Ich steh an deiner Krippen hier

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RUPERT GOTTFRIED FRIEBERGER

ICH STEH AN DEINER KRIPPEN HIER PREDIGTEN UND BETRACHTUNGEN ZUM WEIHNACHTSFESTKREIS


RUPERT GOTTFRIED FRIEBERGER

ICH STEH AN DEINER KRIPPEN HIER


F端r alle am Rande der Gesellschaft, die guten Willens sind


RUPERT GOTTFRIED FRIEBERGER

ICH STEH AN DEINER KRIPPEN HIER

PREDIGTEN UND BETRACHTUNGEN ZUM WEIHNACHTSFESTKREIS


ISBN 3-902143-03-7

Verleger, Herausgeber und Medieninhaber: FABIAN EDITION A-4954 Steinbach a. d. Steyr

Alle Rechte vorbehalten

copyright 2002

Herstellung: OFFSETDRUCK MAX HIMSL A-4780 Sch채rding

Gedruckt mit Unterst체tzung des Bundesministeriums f체r Bildung, Wissenschaft und Kultur


INHALT Was heißt Advent?

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Advent

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Auf Grund seines Erbarmens

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Ziele christlicher Selbsterziehung

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Mitten unter euch

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Die Weihnachtsformel

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Euch ist der Heiland geboren

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Sie fanden das Kind

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Leuchtende Nacht der Welt

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Dreiklang von Bethlehem

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Familie – gelebte Kirche

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Familie

80

Silvester

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Neujahr

97

Geschenke zum Neuen Jahr

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Das gelungene Leben

110

Überraschungen einer Reise

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Führung Gottes

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Gnade über Gnade

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VORWORT Die Nachfrage nach meinem letzten Betrachtungsbuch ermutigt mich, eine Sammlung von Predigten und Gedanken über Advent und Weihnacht vorzulegen. Kein anders christliches Fest ist so überstrapaziert, ja teilweise „missbraucht“ worden – auch von solchen, denen Christentum gar nichts bedeutet, gerade von solchen, die für Wirtschaft und Geschäft einen Vorteil darin gefunden haben. Weihnachten aber ist die „menschlichste“ Annäherung Gottes an uns: und der Friede sollte ALLEN Menschen auf Erden verkündet werden, DIE GUTEN WILLENS SIND. Das ist Grund für mich, dieses Büchlein gerade jenen zu widmen, die am Rande unserer Gesellschaft stehen, „Außenseiter“ genannt und doch mitten unter uns: nicht aus „humanitären Gründen“ oder gar „aus Mitleid“ – das wäre zu wenig oder vielleicht sogar paradox; ich habe erfahren, 7


dass diese Mitmenschen so viel GUTEN WILLEN HABEN, und gerade ihnen soll der FRIEDE AUF ERDEN in reichem Maße geschenkt werden von dem, der von uns die Nächstenliebe erwartet. Dass wir den Friedensspender, dem die Ehre in der Höhe zukommt, nicht enttäuschen und dass er nicht aufhört. immer wieder auch zu uns kommen, wünsche ich uns allen. Rupert Gottfried Frieberger

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Was heißt Advent? Ich kann mir denken, dass nicht wenige Christen in Verlegenheit kämen, wenn sie die Frage beantworten sollten: „Was heißt eigentlich Advent?“ Sie würden wohl zuerst eine Zeitlang schweigen und nachdenken müssen, um eine entsprechende Antwort zu finden. Was heißt Advent? Hängt die Antwort nicht mit der anderen Frage zusammen: warum ist eigentlich Gott Mensch geworden, warum musste sich der Himmel öffnen und einen Gott Fleisch werden lassen in einem Menschen ? Die Antwort ist ganz einfach: Gott hat um die Not des Menschen gewusst und nur er war imstande, die Not des Menschen zu wenden. Gott hat um die Verlorenheit des Menschen gewusst: um die Verlorenheit seines Geistes, so dass er orientierungslos und mehr oder weniger sinnlos dahinirrte und ohne festes Ziel war, um die Verlorenheit seiner Seele, so dass die Seele unterging vor den Bedürfnissen des Kör9


pers und gar nicht mehr als geistige und unsterbliche Substanz registriert wurde. Gott hat um die Verlorenheit des Menschen gewusst, und deshalb musste es Weihnachten in Bethlehem werden. Nur Gott war imstande, die Not des Menschen zu wenden. Was heißt Advent? Advent heißt: um die Verlorenheit des Menschen wissen. 1. Es gibt viele Menschen, die etwasverloren haben: Einen Gatten, eine Gattin, ein Kind, einen Vater, eine Mutter, Hab und Gut, ihren Posten, ihre Gesundheit, ihre Freiheit, weil sie sich eines Verbrechens schuldig gemacht, eine Hand, einen Fuß, ein Auge, das Augenlicht, ihre Sicherheit und ihren Glauben. 2. Es gibt viele Menschen, die sich verloren haben: sie leben nicht mehr ihr Leben, sie werden gelebt. Entwurzelt werden sie mitgerissen mit Strömungen und Moden, mit Milieus und Meinungen. 10


Sie tanzen an der Oberfläche, jegliche Tiefe ist verschwunden, sie meiden sich und gehen sich aus dem Weg. Der inner Haushalt ist ausverkauft. Das „Moderne“ in seinem ganzen Scheinmund, in seiner schönen Maske hat sie gefangengenommen. 3. Es gibt Menschen, viele, die verloren zu sein scheinen: hier mein ich jene vielen, die in der Sicht des gläubigen und christlichen Menschen Gott verlorengegangen scheinen. Sie selber, die Gott verlorengegangen erscheinen, mögen ihre Not gar nicht so sehr spüren, vorläufig nicht, aber die sich um sie sorgen und die sie lieben, leiden umso mehr. Sie leiden um deren Seele, immer blutet in ihnen eine Wunde, die sie nicht heilen können, weil die andern sich nicht heilen lassen.

Wie viele Eltern leiden heute um die Seelen ihrer heranwachsenden und erwach11


senen Kinder! Könnte man dieses Leid zusammenfassen: es wäre ein ganzes Meer des Leides. Ob mein Kind noch einmal zu Gott und Kirche finden wird? Zu den Sakramenten der Kirche? Advent heißt: um die Not des Menschen wissen. Advent heißt: seine Unfähigkeit, sich selbst zu erlösen, eingestehn. Gibt es den Menschen, der ehrlicherweise sagen kann, er werde mit sich allein fertig? Ja, es gibt das verbildete, uniformierte und dumme Gewissen, das sehr beruhigen kann, aber wehe, man stellt von außen her an dieses Gewissen Gewissensfragen. Sicher kann man diese Fragen wegschieben und zudecken und sie zerschlagen. Aber sie stehen wieder auf und stehen ganz groß da, vielleicht fordernder und quälender als zuvor. Solange es einen Gott gibt und Jesus Christus, gibt es keine Selbsterlösung. Und behauptete man die Selbsterlösung, dann ist sie eine Selbsttäuschung.

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Advent heißt, Sehnsucht haben nach dem Erlöser. Heutzutage dürfte es eigentlich niemandem schwer fallen, einen Erlöser aus einer anderen Welt als der unseren herbeizusehnen. Und ist es zuviel gesagt: nur der Sehnsucht wird es gelingen, der massiven und kollektiven Sehnsucht, den Erlöser aus der andern Welt tatsächlich auf der Erde zu haben, so dass er auch erlösen darf? Darf in unserer heutigen Gesellschaft Christus noch erlösen? Weihnachten steht ganz groß in aller Welt. Niemand kann es übersehen. Es ist das Christfest, das Christusfest! Wieweit wird uns bei allem Trubel das Eigentliche, die Sehnsucht nach Christus gelingen, die Sehnsucht nach Christus für eine Welt, die außerstande ist, mit bloßer Politik zurechtzukommen, die Sehnsucht nach Christus für alle Menschen, bei denen es höchste Zeit ist, dass die Geburt Christi stattfindet, die Sehnsucht nach 13


Christus für jene Menschen, die in sich selbst keine Sehnsucht nach ihm fühlen. Advent heißt: um die Not des Menschen wissen, seine Unfähigkeit, sich selbst zu erlösen, eingestehen, Sehnsucht nach dem Erlöser haben.

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Advent Der Mensch mag Gott vieles aus der Hand genommen haben. Das Ende lässt er sich nicht nehmen. Das Ende behält er sich vor. Sollte es deshalb nicht für jeden Menschen einen Advent geben? Advent bedeutet feierliche Ankunft. Am Sonntag vor dem 24. Dezember gedenkt die Kirche der Ankunft des Herrn. Sollte diese Zeit uns gleichgültig lassen, mag die Kirche feiern was sie will? Advent ist eine Chance – für jeden Christen. Man kann sie verpassen, man kann sie ungenützt lassen – und dann stehen wir wieder einmal wie so oft schon vor leeren Tagen, vor leeren Zeiten. Das tut unserer Seele und unserem Gemüte nicht gut. Das beißt ins Gewissen. Leere Tage und leere Zeiten sind Negativ-Posten in unserer Abrechnung mit Gott! Können wir sie uns neben den schon vorhandenen noch leisten?

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Zwei Imperative erteilt uns der Advent: „Es ist Zeit, vom Schlafe aufzustehen!“ Man muss gar nicht an den Untergang der Welt denken. Man muss sich gar nicht ausdenken, wie das wäre, wenn wir ein besetztes Land würden, man muss keinen Schock provozieren: Selbst wenn Sie fromme Menschen sind, wenn Ihnen an Gott und Ihrem Leben mit Gott etwas liegt: warum sind wir so unzufrieden mit unserem Umgang mit Gott, warum sind wir so unzufrieden mit unserem inneren Leben? In dem Schauspiel „Fährten“ von Ferdinand Bruckner wird vom Besitzer eines heruntergekommenen Landgutes erzählt. Seine Ehe ist in Brüche gegangen, die Frau ist zwar noch im Hause, aber sie leben auf äußerste Distanz. Mit der reichen Besitzerin eines Pferdegestütes inszenierte er absichtlich einen Autounfall, um sie endlich kennenzulernen und intime Beziehungen anknüpfen zu können. Kein Mädchen in der nahen Stadt ist vor ihm sicher. Die etwas törichte Magd erwartet ein Kind von ihm. 16


Unter dem Druck der Verhältnisse nimmt sich seine Frau das Leben. Die Magd, verwurzelt in einer gesunden Natürlichkeit, widerstrebt dem Ansinnen des Mannes, das Kind zu beseitigen und besteht in kindischer Starrheit darauf, dass er sie heiratet. Er lacht sie aus. Der Höhepunkt: in einem Augenblick fast hellsichtiger Wachheit fällt die Magd über diesen Mann das Urteil: „Er hat immer nur gespielt.“ Er hat immer nur gespielt. Sie hat immer nur gespielt! Wer Gott aus der Mitte des Lebens verloren hat, wer aus der Geborgenheit des Glaubens ausgewandert ist, ja, der wird ein Spieler, Spieler auf allen Gebieten. Und das versteht der heutige Mensch: spielen. Er spielt mit der Liebe. Er meint zu lieben und geliebt zu werden. Aber diese Flüchtigkeit der Gefühle, diese Plötzlichkeit ihrer Wandlungen! Er ist Spieler in Leid und Verlust. Ein Verlust kommt auf ihn zu. Im ersten Moment ist er bis ins Innerste getroffen. Aber er schüttelt sich. Das Leben ist kurz. Er findet Ersatz. 17


Er ist Spieler mit dem Tode. Die andern sterben ja. Der Tod ist rasch vergessen und ertränkt im üblichen Taumel. Er ist Spieler mit Gott und seiner Religion. Christentum als Verpflichtung? Doch viel eher ein unverbindliches Spiel, ein gelegentlicher Flirt mit Gott und Kirche. Nein, Sie flirten nicht mit Gott! Für Sie ist Christentum Verpflichtung. Aber welche christliche Leistung steht in meinem Leben, in meinem momentanen Leben? Welche Leistung? Und darauf kommt es an. Das macht ein zufriedenes christliches Leben. Also sind wir vielleicht auch nur Spieler? Jetzt verstehen wir, was es heißt: „Es ist Zeit, vom Schlafe aufzustehen.“ Das Spiel ist zu Ende, der Ernst beginnt. Spielen mit der Religion ist eine bewegende Sache. Nur der Ernst bringt die Leistung und das innere Glück. Der zweite Imperativ: „Zieht an den Herrn Jesus Christus!“ 18


Das bedeutet nach neutestamentlichtem Sprachgebrauch: Christus als ständige Lebensform. Das geht nicht von heute auf morgen. Das erfordert die tägliche christliche Leistung. Da liegt eine todkranke Frau in Linz, ganz und gar einsam in ihrem einfachen Zimmer. Und eine andere, tief christliche Frau -– sie hätte auch anders zu tun – nimmt sich durch Monate ihrer an, ohne einen verwandtschaftlichen Verpflichtungsgrad. Sie macht zweimal im Tag die 20 Minuten Weg, pflegt sie, bringt ihr das Essen, verbringt manche Nacht auf einem Liegestuhl, weil sie die Kranke nicht allein sterben lassen will, sie sorgt für die priesterliche Hilfe – ja, ist das nicht Leistung und zieht diese Frau nicht Christus an? Da ringt eine Frau darum, im Advent jeden Streit mit dem Mann zu vermeiden, da zwingt sich ein junger Mensch, täglich im Advent eine Viertelstunde lang das Buch des adventlichen Propheten Isaias, der sich am Ende für seine Überzeugung zersägen ließ, durchzuarbeiten, da betet je19


mand im Advent täglich den „Engel des Herrn“, um den adventlichen Gedanken bei allem vorweihnachtlichen Trubel bis zum Christfest durchzuhalten, da übt sich jemand im Advent besonders in der Menschenfreundlichkeit, da müht sich ein Vater im Advent um das christliche Familiengespräch und um die christliche Adventfeier, da steht jemand wirklich pünktlich in der Frühe auf und gibt dem Weckerläuten keine Minute zu: Nun, das sind alles christliche Leistungen. Und ziehen sie nicht alle Christus an? Advent ist eine Chance. Man kann sie verpassen. Geht es nur darum, sich in der Christnacht belobend sagen zu können: Das hast du gut gemacht? Der „Holländische Katechismus“ sagt: „Jedes Ereignis, dessen die Liturgie gedenkt, war eine bestimmte Begegnung Gottes mit dem Menschen. Gott ist bereit, das Eigentliche, die Gnade des Ereignisses noch immer den Menschen zu vermitteln, die es zusammen feiern.“

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Sie werden in diesen Wochen viele Ausgaben haben. Über alle noch so kostbaren Weihnachtsgeschenke scheuen wir nicht die Ausgaben für Gott! Über alles kostbar ist die Gnade Gottes.

