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Berufswunsch Superstar: Castingshows JeKi Hamburg: ein Exportschlager Instrumentalpädagogik im Jahr 2030
musikschule )) DIREKT Wie die EZB bei der Abschaffung musikalischer Bildung hilft Seit Beginn der Wirtschaftskrise hat die Europäische Zentralbank (EZB) zum wiederholten Mal den Leitzins gesenkt – bei der jüngsten Senkung so stark, dass er sich mittlerweile im Negativbereich befindet. Banken, die ihr Geld bei der EZB parken, müssen nun dafür „Strafe“ zahlen. Infolgedessen bekommen auch Anleger, die ihr Geld bei Banken gewinnbringend anlegen möchten, keine Zinsen. Doch was hat das mit Musikpädagogik zu tun? In Deutschland tummeln sich, nachdem sich der Staat mehr und mehr von der Finanzierung von Bildung und Forschung verabschiedet, immer mehr private Stiftungen auf diesen Spielfeldern. Die Stiftungsgründer verbinden in vielen Fällen die Möglichkeit, sich als wohltätige Mäzene darzustellen, die der Gesellschaft etwas Gutes tun (meist Kindern und Jugendlichen und gern unter dem Stichwort der „Chancengerechtigkeit“), mit einer für sie lukrativen Steuerersparnis durch die Stiftungsgründung. Private Stifter statt demokratisch gewählter Entscheidungsträger bestimmen zunehmend, wer, was, wie, wie lange und wo gefördert wird. Knapp 23 000 Stiftungen gibt es zurzeit in Deutschland, davon im Bereich Musik 563, an die sich finanziell notleidende Institutionen, Pädagogen und Künstler wenden und um Unterstützung von Vorhaben buhlen können. Universitäten und Musikhochschulen wären ohne Drittmittel aus Stiftungen zumindest im Bereich der Forschung überhaupt nicht mehr arbeitsfähig. Viele Stiftungen finanzieren sich primär aus den Erträgen, die sie aus ihrem Stiftungskapital erwirtschaften. Auch viele Unternehmen, die bisher als Sponsoren musikalischer Projekte tätig waren, stehen zurzeit wirtschaftlich nicht besonders gut da. Schon jetzt sind erste Auswirkungen der EZB-Politik zu spüren: Das finanzielle Stiftungsengagement bei der Unterstützung von Projekten wird mancherorts bereits eingeschränkt, wodurch natürlich auch Arbeitsmöglichkeiten für Musikpädagogen wegfallen. Würden musikalische Bildung und musikpädagogische Forschung in dem Umfang staatlich finanziert, in dem sie ihren Aufträgen auch nachkommen können, könnte der Staat in wirtschaftlich schlechten Zeiten antizyklisch gegensteuern. So aber ist absehbar, dass durch die politisch verordnete Armut des Staates zusammen mit der Wirtschaft auch musikalische Bildung und musikpädagogische Forschung in weiten Teilen einbrechen werden. Anja Bossen
Geplante Absenkung des Künstlersozialabgabesatzes Die Deutsche Orchestervereinigung (DOV) begrüßt die geplante Absenkung des Künstlersozialabgabesatzes: „Angesichts der prekären Einkommenslage vieler freier Künstlerinnen und Künstler war dieser Schritt überfällig“, so Gerald Mertens, Geschäftsführer der DOV. Zum 1. Januar 2017 soll die Abgabe von 5,2 auf 4,8 Prozent sinken. Das entlastet Künstler und beitragspflichtige Unternehmen. Die DOV vertritt auch die Interessen freier Musiker und Lehrbeauftragter an Musikhochschulen. „Unter den freien Künstlern sind auch viele Musiker. Allein durch die zunehmende Digitalisierung sind Teile ihres Einkommens aus der Wahrnehmung von Leistungsschutzrechten bislang ersatzlos weggebrochen. Unter diesen Umständen ist ihre soziale Absicherung wichtiger denn je.“
