SPRACHE ist ALLES
ein interview mit colum mccan Es ist eine halbe Stunde, die Colum McCanns Leben eine neue Richtung geben wird. McCann ist mit einer Gruppe von Künstlern und politischen Aktivisten in den israelisch besetzten Gebieten unterwegs und kommt zu einem Ort namens Bait Dschala. Dort macht er die Bekanntschaft mit dem Israeli Rami Elhanan und dem Palästinenser Bassam Aramin. Beide setzen sich seit Jahren schon für eine israelische-palästinensische Aussöhnung ein. Beide haben Jahre zuvor ihre Töchter verloren. Rami erzählt von seiner Tochter Smadar, die gerade 13-jährig durch ein Selbstmordattentat in Jerusalem vor einer Buchhandlung, in der sie ihre Schulbücher kaufen wollte, ums Leben kam. Abir, die Tochter Bassams, wurde von einem Gummigeschoss der israelischen Grenzpolizei getroffen, das ihr den Schädel zertrümmerte, als sie sich gerade an einem Kiosk ein paar Süßigkeiten gekauft hatte. Sie wurde gerade einmal zehn Jahre alt, der Schütze war nicht älter als 18. McCann bittet die beiden Männer, über sie schreiben zu dürfen, sie willigen ein. Natürlich geht es in dem Buch um die unglaubliche Kraftanstrengung, die nötig ist, um nach einem solchen Schicksalsschlag weiterzuleben, dem Leben sogar neuen Sinn zu geben. Natürlich geht es um Recht und Gerechtigkeit, um Schuld und Vergebung, um Leben und Überleben, um Besatzer und Besetzte. Das Buch ist aber noch viel mehr. Es besteht aus 1001 Mosaiken, aus 1001 Kapiteln, die oft genug nur einen, zwei oder drei Sätze lang sind. Natürlich ist das Buch zeitlich und geographisch exakt verortet, aber es besteht auch aus ungezählten Abschweifungen: in die Welt der Vogelkunde, in die Welt des Holocaust, in den Alltag israelischer Gefängnisse, in Physik und Chemie weltweit benutzter Waffensysteme. Nicht einen Augenblick kann man sich als Leser ausruhen, hinter jeder Ecke (sprich: in jedem nächsten Kapitel) kann sich wahlweise eine ganz neue Welt oder aber ein schrecklicher Abgrund auftun. Ein so außergewöhnliches Buch verdient eine nähere Betrachtung. Die nachfolgenden Fragen hat Colum McCann für uns beantwortet. > Sie sind ein Autor, der viel Zeit zwischen zwei Romanen verstreichen lässt, weil Sie sehr genau Ihre Themen recherchieren. Wie lange dauerten die Vorbereitungen zu Apeirogon? < Zwischen der ersten Idee und der Realisierung des Buches sind fünf Jahre vergangen. Wir waren mit einer Non-Profit-Organisation in Israel und den besetzten Gebieten. Am vorletzten Abend hörten wir die Geschichten zweier Männer, Rami, ein Israeli und Bassam, ein Palästinenser. Normale Männer an einem gewöhnlichen Ort – so schien es. Und dann begannen sie von ihren Töchtern zu erzählen, die beide Opfer des Nahost-Konfliktes wurden. Ihre Berichte nahmen uns die Luft zu atmen. Ich war in meinem Innersten berührt und irgendetwas änderte sich in mir an diesem Abend.
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schmitzkatze 32