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Auf Grund seines Erbarmens Wir feiern wieder Advent und wollen ihn aus der Sicht des Alten Testamentes, aus den Prophezeihungen des Propheten Isaias schauen. Wir befinden uns in einer Zeit gesicherten kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Wohlstandes und hoffen, dass es so bleibt. In einer solchen Zeit wird aber das religiös-sittliche Leben in den Hintergrund gedrängt und vergessen. Man hat keine Zeit, an Gott zu denken, man braucht ihn nicht, weil wir ja selber uns das Leben so gut gestaltet haben. In einer ähnlichen Situation war der Prophet Jesaia, der in der ersten Hälfte des achten vorchristlichen Jahrhunderts im Auftrage Gottes sein Prophetenamt ausübte. In einer herrlichen Vision schaute er, wie in der messianischen Endzeit alle Völker hinaufziehen zum Berg Sion, der mit dem Haus des Herrn, dem Tempel von

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Jerusalem, fest gegründet steht und als höchster Berg alles überragt. Von Sion aus ergeht das Wort und die Weisung des Herrn. Von da her kommt der wirkliche Friede und das Wohlergehen der Völker. Nicht die Bemühungen der Großen sichern den Frieden, er kommt allein auf Grund „göttlichen Erbarmens“. Er kommt vom Sion. Die Schriften des Alten Testamentes können sich nicht genug tun, die Herrlichkeit dieses Berges und des auf ihm wohnenden Gottes zu preisen: „Von Sion aus erstrahlt der Glanz von Gottes Schönheit.“ Von Sion her wird der Erlöser erwartet, aber von diesem Berg aus wird auch das Gericht über Jerusalem und die Welt kommen. In der Linie dieser Aussagen steht auch das Neue Testament: „Aus Sion wird der Retter kommen.“ Während sich Moses dem Berg Sinai mit Furcht nähert, „seid ihr zum Berg Sion hinzugetreten, zur Stadt des lebendigen 23


Gottes, zum himmlischen Jerusalem“ (Hebr 12,22), also zum Heil, das Gott den Seinen bereitet. Übertragen wird das auf unsere Zeit: eine neue Gesellschaft wird gefordert. Nicht nur Außenseiter protestieren gegen die bestehende Ordnung. Man ist unzufrieden, sehnt sich nach Gerechtigkeit, Brüderlichkeit und vor allem nach dauerhaftem Frieden. Andere fürchten die neue Gesellschaft und bangen um ihre Freiheit. Die Zukunft zeichnet sich nicht nur in leuchtenden Farben ab. Und über die Art der neuen Gesellschaft ist man sich nicht einig. Dazu kommt die ständige Bedrohung des Friedens in der Welt und die Unsicherheit über unsere wirtschaftliche und finanzielle Zukunft. Trotz allem schauen die Menschen voll Hoffnung aus nach dem, was vor ihnen liegt, wie Paulus es ausdrückt.

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Aber diese Zukunft kann – nach der heutigen Lesung – nicht aus menschlichem Bemühen allein kommen. Sie kommt von Gott „auf Grund seines Erbarmens“. Das ist das Ausschlaggebende. Zwei Einwände: 1. Ist das nicht eine Projektion menschlicher Sorgen in eine sehr weite und darum unkontrollierbare Zukunft? Wenn wir uns schon um die Zukunft Gedanken machen, dann dürfen wir nicht beim Heute stehen bleiben. Und für die wirkliche Zukunft kann nur die Religion die bleibenden und gültigen Wertmaßstäbe verkünden. Dann darf allerdings in der Gegenwart niemand so handeln, dass dadurch im nächsten Jahrhundert die echten Lebensmöglichkeiten der nachfolgenden Generation beschnitten und umfunktioniert werden. 2. In jedem Jahr feiern wir Advent und hören die gleichen Aussagen der Bi25


bel. Ist das auf die Dauer nicht sehr wenig eindrucksvoll? Wenn es wirklich um die Zukunft und das göttliche Erbarmen geht, das ja noch nicht voll verwirklicht ist, dann darf die Kirche und dürfen wir nicht schweigen. Wir müssten unsere Mitmenschen immer wieder auf diese Quelle des Friedens und des göttlichen Erbarmens hinweisen. Sonst würden wir ja im prophetischen Dienst der Menschheit gegenüber versagen. Wir wollen Propheten sein. Deshalb prägen wir uns heute diesen Gedanken ein: Das Heil und unsere Zukunft kommen auf Grund des göttlichen Erbarmens – und überlegen einmal ganz persönlich: Erwarte ich für meine Ehe und für die Erziehung der Kinder das Heil von Gott? Versuche ich meinen Tag irgendwie im Angesichte Gottes zu verleben? Weiß ich mich in allem, was ich tue, Gott verantwortlich?

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Den Advent zu verbringen mit dem Wissen, dass alles vom göttlichen Erbarmen abhängt, das Meine und das der Welt, könnte zu neuer Fruchtbarkeit führen.

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Ziele christlicher Selbsterziehung [Zum 8. Dezember]

Ich habe absichtlich die Lesung zum Hochfest der Gottesmutter aus dem zweiten Adventsonntag gewählt, aus dem Propheten Isaias, denn er ist es, der die Jungfrauengeburt von Bethlehem verkündet hat, der die Jungfrau angekündigt hat. Das Heil und die Zukunft kommen auf Grund göttlichen Erbarmens. So fanden wir am letzten Sonntag. Und heute zeichnet er ein Bild des von Gott gesandten Königs aus davidischem Stamm. Es ist das Bild eines Königs, wie ihn die Welt kaum kennt, und niemals hervorbringen kann. Denn in diesem König wohnt die Fülle der Geistgaben. Gerechtigkeit ist sein Tun und der Sorge für die Unterdrückten hat er sich verschrieben. Den Frieden, der von einem solchen König ausgeht beschreibt der Prophet mit einem Bild aus dem Tierreich. Aber er zielt in seiner Aussage nicht darauf, dass die Tiere zahm sein werden. Im Bild der Tiere 28


müssen wir die Menschen und die Völker erkennen, die wilden und die zahmen. Und auch die wilden werden im Reich des Königs zur Ruhe und Ordnung finden. Das jüdische Volk konnte keine Erfahrung mit einem solchen Könige haben. Aber es kannte aus seiner Geschichte vorbildliche Menschen: Es kannte die sprichwörtliche Weisheit des Salomo, es kannte die Klugheit und Kraft des Königs David, der die verschiedenen Stämme Israels vereint hatte, es kannte die Gottesfurcht des Moses und des Abraham, es kannte so viele Männer und Frauen seines Volkes, die als Vorbild weiterlebten. Was wie auf einzelnen Menschen verteilt erscheint, wird der zu erwartende König alles in einer Person vereinigen. Und man konnte sich von seinem Reiche ganz von fern ein Bild machen. Aber es wird sich

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nur durchsetzen, wenn auch die Menschen das Ihre tun. Drei Themen werden angesprochen: 1. Die Erkenntnis des Herrn Es wäre jetzt in diesen Tagen notwendig, nicht nur die äußere Vorbereitung auf das kommende Fest zu vollziehen, sondern auch einzukehren bei Gott, seine Worte der Schrift zu lesen, und zu hören, innerlich zu hören. Denn das sind nicht Berichte aus längst vergangenen Tagen. Gott spricht unmittelbar zu uns. Und hätten wir wirklich keine Zeit, ein Buch im Advent durchzuarbeiten, das sich mit Gott beschäftigt? Oder haben wir wirklich schon die Erkenntnis des Herrn? Wann soll sie denn werden? 2. Man tut nichts Böses und frevelt nicht auf dem Heiligen Berge Gottes. Wer allzu schnell sagt, das betreffe ihn nicht – hätte er nicht allen Grund, dieses Wort zu bedenken?

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Dass wir uns vor der Todsünde freihalten, ist wichtig, aber es genügt nicht. Dass wir uns überhaupt von Sünde freihalten, ist wichtig, aber es genügt nicht. „Dass ich Gutes unterlassen habe“, das darf uns immer quälen und gerade im Advent antreiben. 3. Wie die zahmen Tiere im Bild des Propheten sollen wir den Weg zueinander suchen. Den Weg zu denen, die unmittelbar an uns gebunden sind. Den Weg zu den Ferneren, die auf unsere Hilfsbereitschaft, Gesprächsbereitschaft, Liebensbereitschaft warten. Den Weg zu den Fernsten, die trotzdem die Allernächsten sein könnten. Schaue ich nun am heutigen Fest auf Maria, so sind es diese drei Ziele christlichen Lebens, die in ihr zur Höhe ausgeformt sind. 1. Die Erkenntnis des Herren, dieses völlige Erkennen ihres Sohnes, das allerdings auch bei ihr in einem jahrzehntelangen 31


Prozess wachsen musste, von ihrer Kindheit an bis zur Himmelfahrt des Herrn, das aber fundamental zu ihrer wie zu unserer Christengestalt gehört. Das ist immer das erste: den Herrn kennen zu lernen. Also muss ich ihn in seinem eigenen Wort und seinem Brot suchen. 2. Die totale Sündelosigkeit: Wir sind leicht dabei, Maria ohne jede Versuchung darzustellen. Glauben Sie nicht auch, dass die eigentliche Versuchung Mariens die Versuchung gegen den Glauben war – bis zur Kreuzigung ihres Sohnes als Verbrecher? Heute ist die eigentliche Versuchung des Christen die gegen den Glauben. Und wie viele legen Wert auf Sündelosigkeit? 3. Die weltumfassende Menschenliebe, die eben auch vom kleinen Städtchen Nazareth aus möglich war, also auch von unserer Wohnung und unseren Straßen aus.

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Je christlicher ich mich weiĂ&#x;, in desto fernere Gegenden der Welt steuern meine erlĂśsenden Gedanken und Taten. Maria ist die Mutter Gottes fĂźr die ganze Welt.

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Mitten unter euch Es ist die Zeit, sich mit dem Advent auseinanderzusetzen. Alle Welt macht Weihnachtsvorbereitungen und wir alle sind davon angesteckt. Schaufenster, Tannenzweige und brennende Kerzen, alles hilft mit, jene seltsame Stimmung zu erzeugen, die wir Advent nennen. Die Kaufhäuser beschallen uns mit mehr oder weniger frommen Liedern, um die Kaufstimmung zu fördern. Das Geschäft mit Weihnachten blüht – und auch die Kirchen tut das Ihre, um auf das Kommende Weihnachtsfest aufmerksam zu machen. In den frühen Lebenstagen hat man uns vom Heiland der Welt und seiner Ankunft auf Erden erzählt. Aber die großen Worte von der Ehre Gottes, vom Frieden auf Erden und dem Wohlgefallen Gottes – wurden sie je lebendig? Für manchen wurden sie auch in seinem kleinen Leben zum Ausdruck der Sehnsucht nach dem großen Glück, das man nicht fassen kann 34


und das man sein ganzes Leben lang sucht. Inzwischen sind wir älter und bescheidener geworden in unseren Wünschen. Wir sind schon zufrieden, wenn unsere Arbeitszeit noch etwas kürzer, die Löhne etwas höher werden, wenn der Arbeitsplatz und die Pension gesichert sind. Bei manchen geht der Wunsch noch weiter nach einem Traumwagen und einer Traumwohnung. Mancher kann sie sich in eigener Regie erfüllen. Auch wir Christen haben uns recht christlich-wohnlich eingerichtet. Aber haben die Christen keine weiteren Wünsche? Wir sind mit der gegenwärtigen Welt hinreichend beschäftigt, und die Sorge, jetzt nicht zu kurz zu kommen ist drängender als die Ängste der Philosophen und Kulturkritiker für die kommende Zukunft. Wir haben die Augen voll von den greifbaren Dingen gerade in diesen Tagen und deshalb sind wir blind für kommendes Unheil wie für kommendes Heil. Aber wird 35


nicht gerade in diesen Tagen eine tiefe Sehnsucht nach dem Heil lebendig – bei allen, die da rennen und kaufen? Und merkwürdig: würden sie denn rennen und kaufen, wenn Christus nicht auf die Erde gekommen wäre? Aber wer denkt dabei noch an Christus? Natürlich können wir nicht mehr Advent spielen und so tun, als ob Christus noch nicht gekommen und das Schicksal der Welt gewendet hätte. Trotzdem gilt heute das Wort Johannes, des Täufers: „Mitten unter euch steht einer, den ihr nicht kennt.“ Es galt für die Frommen von damals und gilt für die Frommen von heute. Auch der gläubige Christ von heute sieht Christus zuerst nur als historische Gestalt. Um das anzunehmen, ist kein Glaube nötig, das ist Tatsache. Aber dass ich ihm heute noch begegnen kann in seiner Kirche, dass sein göttliches Leben in jedem Getauften atmet, ja, da beginnt der Glaube. Und da packt uns das Wort: „Mitten unter euch steht einer, den ihr nicht kennt.“ Da sagt Paulus: „In ihm leben wir, 36


in ihm bewegen wir uns und in ihm sind wir“, und wir müssten das nicht nur wissen, sondern erfahren haben und erfahren. Aber da versagen wir, weil die Erfahrung des gelebten Christusglaubens so dürftig geworden ist. Deshalb ist Christus für uns auch heute noch der Kommende, nicht nur, wie ihn die Zeit der frühen Kirche erwartet hat als den wiederkehrenden Herrn in seiner Herrlichkeit. Uns ist zwar angesichts der unheimlichen apokalyptischen Zeichen auf dieser Erde das Bild des kommenden Richters und Vollenders nähergerückt als früheren Zeiten. Aber zunächst kommt Christus heute zu uns in seiner Menschlichkeit, wie er uns täglich von neuem begegnet in seiner Heilsbotschaft. Ja, wer von uns kennt Christus? Gerade wenn wir heute die Botschaft von seinem Leben, Reden und Handeln kritisch lesen, droht die Gefahr, dass wir an dem Allzu-Menschlichen seiner Gestalt hängen bleiben. Wir sehen dann, wie er in 37


der damaligen geschichtlichen Situation gelebt hat, wie er mit Gewalthabern zusammengestoßen und an ihnen gescheitert ist. Wir übersehen dabei das Entscheidende: wer da eigentlich zu uns Menschen, in diese verfahrene Situation kam und uns darin auch heute noch mit seiner ganzen Persönlichkeit begegnen will. Nehmen wir es ja nicht als Phrase: im Opfer der Kirche und in den Sakramenten der Kirche und im Worte Gottes kommt Christus selber und persönlich und wirksam auf uns zu. Oder ist es eine Phrase, dass ein Mann seiner Frau und eine Frau ihrem Mann neu geschenkt werden kann? Lebt nicht jede Ehe im Advent, in dem der Partner in einer Seele erwartet wird? Sie leben und reden miteinander. Aber wie viele Männer kennen ihre Frauen und wie viele Frauen ihre Männer? Dann kommt ein Erlebnis, ein Ereignis, ein Gespräch: Kann es da nicht zu einer neuen Geburt der Ehe kommen?