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Berufswunsch Superstar
Norina Narewski-Fuchs
Castingshows aus gesangspädagogischer Sicht )) Als ich vor einigen Jahren als Gesangspädagogin an einer Musikschule arbeitete, stellte sich ein 14-jähriges Mädchen im Sekretariat vor, um sich für den Gesangsunterricht anzumelden. Als das Mädchen hörte, dass es eine Warteliste gebe und der Unterricht nicht gleich beginnen könne, war es ganz verzweifelt. Sie habe doch schon in drei Wochen die CD-Aufnahme und könne deshalb nicht warten! Vielleicht ist dieses Mädchen kein ungewöhnlicher Fall. Zurzeit gewinnt man den Eindruck, dass es für immer mehr Kinder und Jugendliche erstrebenswert ist, „Superstar“ zu werden. Viele kommen mit solchen oder ähnlichen Erwartungen und Vorstellungen zu einer Gesangslehrerin. Es ist ihnen nicht bewusst, dass man auch zum Singen Talent, Fleiß, Geduld und Ausdauer braucht. Die künstlerische Leistung eines Sängers und dessen Weg dorthin werden offenbar falsch eingeschätzt. Das wirft für mich die Frage auf, welchen Anteil Castingshows an diesen Fehleinschätzungen haben. Der Wunsch, Ruhm zu erlangen, ist nicht neu. Viele möchten auf der Bühne stehen, bewundert und verehrt werden. Dieses Bedürfnis nach Anerkennung ist höchst menschlich. Speziell künstlerische Berufe scheinen diesbezüglich die Fantasie vor allem junger Leute anzuregen. Castingshows bieten für die kurzfristige Erfüllung dieses Traums eine Plattform. Doch der Preis dafür kann hoch sein. Eine wissenschaftliche Befragung von TeilnehmerInnen, vorgelegt von Maya Götz, Christina Bulla und Caroline Mendel,1 beschreibt das Risikopotenzial von Castingshows. Die Autorinnen erwähnen unter anderem die Gefahr psychischer Langzeitschäden und einer Behinderung der Persönlichkeitsentwicklung. Sie unterscheiden verschiedene Typen von TeilnehmerInnen, die auch in
unterschiedlichem Maß von diesem Format profitieren oder Schaden nehmen können.2 Aus gesangspädagogischer Sicht ist problematisch, dass oft nicht die sängerische Qualität, sondern die Vermarktbarkeit im Vordergrund steht. Zum Beispiel regeln die Teilnahmebedingungen von Deutschland sucht den Superstar (DSDS), dass das Styling für die Liveshows grundsätzlich durch den Produzenten erfolgt und dieser sich auch das Recht vorbehält, abschließend über die Liedauswahl zu entscheiden.3 Superstar zu werden ist nicht nur lohnend, unkompliziert für jeden möglich, sondern bedarf auch nur geringer Anstrengung. Diesen Eindruck jedenfalls vermitteln Castingshows, die in unterschiedlichen TVFormaten ausgestrahlt werden. Man kann sich in fast jeder größeren Stadt „casten“ lassen, mittlerweile auch ohne Voranmeldung. Die Hemmschwelle ist dadurch niedrig, die Ahnungslosigkeit scheint groß. Das betrifft auch die sängerischen Voraussetzungen: Man lernt über das Gehör – YouTube sei Dank! Im Karaoke-Prinzip werden die InterpretInnen imitiert, wobei hauptsächlich das untere Drittel des Stimmumfangs benutzt wird. In Songbooks gibt es die aktuellen Titel oft nur mit Akkordbezeichnungen und Text. Notenkenntnis oder die Beherrschung eines Instruments sind nicht mehr zwingend nötig.
