1. Jesus hat sich geirrt • "Mann läuft über Wasser" titelte die Bildzeitung ein großflächiges Plakat – Sie sehen es an der Straße nach Passau – und macht derzeit damit Werbung für eine günstige Sonderausgabe der Bibel. "Mann läuft über Wasser" ist in großen schwarzen Lettern gedruckt. Drunter etwas kleiner: "Wäre es heute passiert, stünde es in der Bildzeitung". Man beachte: Eine Zeile der Bildzeitung mit doppeltem Konjunktiv. Was stünde da erst in der Zeitung, wenn das eintrifft, was Jesus im heutigen Evangelium ankündigt? Wieviele Konjunktive benutzen wir, wenn wir von der Ankunft des Herrn sprechen? Denn die "Ankunft" meint doch "Advent". Oder hat unser Advent nichts mehr mit der Ankunft zu tun, von der das Evangelium heute spricht? Ist Advent nur noch Kekseselige Vorweihnachtszeit? • Dann gäbe es einiges zu korrigieren. Routiniert antwortet die Gemeinde auf den Ruf "Geheimnis des Glaubens" mit dem Bekenntnis "Deinen Tod, o Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit!" Zentraler kann das Bekenntnis in der Liturgie kaum noch stehen. Diese Ankunft in Herrlichkeit, dieser Advent, ist Inhalt des heutigen Evangeliums. Jesus verspricht mit aller Emphase, dass noch zu Lebzeiten der Generation der Jünger diese Welt ihr Ende findet und er wiederkomme: In Herrlichkeit. • Jesus hat sich geirrt. Wir sollten es ruhig einmal sagen. Es kann keinen Zweifel daran geben,
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dass die Erwartung, dass die Welt, wie wir sie kennen, in allernächster Zeit zu Ende geht, dass die Sterne vom Himmel fallen und das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheint, dass all dies nur wenige Jahre nach Jesu Tod am Kreuz eintritt - es kann keinen Zweifel daran geben, dass all dies Jesu ureigenste Erwartung war und nicht eingetreten ist. In 2000 Jahren haben die Christen viele schöne Erklärungen dafür gefunden, dass es Jesus doch anders gemeint habe, irgendwie symbolisch. Ich schlage vor, wir sollten den Gedanken ruhig zulassen: Jesus hat sich geirrt. 2. Meinen wir das, was wir sagen? • Vielleicht haben Christen notorisch ein gestörtes Verhältnis zur Realität. Wir sind daran gewöhnt, Dinge zu behaupten, die der einfachen Nachfrage nicht stand halten: Stimmt das denn? Wir behaupten im Indikativ. Wenn jemand nachfragt, folgen Konjunktiv und Ausfluchten ins Ungefähre. Deswegen ist es eine gute Nagelprobe zu fragen: Stimmt das wirklich, dass die Welt und die Geschichte zu Ende gehen - und zwar nicht erst in ein paar Millionen Jahren, wenn unsere Sonne ausgeglüht ist. Glauben wir das wirklich oder ist die ganze Rede von der Wiederkunft des Herrn, der zweiten Ankunft Christi, für uns nur eine Chiffre für etwas, das sich im individuellen Tod eines jeden einzelnen von uns ereignet. Ist unser Indikativ unernst? • Es kann nur einen einzigen Grund geben, trotzdem an das Ende der Welt zu glauben.
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Aus unserer Welterfahrung und aus aller Naturwissenschaft ist das nicht abzuleiten. Wir sind ein Teil dieser Welt und in den Denkkategorien dieser Welt ist ihr Ende nicht zu denken. Der einzige Grund, es dennoch zu glauben, ist die Überzeugung, dass von außerhalb dieser Welt, außerhalb von allem, was wir uns vorstellen können, dieses Wort und diese Offenbarung auf uns gekommen ist. Nur wenn Gott sich offenbart, nur wenn Jesus es von Gott weiß, dann ist es möglich, zu glauben, was er sagt: "Himmel und Erde werden vergehen, aber seine Worte werden nicht vergehen." Doch Jesus hat sich geirrt. Zumindest in dem einen Punkt ist er zweifelsfrei widerlegt, dass all das bald einträfe, noch zu Lebzeiten "dieser Generation" seiner Jünger. Es macht für mich das Evangelium ungeheuer glaubhaft, dass dieses Wort Jesu nicht verschämt unter den Tisch gefallen ist, sondern stehen blieb. Offenbar war die Naherwartung Jesus so wichtig, dass sich die junge Kirche auch dann nicht getraut hat, das zu streichen, als der angegebene Zeitraum eindeutig verstrichen war. Das sollte all denen zu denken geben, die meinen, die Evangelisten und die Kirche hätten willkürlich Jesu Botschaft verändert. Denn das heutige Evangelium wäre dann als erstes frisiert worden Jesu Botschaft und Leben ist aber nicht zu verstehen, christlicher Glauben ist damit nicht möglich, wenn wir uns nicht auf die Erwartung Jesu einlassen, dass all dies bald geschieht – unmittelbar vor der Tür steht. 3. Advent muss bald sein • Christlicher Glaube ist keine Wohlfühlreligion. Das sollte schon die Botschaft vom Kreuz klarstellen.