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Christus ist sowohl der, in dem wir leben und sind, als auch der, der zu uns kommt, um immer mehr in uns zu sein. „Er muss wachsen, ich muss abnehmen.“ Das ist die eigentliche Botschaft des Advents. Und das ist unser Weg im Advent. Wer da im Advent nur rennt und kauft und packt und sinnt, was er schenken soll, und ob seine Geschenke ankommen, der ahnte und hat nichts vom christlichen Advent. Im Advent muss die Frage nach Christus gestellt werden, denn er ist die Erfüllung des Menschen. Im Advent muss die Sehnsucht nach Christus aufblühen wie eine Christenrose. Im Advent muss die Begegnung mit Christus gesucht werden und das Erlebnis mit Christus. Es genügt nicht, nur mit einer sauberen Seele zum Fest zu kommen, eine neue, wirkliche Liebe zu Christus müsste uns erfassen, und zum Ziel gesteckt werden. Das verlangt persönliche Arbeit und das 39


verlangt Zeit. Und es kann in 10 Minuten vor der Adventskerze an manchem Abend manches Geschehen erlebt werden, das man nicht bereut. Aber da muss man weg von seinen Paketen und muss weg vom Bildschirm. Im Advent ist die Gnade Gottes unterwegs, ja, ich mĂśchte aufrichtig sagen: im Advent ist das Christkind unterwegs zu den Menschen, auch zu den erwachsenen Menschen. Im alten Russland blieb am Familientisch immer ein Sessel frei, fĂźr den Christus, der jederzeit eintreten kann. Ein wunderbares Symbol. Und doch wie realistisch! Sie werden daheim ihre Krippe aufstellen. Sie soll Ihnen sagen: Christus will heute geboren werden in mir. Gott ist auf meine Liebe angewiesen und ich auf die Liebe Gottes. Wer Weihnachtsfreude haben will, soll Christus in sich selbst den bereiten!

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Die Weihnachts-Formel [Was uns am Heiligen Abend bewegen soll]

Es gibt Menschen – sie sind sicher nicht die schlechtesten –, die es sich um den 24. Dezember herum verbieten, einer unkontrollierten Gefühlswallung zu erliegen. Sie zwingen sich statt dessen zu der nüchternen und realistischen Feststellung, dass das eigentliche Weihnachtsthema sie nicht berührt: das Thema, dass Gott Mensch, dass das Wort Fleisch geworden ist, dass der „holde Knabe im lockigen Haar“ das Schicksal ihres Lebens bedeute. Es quält sie der Widerspruch zwischen ihren weihnachtlichen Gefühlen und der fragwürdigen Sache, von der diese Gefühle ausgelöst werden: „Empfangen vom Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria.“ Wenn das mehr sein sollte als ein Märchen, dann müsste ja die Weltgeschichte einen anderen Sinn haben, als ich es bisher wähnte. Dann ginge es in meinem persönlichem Leben um ganz andere Themen als um Arbeit, Lust und Bankkonto, 41


dann würde das tägliche Vaterunser und ein bisschen Liebe zum Mitmenschen plötzlich mit schwindelnd hohen Kurswerten notiert. Es sind dürre Worte, dass der Mensch Jesus seinen Ursprung nicht in der menschlichen Generationenfolge hat, sondern dass Gott selbst in ihm den Raum der Geschichte betritt. Es sind dürre Worte, aber auch die Funktion der Atombombe lässt sich in nüchternen, mathematischen Formeln darstellen, obwohl das, was sie bei einer Explosion bewirkt, der Untergang einer Welt ist: der Verbrennungstod von Kindern, die Verwüstung kommender Generationen, verbrannte Erde und das Verstummen des Vogelgesanges. So ist es in umgekehrter Entsprechung auch hier: in dieser nüchternen Weihnachtsformel sind Aufgänge statt Untergänge und ist Leben statt Tod verborgen. Es ist eine schicksalhafte Formel für uns alle. 42


In Jesus Christus ist Gott selber unter uns getreten. Das ist etwas anderes, als uns in den alten Mythen berichtet wird, wenn etwa Zeus oder Apoll in Menschengestalt einen Ausflug auf die Erde machen, um eine kleine Inspektion dieser merkwürdigen menschlichen Rasse vorzunehmen. Denn die unsterblichen Götter des Olymps riskieren dabei nichts. Sie berühren die Welt nur so, wie die Tangente einen Kreis berührt, und kehren sicher auf den Olymp zurück. Hier aber verlässt einer die Etappe des Himmels und kommt in unseren vordersten Graben, teilt mit uns die äußerste Verlassenheit, die Höllen menschlicher Angst, die Qualen von Hunger und Durst. Schließlich lässt er auch sein Herz durchschauern von den großen Versuchungen, die uns bedrängen: von der Versuchung, den Kelch des Leidens nicht zu trinken, sondern einen schmerzlosen Ausweg zu suchen. Von der Versuchung, dem Weg des geringsten Widerstandes zu wählen und die Macht der zwölf Legionen Engel 43


zu alarmieren, um nicht in die Hände der Menschen zu fallen. Für diesen Christus wird es zur Versuchung, Gott zu sein und sich im entscheidenden Augenblick auf den Olymp zurückzuziehen. Deshalb ging es in Gethsemane und Golgotha hart auf hart. Nur ein kleiner Wink hätte genügt, um die schmerzvolle Umzingelung durch Schuld, Leid und Tod aufzusprengen. Dieser rettende Wink aber, der seiner Hand möglich gewesen wäre, erfolgte nicht, sondern er ließ sich lebend und sterbend in die Hände seines Vaters fallen. Er liebte sich zu Tode. Darum – und darum allein gibt es für uns die unglaubliche Chance, damit rechnen zu dürfen, dass Gott uns liebt und uns kennt, uns treu bleibt und uns nicht preisgibt. Deshalb dürfen wir Gott glauben, dass uns sein Herz gehört. So sehr wird Gott ein Mensch, so sehr liebt er, so unbedingt will er an sich selbst erfahren, was Menschsein heißt. Darum können und müssen wir ihm diese seine 44


Liebe uns sein völliges Zugeneigtsein glauben. Es sind dürre Worte: „Empfangen vom Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria“. Eine dürre, seelenlose Formel – oder bereits nicht mehr? Jesus Christus ist nicht von unten her, sondern von oben her. Die Gestalt Jesu ist nicht aus ihren erbbiologischen Zusammenhängen erklärbar. Er taucht wohl inmitten dieser Zusammenhänge auf: auch er hat eine Mutter, die ihn gebar, und eine Ahnenkette, wie wir sie alle. Gleichwohl geht er nicht darin auf, Glied einer Ahnenkette zu sein. Hier geschieht etwas Ähnliches wie in der Schöpfung, hier ruft Gott etwas ins Dasein, was vorher nicht da war. Er stellt es mitten in die Kontinuität der Geschichtsprozesse. Und doch haben alle, die von der Gestalt Jesu angerührt waren, erfahren: er ist bei aller Nähe zugleich ganz anders wie wir. Er tritt aus einem 45


Raum auf uns zu, der geheimnisvoll außerhalb alles dessen liegt, was wir als Stätte unseres Lebens kennen, wo uns Leiden und Freuden bereitet sind und wo wir uns schließlich niederlegen, um zu sterben. Darum ist die Weihnachtsgeschichte zurückhaltend und voller Scheu, so ähnlich angelegt wie eine Notenpartitur, bei der man die obere und die untere Linie zugleich lesen muss. Auf der unteren Reihe sind massive, irdische Vorgänge: eine überfüllte Kleinstadt, in der die Leute zur Volkszählung zusammenströmen, Mangel an Quartieren mit allen miserablen Begleiterscheinungen. Und da ist eine werdende Mutter, die ihre schwere Stunde in einem Viehstall durchstehen muss, um kurz danach mit dem Neugeborenen zu fliehen, weil sie mit ihrem Kind das Opfer der „großen Politik“ zu werden droht. Das alles ist wie eine Skizze dessen, wie unser menschliches Leben sich so ab-

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spielt und wie es in das größere zeitgeschehen verstrickt ist. Was gäbe es Menschlicheres als eine junge Mutter, und was könnte typischer sein als die Gleichgültigkeit, mit der der allgemeine Weltverlauf darüber hinweggeht? Was sind schon eine geängstigte Mutter und ein wimmernder Säugling in einer Situation, die durch statistische Fragen, durch das Gesetz der großen Zahl, durch den Verfolgungswahn von Tyrannen und schließlich durch die große Politik bestimmt ist? So irdisch und menschlich sind die Tonfolgen auf der unteren Notenlinie. Aber sie enthalten eben nicht die ganze Melodie. Darüber nämlich, in der oberen Reihe, singen die Engel, darüber steht der Himmel offen. Und nur wer diese obere Reihe mitliest, wird die ganze Partitur verstehen. In ihr klingt beides zusammen: dass Gott ganz menschlich und ganz nahe in unser Leben kommt, dass ihm nichts Menschliches fremd ist – und dass er gleichwohl aus ganz anderen Räumen in unser Leben einbricht. 47


Darum gibt es den Zusammenklang von oben und unten, darum gibt es die doppelreihige Partitur zu Weihnachten: die Geburtsgeschichte im Stall und das Halleluja der Engel dar端ber. Das bewegt uns Christen zu Weihnachten. Wir sollen sachlich, n端chtern und ehrlich sein, selbst wenn daraus eine Bekehrung entst端nde. Wo Weihnachten nur ein Fest der Formeln ist, dort ist es danebengefeiert. Darum lesen wir heute dankbar und froh die ganze Partitur von Weihnachten.

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Euch ist der Heiland geboren Ich wünschte, Sie stünden – wie einst die Hirten von Bethlehem – an diesem Hochfeste der Christenheit ganz unter der Verkündigung des Engels: „Euch ist heute der Heiland geboren, der ist Christus, der Herr.“ „Euch ist der Heiland geboren, der ist Christus, der Herr.“ Dieses Wort des Engels ist das Weihnachtsevangelium, es ist die ganze frohe Botschaft unseres Heiles. Und fortan hängt das Heil der Welt, das Schicksal Jesu und seiner Kirche an diesem Evangelium von Christus dem Herrn. Einst wird der Hohepriester sprechen: „Ich beschwöre dich beim lebendigen Gott: Sage, ob du Christus bist!“ Und Jesus wird mit seinem Ja in den Tod gehen. Aber wenig später werden seine Jünger in Rom, in Griechenland und Kleinasien alles, was sie glauben und bekennen, in 49


das eine Wort zusammenfassen: Christus, der Herr. Nie wieder wird dieses Wort verstummen. Und wenn einst unsere Welt vergeht, dann wird – mit Seligkeit oder Entsetzen – nur eine Erkenntnis Engel, Teufel und Menschen erfassen: Christus ist der Herr. Und das ist das Weihnachten an dieser ersten Verkündigung unseres Heils, es ist eine Handvoll der Ärmsten und Geringsten, denen sie gilt. Und diese Ärmsten und Geringsten, erschrocken vor der Herrlichkeit des Himmels, mussten wohl noch mehr erschrecken, wenn sie erfasst hätten, was verkündet wurde: Euch ist er geboren. Es ist also nicht die Wahllosigkeit des Himmels, die Gleichgültigkeit gegen alles irdische Maß von Macht, Bedeutung, Bildung und Frömmigkeit, wenn der Himmel zuerst zu den Armen geht. Nein es ist die ewige Wahl dessen, der in der heiligsten Nacht außerhalb der Herbergen geboren werden sollte.

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Darum müssen die Boten des Himmels zu jenen gehen, die kein Haus haben. Denn Christus der Herr hat seinen Platz dort gewählt. Euch ist er geboren! Gewiss, die Freude soll allem Volke zuteil werden, aber das hebt weder die Wirklichkeit noch die Kraft noch die Seligkeit des andern auf: für euch. Es wird gar nicht verkündet von der Geburt eines Menschen, die irgendwann auch einmal für diese Geringen und Armen – und deshalb für uns – bedeutend werden könnte. Verkündet wird: Das Leben des Kindes von Bethlehem ist vom ersten Atemzug an ein Leben für uns. Genau das meint der Engel, was wir im Glaubensbekenntnis beten: „Für uns Menschen und um unseres Heiles willen ist er vom Himmel herabgestiegen.“ Noch kann dieses Kind es nicht mit dem eigenen Munde sagen, aber es drängt Gott, dass es schon in dieser Nacht gesagt würde: um unseretwillen betritt der Sohn Gottes die Welt, die Erde. 51


Das ist das Thema seines Lebens, es wird später aus jedem Wort und jeder Tat Jesu sichtbar werden: für euch – bis zu jener Stunde – und es wird wieder eine Nacht sein und er wird wieder mit den Geringsten beisammen sein, da er wieder für alle Zeit mit dem eigenen Munde verkündet: „Das ist der Leib, der für euch hingegeben wird.“ Bis er heimkehrt zum Vater, um eine Wohnung zu bereiten – für uns. Für uns: das lässt die nüchternste Welt innehalten, das macht den kältesten Tag warm und das düsterste Herz gestimmt, das ergreift uns bis in die letzten Tiefen der Seele: Gott hat es gesagt und getan in der größten Stunde der Welt – für euch. Dieses Kind ist für euch der Heiland der Welt. Nichts wird die Herrlichkeit dieses Kindes verraten. Euer Glaube wird nicht aufgehoben, sondern erst recht gefordert. Ihr werdet durch alle Zeiten dieser Erde immer nur ein Kind finden als das große Zeichen, ein Kind, das der Not des Lebens ausge52


setzt ist. Aber dieses Zeichen ist dafür, dass er um euretwillen kam – und immer bleiben wird. Für euch, ja für dich, für mich. So persönlich Jesus, der Sohn des allmächtigen Gottes, in die Welt kam, so persönlich ist er zu mir gekommen. Und da leuchten alle Lichter unserer Seele auf, die Lichter des Glücks, die Lichter der Hoffnung und die Lichter des Dankes. Jesus ist für mich geboren. Dieser Jubel und diese Ergriffenheit über die Liebe Gottes zu uns berührt nicht nur, sondern packt uns heute beim Herzen und fordert unser Herz. Wenn Jesus für mich geboren wurde, was hält dann mein Herz von diesem Kind, das leben wird und Mann werden und die einzige Botschaft des allmächtigen Gottes verkünden wird, die Botschaft, die dieses mein Herz in seiner Liebe unsterblich machen will?

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Was hält mein Herz von diesem Kind? Ist es ihm treu geblieben und wird es treu bleiben, selbst wenn dieses Herz – wie dieses Kind – vom starken Gegenwind der Zeit in die Flucht geschlagen werden sollte? Wird dieses Herz immer wissen, dass es nur dann richtig schlägt, wenn es für dieses Kind schlägt? Wenn Jesus für mich geboren wurde, was hält dann mein Herz von der Christlichkeit eines Volkes, von der Christlichkeit der Menschen und der Menschheit? Es war zweifellos ins Herz unseres Volkes gezielt, als Papst Paul VI. dem österreichischen Bundespräsidenten bei seinem Besuch sagte: „Es geht um den christlichen Humanismus, dessen die Menschheit heute so dringend bedarf. Ein in sich geschlossener Humanismus, der die Augen einseitig auf die Werte des Geistes richtet, sie aber vor Gott verschließt, kann nur scheinbare Erfolge zeitigen. Der Mensch kann freilich die Erde ohne Gott gestalten, aber ohne Gott kann er sie letz54


ten Endes nur gegen den Menschen formen. Der in sich geschlossene Humanismus ist ein unmenschlicher Humanismus.“ Hätte unser Volk Weihnachten verstanden, wenn es sich nicht auf seine Christlichkeit besänne? Wir können dieses hohe Fest nicht würdiger feiern und nicht fruchtbarer ausklingen lassen, als so, wie es Maria, die Mutter Jesu, gemacht hat in der geschichtlichen Stunde der Menschheit: „Maria bewahrte alle diese Geschehnisse und bewegte sie in ihrem Herzen.“ Unser Herz soll es heute und immer wissen: Jesus ist für mich geboren. Gott sei Dank, dass es Weihnachten gibt!