„Nessun dorma“ – für Sopran? Vor allem mit klassischer Musik tun sich viele SchülerInnen im Gesangsunterricht schwer. Ihnen fehlt der Zugang aufgrund mangelnder Hörerfahrung. Das spiegelt sich deutlich in den Castingshows wider. Klassik hat dort kaum einen Platz. Ob sie ihn überhaupt haben sollte, bleibt für mich fraglich. Einige wagen sich doch an klassi-
sches Repertoire und werden gern als exotische Einspielungen gesendet. Der „Mut“ zum klassischen Beitrag wird bewundert und die Jury lässt Kompetenz zur Bewertung des Beitrags vermissen. Beispielsweise versucht sich eine Bewerberin an der Arie des Calaf „Nessun dorma“ aus Turandot, ungeachtet der Tatsache, dass es sich um eine Tenor-Arie handelt, und ist stimmlich damit eindeutig überfordert. Ein postpubertäres Mädchen quält sich körperlos durch die Arie der Königin der Nacht und wird zum Vorbild für einen gleichaltrigen Jungen, der es dann im darauffolgenden Jahr auch damit versucht. Jury und Publikum sind hingerissen: „Es war hammergeil!“
Kinder-Castingshows Während erwachsene TeilnehmerInnen für sich selbst die Verantwortung tragen, können Kinder dies in der Regel noch nicht. Bereits Achtjährige sind bei manchen Castingshows teilnahmeberechtigt. Wenn sie als kleine Erwachsene Songs interpretieren, in einer Sprache, die sie nicht verstehen, über Themen, bei denen Kinder vor einigen Jahren noch aus dem Raum geschickt wurden, läuft etwas schief! Kinderpsychiater und -psychologen warnen vor einer frühen Sexualisierung von Kindern, die zu einer Alters- und Rollenkonfusion bei den Kindern führt und den Voyeurismus des Publikums fördert.4 Man wünscht ihnen, dass sie den großen Rummel um ihre Person gut überstehen und die mitfiebernden Eltern in der Lage sind, sie aufzufangen, wenn der Erfolg ausbleibt. Wie oft mögen es wohl die Eltern sein, die so Bestätigung suchen? Wenn das Format dann noch zur Primetime als Familiensendung im TV gezeigt wird, funktioniert es auch als Multiplika-
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tor: Auf dem nächsten Kindergartenfest sehen wir Mädchen im kurzen Glitzerkleid und kleine, auf cool gestylte Rocker über die Bühne hopsen und die entsprechende Literatur singen. Sind das dann die neuen Talente von morgen? Gerade Kinder, die Bestätigung und Orientierung durch die ihnen wichtigen Bezugspersonen suchen, sind hierfür empfänglich. Da sehe auch ich mich als Gesangspädagogin in der Verantwortung, Beraterin nicht nur in musikalischen Themen zu sein, einen Freiraum des Ausprobierens zu schaffen, sie zu bestätigen, aber auch vor einigem zu bewahren. Andererseits sieht man in Kinder-Castingshows auch sehr talentierte Kinder, die unbedingt gefördert werden sollten. Ich wünsche mir, dass sie dann auf qualifizierte GesangspädagogInnen treffen. Dieses Kapitel bleibt im Fernsehen unbeleuchtet. Wie mit den ausgewählten Kindern während der Staffel und danach gearbeitet wird, ist leider nicht zu sehen. Gerade die Arbeit mit der Kinder- und Jugendstimme braucht einfühlsame und gut ausgebildete Lehrpersonen.
