anthony Vidler 1977 in „The Third Typology“, welcher im forliegenden Text mit   eingebaut ist und gemeinsam mit Adrian Forty’s Buch „Words and Buildings – A Vocabulary   of Modern Architecture“ aus dem Jahr 2000 einen Überblick des Typologiebegriffes bereitstellen soll. Weiterhin bilden die Texte „Architektur als objektives System – A.-C. Quatremère de Quincy und J.-N.-L. Durand“ von Sokrates Georgiadis (1989), der Text „Theorie der Praxis – eine weitere Begründung“ von Werner Oechslin (2009) und die Dissertation „Gebäudetypologie als Basis für Qualifizierungssysteme“ von Matthias Castorph (1999) die Grundlage dieser Abhandlung.

Sucht man nach weiteren Modellen dieser Art, stößt man schnell auf das Alphabet. Hiermit lässt sich mit nur weniger Zeichen alles darstellen. Dieser knappe und stringente Zugriff auf die Welt sei immer wieder Traum des Architekten, so Oechslin. Projiziert man diese Ansätze in die heutige Zeit, kann man auch von Codes sprechen. Die Überführung in die digitale Welt mit dem kleinsten Zeichen-Spektrum von 0 und 1 zeigt die Möglichkeit eines beschreibenden Systems. Zugleich wird seine Lesbarkeit komplexer und betritt somit eine Ebene der Interpretationen und Missverständnisse.

Historischer Überblick Erste Versuche einer Typologiedefinition Legitimation von Architektur anhand der Typologie Bereits sehr früh beginnt das konfliktträchtige Thema der Typologisierung. Die Unterscheidung von Wirklichkeit und Abstraktion sowie methodenorientierter Fragestellung sind zwei beispielhafte Hilfsmittel zum Versuch der Einordnung, die sowohl bei Vignolas Proportionsordnungen in seiner Regola von 1562 3 als auch bei

Pestalozzis (1746-1827) „AnschauungsLehre der Maßverhältnisse“ 4 und vielen anderen Anwendung

findet. p.382

Die zwei gebräuchlichsten Schemen einer typologischen Klassifikation ist die Einordnung nach Gebrauch (Wohnung, Bürogebäude, Stallung,...) oder nach der Morphologie (lange Halle,

1 Vgl. Werner Oechslin, Vignola „L’Abbicci degli architetti“, in: Christoph Luitpold Frommel / Maurizio Ricci / Richard J. Tuttle, ­ Hg. Vignola e i Farnese, Atti del convegno internaz­ ionale Piacenza 18-20 aprile 2002, Milano, 2003, S. 375 ff. 2 Vgl. François Blondel, Cours d’Architecture enseigné dans l’Académie Royale d’Architecture, Première Parties, Paris, 1675, Préface, o.S.; aus: Oechslin, Theorie der Praxis, 2009 3 Vgl. Die Zitate aus der den meisten Ausgaben der “Regola” (1562) vorausgesetzten Vorrede “Al Lettori” (tav. II); aus: Oechslin, Theorie der Praxis, 2009 ad 4 Vgl. (J.H. Pestalozzi), ­ ABC der Anschauung, oder Anschauungs-Lehre der Maßverhältnisse, Erstes Heft, Zürich und Bern / Tübingen, 1803, Vorrede, S. (iii) ff.; aus: Oechslin, Theorie der Praxis, 2009


Aspekte werden zu einem späteren Zeitpunkt zunehmend be- Verfügung, der Mensch dacht.

verwandelt ihn zur Kunst.“

Eine grundsätzliche Klassifizierung anhand des Gebrauchs war seit der Antike üblich. Mitte des 18. Jahrhunderts stellte der französische Architekturtheoretiker und -Lehrer Jacques-

Exkurs Typologie

symmetrische geplante Gebäude, ...) 5 , aber auch funktionelle „Die Natur stellt den Typus zur

François Blondel (1705 – 1774) in „Cours d’Architecture“ von 1771 vierundsechzig Gebäudevarianten zusammen. Er nannte diese Klassifizierung aber nicht „Typen“ sondern „Genres“. Sein Hauptanliegen war lediglich die Aufzählung der Gebäudevarianten. Diese Art der typologischen Klassifikation bestätigt sich in Nikolaus Pevsner’s „A History of Building Types“ von 1976 in der die „Types“ anhand ihres Gebrauchs aufgelistet werden. 6 Niklaus Pevsner Werk ist also eine geschichtliche Abhandlung von siebzehn Baugattungen vom Nationaldenkmal bis zur Fabrikhalle. Eine solche Auflistung bietet jedoch keine theoretische Definition des Typus-Begriffes. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts kann man zwei Tendenzen zur Legitimierung des Architekturentwurfes erkennen: Zum einen die Rückführung auf einen natürlichen Ursprung, der sich in der Diskussion um die Urhütte konzentriert und versucht, in der Zeit der Aufklärung im 19. Jahrhundert prinzipielle Richtlinien auf wissenschaftlicher Ebene zu erlangen. Architektur also durch natürlich auftretende und erfahrbare Ergebnisse zurückzuführen. In der darauffolgenden Industriellen Revolution wurde zum anderen versucht, die Architektur in die Welt der Massenproduktion einzugliedern, also der Produktionstechnik zu unterwerfen. Anthony Vidler spricht hier von der „first typology“ und der „second typology“ deren Beginn er in Laugier’s Urhütte und Bentham’s Panopticon als Paradigma dieser beiden „Typologien“ sieht. Vidler zeigt, dass beide Typologien dem gleichen Grundsatz technologischen Produktion. Beide suchen stets nach einer Legitimation außerhalb ihrer Praxis. 7 Erstens: Architektur als Naturimitation In Ribart de Chamousts Werk „L’Ordre français trouvé dans la Nature“ von 1783 zieht der Begriff des Typus als symbolische Figur und ästhetisches Ideal in die Architekturtheorie ein. Eine Rückkehr zur Natur selbst wäre die Lösung und nicht die bloße Nachahmung der griechischen Vorbilder. Die Nachahmung der schönen Natur vollzieht sich ohne schöpferische Einbildungskraft, denn „die Natur stellt den Typus zur Verfügung,

5 Adrian Forty, Words and Buildings - A Vocabulary of Modern Architecture, Thames and Hudson, London 2000, ISBN 0-500-34172-9, Abschnitt: Type, S. 304 6