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Sie fanden das Kind Kaum dass die Weihnachtsbotschaft über den Fluren Bethlehems verklungen war, machten sich die Hirten auf und – sie fanden das Kind. Sie fanden das Kind. Kann einem dieses Wort in dieser Nacht nicht zu Herzen gehen? Sie fanden das Kind. Alle Welt feiert Weihnacht – auch alle heidnische Umgebung. Sie sind gelaufen und haben gekauft, sie haben geschenkt und empfangen, aber das Kind spielt keine Rolle. Die Glocken läuten durch die Nacht, sie hören sie, sie läuten nur durch diese Nacht, aber das Kind spielt keine Rolle. Alle christliche Welt feiert die Geburt Christi. Sie stehen zu ihr, sie freuen sich an ihr, sie singen ihre Lieder. Doch wie viele finden das Kind? Meinen Sie nicht auch, dass Weihnachten bei aller Trautheit des Beisammenseins, bei allen Gaben, die beglücken, ein immer ernsteres Fest wird? 56


Meinen Sie nicht auch, dass bei einer Weltlage, die alles zu geben und alles zu nehmen verheißt, die aussichtslos und aussichtsvoll ist, die Menschheit in eine einzige und einzig große Sehnsucht gedrängt wird? Stimme es, was R. Raffalt in „Das Ende des römischen Prinzips“ schreibt: „Will nicht der ausgebeutete, geschundene, missbrauchte Mensch von heute im Grunde genau dasselbe wie sein vom Komfort, von der Begierde und von der Droge zerrütteter Bruder – nämlich glauben können?“ Wäre es wirklich so unvernünftig, mitten in der Bedrohtheit der Welt, bei der Fülle geistiger Intelligenz und der innersten geistlichen Leere so vieler Mensch, es noch einmal mit dem kleinen Bruder von Bethlehem zu wagen, mit dem Lebensprinzip Jesus Christus noch einmal anzufangen und alles auf die Karte Gottes zu setzten? Den Gesetzen und Verheißungen Gottes mehr zu glauben als den Prophezeihungen von Rufern und sooft 57


Verführern, die morgen schon vor Gericht gestellt werden können oder bald nicht mehr sind? Sie fanden das Kind. Vielleicht sind wir zu groß geworden, vielleicht haben wir ein zu dickes Fell bekommen, vielleicht hat uns der Fortschritt die Augen angebrannt, vielleicht haben zu viele persönliche Entschuldigungen, vielleicht stolpern wir über die Institution Kirche, vielleicht warten wir zu laut auf den großen Mann. Der große Mann kommt nicht, denn der kleine Bruder von Bethlehem ist schon da. Sie fanden das Kind. Der Weg vom Hirtenfeld bis Bethlehem ist nicht weit, aber die Schafe müssen zurückgelassen werden: der Stolz, das Besserwissen, die Gier und der Trieb. Der Weg vom Hirtenfeld bis Bethlehem ist nicht weit, aber man wird sich durchfragen müssen – und wird in Kauf nehmen müssen, angeprangert zu werden, missverstanden und unverstanden zu sein, wenn wir nur das Kind finden, den nackten kleinen Bruder von Bethlehem. 58


Der Weg ist nicht weit. Man kann Jesus Christus überall finden: in der Geldgier, in Schmutz und Ausschweifung, im Terrorismus und in der tollsten Musik, in Autounglück und Autoglück – wenn nur die Sehnsucht bleibt. Es gibt keinen wohlmeinenderen Weihnachtswunsch an alle Christen, Nichtmehr-Christen und Unchristen als den, sie möchten das Kind finden. Denn wer wollte, dass wir erst durch andere Nächte hindurchmüssen, bevor wir atomisiert als müdes Häuflein endlich durch die Sternennacht der Heiligen Nacht wanken werden? Die Sehnsucht der Menschheit ist so groß wie die Erde, deshalb ist die Hoffnung der Erde so groß wie der kleine Bruder von Bethlehem, wie das göttliche Kind, der gütige und allmächtige und menschenfreundliche Gott. Er möge in dieser heiligsten Nacht die Trauernden trösten, den Kranken seine Hilfe anbieten, den Glücklichen ihr Glück 59


erhalten, den Hungernden ein Geschenk senden, die Einsamen besuchen mit seiner Gnade, den Ratlosen ein Licht entzĂźnden, die Verzweifelten mit einer Freude retten, er mĂśge uns alle das Kind finden lassen, den kleinen Bruder von Bethlehem, den groĂ&#x;en Gott des Himmels.

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Leuchtende Nacht der Welt Sie hat ihre Vorzeit, ausgelöst durch menschliche Schuld und göttliche Verheißung. Der Blick Gottes fiel auf ein kleines Volk, das den Glauben an Jahwe unverfälscht bewahren sollte, bekräftigt durch den Gott des Berges Sinai. Eine wechselvolle Geschichte warf es in ägyptische Knechtschaft und assyrische Tyrannei, in unzählige Kriege, in einen vierzigjährigen trostlosen und trostvollen Wüstenaufenthalt, in Treue und Untreue, geführt von großen und minderwertigen Gestalten, von Königen in Würde und Scham, begleitet von Propheten göttlicher Prägung, die die Nähe Gottes, furchtbar und verheißend verkündeten, umstrahlt von mutigen und herrlichen Frauen. Geschlechter um Geschlechter gingen dahin in unerfüllter Sehnsucht, bis in einer nur für Arme sensationellen Nacht, mitten im Schlafe der Menschen, das Wunder göttlicher Huld geschah, der Messias in den Armen einer Jungfrau dieses Volkes. 61


Gott hat Wort gehalten – und das göttliche Wort wurde Fleisch. Seit dieser Nacht geht Gott nicht mit einem Volk, sondern mit der gesamten Menschheit einen neuen Weg. Das Gottesreich ist aufgerichtet, die Frohbotschaft verkündet. Überall gibt es Volk Gottes. Aber es muss wieder durch eine wechselvolle Geschichte wandern, schicksalhaft gebunden an den Sohn der Jungfrau, bis es in neuer Verheißung ankommen wird im neuen Reiche des Sohnes, in dem unzerstörbares Glück, vollkommene Gerechtigkeit und dauerhafter Friede herrschen. Doch wie ehedem das noch nicht geborene Kind das Leben der damaligen Menschen bestimmte, so muss die erfolgte Geburt des Messias in das Leben jeder Generation hineinwirken, zugleich aber auch die Wiederkunft dieses Messias und die Begegnung jedes Menschen mit dem Jesus Mariens – in absehbarer Zeit. Und die Huld Gottes: sie ist nicht sparsamer geworden, sondern huldvoller.

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Weihnacht – die leuchtende Nacht der Welt – ist die Nacht des göttlichen Ernstes. Ich weiß nicht, mit welchen Gefühlen Sie zur Weihnacht gekommen sind. War es mit dem Gefühl der Trautheit, der Kindheitserinnerung, der Lichter des Christbaums oder in physischer und seelischer Erschöpfung? Atemlos oder traurig oder erwartend und hoffend? Mir will scheinen, dass Weihnachten immer ernster wird, je mehr sich die Menschen verlieren in Geschäften, Geschenke, Gleichgültigkeit und innere Leere. Sicher ist, dass Gott den Einsatz seines Sohnes mit der Erde gewagt hat, mitten hinein in die Unheilssituation der Menschheit, hinein in die Nüchternheit jedes einzelnen Menschenlebens. Da sind weder Träume noch Märchen gestattet. Ob ich ihre Zustimmung erhalte? Unserer Generation wird viel Kraft abverlangt, aber ihr fehlt die Entscheidungskraft für Chris-

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tus. Wie vielen ist er keine lebendige Gestalt in ihrem Lebenshaushalt? Bei vielen rangiert er an 3., 4. und 8. Stelle, vielen ist er das Letzte, an das sie denken, viele erwarten das Heil in der Politik. Dabei ist ihr Herz unruhig und unruhig, dabei lebt so viel ungestillte Sehnsucht in ihnen, die sich bis zum Exzess austobt, dabei geht es immer toller auf der Welt zu. Deshalb wird das Weihnachtsfest immer ernster. Es wird nicht mehr verstanden. Und es ist doch so deutlich gesagt: Es gibt in keinem anderen Namen Heil, als im Namen unseres Herrn Jesus Christus. Wer zur Weihnacht kommt, der soll die Entscheidung für Christus wagen, da Gott den Einsatz seines Sohnes gewagt hat – für die Welt, für die Menschheit. Keine aufgeputschte Entscheidung, sondern eine Entscheidung, die der sachlichen Erkenntnis folgt. Dann wird Christi Geburt, dann wird ein klarer Geist, ein ruhiges Herz, ein hoffender Sinn und eine christliche Erneuerung. 64


Wir sind sie Gott und unserem Volke schuldig. Weihnacht – die leuchtende Nacht der Welt – ist die Nacht der göttlichen Bitte. Die Gestalt eines Kindes bittet. Im Kinde von Bethlehem bittet Gott jeden Menschen, ihn aufzunehmen mit aller Armut und Ohnmacht, bei aller Ausgestoßenheit und Gefährdung. Seit Maria und Josef hatten es die Menschen, die Gott aufnahmen, niemals leicht. Sie mussten gefasst sein auf göttlichen Eventualitäten und auf alle göttlichen Schicksale. Aber Gott hat es ihnen allen göttlich gelohnt. Sie besaßen schon auf Erden den Frieden und das Glück. Gestalten, führend in Geschichte und Heilsgeschichte, wie sie nur die Geburt Christi gebären konnte, und Gestalten, die unzähligen unbekannten und verborgenen, deren Namen längst ausgelöscht ist, die so still lebten wie die Jungfrau Maria, aber

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sie haben nicht minder Geschichte gemacht. Ob wir uns zu minder dünken, heute Geschichte zu machen? Wer Gott aufnimmt, macht Geschichte. Die Gestalt eines Kindes bittet. Im Kinde von Bethlehem bittet Gott jeden Menschen, Freude an Gott zu haben. Nicht nur Freude am Kinde von Bethlehem, sondern Freude an Gott, Freude an Jesus Christus, den Gekreuzigten, Freude am Christentum, ja, Freude an der Kirche Jesu Christi, welches Gewand sie auch immer trägt, ob das Gewand des Alltags, oder das Gewand der Trauer oder das Gewand des Blutes oder das Gewand des Glücks. Bestand je der geringste Zweifel daran: Die Freude an Gott macht den Menschen glücklich? Soll ich Sie in jene Wohnungen in Linz oder Wien oder Salzburg führen, wo Menschen leben, oft fast völlig verlassen und in bescheidensten Verhältnissen, die Freude an Gott haben und glücklich sind?

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Weihnacht – die Nacht der göttlichen Huld, die Nacht des göttlichen Ernstes, die Nacht der göttlichen Bitte. „Seht, ich verkünde euch eine große Freude: Heute ist euch der Heiland der Welt geboren!“

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Dreiklang von Bethlehem Immer wenn es Weihnacht wird, ist uns, als sähen wir durch die Hülle der Jahrhunderte eine junge Frau, eine werdende Mutter, wie sie sich müde und bleich zur letzten Herberge ringt. Allein es ist kein Platz für sie, und auch nicht für ihr Kind. Maria stand vor ihrer großen Stunde auf der Straße. Niemand war, der der größten aller Mütter eine Kammertür öffnete. „Er kam in sein Eigentum, doch die Seinen nahmen ihn nicht auf.“ Wissen wohl alle, die das heutige Fest feiern, was am Weihnachtswunder am erstaunlichsten ist? Dass Er dennoch kam, obwohl die Menschen seiner Liebe keine Räume boten. Das vermag nur eine Liebe, deren Quellgrund in den Tiefen der Dreifaltigkeit liegt. Solche Liebe lässt sich nicht abhalten: sie sah das Weh der alten Welt, sie blickte durch den Schleier der Jahrtausende und ergoss sich aller Wehr zum Trotz ins Blut der Menschen, und fand Wunderwege, uns zu retten. Wir sind geneigt, dies zu übersehen: 68


Das damalige Rom sank immer tiefer ins Laster. Die antiken Großstädte waren Lasterhöhlen einer geradezu modern anmutenden Gottlosigkeit. Was galten die Götter? Was zählte Frauenehre? Welch frivoles Spiel wurde mit den Kindern, die der Vater annehmen oder verwerfen konnte, getrieben! Welch grausames Schicksal trugen die Sklaven! Nicht besser war es in der Provinz draußen. In den Urwäldern wütete das Entsetzen, in Gallien wurden Menschen geopfert. Und das Schlimmste: die Menschen wussten nicht mehr, wozu sie lebten. Weder das epikuräische Lebensideal „Iss und trink, solange es geht!“, noch die bittere Lehre der Stoiker vermochte einen ernsten Menschen zu befriedigen. Das antike Heidentum schrie nach Erlösung. Und Weihnacht brachte die Wende. In der ersten Weihnacht brach der wunderbare Dreiklang auf: „Fürchtet euch nicht! Freuet euch! Friede auf Erden!“

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Heute mag uns der Weg nach Bethlehem zur breiten Straße des 20. Jahrhunderts werden. Darauf wandern Millionen von Menschen. Sie suchen den Frieden, suchen Sicherheit und Geborgenheit, suchen einen Winkel, wo das Glück zu Hause ist. Es ist eine geplagte und gejagte Menschheit, ein buntgewürfeltes Weh in allen Rassen und Farben, ein wirres Durcheinander von satten Reichen und hungernden Armen. Alle aber sind gezeichnet. Welch ein Fluch, die Völker durch die letzten Jahrhunderte getrieben. Welch grausiges Morden an Geborenen und Ungeborenen! Welch Unmaß an Treulosigkeit und Vertragsbruch, an zertretender Frauenehre und zerrissenem Eheband! Was für eine gewaltige Parallele zur gottfremden Antike! Die moderne Geisteswelt ist nahe daran, den Bankrott ihrer Idee von der Selbsterlösung zuzugeben. Nein, weder die Wissenschaft noch der Fortschritt werden erlösen. Erschütternd das Bekenntnis von Bernhard Shaw: „Um der Wissenschaft 70


willen half ich mit, den Glauben von Millionen Betern in den Tempeln von tausend Glaubensbekenntnissen zu zerstören. Und nun sehen sie mich an, und sie schauen die größte Tragödie eines Atheisten, der seinen Glauben verloren hat.“ Der Mensch ist lange genug – nach Carl Jaspers – „von einem Gebäude ins andere geflüchtet.“ Nun sind die Häuser eingefallen. Ja sie sind schon lange eingefallen – aber ob nun die Welt wirklich auf dem Wege in der Folgerichtigkeit ihres eigenen Denkens ins endliche Vaterhaus unterwegs ist? Dieses Vaterhaus steht heut noch in der stillen, demütigen Abgeschiedenheit von Bethlehem, wo ein Kind die Arme reckt nach dieser unseren armen Welt und nach jedem Menschen, der diesem Kinde seine Liebe anbietet, wenn auch nur mit seinen Augen oder seinen Tränen. Ja, das ist der tiefste Grund der Weihnachtsfreude, der auch heute gilt: Gott wird auch heute noch in der Welt geboren, Gott kommt trotz dieser unserer Welt 71


und trotz aller harten und grausamen Menschen in diese Welt, trotz Platzmangel auf diese Erde. Der Dreiklang von Bethlehem hat am Ende des 20. Jahrhunderts plötzlich, und gerade weil die Welt heute so ist, wie sie ist, wieder eine ungeheure Chance: „Fürchtet euch nicht! Freuet euch! Frieden auf Erden!“ Fürchtet euch nicht, wenn euch die Welt verzagt und hoffnungslos macht! Freuet euch, denn euch ist das Kind geboren, der Allherrscher der Welt! Friede auf Erden – wir mögen stocken und zaudern, aber auch der Friede und gerade der Friede steht in der Macht des Kindes von Bethlehem. Nicht trübe Weltgedanken sollen heute unser Gemüt bedrücken, sondern der Dreiklang von Bethlehem soll uns stark und mutig hoffen lassen: Fürchtet euch nicht! Freuet euch! Frieden auf Erden!