Einseitige Ausbildung Über die Qualität von Kinderstimmen und klassischen Gesangsvorträgen von Erwachsenen kann ich mir ein Urteil bilden, wage aber nicht zu behaupten, alle populärmusikalischen Beiträge ausreichend professionell beurteilen zu können. Ich habe das typische, klassisch ausgerichtete Studium der Gesangspädagogik und die Ausbildung zur Kinderstimmbildnerin absolviert. Die Technik des Populargesangs spielte dabei keine Rolle. Eine solche Ausbildung deckt sich jedoch heute nicht mehr vollständig mit der Realität des täglichen Arbeitslebens als Ge-
sangspädagogin an einer Musikschule oder in privater Unterrichtstätigkeit. Da aber die Notwendigkeit besteht, sich mit Popmusik zu beschäftigen, sollten Angebote genutzt werden, sich auch nach dem Studium in Workshops zu diesem Thema weiterzubilden. Unabhängig davon rege ich an, dieses Thema ins Studium der klassischen Gesangspädagogik zu integrieren. Dadurch bieten sich viele neue Möglichkeiten. Damit meine ich jedoch nicht, die klassische Literatur zu umgehen, im Gegenteil: „E“ und „U“ können sich hervorragend ergänzen und gegenseitig befördern. Die stimmphysiologischen Voraussetzungen sind schließlich die gleichen. Einige SchülerInnen sind über Popmusik leichter emotional ansprechbar, da sie mehr ihren Hörgewohnheiten entspricht und die Hemmschwelle dadurch geringer ist. Das kann man nutzen, um ihnen danach auch die Welt der Klassik näherzubringen. Die altertümliche Sprache macht es SchülerInnen oft schwer, den Inhalt zu erfassen. Wenn man mit ihnen den Text übersetzt, Parallelen zur heutigen Zeit sucht, fällt der Zugang oft leichter. Ich plädiere eindeutig für den Abbau der Schwellenangst von „E“ und „U“ in der Gesangspädagogik, unabhängig von einer späteren Spezialisierung. GesangspädagogInnen, die an der Basis im Musikschulbereich arbeiten, brauchen ein breiteres Spektrum an Stilrichtungen, um möglichst viele SchülerInnen da abholen zu können, wo sie stehen.
Unterrichtsatmosphäre In meinen ersten Jahren als Gesangslehrerin kamen zwei Schülerinnen zu mir, die offensichtlich auch vom Casting-Fieber angesteckt waren, im pubertären Alter,
selbstbewusst und fordernd auftretend. Da ich selbst erst geringe Berufserfahrung hatte, habe ich ihnen wohl etwas zu undiplomatisch mitgeteilt, dass sie noch weit entfernt vom Superstar seien. Enttäuscht gingen sie aus der Probestunde. Danach war ich um eine Erfahrung reicher: Wie wichtig ist es doch, den SchülerInnen Freiraum zu geben, sie ernst zu nehmen mit dem, was sie zu mir führt. Es ist notwendig, eine vertrauensvolle und angstfreie Atmosphäre zu schaffen, um auch Fehler zuzulassen und sich ausprobieren zu dürfen – und eben auch Superstar sein zu wollen. Schließlich zeigen wir uns mit unserer Stimme so unmittelbar und sind so nah an unseren Gefühlen wie mit keinem anderen Instrument! Wo ich mich nicht sicher fühle, kann ich nicht loslassen und auch nicht kreativ werden. Das wiederum ist eine der wichtigsten Voraussetzung für das Singen. Der Neurobiologe Gerald Hüther schreibt: „Die entscheidende Voraussetzung für die Entfaltung unseres kreativen Potentials ist die Überwindung der individuellen Angst durch die Stärkung von wechselseitigem Vertrauen.“5 Dem wird eine Castingshow gerade nicht gerecht. In den meisten Castingshows geht es nicht um eine individuelle Entwicklung der TeilnehmerInnen, also ist eine wirkliche Verbesserung ihrer Fähigkeiten gar nicht möglich. Beim Gesangsunterricht hingegen geht es nicht um die Bewertung von Äußerlichkeiten, sondern um die Verbesserung der Singstimme und um den Weg dorthin. Dieser dauert allerdings nicht nur vier Wochen, sondern bedeutet auch Üben, Fleiß und Geduld. Für die Gesangspädagogin ist es eine Herausforderung, dem Schüler oder der Schülerin diese Notwendigkeit klar zu machen und ihn oder sie dafür zu motivieren.