Ebd., S. 304

7 Anthony Vidler, The Third Typology, Oppositions 7 (Winter 1977); expanded in: Rational Architecture: The Reconstruction of the European City; Brussels: Edition des Archives d’architecture moderne, 1978, S. 288

p.383

folgen: der rationellen Wissenschaft und später der rationellen


Kreativquartier — Vertiefung

„Das Wort Typus bezieht sich nicht so sehr auf das Bild einer zu kopierenden oder vollständig nachzuahmenden

der Mensch verwandelt ihn zur Kunst.“ Jede Veränderung zeigt dennoch die ursprüngliche Idee. 8 Hierbei müssen die Begriffe „Typus“ und „Modell“ unterschieden werden. Eine meisterhafte Definition gibt der Archi-

Sache, als auf die Idee, die

tekturtheoretiker Quatremère de Quincy bereits Ende des 18

dem Modell als Regel dient.

Jahrhunderts: „Das Wort Typus bezieht sich nicht so sehr auf

Das künstlerische Modell

das Bild einer zu kopierenden oder vollständig nachzuahmen-

dagegen ist ein Objekt, das

den Sache, als auf die Idee, die dem Modell als Regel dient.

so, wie es ist, wiedergegeben

Das künstlerische Modell dagegen ist ein Objekt, das so, wie

werden muss. Im Gegensatz

es ist, wiedergegeben werden muss. Im Gegensatz dazu ist der

dazu ist der Typus etwas,

Typus etwas, aufgrund dessen Werke konzipiert werden kön-

aufgrund dessen Werke konzi-

nen, die einander überhaupt nicht ähnlich sehen. Beim Modell

piert werden können, die

ist alles präzise und vorgegeben, beim Typus bleibt alles mehr

einander überhaupt nicht

oder weniger unbestimmt.“ 9 Quatremère de Quincy beginnt

ähnlich sehen. Beim Modell ist

seinen Objektivierungsversuch unter der Annahme, dass alle

alles präzise und vorgegeben,

notwendigen künstlerischen Mittel auf das Niveau von invariab-

beim Typus bleibt alles mehr

len Regeln gebracht werden könnten. seine Absicht war es, die

oder weniger unbestimmt.“

Architektur in feste Begriffe und Kategorien zu bringen und eine systematische Erfassung mit Hilfe eines Beschreibungssystem vorzunehmen. Damit soll ein normativ als auch wissenschaftlich nachvollziehbares in sich geschlossenes System dargestellt werden.

7 Anthony Vidler. The Third Typology, Oppositions 7 (Winter 1977); expanded in: Rational Architecture: The Reconstruction of the European City; Brussels: Edition des Archives d’architecture moderne, 1978, Seite 288 9 Aldo Rossi, Das Konzept des Typus, in: Focus: Zur Rolle der Typologie in der Architektur, Positionen der italienischen Architekturdiskussion zum Typusbegriff, Arch+ 37

p.384

10 Architektur als objektives System - A.-C. Quatremère de Quincy und J.-N.-L. Durand, Sokrates Georgiadis, an der ETH-Zürich, Abteilung für Architektur Kunst- und Architekturgeschichte, Prof. Dr. Werner Oechslin, 2. Jahreskurs WS 1989/90 11 Quatremère de Quincy: Dictionnaire historique d’architecture, Paris 1832; aus: Architektur als objektives System, Sokrates Georgiadis, ETH-Zürich, 2. Jahreskurs WS 1989/90

Damit einher gingen die Probleme der Übermittlung. Die Sprache war das Hilfsmittel der Beschreibung und die genau analysierte und beschriebene Sache somit das wesentliche Kriterium, an dem sich ihr Wert, beziehungsweise ihre Korrektheit, messen ließe. 10 Zur Beschreibung mit Hilfe von Sprache und anderen Hilfsmitteln bedürfen Bauwerke und andere imitative Kunstwerke also einer Reduktion. Es erfolgt eine Ausweitung des Imitationsbegriffes, der die sichtbare Natur zu überbieten hätte: „Unsere Theorie erkennt in den Werken der Nachahmung zwei hinsichtlich der Qualität unterschiedliche Arten und unterteilt diese demgemäß in zwei Klassen. Die Werke der ersten Klasse, [...] haben als Vorbild das individuelle Werk der Natur. [...] Das ist die Nachahmung der realen Welt. Die Werke der zweiten Klasse sind das besondere Produkt der geistigen Fähigkeiten. [...] Das ist die Nachahmung in der Welt der Ideen. Das ist die ideale Nachahmung.“ 11 Spätestens hier beginnt man, daran zu zweifeln, dass die reine Methode eines architektonischen Regelwerks anhand geometrischer Formen und deren Vermittler in Zeichnung und Bild ausreichen. Womöglich ist die Realität die wirkliche Herausforderung: „Was der Methode zuträglich erscheint, lässt uns hinsichtlich der Anwendung auf die Wirklichkeit perplex. Allein die


zogen. Die Regel reicht nicht aus, beschreibt im besten Fall Vorgehen und Methode, aber lässt das Handeln und Tun in seiner umfassenden, gesellschaftlichen Verbindlichkeit vorerst außen vor.“ 12 Es sind also Aufgaben an der Gesellschaft, die den Architek-

Exkurs Typologie

Wirklichkeit bildet das Ganze und darauf ist das Handeln be-

ten leiten und leiten müssen, formuliert David Gilly in seinem

13 Vgl. David Gilly , Handbuch der Land-Bau-Kunst vorzüglich in Rücksicht auf die Construction der Wohn- und WirtschaftsGebäude für angehende CameralBaumeister und Oeconomen …, I, Berlin, 1797; aus: Oechslin, Theorie der Praxis, 2009 14 Vgl. Werner Oechslin, Eine ‚praktische Wissenschaft’ der Architektur als Antwort auf die veränderte, ‚selbstdenkende’ Welt in Preussen (um 1800), in: Michael Bollé / Thomas Föhl (Hg.), Von Berlin nach Weimar, Beiträge zu Ehren von Rolf Bothe, Berlin, 2003, S. 22 ff. 15 Jean-Nicolas-Louis Durand und die Anfänge einer funktionalistischen Architektutheorie, Antonio Hernandez, aus: O.M. Ungers (Hrsg.) Architekturtheorie - Internationaler Kongress an der TU Berlin. o.J. (1968), S. 133-139Bothe, Berlin, 2003, S. 22 ff. 16 Adrian Forty, Words and Buildings - A Vocabulary of Modern Architecture, Thames and Hudson, London 2000, ISBN 0-500-34172-9, Abschnitt: Type, Seite 304 17 Adrian Forty, Words and Buildings - A Vocabulary of Modern Architecture, Thames and Hudson, London 2000, ISBN 0-500-34172-9, Abschnitt: Type, Seite 306 18