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Familie – Gelebte Kirche Jeder sollte bisweilen danach fragen und darum ringen, sich selbst zu begreifen und sich selbst zu verstehen. Sonst kann es passieren, dass man sich zwar in seinem Berufe, bei seinem Wagen, in der Politik oder bei seinem Hobby besser auskennt als bei sich selbst. So hat auch die Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil nach ihrem Selbstverständnis gefragt: Was ist eigentlich Kirche? Sie gibt folgende Antwort: Kirche – als Gemeinschaft der von Gott zum Glauben Berufenen ist ihrer Bestimmung nach wirksames Zeichen des Heiles für die Welt. Eine wunderbare Definition! Wir erkennen darin die Elemente, die der alte Katechismus vom Sakrament aussagt: ein gnadewirkendes Zeichen, von Christus eingesetzt. Die Kirche ist Sakrament der Welt. Kirche ist Zeichen des Heiles für die Welt. Wie kann sie das sein?

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Indem sie im Glauben an Jesus jene Hoffnung in der Menschheit lebendig hält, ohne die es keinen Daseinssinn gibt, eine Hoffnung auf jene große Zukunft, die Gott selbst ist, das tragende Geheimnis unseres Daseins. Es gibt sich kund in Jesus – als Grund, als vergebende Liebe und als ewige Treue. Sie kann allerdings nur Zeichen sein, wenn sie aus dieser Hoffnung lebt, je mehr sie diese Hoffnung pflegt und im praktischen Leben unter Beweis stellt. Aber so ist sie tatsächlich Zeichen des Heiles für die Welt und Sakrament der Welt. Kirche ist überall dort, wo sich Gläubige zusammenfinden und aus dieser Hoffnung zu leben versuchen. Das ist in der christlichen Familie der Fall. Und so nennt das Konzil in gerader Konsequenz die christliche Familie „Hauskirche“. Sie erhebt sie damit zum Zeichen des Heiles – mindestens für die Nachbarschaft und Umgebung, sie erhebt sie ebenso zum Sakrament der Welt. Wie kann nun heute die Familie gelebte Kirche sein? 74


Wie kann sie Zeichen des Heiles sein? Zeichen eines erlösten Daseins in unserer Zeit? Heute ist die Familie zu einem Spannungsgefüge geworden: Die Spannung zwischen Mann und Frau als Partner und Gleichberechtigte, die Spannung zwischen Eltern und Kindern, zwischen Alten und Jungen, zwischen Hausfrau und Beruf. Heute könnte die Familie als Intimraum Unersetzliches leisten: 1. sie könnte ein Heim bieten nach der anstrengenden Berufsarbeit und der Hektik des Tages, 2. sie könnte nach dem zweckgebundenen Rollenleben unserer Gesellschaft das persönliche Zueinander und Miteinander bieten, 3. sie könnte entgegen aller Verfremdung und Verrohung die natürliche Nähe zum Leben bieten: in der ehelichen Liebe, in Geburt, Tod und menschlichem Schicksal innerhalb der Familie. Sie kann es nur, wenn sie ganz Familie ist, wenn sie ganz ihre Eigenart als 75


Spannungsgefüge und Intimraum annimmt, wenn sie all das so zu bewältigen sucht, wie man es nur immer aus dem Glauben und aus einer echten Hoffnung zu tun vermag. Wie kann die Familie gelebte Kirche sein? Die christliche Familie lebt unter dem Anspruch der Frohbotschaft der Erlösung. Das bedeutet: Gott ist wesentlich vergebende und freimachende Liebe. Und das beinhaltet: 1. Offenheit und Weite für ein gegenseitiges Verstehen, 2. Vergebung, wo man aneinander schuldig wird, 3. Ermutigung zum Sich-VerschenkenKönnen im Wissen um den tieferen Reichtum im Innersten des mit mir zusammenlebenden Menschen, 4. Kraft zum Durchhalten – entsprechend der Treue Gottes, die niemals aufhört, auch wenn diese menschliche Treue manchmal unzumutbar erscheinen mag.

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Die christliche Familie lebt aus dem Geheimnis des Brotbrechens. Denn das Brotbrechen, die Eucharistie, ist ein zentrales Sakrament der Kirche. Die Kirche bricht dieses Brot an jedem Tag. Also soll es auch die Hauskirche tun. Sie tut es im Teilen: Im Teilen des Lebensunterhaltes, im Teilen der Freuden und der Schwierigkeiten, in der Bereitschaft zum Teilen mit anderen Menschen, ob wir sie gut kennen oder nicht kennen, in einer geschwisterlichen Caritas. Dieses Teilen ist eine wunderbare Sache. Denn das Teilen macht Leben möglich und weckt Hoffnung, weil Gemeinschaft erlebt wird. Und in diesem Teilen wird – erinnern Sie sich an das Brotbrechen Jesu mit den Emmausjüngern und beim letzten Abendmahl – wird Christus sichtbar und der Geist Jesu lebendig und gegenwärtig.

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So wird die christliche Familie tatsächlich zu einem Zeichen erlösten Daseins, sie strahlt aus, sie ermutigt andere Menschen zu ebensolcher Großzügigkeit und Weite. Sie kann so viel tun zur Freude anderer, allein durch ihre ungezwungene Gastfreundschaft. In solcher Atmosphäre wird Leid ertragbar, Spannungen sind im Glauben an den anderen und in der Hoffnung auf eine letztlich helle Zukunft auszuhalten. Hier wird offenbar, dass es im christlichen Glauben um ein erlöstes und befreites Dasein geht, in dem der Mensch ganz Mensch sein kann, hier wird offenbar, dass das Evangelium, die Frohbotschaft und damit die Kirche als Modell für ein gemeinsames Leben aus dieser Botschaft in der heutigen Zeit eine ungeheure Aktualität hätte. Denn darum geht es ja inmitten unserer Industriegesellschaft mit ihren Problemen: wie man die menschliche Seite bewältigt, wie man lieben kann, indem man den andern nicht für sich verbraucht, wie man Spannungen aushält, 78


wie man schöpferisch und frei sein kann, indem man nicht dem Konsum verfällt, sondern schenkt. Hier wird offenbar, dass Glaube mit Realität zu tun hat und viel mehr verlangt als das Sich-Beugen unter Wahrheiten. Hier wird offenbar, dass die Eucharistiefeier, in der Christus selbst das Brot bricht und wir aus seiner Hand essen, eine entscheidende Bedeutung für die christliche Familie besitzt. Denn hier bricht jedes Mal auf die vergebende, teilende und schenkende Liebe Gottes in Jesus Christus, und die Erfüllung aller menschlicher Hoffnung im verklärten und auferstandenen Herrn Jesus Christus.

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Familie Viele Eltern haben heute ein schweres Herz, weil sie mit den heranwachsenden Kindern nicht mehr zurechtkommen, weder mit ihrem äußeren Leben, noch mit ihrem religiösen. Man wird aber auch sagen müssen: Genug junge Menschen haben auch ein schweres Herz – bei aller nach außen hin vielleicht gezeigten Unbekümmertheit. Ich möchte zunächst etwas Grundsätzliches aussprechen: 1. Es ist nicht zufällig, dass Jesus im Tempel auf die Frage der Mutter, in der ein unüberhörbarer Vorwurf steckt, mit einer Gegenfrage antwortet, die klar eine Ablehnung zum Ausdruck bringt. Doch erst die moderne Anthropologie, die Wissenschaft vom Menschen, hat uns hier recht sehen gelehrt. Es ist uns geläufig, dass Christus uns in allem gleich geworden ist außer der Sünde. Er war ein richtiger Mensch. Dann aber hat er wie wir alle als erste irrtümliche 80


Zuwendung da Ja erfahren, das seine Mutter zu seinem Kommen und Werden sprach. Er hat die Pflege, Sorge und Liebe seiner Mutter erlebt und von ihr Zutrauen erhalten. Es ist nicht gleichgültig, ob ein Mensch dies am Anfang seiner Existenz bekommt. Wird es ihm verweigert, geschmälert, oder nicht im rechten Zeitpunkt gegeben, lernt er das Trauen, Zutrauen und Vertrauen, die er in einem lebenslangen Reifungsprozess entfalten muss, nicht. Schwerste Störungen sind die Folge. In dem Maße aber, wie die Mutter sich durch ihr Verhalten zu diesen jungen Menschen bekennt, in eben diesem Maß sieht das Kind die Mutter an, bekennt sich zu ihr und hängt an ihr. Aber es kann nicht zeitlebens bei ihr verbleiben, sonst wird der Eigenstand blockiert und die freie Entfaltung der Persönlichkeit behindert. Darum muss in rechtem Zeitabschnitt eine zweite Ent-Bindung erfolgen, in der die Mutter das Kind freigibt zu einem fortschreitenden größeren Selbständigwerden, zum Leben. 81


Hierin macht Jesus keine Ausnahme – sehr zum Leid seiner Eltern. Hier ist Maria zum ersten Mal Schmerzensmutter – und für viele Mütter wird dieses Bild in den kritischen Jahren des Kindes eine echte Zuflucht sein. 2. Hinter dem aggressiven Verhalten junger Menschen steht aber auch die Frage nach dem Vater. „Wusstet ihr nicht, dass ich dem sein muss, was meines Vaters ist?“ Die Kindheit ist zu Ende. An dieser entscheidenden Stelle zeigt uns der Evangelist Lukas Jesus. Jesus ist kein Einzelfall. Die Suche nach dem Vater, die er mit 12 Jahren vernimmt, ist ein alltägliches Geschehen. Jeder junge Mensch, bewusst oder unbewusst, schaut nach der Gestalt aus, die er bereits kennt, die aber eigentlich erst jetzt Relief und Bedeutung für ihn erhält. Es ist die Gestalt des Vaters. Er hat nicht nur von dem jetzt freizugebenden Kind wegzulieben, sondern unentbehrliche Hilfestellung für den jungen Menschen zu leisten. Dieser setzt seinen Fuß über die 82


Schwelle der Kindheit in den Raum seines Lebens. In ihm regt sich der Drang nach Eigenständigkeit, nach eigenmächtigem Agieren und Reagieren, nach persönlichen Antworten auf die Situation und Widerfährnisse des Lebens – und nach Verantwortung. Das Sich-Erkennen, Sich-Annehmen und Sich-Wandeln je nach Zeit und Umständen hängt damit zusammen. Da sucht der junge Mensch nach der Vatergestalt, die ihm alle diese Haltungen im lebendigen Beispiel zeigt. Der Vater ermutigt die Kinder durch sein Im-Leben-Stehen, den Weg und die Begegnung mit dem Bereich des Berufes auf sich zu nehmen. Auch die Ordnung im Außenraum des Lebens nach Raum und Zeit, nach Gesetz und Selbstverantwortung gehören zu den Verhaltensweisen, die vom Vater ablesbar sein sollen. Seine Aufgabe reicht aber noch weiter. Das Gewissen will geweckt werden durch sein einsichtiges verantwortetes Handeln. An ihm soll der Mensch erfahren, dass 83


man sich auf jemand verlassen kann, an ihn wirklich glauben kann. Dann wird auch der Glaube an den Vatergott leichter gelingen. Es ist ein hohes Zeugnis für den stillen Heiligen Josef, wenn der Mensch Jesus so selbstverständlich zu Gott Vater sagen konnte, wenn er die ungeheure Belastung eines Gehorsames gegenüber diesem Vater bis zum Tod tragen konnte. Wo anders hätte denn der junge Jesus diesen Gehorsam gesehen und gelernt, wenn nicht bei dem Mann, der sich in aller Schlichtheit unter einem kaum verstehbaren Willen Gottes beugte? 3. Und nun stehen wir vor der Frage vieler Eltern: Wie können wir den Auszug aus dem Glauben, aus der Kirche, verhindern und aufhalten? Die grundlegende Antwort ist bereits gegeben. Und nicht immer sind die Eltern schuld, wenn junge Menschen von der Kirche plötzlich nichts mehr wissen wollen – wie auch Maria und Josef nicht schuld waren,

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dass Jesus plötzlich im Tempel zurückblieb. Gewiss aber geht der allgemeine Trend eher fort von der Kirche. Gewiss hat die Kirche momentan nicht das Image, das der Jugend imponiert. Gewiss spielt das ungeheure Angebot der Welt, das für junge Menschen verwirrend ist, die Atmosphäre auf dem Arbeitsplatz, die Gesellschaft, das persönliche Problem, das unbewältigte Problem eine große Rolle im Glaubensleben des jungen Menschen. Sie haben es heute sicher viel schwerer, sich den Glauben zu erhalten und den Glauben zu bauen. Was Eltern für junge Menschen tun können? Ich meine: Hier ist der persönliche Glaube der Eltern und das persönliche Glaubenswesen aufgerufen, das oft genug ergänzen muss, was der Religionsunterricht schuldig geblieben ist. Die jungen Menschen gehen auf den Grund. Sie wollen wissen, warum 85


sie in die Kirche gehen sollen, warum der Gottesdienst so wesentlich ist, warum sie kommunizieren sollen, warum der Glaube die wesentlichste Lebenshilfe ist und die Bedingung für das Weiterleben. Die jungen Menschen wollen Begründungen, überzeugende und möglichst persönliche Begründungen. Je persönlicher, desto wirksamer wird man ihnen Zeit lassen müssen. Dass dabei die eigene Treue und das Gebet der Eltern nicht auslassen darf, ist selbstverständlich. Hat sich aber ein junger Mensch vom Glauben entfernt, dann muss er es wohl unter vier Augen von Zeit zu Zeit, – selten, aber doch – hören, dass sein vernachlässigter Glaube den Eltern große Sorgen bereitet. Wir schätzen es an allen Eltern, die nicht müde werden, sich mit Vornehmheit und Diskretion des Glaubens ihrer heranwachsenden Kinder anzunehmen. Wir schätzen es an allen jungen Menschen, die bereits ihr religiöses Leben fest und kräftig selber in die Hand genommen

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haben. Sie tun das Richtige und wir kรถnnen ihnen nur gratulieren.