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„Die Stimme, die du hast, reicht vielleicht zum Eier-Abschrecken!“ Dieter Bohlen „Üben ist so langweilig“ Die meisten SchülerInnen sind in den ersten Unterrichtsstunden sehr motiviert. Rasch lässt sich erkennen, ob ihre Erwartungen erfüllbar sind. Die Fernseherfahrungen bewirken häufig unrealistische Vorstellungen vom Gesangsunterricht, was sich ungünstig auf die Motivation auswirken kann. Wenn ein Schüler seine stimmliche Leistungsfähigkeit vielleicht überschätzt hat, der schnell erhoffte Erfolg auf sich warten lässt, kann die Konfrontation mit der Realität demotivierend wirken. Es ist wichtig, gemeinsam ein realistisches Ziel zu formulieren und den Weg dorthin zu beschreiben. Diesen Weg muss der Schüler jedoch selbst aktiv gehen. Man muss ihm verdeutlichen, dass ein gewisses Maß an Übezeit unumgänglich ist. Dazu gehört auch mentales Üben und die inhaltliche Beschäftigung mit der Literatur, ebenso das Hören von Musik und das Beobachten von Sängerinnen und Sängern. Ich wähle mit meinen SchülerInnen gemeinsam Literatur aus, die ihnen gefällt und die sie trotzdem gut bewältigen können. Das Ziel des Gesangsunterrichts kann ganz unterschiedlich sein: Manch einer möchte sich im Chor mit seiner Stimme wohler fühlen oder mit den eigenen Kindern besser singen können. Ein anderer bereitet sich auf ein Gesangsstudium vor oder möchte unbedingt bei einer Castingshow mitmachen.
Fazit Das Mädchen, das ich zu Beginn erwähnte, kam leider nie wieder. Ich weiß nicht, was aus ihr wurde. Aber es kamen viele andere, die begeistert Castingshows gesehen hatten und dann auch singen lernen wollten. Es waren sicher auch welche da-
bei, die nie zuvor darüber nachgedacht hatten, Gesangsunterricht zu nehmen. Diese Tatsache jedenfalls muss man Castingshows zugute halten: Singen ist wieder interessant. Doch wie viele der TeilnehmerInnen an Castingshows stellen sich tatsächlich an einer Musikschule oder bei einer privaten Gesangslehrerin vor? Diejenigen, die es doch tun, kommen mit ihrer Stimme und nun auch mit den vom Fernsehen geprägten Vorstellungen zu uns. Dem stehen wir als GesangspädagogInnen gegenüber. Castingshows sind ein Phänomen unserer Zeit. Wir müssen uns damit auseinandersetzen, um sensibel damit umgehen zu können. Für den Musikunterricht an Schulen existiert bereits Arbeitsmaterial, welches sich mit dem Thema beschäftigt. Zwischen der Teilnahme von Erwachsenen und Kindern ist deutlich zu unterscheiden. Einem erwachsenen Schüler, der an einer Castingshow teilnehmen möchte, würde ich die Vor- und Nachteile verdeutlichen, eine Empfehlung aussprechen, ihm aber nicht die Entscheidung abnehmen. Bei Kindern ist dies wesentlich schwieriger. Vor dem 14. Lebensjahr rate ich generell von einer Teilnahme an einer Castingshow ab. Allerdings ist auch die Persönlichkeit des Kindes und das Format der Sendung zu beachten, z. B. ob eine kompetente Fachjury vorhanden ist. Die Beschäftigung mit Pop- und Rockliteratur hingegen halte ich gerade auch für klassiche Gesangslehrkräfte an Musikschulen für sinnvoll. Ich wünsche mir, dass wir weiter sorgsam mit den uns anvertrauten Schülerinnen und Schülern umgehen, ihnen Raum zur Entfaltung, Zeit und Achtung entgegenbringen. Wir dürfen sie eine kleine Strecke auf ihrem Weg begleiten. Vielleicht können wir unseren SchülerInnen nicht nur
das Singen beibringen, sondern sie auch so stärken, dass sie ihren Wert nicht von einer Jury abhängig machen müssen. ))