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Vielmehr setzt mich der Glaube an Jesus Christus in bohrende Zweifel. Ich kann nicht gleichzeitig diese Welt in ihrer verlässlichen Gesetzmäßigkeit für unhinterfragbar halten und feierabends an Jesus Christus glauben. Das ist intellektuell unredlich und auf Dauer schizophren. Jesus mutet uns zu, die verlässliche Gesetzmäßigkeit in Frage zu stellen: Die Sterne, die ihre wohlgeordnete Bahn drehen, die Ordnung von unten und oben, reich und arm, mächtig und beherrscht, und mich selbst im Mittelpunkt meiner Interessen, das nutzenmaximierende Individuum. • Gottheit und Menschheit Jesu zugleich, das ist der Skandal. Das wird mir am heutigen Evangelium noch einmal deutlich. Ja und Amen, ich glaube, dass Jesus Christus Gottes Offenbarung für uns ist, Gottes eingeborener Sohn, wahrer Gott. Doch dieser Sohn Gottes teilt meine bohrenden Zweifel im Angesicht Gottes. Als Mensch hängt er mit jeder Faser seines Lebens an dieser Welt. Zugleich ist er von Gottes Wirklichkeit so erfüllt, dass er keinen Zweifel daran hat, dass diese Welt zu Ende geht, ja, dass es nicht anders sein kann, als dass dieses bald geschieht. Wann es geschieht, wissen die Engel nicht, die Sektenprediger in der Fußgängerzone schon gar nicht - noch nicht einmal der Sohn, in dem Gott einer von uns wurde. Es kann aber nicht anders sein, als dass es bald geschieht. Für Christen ist das Hoffnung und frohe Botschaft. • Advent muss zu einer Zeit des Zweifels werden. Das Einlullen durch Kaufhausmusik passt nicht dazu. Vielmehr müssen wir unser Verhältnis zu all den Selbstverständlichkeiten und Gewohnheiten unseres Lebens auf den Prüfstand stellen. Nicht im Konjunktiv "was würde ich tun", sondern im Indikativ "was tue ich", wenn morgen diese Welt zu Ende geht?
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Nicht die Abwendung vom Leben ist die Konsequenz, sondern die Hinwendung in unbegreiflicher Liebe. Martin Luther wollte heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen, wenn morgen die Zeit zu Ende geht und Ewigkeit ist. Was würden Sie tun, wenn der Herr vor der Tür steht, nicht irgendwann – sonder ganz, ganz bald? Amen.
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Fürbitten P: Wir erwarten das Kommen Christi in Herrlichkeit. Er wird kommen, die ganze Schöpfung von der Knechtschaft des Todes zu erlösen. Verborgen ist er schon jetzt unter uns, die wir in seinem Namen versammelt sind. V: Dein Kommen strahlt aus schon in unsere Zeit. Erfülle uns, deine Kirche, mit Hoffnung, dass wir heute bereits aus dem leben, was wir erwarten. - Christus, höre uns. A: Christus, erhöre uns. V: Advent ist Vorbereitung auf das Gedächtnis an dein Kommen in der Menschwerdung. Lass diese Zeit für uns zur einer Zeit der Gnade werden. - Christus, höre uns. A: Christus, erhöre uns. V: Du bist in der Armut des Stalls zu Betlehem Mensch geworden und hast dich am Kreuz unter die Verbrecher rechnen lassen. Schenken allen, die arm und verachtet sind, die Gewissheit, dass du an ihrer Seite bist. - Christus, höre uns. A: Christus, erhöre uns. V: Wenn diese Welt und dieses Leben zerfällt, ist uns ewiges Leben verheißen. Nimm all unsere Verstorbenen auf in dein Reich und lass uns alle dein Angesicht schauen. - Christus, höre uns. A: Christus, erhöre uns. P: Du bist unserer Herr, du unser Gott mit dem Vater in der Einheit des Heiligen Geistes. A: Amen
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