(18-22) Ebd., Seite 307

Handbuch der Land-Bau-Kunst 1797  13 , dessen Zielsetzung von Schinkel fortgeführt wird. Schinkel geht davon aus, dass die „Zweckmäßigkeit das Grundprinzip allen Bauens“  14 ist und formuliert seine Grundsätze zum „Ideal der Zweckmäßigkeit“. Wir befinden uns nun am Beginn der morphologischen Klassifikation: Jean-Nicolas-Louis Durand (1760  –  1834) kann als erster Rationalist seiner Zeit beschrieben werden. Sein Hauptwerk ist das Lehrbuch „Précis des lecons d’architecture données à l’Ecole Polytechnique“ von 1802/05 in dem er unter anderem neuartige Grundrisse einfachster geometrischer Formen aufzeigt. 15 Für Durand steht die Befriedigung (materieller) Notdurft im Vordergrund. Die „Précis“ bietet einen Katalog elementarer Baulehre, eine Grammatik der architektonischen Elemente, ohne den Gebrauch in Betracht zu ziehen. 16 Das ist nicht mehr, als ein Baukatalog, der den Weg zu einer ersten Baurationalisierung bereitet und die Leitbegriffe der Zweckmäßigkeit und der Wirtschaftlichkeit einführt. Er zeigt erst im zweiten Band, wie man diesen Baukatalog mit der Programmatik verbindet. Obwohl es sein Ziel war, dass Architekten sich von starren Konventionen antiker Vorbilder entfernen sollten, erreichte er genau das Gegenteil. Seine Ansätze haben bereits früh im schematischen und rasch gebauten Messegebäude der ersten Weltausstellung Anwendung gefunden und können als Grundlage der Moderne gesehen werden. Quatremère de Quincy’s architektonische Naturimitation war für Gottfried Semper nur teilweise korrekt: Er erkennt, dass Architektur zwar von der Natur inspiriert sein kann, aber dennoch unabhängig von der Natur ist. Sempers Theorie der architektonischen „Typen“ basiert auf der wissenschaftlichen Erkenntnis der Tier und Pflanzen-Morphologie. Semper wollte diese wissenschaftliche Erkenntnis für die Architektur nachvollziehbar darstellen. 17 „Works of industrial art are like those of nature, connected together by some few fundamental ideas, which have their simplest expression in types.“ 18

p.385

12 Theorie der Praxis  –  eine weitere Begründung, Werner Oechslin, aus: Bringing The World Into Culture. Comperative Methodologies in Architecture, Art, Design and Science. Liber Amicorum offered to Richard Foqué. Hg. von Piet Lombaerde. University Press Antwerp, Antwerpen 2009, S.133-143.


Kreativquartier — Vertiefung

Zweitens: Architektur als Mittel gegen die Massenkultur In Zeiten der industriellen Revolution prägt der Begriff

„Types (Typisierung), to be understood as the result of

„Standardisierung“ viele Teile des alltäglichen Lebens. a beneficial concentration, Durch die industrielle Produktion von Massengütern im Sinne

will alone make possible the

Henry Fords, werden alle Bereiche der Produktion vereinheit- development of a universally licht und zur Standardisierung gezwungen.

valid, unfailing good taste.“

Auch die Architektur bleibt von dieser Bewegung nicht verschont: Die Standardisierung im architektonischen Bereich wird durch den Begriff der „Typisierung“ geprägt, der vom „The remarkable new machiDeutschen Werkbund 1911 in einer Debatte über den stilisti- nes subject to the laws of schen Individualismus zu Zeiten des Jugendstils eingeführt

functional precision were

wird. 19

thus paradigms of efficiency.“

„Types (Typisierung), to be understood as the result of a beneficial concentration, will alone make possible the development of a universally valid, unfailing good taste.“ 20 Die „Typisierung“ ist ein Versuch, die chaotische Welt des Massenkonsums, welcher durch Mode, Individualismus und Anomie geprägt ist, zu ordnen und die Unordnung und fehlende Disziplin aus der Architektur zu verbannen. 21 Die von Le Corbusier entwickelten architektonischen „Typen“ verfolgen denselben Zweck: die chaotische Unordnung der bürgerlichen Individualismus in eine rationelle und geordnete Existenz zu überführen. In diesem Kontext wird der „Typus“ als Schutz der Zivilisation vor dem Zerfall kultureller Werte durch den neu eingebrachten Kapitalismus und seinem Vermittler Mode, verstanden. 22 Diese Art der Architekturproduktion kann der simplen Frage nach der Technik unterstellt werden. „The remarkable new machines subject to the laws of functional precision were thus

19-22 Ebd., Seite 307

paradigms of efficiency.“ 23

23 Anthony Vidler, The Third Typology, Oppositions 7 (Winter 1977); expanded in: Rational Architecture: The Reconstruction of the European City; Brussels: Edition des Archives d’architecture moderne, 1978, Seite 290

Drittens: Architektur als Mittel zur Erlangung der Kontinuität Nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Diskussion um den Begriff des „Typus“ fortgesetzt. Der Diskurs startet in Italien mit Debatten über die „continuita“ und erweitert sich später im englisch sprachigen Raum unter dem Begriff „meaning“. 24 Die Inhalte der beiden Begriffe werden im folgenden getrennt erläutert. Alle drei Begriffe aus der Diskussion um die „continuita“  –  Geschichte, Kontext und Typus  –  werden zu Schlüsselbegriffen der Architekturdebatten in den 1970er und 1980er Jahp.386

ren. Der „Typus“ wird in diesem Zusammenhang von Vidler als „the city as the site for urban typology“ 25 verstanden. Die Typologie ist also ein Mittel zur Beschreibung einer Beziehung

