Weihnachtsgabe 2014

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Francis Bebey

oder Wie Gott sich einmal die Langeweile vertrieb



Francis Bebey

oder Wie Gott sich einmal die Langeweile vertrieb Aus dem Franzรถsischen von Inge M. Artl



Vor mehr als zwanzig Jahren saß im Bürgermeisterhaus ein Mann an seiner Gitarre und erzählte von einem Lied, das es verschriftlicht nicht gäbe: Forrest Nativity – Die Geburt im Wald. Dieses Lied war wenige Monate später der Inhalt unserer allerersten Weihnachts-Edition. Seit dieser Zeit bis zu seinem Tod im Jahre 2001 war Francis Bebey sehr mit unserer Buchhandlung verbunden. Zufällig und zur rechten Zeit fiel mir ein weiterer Text des Kameruners Bebey in die Hände, die Nacherzählung des alten afrikanischen Märchens Africa Sanza. Es erschien zuletzt 1994 in einer Ausgabe des Peter Hammer Verlages. Seine Verlegerin Monika Bilstein beschaffte uns ganz unkompliziert die Rechte zum Abdruck. Deshalb ein herzliches Dankeschön an Kidi Bebey für ihre Vermittlung, Jacqueline Bebey für ihre Großzügigkeit und Monika Bilstein für die wunderbare Idee, eine alte Freundschaft wieder aufleben zu lassen. Ich wünsche im Namen des Teams von schmitz. Die Buchhandlung und schmitz junior. Die Buchhandlung für Kinder ein schönes Weihnachtsfest und kommen Sie gut ins Neue Jahr. Ich freue mich auf ein Wiedersehen. Ihr Thomas Schmitz



Mach beide Ohren gut auf. Die Geschichte fängt an. Am Anfang der Zeiten gab es gar nichts. Kein Licht, keine Dunkelheit. Nichts. Nur eine kleine Sache: die Langeweile. Alle langweilten sich auf der Erde. Aber ALLE gab es auch nicht! Und die Erde gab es auch noch nicht, denn ich habe dir ja gesagt, dass es am Anfang aller Zeiten gar nichts gab. Kein Licht, keine Dunkelheit. Nichts, nur diese ganz kleine Sache, die man Langeweile nennt… Nyambé, der Schöpfer der Bantu…also der Menschen…Nyambé, den man am meisten mit dem Namen Gott anruft, langweilte sich zu Tode. Wenn er morgens aufstand, stand die Langeweile gleichzeitig mit ihm auf. Und verfolgte ihn überall hin. Wohin er auch ging, die Langeweile war immer dabei. Wenn er sich in seinem großen Garten im Paradies auf eine Bank setzte, um sich auszuruhen, folgte ihm die Langeweile und setzte sich neben ihn.

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Nyambé langweilte sich! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr. Eines Morgens, als er sich besonders von der Langeweile erdrückt fühlte, kratzte er sich nachdenklich den Kopf und sagte laut: „Mein Gott! Sie bringt mich um, diese Langeweile! Sie bringt mich noch um, wenn sie so weiter macht!“ Das war Gott, der so sprach. Doch genau an der Stelle, an der er sich mit einem Finger am Kopf kratzte, schlief im Inneren des Schädels die Phantasie. Nyambés Finger weckte sie abrupt auf. Sie wachte gähnend auf. Genau wie du gähnst, wenn du am Morgen aufwachst. Gott hörte das und fühlte sich schuldig. Er entschuldigte sich tausendmal: „Habe ich dich aufgeweckt, Phantasie? Verzeih mir, ich bitte dich. Glaub mir, ich hab es nicht mit Absicht getan.“