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Silvester Am letzten Abend des Jahres haben wir uns als Christen beim Altare Gottes eingefunden. Geeint mit den vielen in unserer Heimat, die unseres Geistes sind, singen wir dem scheidenden Jahre unser Lied. Sein Text lautet: „Großer Gott, wir loben Dich!“ So sind wir es gewohnt, so ist es uns Bedürfnis. Was uns in den letzten Stunden des alten Jahres in der Seele bewegt, ist unser Leben. Unser Leben in dieser Zeit, in dieser Welt. Sind wir imstande, in der Kühnheit der Weltraumflüge, in den Verbindungen der heutigen Chemie, im Geist der Konstruktionen, in der Auferstehung zu einem neuen, gesunden Leben und in unseren guten Tagen Gott zu loben? Aber es wird so oft ausgesprochen: Die Welt sei heimgesucht vom Schweigen Gottes, Gottesfinsternis läge über der Erde und sei der Charakter der Weltstunden. Der Atheismus beherrsche das durch-

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schnittliche europäische Denken, Gott komme darin nicht mehr vor. Deshalb die quälende, schreiende Frage nach dem Lebenssinn der Menschen, deshalb eine gegen das überkommende Leben protestierende Jugend, deshalb die vielen Lebenslügen, mit denen man viel Lebensleere zudeckt, deshalb der Lebenshunger, der doch keine Sättigung erfährt. Können wir darob Gott loben? Wir sehen die schaurigen Bilder der östlichen Kriegsschauplätze, wir hören die Klagen der gepeinigten Völker. Ich sehe an diesem Tage die traurigen Eltern in Kärnten, deren zwölfjährige Tochter auf unerklärliche Weise im letzten Sommer in den fahrenden Zug lief und getötet wurde. Ich sehe den jungen Mann, dem in diesem Jahre ein Unfall die Beine lähmte. Ich sehe all die unheilbar Kranken und alle, die in diesem Jahr vom Tode gezeichnet wurden, seiner harren und harren müssen, ich sehe die vielen, die in dieser Stunde verzweifelt sind und ihr Leben wegwerfen möchten.

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Es ist nicht leicht, mit dem Dulder Job, der seine Kinder und seine Habe an einem Tag verlor, zu sagen: „Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen, der Name des Herrn sei gepriesen!“ Es ist leicht, ein erschreckendes „Großer Gott!“ zu sagen, aber nicht leicht: „Wir loben Dich!“ hinzuzufügen. Wie sehr wünschte ich, alle, die in diesem Jahr heimgesucht wurden, sie möchten es dennoch wagen zu sprechen: „Großer Gott, wir loben Dich!“ – wenn auch ganz leise. Großer Gott, wir loben Dich, nicht, weil Du uns heimgesucht hast, sondern weil Du immer recht hast. Wie sehr wünschte ich, dass es in dieser Stunde alle riefen, die ihr Glück, ihre Gesundheit, ihr Geld, ihren Erfolg, ihr unfallfreies Fahren so selbstverständlich hinnahmen und keine Zeit fanden, zu danken – und alle, die verstanden, wie viel Führung, heiliger Geist und Gnade ihnen der Himmel schenkte.

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Wir wollen aber Christen sein, die den inneren Reichtum der Seele mehr schätzen als Schecks und Konten, die begabt sind, die Wunder Gottes zu schauen in den Herzen. Die inneres Glück wahrnehmen und erfahren. Sie, und mit ihnen alle, die die Nüchternheit dieses Abends nicht scheuen, werden jetzt von einer tiefen Reue getroffen sein, weil sie wieder ein Jahr gelebt, verlebt und versagt haben, weil ihr Gewissen sie schuldig spricht. Und doch dürfen gerade sie mit dem Künstler der Barmherzigkeit rechnen, der in jeder wunden, aber zu Gott geöffneten Seele seine Wunder wirkt. Sie werden es mit junger, jubelnder Seele singen: „Großer Gott, wir loben Dich!“ Und wer dürfte da nicht dabei sein? Wäre irgend ein Mensch von der Barmherzigkeit Gottes ausgeschlossen? Der Künstler der Barmherzigkeit findet bei jedem Menschen ein Tor, durch das er eintritt mit seiner Macht, seinem Trost, seiner Herrlichkeit.

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Was uns in den letzten Stunden des alten Jahres in der Seele bewegt, ist unsere Zukunft. Sind wir imstande, dieser Zukunft unbesehen das „Großer Gott wir loben Dich“ zu singen? Wir kennen die Zukunft nicht, nur ihre Möglichkeiten: alles Glück, alle Treue, alle Gesundheit, unser Erfolg und unser Leben sind in Frage gestellt. Tränen, Verrat, Krankheit, Sorge, Leid, Unfall, Unglück, Tod können beschieden sein. Wir kennen nicht die Zukunft, aber wir kennen viel mehr als sie: wir kennen das Ziel. Und an diesem Ziel werden wir erwartet, von einem, den wir kennen und der allein die Zukunft kennt. Wir werden erwartet von unserem Herrn Jesus Christus, bei dem jeder Mensch, ob er will oder nicht, einmal ankommen muss. Wir kennen ihn. Und wer ihn noch nicht kennt oder kennen mag, der soll sich beeilen. Denn schon Julius Langbehn schrieb: „Ohne Christus ist die Welt wie eine Uhr ohne Zifferblatt. Sie geht wohl, aber sie ist zu nichts nütze.“

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Ja, die Welt geht heute, sie fährt und fliegt, aber hat sie ein Zifferblatt? Ohne Christus ist der Mensch wie eine Uhr ohne Zifferblatt. Er geht wohl und fährt und fliegt, aber hat er ein Zifferblatt? Ist der Mensch keine Welt? Wie müsste dieser Kosmos Mensch, ob nun Christ oder Atheist, oder Agnostizist oder Materialist aufhorchen, wenn ihm die christliche Liturgie, ja, wenn ihm der erste Papst Petrus zuruft: „Es ist kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, in dem wir das Heil finden können.“ Wie müsste der Kosmos Mensch endlich und endgültig alle Arten der Selbsterlösung als reine Utopie verbannen – bis zu dem Katholiken, der sterbend gebeten wurde, sich mit Gott zu versöhnen und zur Antwort gab: „Ich wage es ohne!“ Wie müsste er bei aller Bewunderung der Technik und Wissenschaft nüchtern und tapfer wieder zum Schöpfer des Lebens zurückkehren und zum Ziel des Menschen aufblicken – in der Tatsache und frohen 93


Hoffnung: „Es ist kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben!“ Wer krank ist und krank sein wird, wer schuldig ist und schuldig werden wird, wer unglücklich ist und unglücklich sein wird, wie müsste er getröstet sein in der Gewissheit: „Es ist kein anderer Name den Menschen gegeben.“ Wer einen Lebenssinn sucht – wer nur Geld will und Vergnügen, wer verzweifelt ist und Angst hat und keinen Ausweg weiß, wer gescheitert ist am Leben: Es ist noch ein Name, aber kein anderer gegeben als der Name Jesus. Es gibt so viel Leid, wo nur der Herr helfen kann, so viel Wunden, die nur der Herr heilen kann, so viele Tränen, die nur der Herr trocknen kann, so viele Sehnsucht, die nur der Herr stillen kann.

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Gerhard Bergmann schrieb einen Satz, der die heutige Menschheit erregen müsste. Es ist so wie einst, als der Stern von Bethlehem erschien: „Jesus Christus ist das große Angebot Gottes! Wer es ergreift hat den kostbarsten Schatz für Zeit und Ewigkeit.“ Deshalb ist Jesus Christus unsere Zukunft, deshalb ist Jesus Christus in der Gegenwart, deshalb singen wir in jeder Gegenwart über eine Zukunft, die uns erheben oder zermalmen könnte, getrost und mutig: „Großer Gott, wir loben Dich!“ Denn Jesus Christus führt in die Zukunft, er geleitet durch die Zukunft, bis die Zeit in Ihm ein Ende hat und uns sein Reich erwartet. Jesus Christus, den die Bauleute auch unserer Welt verworfen haben, ist trotzdem zum Eckstein geworden, er bleibt es in unserer Zeit – Christus gestern, heute und in Ewigkeit. Nein, es ist kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, in dem 95


sie Heil finden können. Er ist die Hoffnung einer hoffnungslosen Zeit. Ein deutscher Song beginnt: „Immer geht das Leben weiter“. Keine Uhr der Welt geht zurück. Und wenn sie heut Mitternacht geschlagen hat, dann beginnt ein neues Jahr des Heils, [1978] immer noch nach Christi Geburt. Dann beginnen wir Christen im Namen des Herrn das Jahr des Herrn, dann soll mit dem Tag des Friedens ein Jahr des Friedens werden, dann soll mein Wunsch an Sie alle in Erfüllung gehen: „Der Herr sei mit euch!“

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Neujahr Das bürgerliche Jahr beginnt nunmehr liturgisch mit dem Fest der Gottesmutter. Die Mutter mit dem Kinde, dieses ewige, friedliche, hoffnungsfrohe und beglückende Bild. Die Mutter mit dem Kinde, diese immer gültige, liebenswürdige, christliche Tatsache. Irgendwo verspüren wir am Beginn des neuen Jahres das Geheimnis, das vor uns liegt, irgendwo das Beängstigende, das die kommenden zehn Jahre in sich bergen, irgendwo die Macht der Zeit, die die Welt erfasst hat. Wir suchen das Kühne, Neue, Faszinierende in dieser Zeit, aber auch das Bergende und Gesicherte, ja, das Überlebende. Überleben wird ganz sicher diese Mutter mit dem Kinde. Überleben wird todsicher unsere Seele. Alles andere ist unsicher.

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Fragen Sie deshalb heute nach einem Rezept für das Kommende: 1. Gewünscht wird von Gott der nüchterne Mensch. Es steckt so viel – Gott sei Dank – Lebenslust in uns und so viel Weltfreudigkeit – und unsere Zeit kann unsagbar berauschen mit ihrem Glanz, mit ihrem Komfort, ihrer Musik, ihrer Freiheit und ihrer tollen Nacht. Sie kann mitreißen in einen Strudel des Erlebens und uns gedankenlos dahinschwemmen, sie kann uns in Träume versetzen und uns verführerisch in ihre Arme schließen und uns nicht mehr loslassen bis zu unserer Agonie. Der Arzt orientiert sich nach dem Röntgenbild, mag Gestalt und Haut noch so schön sein, das Röntgenbild unserer Zeit zeigt viele Schatten, viele bedenkliche Schatten und die Anämie der Zeit ist erschreckend. Der nüchterne Mensch lässt sich nicht bestimmen von Mode, großzügiger öffentlicher Meinung, Schaufensterzauber und 98


Illustriertenwahrheit. Er lässt sich nicht bezaubern von gekonnter Werbung, schnellen Autos, schönen, dunklen Augen, kurzlebigen Stars, von zärtlichen oder frechen Stimmen, vom Reiz des Geldes und von der Wollust der Nächte. Die Mutter mit dem Kinde: Das ist bestimmend und das ist bezaubernd. 2. Gewünscht wird von Gott der gerechte Mensch, wie ihn die Heilige Schrift gerecht nennt. Ich meine den Menschen unter den Menschen; den Christen unter den Menschen. Ich meine den Charakter und das Herz des Christen: jenseits von Streit, Eifersucht, Nörgelei und Laune, jenseits von Härte, Egoismus, Kälte und Hochmut. Das hat man nicht – und das wird man nicht, ohne die Einsicht des Geistes, ohne die Tapferkeit des Herzens – und ohne den christlichen Sinn des Lebens zu erfassen. Viele Christen machen sich das Leben schwer, weil sie kleine Menschen bleiben, viele machen sich das Herz schwer, weil sie nicht bluten und sich verbluten können, 99


viele weinen viele Tränen, weil sie sich nicht befehlen können. Kommen wir Christen als Menschen ohne die Mutter mit dem Kinde aus – oder ist uns gerade deshalb die Mutter mit dem Kinde während unseres ganzen irdischen Lebens anvertraut, damit wir Menschen werden? Wollte die Menschwerdung Christi nicht die Menschwerdung des Menschen? Auch der erwachsene Mensch soll wachsen: der Charakter gerader, fester, überzeugter, verantwortlicher -– das Herz weiser, klüger, verstehender, verzeihender, schenkender, großzügiger werden. 3. Gewünscht wird von Gott der fromme Mensch. Das Wort ist nicht glücklich, darum habe ich es gewählt. Man müsste einmal den Mut haben, seine Seele, wie sie ist, vor die Mutter mit dem Kinde zu tragen und sich von dieser Mutter aus der Seele lesen zu lassen, wie sich andere aus der Hand lesen lassen.

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Man müsste vor der Mutter mit dem Kinde eingestehen, dass man die frommen Zeiten in seinem Leben nicht bereut, aber ausnahmslos alle unfrommen Zeiten. Es gibt immer noch so viele Christen, die meinen, mit einem Augenaufschlag zu Gott die Frömmigkeit eines Tages abtun zu können. Fragen Sie, bitte, nicht sich selbst, fragen Sie die Mutter mit dem Kinde, wie Ihre Frömmigkeit ausschauen soll! Und warten Sie, bitte, die ganz klare Antwort ab! Dann aber auch ans Werk! Denn hier hat der Himmel zu Ihnen gesprochen! Je weltoffener, welttüchtiger und weltfreudiger ein Christ ist – und er darf es sein – desto gottfreudiger müsste sein Leben sein. Wir beginnen ein neues Jahr und ein neues Jahrzehnt. Überleben wird todsicher die Mutter mit dem Kind. Überleben wird todsicher unsere Seele.

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Und diese Seele mĂśchte von sich aus einmal bei der Mutter mit dem Kinde leben. Alles andere ist unsicher. Deshalb der nĂźchterne Mensch, der gerechte Mensch und der fromme Mensch. Maria mit dem Kinde gib uns den Segen.