24 Adrian Forty, Words and Buildings - A Vocabulary of Modern Architecture, Thames and Hudson, London 2000, ISBN 0-500-34172-9, Abschnitt: Type, Seite 307 25 Adrian Forty, Words and Buildings - A Vocabulary of Modern Architecture, Thames and Hudson, London 2000, ISBN 0-500-34172-9, Abschnitt: Type, Seite 308


fe eines einzigen Gebäudes beschrieben werden, da das Gebäu- also gemäß den Bedürfnissen de den historischen, gesellschaftlichen und städtebaulichen

und entsprechend dem   Stre-

Werdegang seines Ortes repräsentiert. Dieser Diskurs um den

ben nach Schönheit; einzig-

Begriff des „Typus“ wird von Anthony Vidler als „the third ty- artig, jedoch sehr variiert in pologie“ bezeichnet. In der weiteren Diskussion bildeten sich

unterschiedlichen Gesell-

zwei Lager heraus:

schaften ist der Typus an die

Exkurs Typologie

zwischen Gebäude und Stadt. Eine Stadt kann demnach mit Hil- „Der Typus entwickelt sich

Form und an die Lebensweise 1. Typologie als einfache Methode der Stadtanalyse;

gebunden.“

2. Typologie als eine generelle Theorie für die Architektur, zu deren Vertreter auch Aldo Rossi gehört. Beide waren sich jedoch einig, dass der Wert der Typologie in seiner Bezie- „Kein Typus ist identisch mit hung zwischen der Architektur und der Stadt liegt. 26

der Form, auch wenn alle architektonischen Formen auf

Aldo Rossis Position in der Diskussion um den Begriff des Typus in der Mitte des 20. Jahrhunderts findet sich in „der

Typen zurückgeführt werden können.“

Idee der Architektur an sich“ wieder. 27 Der Typus entwickelt sich anhand der Situation und der Umgebung, also dem Kontext. Seit jeher hat der Mensch sich sein Umfeld zu Eigen gemacht, es kultiviert und transformiert. „Der Typus entwickelt sich also gemäß den Bedürfnissen und entsprechend dem Streben nach Schönheit; einzigartig, jedoch sehr variiert in unterschiedlichen Gesellschaften ist der Typus an die Form und an die Lebensweise gebunden.“ 28 Wenn also bei allen menschlichen Erfindungen selbst nach Veränderungen immer das Grundprinzip zu erkennen ist, so wird die Typologie zum „analytischen Moment“ der Architektur. „Kein Typus ist identisch mit der Form, auch wenn alle architektonischen Formen auf Typen zurückgeführt werden können.“ (Aldo Rossi, Das Konzept des Typus) 29 „Schließlich können wir sagen, dass der Typus die Idee der Architektur an sich ist; das, was ihrem Wesen am nächsten kommt.“ (Aldo Rossi, Das Konzept des Typus) 29 Im Streben nach „meaning“ in den 1960er Jahren wurde die Architektur der Moderne angezweifelt. Die Abkehr der Arzu bedeutungslosen und einheitlichen Räumen und wurde im Diskurs als „the crisis of meaning“ bekannt. Aldo Rossi arbeitet zwar auf ähnliche Weise, unterstellt seine Werke aber nicht direkt dem „meaning“-Begriff. So war es Vittorio Gregotti mit seinem Buch „Il Territorio dell’Architettura“ aus dem Jahr 1966, der direkt auf die Bedeutung und den Sinn in der Archi-

26

Ebd., Seite 308

27 Aldo Rossi, Das Konzept des Typus, in: Focus: Zur Rolle der Typologie in der Architektur, Positionen der italienischen Architekturdiskussion zum Typusbegriff, Arch+ 37, Aachen 1978

tektur anspielt. Gregotti vermutet, dass die semantische Krise

28

Ebd.

der Modernen Architektur zumindest teilweise an der Typologie

29

Ebd.

p.387

chitektur von den Insignien der gesellschaftlichen Klasse führte


Kreativquartier — Vertiefung

„The only ‚pure’ theory of

liegt. 30 Als Hilfsmittel zur Rückgewinnung der Bedeutung in

types, that developed by

der Architektur, sieht er die Aufwertung des „Typus“ und der

Gottfried Semper, architects

Rekonfiguration des „Kontext“. Diese Sichtweise auf die „Typo-

have found remarkably

logie“ bildet die Grundlage für die Debatte in den 1960er Jah-

difficult to put to any practi-

ren unter dem Begriff „meaning“.

cal use; on the other hand,

Nach den Tumulten des zweiten Weltkrieges entfernten sich

set against structural ratio-

Künstler, Architekten und andere Berufsgruppen zunehmend

nalism, mass consumption,

weiter vom klassischen und modernen Typologiemodellen und

functionalism, or loss of

versuchten dieses im Zeitgeist des Post-Modernismus in Frage

meaning, ‘type’ and ‘typolo-

zu stellen. „The only ‚pure’ theory of types, that developed by

gy’ become, as Micha Bandini

Gottfried Semper, architects have found remarkably difficult

says, ‘almost magical words

to put to any practical use; on the other hand, set against

which by their mere utteran-

structural rationalism, mass consumption, functionalism, or

ce yield hidden meanings’.“

loss of meaning, ‘type’ and ‘typology’ become, as Micha Bandini says, ‘almost magical words which by their mere utteran-

„Die Erscheinungsfähigkeit der Zwecke ist verlorengegangen.

ce yield hidden meanings’.“ 31 Darunter zählen auch zahlreiche Bewegungen wie z.B. parti-

Die Zwecke sind so über-

zipative Ansätze von Giancarlo di Carlo (Team 10), das Projekt

mächtig, dass sie die Hilfe

Fun Palace von Cedric Price und Andere. Wenige Jahre später

der Erscheinung nicht mehr

kann man von einer totalen Abkehr der alt hergebrachten Typo-

brauchen!“

logiedefinitionen sprechen, die sich in der Herangehensweise des Dekonstruktivismus wiederspiegelt. Ein Zitat von Hoffmann-Axthelm aus seinem Beitrag „Der Tod der Architektur“ im Arch+ Heft 37 aus dem Jahr 1978 im Bezug auf die Nachkriegsmoderne bringt es auf den Punkt: „Die Erscheinungsfähigkeit der Zwecke ist verlorengegangen. Die Zwecke sind so übermächtig, dass sie die Hilfe der Erscheinung nicht mehr brauchen!“ 32 Nach Markus Miessen ist der Wandel des Architekten, der sich mit dem Image (z.B. der Gesamterscheinung, der Repräsentative Architektur, der Säulenordnung,...) beschäftigt, hin zum Architekten, der sich mit einer spezifischen Praxis (z.B.