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Die Phantasie war sehr höflich. Sie antwortete: „Herr, das ist nicht schlimm. Das ist nicht schlimm. Außerdem weißt du doch, dass ich alles hinnehme, was von dir kommt. Bist du nicht der Schöpfer aller Dinge?“ Damit irrte die Phantasie doch ein wenig, denn bis jetzt hatte Gott noch überhaupt nichts erschaffen. Ich habe es dir doch gesagt, dass es am Anfang aller Zeiten nichts gab. Kein Licht, kein Dunkel. Nichts. Ausgenommen die Langeweile. Doch diese voller Aufrichtigkeit gesprochenen Worte beruhigten Nyambé. Er beschloss, über seine Sorgen zu sprechen. „Weißt du“, fing er an. „Weißt du, ich habe ein Problem.“ Als sie dieses kaum zu glaubende Geständnis hörte, brach die Phantasie in Lachen aus. Ohne alle Hemmungen. „Hahahahahahahahahahahahaha…du Herr?“ „Du, der Schöpfer aller Dinge, des Himmels und der Erde, du erklärst mir, dass du ein Problem hast? Hahahaha – hahahaha…“

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Gott war nicht zufrieden. Grob sagte er zur Phantasie: „Ich habe dir niemals erlaubt, dich so über mich lustig zu machen, Phantasie. Niemals! Ich habe dir gesagt, dass ich ein Problem habe, und das finde ich nicht lustig, das kannst du mir glauben. Alle auf der Erde und überall sonst haben Probleme. Alle. Warum sollte ich also nicht das Recht haben, auch hin wieder mal welche zu haben?“ Angesichts des Zorns machte sich die Phantasie ganz klein, ganz klein. Dann ging sie hinaus, um im Garten ein wenig Luft zu schnappen. Nach ein paar Minuten erschien sie wieder: „Verzeih mir Herr, verzeih mir. Aber worum geht es bei deinem Problem?“ „Mein Problem ist die Langerweile. Sie wird mich noch umbringen, wenn sie so weitermacht. Aber pass auf! Pass auf, Phantasie! Denn wenn sie mich umbringt, dann bringt sie dich auch um. Du kannst nicht ohne mich leben, vergiss das nicht!“

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Die Phantasie fühlte sich betroffen und sagte sich: „Es muss sofort eine Lösung dieses Problems gefunden werden, sonst ist alles zu Ende…“ Daraufhin ging sie noch einmal in den Garten, um Luft zu schnappen. Nach Inspiration zu suchen. Ungefähr fünf Millionen Jahre später…was in der Ewigkeit etwa fünf Minuten entspricht…kam sie mit freudestrahlendem Gesicht wieder herein. Sie sagte zu Nyambé: „Herr, ich habe die Lösung für dein Problem gefunden.“ Gott glaubte das nicht. Schließlich versuchte er schon seit ein paar Millionen Jahren vergeblich, die Langeweile loszuwerden. Und da kam die kleine Phantasie, die erst vor wenigen Minuten zum Leben erweckt worden war, und brachte ihm ‚die Lösung‘ dieses heiklen Problems. Seine Stimme hatte einen skeptischen Klang. „Ach, wirklich?“ „Ja, Herr.“ „Und, wie soll diese Lösung aussehen?“

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„Herr, bastle dir eine Sanza. Sobald du anfängst darauf zu spielen, wird die Langeweile von selbst verschwinden.“ „Ach, wirklich?...Ist das so? Ist das also deine Lösung?“ „Auf mein Wort als deine Phantasie! Ich kann dich nicht anlügen! Schließlich hast du mich erschaffen, nicht wahr?“ „Ja, das stimmt, ich habe dich erschaffen. Wo war ich nur mit meinen Gedanken?...“ Also baute Nyambé, der Schöpfer der Bantu, sich eine Sanza und begann zu spielen. Und er spielte, er sang, er tanzte mit der allergrößten Freude. Mein Freund, wenn dir eines Tages irgendjemand sagt, Gott würde Musik, Gesang und Tanz nicht lieben, dann antworte ihm: „Du lügst!“ Gott ist nicht trübsinnig. Sonst wäre er schon längst gestorben, bei all dem Bösen, das die Menschen täglich anrichten. Er ist ein humorvoller und lachender Philosoph. Mit dem ehrlichen, ewigen Lachen, das er uns mitgegeben hat, uns