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Geschenke zum Neuen Jahr Kaum war das Kind von Bethlehem geboren, hat es die Menschen mit der Botschaft des Engels und mit seiner Gegenwart in der Krippe beschenkt. Kaum ist das neue Jahr geboren, teilt es ebenso seine Geschenke aus: 1. Das Geschenk der Zeit. Heute vielleicht noch werden wir erfahren, welcher jungen österreichische Mutter als erster im neuen Jahr ein Baby geboren wurde, dem hoffentlich viel Zeit mitgegeben wurde. Wir werden jedoch schwerlich erfahren, welcher österreichischer Staatsbürger als erster im neuen Jahr für die Ewigkeit geboren wurde, dem das neue Jahr auch noch Zeit, aber fast keine Zeit geschenkt hat. Ob wir nicht am Anfang des Jahres wieder neu hören und neu empfinden dürften: die Zeit gehört Gott, alle Zeit ist Zeit Gottes. 103


Der Zeitlos-Ewige hat die Zeit geschaffen und das Maß der Zeit für jeden Menschen bestimmt, ja, jedem einzelnen Ding und Lebewesen der Erde ist seine Zeit zugemessen. Die Grenze ist oft so unsicher wie Gott selbst. Alle Zeit ist Zeit Gottes. Also ist sie kostbarer als Geld, das die Menschen gemacht haben. Und wenn man auch mit Geld lieben kann, so doch nur in der Zeit. Die Zeit ist so kostbar, dass ein gottloser Mensch, ein gottlos-böswilliger Mensch, in einer Sekunde seine glückliche Ewigkeit gewinnen kann, die allerdings ein gutmeinender Christ nicht in einer Minute und nicht in einer dummen Stunde verlieren kann. Alle Zeit ist Zeit Gottes. „Kauft die Zeit aus!“ rät der Heilige Paulus. Lasst sie nicht liegen, lasst sie nicht vermodern, nicht alt werden, Ihr könnt sie mit euren schnellsten Flugzeugen nicht mehr einholen. Alle Chancen des Menschen liegen in der Zeit, alle Verluste des Men104


schen liegen in der Zeit. Und es ist die Zeit Gottes. 2. Das Geschenk des Bangens. Ja, Sie haben recht gehört: das Geschenk des Bangens. Die Zeit ist gut, aber die Zeiten scheinen böse zu sein. Es wäre zu harmlos, jetzt nur daran zu denken, dass wir uns mehr einschränken müssen und dass uns von unserem Wohlstand manches abgeräumt wird, dass vielleicht manche Pläne und Interessen in die Ferne gerückt sind. Bis vor kurzem meinten die meisten Menschen, nur ein dritter Weltkrieg, die Atombombe und der Einmarsch des Kommunismus könnte uns bedrohen. Und auf einmal merken wir, dass ein zugedrehter Ölhahn recht böse sein kann für unsere Wirtschaft, für Komfort und Privatleben. Und das ist schon weniger harmlos, sieht man es im Gesamt der politischen Konstellation. Vor allem – will mir scheinen – ist es die Entfremdung von Gott, die Lösung von 105


der Kirche, das Nichtbeachten der Seele, das man in immer größerem Ausmaße im gesamten europäischen Raum beobachtet, diese weitgehende Geringschätzung des Religiösen, das so freizügige Verwalten des eigenen Lebens. Das Geschenk des Bangens. Maria bewahrte alle diese Geschehnisse und bewegte sie in ihrem Herzen. All die Geschehnisse unserer Zeit: Sie beschäftigen uns, sie machen uns zu schaffen, wir sprechen über sie mit unseren Mitmenschen und Freunden: haben sie nicht einen sehr positiven Zweck? Den Zweck des objektiven Denkens, den Zweck der Ernüchterung? Nüchtern in die Welt schauen, nüchtern sein eigenes Leben betrachten, nüchtern unsere Wünsche beurteilen, nüchtern die Dinge sehen, die wir haben und die wir gebrauchen, nüchtern vor Gott stehen. Alles Bangen von heute ist ein Geschenk. 3. Das Geschenk der Gnade. 106


Jesus kam in die Welt, um den Frieden und das Heil der Menschen zu wirken – und er hat Kräfte hinterlassen, die man nicht sieht, die man aber braucht, göttliche Kräfte! Jesus Christus ist die größte Gnade für uns Menschen. Jesus Christus ist der notwendige Segen für uns Menschen. Jesus Christus ist bleibende Gegenwart unter uns Menschen. So lautet das Versprechen Gottes: „Ich werde sie segnen, wenn sie sich unter diesen Segen stellen.“ Bei wie vielen Mensch der Segen Gottes noch eine Rolle spielt? Sie machen sich ihren Segen selber mit Fortschritt und Geld oder lassen sich ihn geben von der Liebe und der totalen Freiheit des Menschen oder von den Ärzten, die heute – Gott sei Dank – viel können. Und dann kann man tatsächlich des Segens Gottes entbehren? Nun, wenn man schon herausfordert: 107


Die Kraft des Lebens, die Frucht des Feldes, der Friede in der Natur und unter den Menschen: das sind die Gaben seines Segens. Und sie bleiben seine Gaben. Gott stellt nur die Bedingung, dass die Kraft Gottes herbeigerufen wird. Der menschlichen Freiheit ist es überlassen, sich unter den Segen Gottes zu stellen oder nicht, sich nur der Mächten und Möglichkeiten der Erde zu bedienen oder sich der Huld Gottes auszuliefern. Uns gläubigen Menschen ist es am heutigen Fest ein Bedürfnis, uns in das Kraftfeld des Segens Gottes zu stellen – und wir erbitten die Kraft Gottes auch für jene Menschen und Völker, die ohne den Segen Gottes auszukommen hoffen. Für uns ist der Segen Gottes das Heil der Erde und die Kraft unseres Lebens, der Mut in Schicksalen, die Ruhe im Chaos, das Vertrauen in der Not, die Linderung im Leid, der Friede in der Seele und die Hoffnung im Sterben.

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Wir bitten in dieser Stunde um den großen Segen: Herr, lass dein Angesicht über uns leuchten, Herr, segne und behüte uns! Und Gott spricht: „Ich werde euch segnen!“

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Das gelungene Leben [2. Sonntag nach Weihnachten, Jo 1,1-18] In diesem Prolog des Johannes wird eine großartige und knappe Zusammenschau von Himmel und Erde, von Zeit und Ewigkeit gegeben. Im Mittelpunkt steht die Geburt des Gottsohnes in der Zeit. Er kam aus der Ewigkeit in die Zeit und lebt in Zeit und Ewigkeit, den Menschen zum Schicksal, zur Verantwortung und Verpflichtung. Doch der Mensch soll an ihm nicht scheitern. Der Prolog des Johannes spricht vom Anfang der Welt und vom Anfang des Menschen in der Welt. Er spricht vom Anfang des Gottmenschen in der Zeit. Es gibt keinen Anfang Gottes, aber den Anfang des Menschen, einen Anfang, der niemals aufhört, so lange er lebt. Jedes neue Jahr, jeder neue Monat und Tag, jede neue Arbeits- und Erholungszeit -– immer fängt der Mensch an. Trotz all dieser Anfänge kann er niemals anfangen, sondern immer nur weiterleben und weitertrotten. 110


Das ist seine Gefahr. Er kann alle Anfänge übersehen. Der Anfang Gottes in der Zeit soll deshalb ein Signal für den Menschen sein. Dieser Anfang ist dem Menschen mitgegeben für alle seine Anfänge. Der alte Spruch hat Weisheit: ‚Mit Gott fang an, mit Gott hör auf, das ist der beste Lebenslauf.‘ Gott kam auf die Erde, um mit dem Menschen zu sein, ihn auf allen seinen Wegen und in allen seinen Werken zu begleiten. Er wollte damit nicht lästig fallen, aber der Mensch allein ist immer eine Minderheit, der Mensch und Gott immer eine Übermacht. Heute tritt die Übermacht des Menschen so stark in den Vordergrund. Kein Raum scheint ihm verschlossen, keine Möglichkeit unerreichbar. Wer will es diesem Menschen verdenken, dass er sich göttlich fühlt und über all seinen Erfolgen eines vergisst: dass er Geschöpf ist? Dass seine Augen erlöschen und ihm sein Werkzeug aus der Hand fällt? Dass er der Versuchung ausgesetzt ist und darin fallen kann? Dass seine Göttlichkeit keine Dau111


er hat? Dass jede seiner Entscheidungen letztlich von Gott getragen werden muss? Dass sein Leben nur wie ein einziger Atemzug der Ewigkeit ist? Jeder Anfang mit Gott hat seine Weihe, die über den Weg, über das Werk, und über das Gebet hinwegreicht. Und viele Anfänge ergeben ein geweihtes Leben. Darf man heute auf diese Weihe verzichten? Darf man sie unterschätzen? Der Prolog des Johannes spricht von der Finsternis, die in der Welt ist, und vom wahren Licht, das jedem Menschen leuchtet. Finsternis ist nicht diese Welt, in der wir leben. Finsternis ist die Entfremdung. Finsternis ist die Dämonie der Entfremdung von Gott, dem Ursprung, dem Herrn und Gesetzgeber. Finsternis ist die Entfremdung vom Mitmenschen in Selbstsucht, bösen Gedanken und Verführung. Finsternis ist die Selbstentfremdung durch den Widerspruch gegen das Höhere in 112


uns, gegen den Appell des Gewissens, gegen den tief eingepflanzten Willen, selbstlos zu werden, sein dämonisch zur Selbstvergötterung neigendes Wesen zu demütigen. Finsternis, das sind die bösen Geister, die niemals verleugnet oder verharmlost werden können, die zu bannen der Mensch sich anstrengen muss: die bösen Geister der Verzweiflung und des Widerspruchs gegen das Dasein. Hundertmal überfallen und versuchen sie uns und wollen uns einreden, dass wir missglückte Wesen sind, dass alles nicht lohnt, dass die Welt ein Chaos, ein absurder Fiebertraum ist. Jeder Unglücksfall, jede Katastrophe, jede Krankheit, jedes Verbrechen möchte uns beweisen, dass unser Leben keinen höheren Sinn hat. Finsternis, das ist die Entfremdung von seiner eigenen Seele, in der die Sünde ein- und ausgeht, in der die Sünde haust und wütet und sich wohlfühlt. Licht – das ist die Persönlichkeit Christi in seiner vollendeten Güte und Menschen113


freundlichkeit und in seiner Aktivität als Lehrer der Welt. Man soll diese Dinge sehr wichtig nehmen. Man soll anerkennen, wie viel Finsternis an manchem auch sonnigen Tage in uns selber ist, und in wie viel Finsternis wir uns durch finstere Menschen unseren christlichen Weg bahnen müssen. Das Wort Christi ist sehr zu bedenken: „So lange ich in der Welt bin, bin Ich das Licht der Welt, damit keiner von euch im Finstern wandle“. Das finstere und das erleuchtete Leben: Man kann es sich wählen. Wo aber das erleuchtete Leben gewählt wird, dort wird man es sehr bald mit einem Wort zu tun haben, das man im katholischen Raum gar nicht mehr gerne hört, das aber im vollen Maße besteht: die Pflicht! Dort wird man ebenso Kräfte brauchen, die nicht aus unseren Muskeln, nicht aus unserem Geiste oder Herzen stammen. Der Prolog des Johannes spricht: „Von seiner Fülle haben wir alle empfangen, Gnade über Gnade.“ 114


Es mag zuerst die Taufe und Eucharistie gemeint sein, die größten Gnaden unsere Lebens. Aber wer aus der Berufung zum Glauben und aus dem Erleben der Eucharistie lebt und leben will, dem strömen Gnaden über Gnaden zu. Und wer es einmal schauen könnte, wie viele Gnaden jedem, der an der Heiligen Messe teilnimmt, jedes Mal mitgegeben werden, es käme ihm nie auch nur der Gedanke, einem Gottesdienst fernzubleiben. Dazu kommen die vielen Gnaden des Alltags, mit denen Gott so überaus freigebig ist und die wir oftmals mit unseren eigenen Gedanken, Erleuchtungen, Erkenntnissen, Initiativen, mit unseren eigenen Erfindungen verwechseln, mit unserer eigenen Geschicklichkeit. Ich bin überzeugt: es wird einmal zu unseren großen Überraschungen in der Ewigkeit gehören, dass Gott uns zeigt, wie viel Beglückung – z.B. im Finden des Lebenspartners –, wie viel Erfolg in Erziehung und Beruf, und wie viel gute Einfälle

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auf sein Konto gehen – trotz unserer notwendigen persönlichen Anstrengung. Den gnadenlosen Menschen – im letzten gibt es ihn nicht. Gott gibt seine Gnaden jedem bis zum letzten Atemzuge, die helfenden Gnaden, die guten Gedanken auf jeden Fall. Diese Gnaden in unserem gewöhnlichen Alltag anzuerkennen, sie zu sehen und zu erkennen: ja, da wird eine so echte Verbundenheit mit Gott und eine so echte Freude am Leben aus Gott. Das geweihte Leben, das erleuchtete Leben, das begnadete Leben – so ist es zu finden im Prolog des Johannes. Zusammen ergibt es das gelungene Leben.

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Überraschungen einer Reise [Epiphanie] Lässt man alles Abenteuerliche und Romanhafte dieser Reise beiseite, so wird dieser Bericht einer der überraschendsten des Neuen Testamentes. Erste Überraschung: Die Weisen haben den Stern gesehen. Sie sind ihm gefolgt. Der Stern hat aber nicht jeden ihrer Schritte begleitet, nicht die Unsicherheit des Weges erspart, nicht die Schwierigkeiten der Reise beseitigt. Trotzdem sind sie ihren Weg gegangen und haben jedes Risiko auf sich genommen. Sie haben sich mit ihrer ganzen Existenz dem Abenteuer gestellt. Wie oft meinen wir, unser christliches Leben müsse uns eine gerade, sichere, perfekte Straße bieten, nahezu eine „Autobahn des Geistes“. Es müsse da eine gut sichtbare, ausreichende Beschilderung mit Hinweisen aller Art geben. Gesteuerte Verkehrsampeln

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müssten Grün und Rot anzeigen, ohne dass Zweifel möglich wäre. Wir meinen, die Straße müsste immer vollkommen beleuchtet sein. Wir erwarten uns so gerne genaue Antworten auf alle Probleme und Fragen. Das Christentum sei ein Automat, der vorfabrizierte Antworten liefert. Wir meinen, Christentum sei Friede. Christus aber bringt uns das Schwert. Er zerschlägt unseren provisorischen Eintagsfrieden, bricht ihn in tausend Stücke, wie ein Stein ein Kristallgefäß zersplittern macht. Den wahren Frieden müssen wir selbst in mühsamer Arbeit schaffen. Wahren Frieden muss man erobern. Wer Frieden will, muss durch Entscheidungen hindurch, die etwas kosten. Das Christentum kann ein reißender Wildbach oder ein majestätischer Strom sein, aber niemals ein Teich, in dem sich alle Arten von Fäulnis und Schlinggewächsen verbergen können. Nur der Friede, der erkämpft ist, gehört uns ganz. Diesen Frieden kann uns niemand rauben. 118


Wir glauben, Christentum sei Licht. Wir meinen, da müsste alles klar sein, alles logisch und genau zusammenhängen. Die Geographie des Christentums bleibt aber immer fremd und unüberschaubar. Warum fügen wir uns nicht, im Dunkeln zu wandern, auch wenn das nicht einfach ist? Eine ganze Ewigkeit lang werden wir das Licht schauen dürfen, in dem es keinen Schatten gibt, doch jetzt sollen wir den Weg gehen, wie er ist. Man muss lernen, im Dunkeln zu gehen, das Risiko anzunehmen und das christliche Abenteuer auszukosten in allen seinen Dimensionen. Und unsere Verwundungen auf diesem Wege? Werden wir uns nicht gerade darüber einmal freuen, weil sie auf unserem Wege nach Bethlehem geschahen? Zweite Überraschung: Die Weisen meinten, in Jerusalem am Ziele zu sein. Dort gab es einen König und dort gab es Priester. Dort gab es Gesetzeskundige. Die Überraschung aber war groß. Was für eine Widersprüchlichkeit! 119