30 Adrian Forty, Words and Buildings - A Vocabulary of Modern Architecture, Thames and Hudson, London 2000, ISBN 0-500-34172-9, Abschnitt: Type, Seite 309 31

Ebd., Seite 311

p.388

32 Hoffmann-Axthelm, Der Tod der Architektur, in: Arch+ 37, Aachen 1978 33 Markus Miessen, Alptraum Partizipation, Merve Verlag Berlin, 2012, S. 66 34

Ebd., S. 65

Methode der Partizipation, Selbstorganisation) beschäftigt, grob in die Zeit der Eröffnung von Frank Gehrys Guggenheim Museum in Bilbao einzuordnen  33 und definiert den Endpunkt ursprünglicher Typologie-Ansätze. Er kommt zu der Erkenntnis, dass das stark romantisierte Ideal des Architekten infolge aktueller Gegebenheiten nicht mehr gültig ist. „Heute ist man mehr denn je mit einer Situation konfrontiert, in der es nicht genügt, die ideologischen Vitruv’schen Architekturtheorien – Zweckmäßigkeit (utilitas), Schönheit (venustas) und Stabilität (firmitas) – als Grundlage des eigenen Handels zu verstehen.“ 34­ So lehnen auch seine Zeitgenossen die Typologie der Selbstreferenz ab, denn diese Vorgehensweise entzieht sich der


mit einer Situation konfron-

kulturellen Gegebenheit und dem Kontext der gebauten Umgebung. 35

tiert, in der es nicht genügt, die ideologischen Vitruv’schen

Klassifizieren, Ordnen und Gliedern in der Architektur

Architekturtheorien – Zweck-

Die Architektur kann im Bezug auf Kreativquartiere auf zwei

mäßigkeit (utilitas), Schönheit

Ebenen untersucht werden. Zum einen anhand eines hierar-

(venustas) und Stabilität

chiebildenden und ästhetischen Urteils ihrer Qualität („besser

(firmitas) – als Grundlage

als“,„’schöner als“) oder anhand von Fakten und ihrer objekti-

des eigenen Handels zu

ven Beschaffenheit. Im ersteren Fall ist jedoch die Messbarkeit

verstehen.“

mit ihrem subjektiven Hintergrund fragwürdig und driftet in

Exkurs Typologie

„Heute ist man mehr denn je

eine willkürliche Wertung ab. 36 Die im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen Typologie-Ansätze beschränken sich oft nur auf wenige Strukturmerkmale. Selbst die Reduktion auf eine Beschreibung kann hinderlich sein, da die Auswahl bereits subjektiv vorgenommen wird und das Gesamtsystem einer hierarchischen Gliederung unterliegt. (z.B. Quatremère de Quincy nimmt die griechische Antike als Ausgangspunkt, Durand begibt sich auf eine rein morphologische Klassifikation, usw.) Weiterhin gibt Nikolaus Pevsner einen Einblick in das Wesen der Gebäudetypen und stell nur eine Zusammenstellung unterschiedlicher Baugattungen im Spannungsfeld zwischen Stilgeschichte und Sozialgeschichte vor. Er strukturiert diese nach funktionalen Gesichtspunkten auf drei Ebene: Der Funktion, dem Stil und dem Material. Man könnte behaupten, dass Architekten Gebautes in morphologische Kriterien gliedern und Bauingenieure in konstruktive und ökonomische Kriterien (Konstruktion, Material, Kosten). Das Vergleichen und Urteilen in der Architektur wird durch derartige Unterschiede zusätzlich schwierig, wenn nicht sogar unmöglich. „Die Beschreibung ist mit dem Gegenstand der Beschreibung nicht identisch“ 37 und zeigt sich beispielhaft in den Paaren Zeichen und Bezeichnetem oder Plan und Ausführung, auf die in der Architektur zurückgegriffen wird. Man

36 Matthias Castorph, Gebäudetypologie als Basis für Qualifizierungssysteme, Diss. D386, Fachbereich Architektur/ Raum- und Umweltplanung/ Bauingenieurwesen der Universität Kaiserslautern, 1999, S.47-51 36

Ebd., S. 40-46

stellt sich hier die Frage, wie das Phänomen der ästhetischen Differenz in der Qualifizierung von Gebäuden kontrolliert und damit eine allgemeine Methode entwickelt werden kann, mit der sich Gebäude grundsätzlich einordnen lassen? Erkenntnis Eine Einordnung anhand der Gebäude selbst scheint praktisch unmöglich. „Gebäude, die einer Veränderung unterliegen oder unterlagen, können nur zum jeweiligen Untersuchungszeitpunkt ausgewertet und systematisiert werden, was

p.389

35 Markus Miessen, Alptraum Partizipation, Merve Verlag Berlin, 2012, S. 66


Kreativquartier — Vertiefung

der Suche nach verallgemeinerbarer Einordnung widerspricht, da ihr Vorhandensein zum Untersuchungszeitpunkt nicht gesichert ist.“ 38 Die grundsätzliche Unterscheidung, wie man ein Gebäude klassifiziert oder über es urteilt, kann verbal, schriftlich, grafisch usw. übermittelt werden. Eine Vermengung der Aggregatzustände (Objekt, Plan, Beschreibung) eines Gebäudes kann vermieden werden, wenn nur eines der Aggregatzustände die Grundlage eines Klassifizierungssystems ist. Die Grenze der Aggregatzustände zeigt die Differenz. „Diese Grenze verschwindet niemals, auch wenn z.B. ein Plan die perfekte Beschreibung des Gebäudes ist. Mit diesem Plan kann zwar im Idealfall wieder ein Objekt entstehen, das der Beschreibung exakt entspricht, aber das Objekt, dessen Eigenschaften beschrieben wurden, verdoppelt sich nicht selbst, sondern es entsteht nur ein Objekt als gleiche Beschreibung.“ 39 Um nun eine einheitliche Klassifizierung vorzunehmen, müssen alle Objekte vor der Untersuchung in gleichartiger verbaler, schriftlicher, grafischer, etc. Form vorliegen. Dies scheint hinsichtlich der Fülle an Information kaum möglich zu sein. Aufgrund dessen kann eine Klassifizierung nie den Gesamtumfang abdecken

p.390

und nur von relativ kurzer Dauer sein.