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Schwarzen Afrikas. Um uns zu ermöglichen, Jahrhunderte von Schicksalsschlägen auszuhalten. Die Sklaverei, die Kolonisation und tausende anderer Ungerechtigkeiten werden unsere von einem Ohr zum anderen lachende Sonne nicht verdunkeln. Zur großen Verwunderung der restlichen Welt. Zum Glück für die ganze Welt. Wir leben dafür. Wir bleiben dafür am Leben. Und wir leben! Für das Überleben der Menschen trotz all ihrer Fehler. Weit über das Bewusstsein hinaus, dass sie im großen Bogen ihrer langen Existenz sich nicht zu entwickeln versteht. Der Schöpfer spielte Sanza und sang und tanzte zu ihren Melodien. Mit solcher Freude, dass er gar nicht darauf achtete, was um ihn herum geschah. Jede Note seines Instruments erschuf bis dahin Unbekanntes. Die erste Note, die ertönte, ließ die Sonne, die Lichtspenderin, erscheinen. Die Sonne hing hoch oben am Himmel und hatte beschlossen, für alle Ewigkeit dort zu bleiben.

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Falls du sie eines Tages herunterfallen sehen solltest, dann schicke mir ein Telegramm, damit ich komme und sie aufhebe. Die zweite Note erschuf den Mond, der sich in der Nacht einrichtete, um Spiele und Tänze mit Mondlicht zu beleuchten. Nyambé zupfte noch eine Seite der Sanza, und dieser dritte Ton erschuf das Dorf. Dann entstand das Land, der Kontinent, weitere Länder und weitere Kontinente, während Gott die Sanza spielte. Die ganze Welt entstand allmählich. Das Meer, der Fluss, der Strom, der Bach, das Gebirge, die Wüste, die Oase, die Düne. Dann der Löwe, der Tiger, der Panther. Die Insekten, die Fische, die Vögel. Und die Bäume, die Kräuter, der Wind und dieses und jenes, lauter Dinge, die aus der Sanza kamen, während Nyambé die Saiten in kristallklarem Ton zupfte. Und er spielte und er sang und er tanzte weiter voller verrückter Freude. Alles ging gut, bis eine Saite, ich weiß nicht mehr welche, mitten in der wundervollen Harmonie dieser Musik plötzlich einen falschen Ton von sich gab.

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Rate mal, was dann auf einmal passierte? Wer tauchte nun auf der Erde auf? Seltsam: der Mensch. Seine Frau folgte ihm unverzüglich. Du weißt, dass sie ihm überall hin folgte. Außerdem folgte er ihr auch überall hin... Und hinter der Frau ein Haufen Kinder. Hunderte Millionen Kinder in allen Hautfarben…weiße, schwarze, gelbe, rote, blaue, grüne, violette, gestreifte und gepunktete…in allen Farben. Und die fingen an, die Erde zu bevölkern, die Erde zu bevölkern in Afrika, in Amerika, in Asien, in Australien, in Europa, in Afrika, in Amerika, in Asien, in Australien, in Europa. Überall – überall. Hunderte Millionen Kinder, die nacheinander aus der Sanza herauskamen… Deshalb kümmern sich die Bantus in Afrika niemals um die Hautfarbe der Fremden, die zu ihnen zu Besuch kommen. Denn sie wissen seit den Urzeiten der Schöpfung, dass alle Menschen aus derselben Sanza stammen. Die Geschichte ist zu Ende.

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Francis Bebey, geboren am 5. Juli 1929 in Douala, war Musiker und Schriftsteller. Er verbrachte seine Kindheit in Kamerun, siedelte aber später mit seiner Familie nach Frankreich über. Seine ausgedehnten Konzert- und Lesereisen führten ihn insgesamt drei Mal nach Essen, zuletzt im November 1998, wo er gemeinsam mit seinem Quartett, der Geschichtenerzählerin Gcina Mhlophe und dem südafrikanischen Chor Ladysmith Black Mambazo im Rahmen von Africa at the Opera auftrat. Im Alter von 72 Jahren starb Francis Bebey am 29. Mai 2001 in Paris.

Africa Sanza Oder Wie Gott sich einmal die Langeweile vertrieb Francis Bebey Aus dem Französischen von Inge M. Artl Gestaltung: Dirk Uhlenbrock, www.ersteliga.de © für diese Ausgabe 2014 Edition Schmitz www.schmitzbuch.de



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