Die unbelebten Dinge der Natur erfüllen treu ihre Aufgabe, Zeichen zu sein. Der Stern kommt mit größter Genauigkeit seiner Aufgabe nach, Zeichen zu sein für den geborenen Heiland. Die Menschen aber erschraken und waren ratlos. Die Schriftgelehrten und Priester Jerusalems geben den Weisen zwar eine Antwort, aber sie ist rein theoretisch. Sie schöpfen die Antwort aus ihrer Wissenschaft, eine kalte Antwort ohne Leben. Besser wäre es gewesen, sie hätten antworten können: wir sind schon dort gewesen, wir begleiten euch zum Haus in Bethlehem. Die Welt möchte heute eine Antwort von uns, die aus der lebendigen Erfahrung kommt. Eine blutleere Antwort kommt nicht an. Wenn die Menschen uns heute nach Christus fragen, wo man ihn finden könne, und worin seine Lehre besteht, wenn sie wissen wollen, welcher Art seine Verheißungen sind und welches Leben er uns vorlebt, dann müssen wir Antworten geben können, die aus unserer ganz per120


sönlichen Erfahrung kommen, die wir durchlebt und durchlitten haben. Es ist zu leicht, Wegweiser anzubringen, die ganz genau die Richtung in eine Ortschaft angeben, in der wir selbst aber noch nie gewesen sind. Es ist zu einfach, von einer Landschaft zu reden, die man selbst nie betreten hat. Wir haben kein Recht, über eine Höhle zu reden, während wir uns im warmen Hause aufhalten, sodass wir die unbequeme Wirklichkeit nicht sehen, die uns umgibt. Nein, auch wir sollen keine Automaten sein und werden, die für alle Probleme wunderbare Antworten parat haben, ohne dass wir diese Probleme, Ängste und Nöte selber durchlebt hätten, die uns nie schlaflose Nächte bereitet, uns nie den Appetit verdorben haben. Dritte Überraschung: Ist den Weisen aufgegangen, wie unzureichend ihre Gaben waren im Hinblick auf die Größe des Kindes? Konnten Gold, Weihrauch, Myrrhe die Liebe dieses Kindes aufwiegen? 121


Diese Überraschung wird am meisten geschmerzt haben: die Geschenke waren zu klein. Ein Wort des Heiligen Ambrosius nimmt uns fast den Atem: „Gott achtet weniger darauf, was wir geben, als vielmehr, was wir für uns zurückbehalten.“ Das gibt zu denken. Die Berichte des Evangeliums könnten uns schon manchmal die Ruhe und den Frieden rauben. Der Stern der Weisen verführt unsere Phantasie nicht mehr. Was uns festhält, ist der spröde Weg, den sie gehen müssen. Die Überraschungen ihrer Reise bestürzen uns. Merkwürdig. Gott hat 4000 Jahre lang das auserwählte Volk vorbereitet. Er hat Propheten gesandt, welche die Erwartung wach halten sollten. Dann ist Christus gekommen. Die ersten, die ihn feierlich und offiziell verehren, kommen nicht aus dem auserwählten Volk, sondern sind Fremde, Heiden.

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Der Gedanke darf uns heute nicht fremd sein: zu uns könnte eines Tages jemand von weither kommen und nach dem Kinde fragen. Es muss nicht ein Afrikaner, ein Inder, Ägypter, ein Japaner sein. Es kann einer aus der Nachbarschaft, ein Neuheide sein. Es sollt uns nicht passieren, dass wir bekennen müssten, wir wären nie in der Höhle von Bethlehem gewesen. Die uns fragen, werden von dort sein, sie werden nicht zurückkommen, um uns zu erzählen, was sie gefunden haben. Vielleicht habe ich jetzt ganz daneben geredet; ich möchte nur, wir sollen für Jesus mehr wagen. Solange wir auf den Weg nach Bethlehem sind, gehen wir einen guten Weg.

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Führung Gottes [Epiphanie] Vernehmen wir dieses festliche Evangelium, wäre es sicher nicht recht, bei einer schönen, rührenden Erzählung oder einer bethlehemitischen Idylle stehen zu bleiben. Die Aussagen dieses Wortes Gottes sind viel zu mächtig, viel zu zukunftsweisend. Es gibt keine Welt und kein Volk, für das Jesus Christus nicht geboren wäre. Er ist der Heiland und Retter der ganzen Welt, der vergangen wie jeder zukünftigen. Naheliegend für uns selbst ist die Frage nach der Führung. Die Weisen aus dem Morgenlande werden von einem Stern geführt und zwar genau bis zum ersehnten Ziel. Sie werden von Gott geführt und zwar auf ihrem Hinund ihrem Rückwege. Ergeben sich aus dieser Tatsache Weisungen und Überzeugungen für unseren Glauben an die Führung Gottes in unserem Leben? 124


Es gibt im Alten Testament eine Menge von Beispielen ganz klarer Führung Gottes: Einerseits des gesamten Israels – Durchzug durch das Rote Meer bzw. Auszug aus Ägypten, die vierzigjährige Führung Israels durch die Wüste, die geistige Führung durch die Propheten. Andererseits die Führung einzelner Personen – des Moses, des Elias, des Abraham, zu dem Gott sagte: „Mach dich auf und geh zu dem Berge, den ich dir zeigen werde!“ Und schließlich erleben wir die einzigartig Führung der Heiligen Familie von Bethlehem nach Ägypten und zurück in ihre Heimat. Dürfen wir nun von diesen Tatsachen aus auf die Führung jedes Volkes durch Gott schließen, ebenso wie auf die Führung jedes einzelnen Menschen durch Gott? Wird jedes Volk, jeder Mensch von Gott im Auge behalten, so dass sein Lebenslauf und seine Geschicke von Gott beeinflusst werden?

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Ja, von den biblischen Tatsachen, und daher von unserem Glauben her gibt es tatsächlich die Führung Gottes. Freilich, ohne dass damit auch nur im geringsten unsere Freiheit von Gott angetastet würde, was nicht immer leicht verstehbar ist. Es gibt die Wegmarken Gottes, die einem Volk oder einer Einzelperson kundtun, dass sie sich auf dem Wege Gottes befinden. Es gibt die Sterne Gottes, die eines Tages aufleuchten, wenn auch nur für kurze Zeit, die eine neue Richtung bestimmen. Es gibt die Mahnungen Gottes, die eines Tages aufleuchten, wenn auch nur für kurze Zeit, die eine neue Richtung bestimmen. Es gibt die Warnungen Gottes, wie sie bereits Jesus Christus ausgesprochen hat und die immer ihre Bedeutung behalten. Es gibt die freie Entschlüsse, die aus einem gebildeten und genormten Gewissen stammen und nicht anders sein dürfen. Es gibt die Begegnungen mit guten und imponierenden Menschen, die nicht durch

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Zufall entstanden sind, die einen angefordert haben. Es gibt die Erschütterungen, die nachdenklich machen und unser inneres wie äußeres Leben einer gründlichen Überprüfung übergeben. Es gibt die Stürme und stürmenden Jahre, die so schmerzhaft sein können, die aus der Unruhe des Herzens in den Frieden Gottes überleiten sollen. Es gibt die Ereignisse, die man nicht als bloßes Glück oder Unglück bezeichnen darf, sonder aus denen Konsequenzen gezogen werden müssen. Es gibt die Erkenntnisse, die plötzlich da sind und die es nicht dulden wollen, dass sie in die Vergessenheit abgeschoben werden können. Es gibt jene zwingenden Bedrängnisse, von denen man nicht leugnen kann, dass Gott im Spiele ist. Es gibt jene Gefahren, die man als Gefahren erkennt, mit denen zu spielen unzulässig ist. Es gibt jenen Segen, jenen Erfolg und innerste Ruhe, die nur erklärlich sind aus

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einer jahrelangen Treue und Liebe zu Gott und zu Jesus Christus. Es gibt die Führung Gottes im Leben der Völker und des einzelnen Menschen. Am ehesten ist sie dort erfahrbar und am leichtesten erkennbar, für sich selbst, wo man seine persönlichsten und intimsten Situationen, seine Gewissensfragen auch mit Jesus Christus selbst und offen bespricht. Wir werden geführt! Ich werde geführt! Man muss sich führen lassen! Wird dann nicht unsere Unsicherheit geheilt?

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Gnade über Gnade [Fest der Taufe des Herrn] Es gibt kaum eine Liturgiefeier, die nicht von der Gnade spricht. Und es gibt erst recht keine Liturgiefeier, die nicht die Gnade gäbe. Aus den weihnachtlichen Texten sind uns die Worte geläufig: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen seiner Gnade. Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, Gnade über Gnade. Aber gerade das Wort Gnade ist einer der dunkelsten Begriffe, mit dem viele Christen heute nichts mehr anzufangen wissen, wiewohl die Gnade den unentbehrlichen und notwendigen Wert des Christen darstellt. Was ist Gnade? Ausgangspunkt für eine systematische Zusammenschau der christlichen Gnadenlehre sind folgende Offenbarungswahrheiten:

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1. Der Mensch als „Geist und Leib“ ist bis in die Tiefen seines personalen Seins Geschöpf der Liebe Gottes und so heilsgeschichtlich ganz von seinem Schöpfer abhängig. 2. Schon in seinem natürlichen Sein ist jedoch der Mensch von Gott als Ebenbild Gottes erschaffen, das zur freien und bewussten Antwort auf die Liebe Gottes fähig und auch verpflichtet ist. 3. Der Mensch ist aber auch von Anfang an zu einer seine Natur übersteigenden, personalen Gemeinschaft mit Gott, zu einer Ähnlichkeit und damit zu einem übernatürlichen Sein mit Gott berufen. Im freien Sich-Versagen gegenüber dieser Berufung aus Selbstgenügsamkeit oder Selbstherrlichkeit liegt die Wurzel und das Wesen der Sünde. 4. Das gehorsame Hören auf diese Berufung und die Annahme dieser wahren Gotteskindschaft hingegen eröffnen dem Menschen den Weg zu einer alles menschliche Begreifen übersteigenden Erfüllung 130


des menschlichen Seins in Verklärung und Seligkeit durch die Teilhabe an der Herrlichkeit Gottes. Jetzt erst wird die Gnade als übernatürliche Erfüllung der menschlichen Natur offenbar. Was ist Gnade? 1. Wir erkennen sie zuerst als reine Huld Gottes. Der gesamten apostolischen Verkündigung von der Gnade Gottes ist der Ansatz gemeinsam, dass alle Gnade Gottes in Christus erschienen und Geschichte geworden ist. Christus ist die Gabe und die Gnade Gottes. Seit Christus gilt: Jetzt ist die Zeit des Heils. Christus ist der eigentliche Ausdruck der Liebe Gottes, die größte Gnade. Seine Botschaft vom kommenden Gottesreich und seine Lehre als Gnade. Die Gleichnisse von der souveränen Gottesherrschaft, vor allem die Parabel vom gütigen Arbeitsherren, der auch noch dem Letzten in freier Güte gibt, was er braucht, und die Gleichnisse vom Erbarmen Got131


tes über das Verlorene: das verlorene Schaf, das verlorene Geldstück, den verlorenen Sohn – sie sind Darstellungen der gnadenvollen Liebe Gottes. Dass er Kranke und Besessene heilt, Zöllner und Sünder beruft und mit ihnen Gemeinschaft hat, dass er Sünden vergibt – das alles sind Zeichen seiner Gnade. Gott bietet dem Menschen das Heil an in seiner Huld. Und dass dieses Heil bis in die Ewigkeit des Menschen reicht, zeigen vor allem die Seligpreisungen an die Armen, Hungernden, Weinenden und Verfolgten. Das Kommen Christi in die Welt und die in ihm gezeigte unbeschreibliche Liebe Gottes – das ist Gnade. 2. Wir sehen die Gnade auch als Einsprechung Gottes, als Lebenshilfe. Jeder von uns hat seine hellen Erleuchtungen, seine plötzlichen Erkenntnisse, die nicht nur das religiöse Leben betreffen müssen, sein Drängen zum Guten, zur größeren Treue, zur Gewissenhaftigkeit, zur positiven Entscheidung, zum Sichauf132


raffen, zum Abwerfen von Ketten, zum Wiedergutsein, zum Sakramentenempfang, zur Hilfe am Nächsten, zum Ertragen von Unrecht, Leid, Sorge und Krankheit – ist das nicht alles Gnade? Jeder neue Tag, jeder gesunde Tag, jede neue und jede frische Kraft, jede vollendete Arbeit, jede gut Heimkehr, jede Genesung, jedes Zusammentreffen mit guten Menschen, manche Erschütterung und mancher Tod – ja, was gibt es denn, das nicht Gnade wäre und nicht zur Gnade werden könnte? Die Erwählung zum Glauben, die so auffällige Führung durch das Leben, die viele Freude und die viele Hoffnung im Leben, und vieles mehr. 3. Wir sehen die Gnade als göttliche Substanz, als göttliches Leben im Menschen. Wie die Glühbirne erst dann in ihrer vollen Funktion ist, wenn sie an das Stromnetz angeschlossen ist und die Substanz des Stromes aufnimmt, so ist der Christ im Sinne Gottes erst dann in seiner vollen Funktion, wenn er an das Stromnetz Got133


tes angeschlossen ist und das Leben Gottes, die Gnade Gottes, aufnimmt. Erst jetzt wird er – nach Paulus – die neue Schöpfung, erst jetzt nimmt er teil an der Fülle Christi und wird zum Kinde Gottes. Erst jetzt, in diesem neuen Sein in Christus – vermag der Mensch Werke zu verrichten, die Früchte tragen, wie sie Christus fordert – und die Gottes Lohn verdienen. Dieses göttliche Leben wird uns zum ersten Mal in der heiligen Taufe unverdient geschenkt und sollte unverletzt bewahrt bleiben. Geht es aber verloren, wird es uns durch die Sakramente der Sündenvergebung und der Krankensalbung neu gegeben, so dass man die Gnade, die neue Schöpfung geradezu spürt, und erlebt: der ganze Mensch weiß sich durchleuchtet, frei, beglückt. Und jeder Kommunionempfang stärkt und vermehrt dieses göttliche Leben in uns. Ohne dieses göttliche Leben sollte der Christ nicht sein. Dieses Leben im Christen ist die Bedingung für den Eintritt in das 134


ewige und herrliche Leben Gottes. Das kostbarste Leben, das gehütet werden muss. Man sieht es nicht, man spürt es vielleicht selten, aber man weiß um seine wahrhafte Existenz durch den Glauben. Es ist schon wichtig, die Notwendigkeit der Gnade wieder einmal zu bedenken: ohne Gnade kann der Mensch die Sünde nicht meiden, die Gebote nicht sinngemäß erfüllen, verdienstliche Werke nicht verrichten, sich nach dem Fall in die Sünde nicht erheben. Gewiss ist dem Christen im Zustand der Sünde nicht die Fähigkeit zu natürlich guten Werken abgesprochen. Aber diese Werke sind vor Gott nicht verdienstlich, wohl aber sind sie Bereitung für die Gnade, die ja immer angeboten ist. Wenn der Mensch je nach dem wertvollsten Besitz sucht, dann ist es die Gnade! Alles in allem dürfen wir am Schluss dieser Betrachtung mit Theresia von Lisieux sagen: „Alles ist Gnade und überall ist Gnade – für jeden Menschen bereit!“ 135


Rupert Gottfried Frieberger, Mag.art.,Dr.theol.,Dr.phil., geboren 1951 in Linz/Donau, seit 1969 Praemonstratenser der Abtei Schlägl in Oberösterreich, bekannt als Künstler und Wissenschafter in Sachen Musik, aber auch "tätiger" Theologe und Liturge, legt abermals ein Büchlein mit Meditationen und Predigten vor – diesmal zu Thema "Advent und Weihnacht". Neben der Musik ist ihm das Wort ein wichtiges Mittel der Verkündigung – und dies stets im Zeichen gelebter Ökumene.

ISBN 3-902143-03-7


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