rung unterliegen oder unterlagen, können nur zum jeweiligen Untersuchungszeitpunkt ausgewertet und systematisiert werden, was

Exkurs Typologie

„Gebäude, die einer Verände-

der Suche nach verallgemeinerbarer Einordnung widerspricht, da ihr Vorhandensein zum Untersuchungszeitpunkt nicht gesichert ist.“

„Diese Grenze verschwindet niemals, auch wenn z.B. ein Plan die perfekte Beschreibung des Gebäudes ist. Mit diesem Plan kann zwar im Idealfall wieder ein Objekt entstehen, das der Beschreibung exakt entspricht, aber das Objekt, dessen Eigenschaften beschrieben wurden, verdoppelt sich nicht selbst, sondern es entsteht nur ein Objekt als gleiche Beschrei-

38 Matthias Castorph, Gebäudetypologie als Basis für Qualifizierungssysteme, Diss. D386, Fachbereich Architektur/ Raum- und Umweltplanung/ Bauingenieurwesen der Universität Kaiserslautern, 1999, S.47-51 39

Ebd., S. 36-40

p.391

bung.“



Schlussanmerkung — Verfolgt man den aktuellen Diskurs zum Thema Kreativquartier, so stellt man eine Unklarheit bei der Verwendung des Begriffs fest.


Kreativquartier — Vertiefung

Weiche/fluktuierende Begriffe Spricht man in Bezug auf Kreativquartiere von einem Trend, so kann man dem Wortsinn entnehmen, dass dieser bereits eine statistisch erfassbare Entwicklung aufweist. Besonders nach Veröffentlichung der Texte von Charles Landry und Richard Florida’s gesellschaftlich eingefassten Beschreibung der „Kreativen Klasse“, kann dieser Trend beobachtet werden. Wie wir festgestellt haben, finden sich bereits im 18. Jahrhundert Ansammlungen von kreativen Vereinigungen, aber die Einordnung in die „Kreative Klasse“ geschieht erst deutlich in den letzten 10 – 20 Jahren. Zu beobachten ist außerdem, dass dieser „Trend“ nicht ephemer zu sein scheint, sondern vielmehr im Zeitraum der Untersuchung immer stärker vorangetrieben wird. Man könnte es dem aktuellen Zeitgeist zusprechen, städtischen Leerstand unter ökonomischen, politischen, touristischen oder soziologischen Gesichtspunkten aufzuwerten. Wenn wir von einer „modischen Erscheinung“ sprechen, ist diese primär dem Geschmack der Zeit zuzuordnen. Zwar lässt sich ein Kreativquartier unter bestimmten Randbedingungen im städtischen Kontext als Mode klassifizieren, allerdings werden wichtige Teilaspekte wie die städtebauliche, programmatische und gebäudestrukturelle Einbindung dann aber nebensächlich. Eine Mode entspricht dem Interesse, dem Gefallen oder Verhalten subjektiver Werterscheinungen. Wichtig hierbei ist, dass der Begriff der „Mode“ ein zeitlich begrenztes Phänomen ist. Wenn sich der Zeitgeschmack ändert, würde das Kreativquartier seinen Bezug verlieren und in die Wertlosigkeit einer alten Klamotte abdriften. Eine Tendenz wäre eine Art Oberbegriff für eine bestimmte Richtung oder Strömung innerhalb einer gesellschaftlichen und politischen Entwicklung. Vom Kreativquartier als Tendenz können wir jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht sprechen, da keine festgesetzte Zielrichtung in der Entwicklung von Kreativquartieren zu finden ist. Konkrete Begriffe In den Medien und in aktueller Literatur wird oft vom Phänomen Kreativquartier gesprochen. Einem Phänomen liegt keine geplante Struktur zu Grunde, also kein faktisch messbarer Prozess. Es handelt sich eher um beobachtbare Entwicklungen

p.394

oder Erscheinungen, deren Motivation von innen heraus entsteht. Wie wir feststellen konnten, sind wir in dieser Entwicklung bereits sehr weit fortgeschritten. Zum Zeitpunkt unserer


und Randbedingungen für das Entstehen von Kreativquartieren zuordnen. Die Infrastruktur als wichtiger Faktor ist stark mit der Platzierung im Stadtraum verankert, ob ein Kreativquartier funktioniert oder nicht. Vom Phänomen Kreativquartier kann man also sprechen, sofern dieses sich selbstständig und ohne

Schlussanmerkungen

Untersuchung lassen sich bereits spezifische Anforderungen

Einfluss von außen entwickelt hat. Mit dem Begriff Kreativquartier wird seit einiger Zeit sehr inflationär umgegangen. Jede kleinste Ansammlung kreativ Schaffender wird als Kreativquartier bezeichnet. Das Wort „kreativ“ ist eine art Chiffre geworden und bestimmt die Im­ ­ mobilienwirtschaft wie nie zuvor. Leerstehende Gebäude ­erfahren mitunter eine enorme Wertsteigerung, wenn sie von Kreativen zwischengenutzt werden. Und auch ganze Neubaugebiete ­ lassen sich unter dem Überbegriff „Kreativquartier“ deutlich ­lukrativer vermarkten. Aufgrund seiner vermehrt positiven Resonanz in der Entwicklung von städtischem Mehrwert und kulturellen Vorzügen ist der Begriff zum Label mutiert. Bei dieser Entwicklung können wir von der Methode Kreativquartier sprechen. Als zielgerichtete Vorgehensweise zeichnet sie ein Regelsystem auf, in dem Gebäude und Kontext bestimmte Voraussetzungen erfüllen müssen. Die Methode wirkt von außen ein und instrumentalisiert im schlechtesten Fall den Nutzer mit seinem Image und seinen Fähigkeiten. Er avanciert zum Lückenbüßer und Gentrifizierungs-Ermöglicher. Als externe Einwirkung auf ein Gefüge kann auch der Begriff der Praktik Verwendung finden. Wie man unschwer erkennen kann, ist dies eine zielgerichtete Vorgehensweise von Seiten der Investoren, Immobilienentwickler und Stadtplaner. Die Methode oder Praktik wird zum Produkt und letztendlich durch ein Label in Form eines großen Eingangsschildes oder eines imposanten ­Internetauftrittes angepriesen (siehe Beispiele). Entwicklung Kreativquartiere erfahren zunehmendes Interesse seitens der Städte, die sie systematisch in ihre touristischen, ökonomischen und politischen Zielvorstellungen einbinden. In ­ Deutschland haben nicht nur Berlin und Hamburg das Potenzial der Kreativen erkannt. In den letzten Jahren beginnen die Städte regelrecht damit, sich gegenseitig junges Kreativpotential bereits damit begonnen, Kreativ- und/oder Kulturwirtschafts­ berichte zu erstellen.

p.395

abzuwerben. Jede größere städtische Agglomeration hat


Kreativquartier — Vertiefung

Weitere Untersuchungen bemühen sich, die Kreativen aufzuspüren und einzuordnen. So entstand beispielsweise unter der Wirtschaftsförderung der Stadt Stuttgart in der Abteilung Leerstands- und Zwischennutzungsmanagement eine Broschüre, die 35 Kreativquartiere im Raum Stuttgart lokalisiert. Sie ist lediglich als quantitative Erfassung zu lesen. Eine Definition, ­ um was es sich bei einem Kreativquartier handelt, gibt es ­jedoch nicht. Bei einer stark-offensichtlichen Instrumentalisierung, so die Vermutung, hat die Methode Kreativquartier ihr eigentliches ­ An­ liegen zur Veränderung der post-industriellen Gesellschaft verloren und wird schon bald als Instrumentarium – im Sinne des Top-Down-Prinzips  –  beispielsweise von Stadtämtern und Konzernen angesehen. Sie verliert ihr Alleinstellungsmerkmal und nicht zuletzt die Akzeptanz der Kreativen. Fazit Ein Kreativquartier kann (noch) unterschiedlich aufgefasst werden, geprägt durch seine Entwicklung und den Grad der Institutionalisierung. Keines der Kreativquartiere bleibt verschont davon, zwischen den Aggregatzuständen des Phänomens und der Methode zu wechseln, wenn das Potenzial einmal entdeckt wurde. Daher möchten wir in unserer Untersuchung eher von einem Prinzip Kreativquartier sprechen, da es zum einen eine selbstorganisierte Entwicklung (Phänomen), als auch eine (voraus-) geplante Entwicklung beinhalten kann (Praktik, Methode). Eine Grundregel, wie ein Kreativquartier sein kann, beinhaltet also eine programmatische Definition (siehe Abschnitt Typus) und eine analytische Erfassung des Kontextes (siehe Abschnitt Topos). Diese beiden Grundregeln dienen zugleich als Analysewerkzeug, wie ein KQ einzuordnen ist. Wir bewegen uns also auf der Ebene der Idee oder des Schemas und weniger auf dem Gebiet einer konkreten Baumaßnahme bzw. einer gebauten Typologie. „Kleidungsstücke sind ebenso wie Immobilien von einer bestimmten Ästhetik, dem Zeitgeist und ihrer Funktion geprägt. Architektur und Mode sind Ausdrucks- und Kommunikationsmittel, sie schaffen und vermitteln Identität und haben einen Gebrauchs- und Tauschwert. Oder unterliegt einem besonders kurzweiligen Zyklus: Ihre Akzeptanz ist in der ersten Phase

p.396

TREND noch gering, in der zweiten Phase MODE erreicht sie ihren Höhepunkt, in der dritten Phase OBSOLESZENZ sinkt die Nachfrage und gleichzeitig steigt die Chance, dass ein getra-


Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in dieser Publika- wie Immobilien von einer tion die maskuline Schreibform verwendet. Wir schließen darin

bestimmten Ästhetik, dem

jedoch ausdrücklich alle Geschlechter ein und möchten damit

Zeitgeist und ihrer Funktion

niemanden diskriminieren.

geprägt. Architektur und Mode sind Ausdrucks-

Schlussanmerkungen

„Kleidungsstücke sind ebenso

und Kommunikationsmittel, sie schaffen und vermitteln Identität und haben einen Gebrauchs- und Tauschwert. Oder unterliegt einem besonders kurzweiligen Zyklus: Ihre Akzeptanz ist in der ersten Phase TREND noch gering, in der zweiten Phase MODE erreicht sie ihren Höhepunkt, in der dritten Phase OBSOLESZENZ sinkt die Nachfrage und gleichzeitig steigt die Chance, dass ein getragenes Kleidungsstück seinen Besitzer wechselt.”

Quellen der einzelnen Begriffe ist immer: www.duden.de 1 aus: Second Hand Spaces - über das Recyceln von Orten im städtischen Wandel, Michael Ziehl, Sarah Oßwald, Oliver Hasemann, Daniel Schnier; Jovis Verlag 2012, S. 13/14 ISBN 978-3868591552

p.397

genes Kleidungsstück seinen Besitzer wechselt.” 1



Danksagungen — Von ganzem Herzen

Partizipation | Eine zeitgenössische Methode im Diskurs Einführung, p. 018 – 020 | Partizipation in der Architektur, p. 021 – 029 |  Team 10, p. 030 – 038 | Utopie und Partizipation, p. 039 – 045 | Grenzen der Partizipation, p. 045 – 078 | Partizipationsromantik, p. 079 – 091 | Stadtplanung und Demokratie, p. 092 – 095 | Beispiel – NDSM Werft, p. 096 – 100 |  Die Rolle des Architekten, p. 101 – 113 | Schlussanmerkung, p. 114 – 127 |


Paritizipation

Danksagungen Viele Personen haben dabei geholfen, dieses Buch zu realisieren. Im speziellen wollen wir den nachfolgenden Personen für ihre Unterstützung, ihre konstruktive Kritik sowie die inspirierenden Diskussionen danken. Die Erstellung dieses Buches war nur durch die Zusammenarbeit vieler, auf ganz unterschiedliche Art und Weise beteiligter, Akteure möglich. Besonderer Dank gilt der Klasse für Entwerfen Architektur/ Öffentliche Bauten und Räume. Prof. Andreas Quednau und­­ AM Kai Beck haben unser Projekt über 4 Semester begleitet und uns in jeder Phase unterstützt. Weiterhin möchten wir Prof. Dr. Sokratis Georgiadis, Professor für Architektur- und Designgeschichte, Architekturtheorie, und seinen Assistentinnen für die Unterstützung mit Literatur, für wichtige Hinweise, sowie die inhaltliche Beratung und Unterstützung im theoretischen Textteil danken. Weiterhin möchten wir den studentischen Mitarbeitern der Bibliothek der ABK Stuttgart danken, insbesondere der Leiterin Mayumi Pfundtner, für die Möglichkeit einen projektbezogenen Handapparat über mehrere Semester einzurichten und die Ergänzung von Literatur im Bibliotheksbestand zu ermöglichen. Außerdem danken wir der Bibliothek der Universität Stuttgart für die Bereitstellung älterer Texte und Karin Schulte für die Korrektur unserer Schriftstücke. Nicht zuletzt möchten wir anmerken, dass vor allem die familiäre Atmosphäre und die Möglichkeit interdisziplinären Arbeitens an der ABK Stuttgart sehr zum Ergebnis beigetragen haben. Wagenhallen Wir danken allen Akteuren der Wagenhallen, die immer für konstruktive Gespräche bereit standen, uns bei diesem Vorhaben zu unterstützen. Insbesondere Lukas Lendzinski, Peter Weigand, David Bauer und Markus Niessen soll hier gedankt werden. Peter Weigand hat uns zudem auch in der Hochschullandschaft der ABK Stuttgart mit unzähligen Ganggesprächen unterstützt und gefördert. Weiterhin danken wir dem Arbeitskreis Eisenbahnhistorie Württemberg – Archiv Schorndorf für die Aufnahme in ihre historische Diskussionsrunde. Besonders Herrn Werner Willhaus

p.400

und Thomas Wild für seinen persönlichen Einsatz und die Möglichkeit, die Originalpläne der Wagenhallen einzusehen und teilweise Kopien davon anzufertigen.


terhin dem Staatsarchiv Ludwigsburg, hier insbesondere Corinna Knobloch für den übersichtlichen Einblick in das umfassende Archiv.

Paritizipation

Wir danken dem Stadtarchiv Stuttgart in Bad Cannstatt. Wei-

NDSM Wir danken den Architekten der Kunststad, aus Utrecht den dynamo architecten, insbesondere Peter de Bruin für die Bereitstellung von Planunterlagen und den inhaltlichen Austausch. Für einen ersten Eindruck in die Welt der NDSM in Amsterdam möchten wir Doris Rothauer danken und weiterhin dem NDSM Werftmuseum, insbesondere Ruud van der Sluis, für eine gelungene historische Aufarbeitung des NDSM Geländes. Weiterhin möchten wir den Akteuren für kurze Gespräche während der Feldforschung danken. Besonderer Dank gilt hier Eibert Draisma (Design+Kunst) für ein fast einstündiges Gespräch über die Struktur der NDSM damals und heute und den inhaltlichen Austausch über die Kultur- und Kreativwirtschaft und deren Vermarktungsmöglichkeiten im Amsterdamer Umfeld. Weiterhin Eva de Klerk, die im Bereich der Kreativquartiere ein solch herrliches Konstrukt wie die NDSM von Anfang an begleitet und sich trotz eingeschränktem Zeitfenster ebenfalls für ein E-Mail-Interview zur Verfügung gestellt hat. Museumsquartier Wir bedanken uns bei sämtlichen Nutzern des Museumsquartiers, die uns über die Arbeit vor Ort erzählt haben. Auch Julia Rehberger vom quartier 21 und Irene Preißler, die für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit im MQ zuständig ist, gilt unser Dank. Weiterhin danken wir dem Architekturbüro Ortner & Ortner für die Bereitstellung von Planunterlagen und den Verantwortlichen der Webseite des MQ für die stets aktuellen Inhalte. Binz Wir danken den Binz-Bewohnern David und Lukas, die uns detailliert über das Leben in der Binz vor Ort berichtet haben und uns einen Einblick in ihren Wohn- und Lebensraum gewährt haben. Überdies danken wir Robert Schmid von der Baudirektion cherche bereitgestellt hat.

p.401

Kanton Zürich, der uns die Bestandspläne der Hallen zur Re-


Paritizipation

Interviewpartner Die Erstellung von Interviews war eine besondere Erfahrung. Die in diesem Buch befindlichen Interviews sind inhaltlich stark gekürzt und konzeptuelle Anmerkungen sind ausgegliedert. Gespräche mit den folgenden Personen umfassen einen weitaus breiteren Umfang, als hier abgebildet. Eva de Klerk, Klaus Overmeyer, Rob Post, Uwe Stuckenbrock, Elke Krasny, Matthias Küper, Peter Weigand, Lukasz Lendzinski und David Bauer. Wir danken unseren Interviewpartnern für den inhaltlichen und konstruktiven Austausch. Berechtigungen Einige Personen und Organisationen haben den Autoren die Erlaubnis erteilt, Materialien in diesem Buch zu reproduzieren. Falls Verwendungen von urheberrechtlich geschütztem Material vorgekommen sein sollten, kontaktieren Sie bitte die Autoren, da mit großem Einsatz versucht wurde, jegliches Copyright-Material zu dessen Urheber zurück verfolgbar zu ­

p.402

machen.


p.403

Paritizipation



Impressu

Autoren

Sascha Bauer

Franziska Glöckler Daniel Springer Betreuer

Prof. Andreas Quednau

und AM Kai Beck

Transkription Sascha Bauer der Gespräche Franziska Glöckler Daniel Springer Gestaltung

Steffen Knöll und Sven Tillack

aka Scientists of Visual Happiness

www.scientistsofvisualhappiness.org Auflage Druck

/5 Muellerprints

Rotenbergstraße 39 70190 Stuttgart Verarbeitung Buchbinderei Mende Klingenstraße 123 70188 Stuttgart Schriften

Maison Regular, Bold, Italic

Genath Regular, Italic

Typewriter Elite MT Std Regular

(mit freundlicher Unterstützung von

MilieuGrotesque, Optimo Type Foundry

und Monotype) Papier

Metapaper Rough White 115 g/m2

Metapaper Rough White 300 g/m2

© 2013

Alle Rechte vorbehalten.

Die Rechte liegen

bei den jeweiligen Autoren.

Entstanden an der

Staatlichen Akademie

der Bildenden Künste

Stuttgart





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