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Maya Götz/Christina Bulla/Caroline Mendel: Sprungbrett oder Krise? Das Erlebnis Castingshow-Teilnahme (LfM-Dokumentation Band 48), Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2013. 2 ebd., S. 99-139. 3 Auszug aus den Teilnahmebedingungen am Wettbewerb Deutschland sucht den Superstar: „7.4. Die Auswahl der Musiktitel erfolgt grundsätzlich gemeinschaftlich durch den Produzenten und den Teilnehmer unter Berücksichtigung der stimmlichen Möglichkeiten des Teilnehmers und des jeweiligen Mottos einer Show. Der Produzent behält sich das Recht vor, den Teilnehmer nach Rücksprache mit dem Vocal Coach dazu zu verpflichten, ein bestimmtes Lied zu singen oder ein Lied aus einem bestimmten Genre vorzutragen. In jeder Phase des Wettbewerbes behält sich der Produzent das Recht vor, die Auswahl eines Liedes durch den Teilnehmer abzulehnen. 7.5. Das Styling für die Mottoshows erfolgt durch den Produzenten. 7.13. Für den Fall einer Meinungsverschiedenheit über den Ablauf eines Teils des Wettbewerbes oder dieser Regeln ist die Entscheidung des Produzenten abschließend und bindend.“ Im Internet unter http://bilder.rtl.de/download/ musik/DSDS_Die_Regeln.pdf (Stand: 10.6.2016). 4 Michael Kroll: „Casting-Shows. Chancen und Risiken einer öffentlichen Präsentation oder Zurschaustellung von singenden Kindern und Jugendlichen“, in: Michael Fuchs (Hg.): Außer – gewöhnlich? Wege im Umgang mit dem Besonderen, Berlin 2014, S. 177-191. 5 Gerald Hüther: Was wir sind und was wir sein könnten. Ein neurobiologischer Mutmacher, Frankfurt am Main 2011, S. 132.
Norina Narewski-Fuchs ist DiplomGesangspädagogin, arbeitet freischaffend im eigenen Gesangsatelier und ist Mitglied des Konzeptionsteams des Leipziger Symposiums zur Kinder- und Jugendstimme.
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Unterrichtsorganisation mit „WhatsApp“
Nur ein Klick Rund um die Uhr erreichbar? Das muss nicht sein. Aber die Vorteile der Kommunikation mit „WhatsApp“ möchte ich nicht mehr missen.
)) Als praktisch erweist sich diese App zum Beispiel für außergewöhnliche Fälle der Unterrichtsorganisation: Die Heizung meines Zimmers in der Musikschule ist ausgefallen und der Unterricht findet in einem anderen Raum statt? Ich habe mir im Lauf des Nachmittags beim Unterrichten zehn Minuten Verspätung eingehandelt? Kein Problem! Ein Klick auf die Montags-Schülergruppe und alle finden umweglos zum richtigen Raum. Ein Klick auf die Dienstags-Schülergruppe und niemand verbringt sinnlos Wartezeit in der Musikschule. Kurzfristig hat mich eine Grippe erwischt und ich kann nicht unterrichten? Das schicke ich mit einem Klick an alle Mittwochs-Schüler. Vorbei die Zeiten, als ich mit Fieber auf dem Sofa lag und den halben Nachmittag damit verbrachte, alle SchülerInnen telefonisch zu erreichen – und am Ende doch der eine oder die andere meine Nachricht nicht rechtzeitig bekam und suchend durch die Musikschule irrte. Vorsichtig bringe ich den Eltern ein wenig Chat-Knigge näher: Wenn Sie den Unterrichtstermin Ihres Kindes verlegen möchten, so chatten Sie mich doch am besten im Einzelchat an. In einen Gruppenchat gehören nur Dinge, die alle SchülerInnen oder Eltern etwas angehen – alles andere will dort keiner lesen und am Ende führt es dazu, dass niemand diesen Gruppenchat mehr besucht, wenn eine neue Nachricht angezeigt wird. Auch Projekte wie beispielsweise das Anfängerensemble, in dem alle SchülerInnen mitspielen dürfen, oder einen gemeinsa-
men Konzertbesuch mit allen SchülerInnen organisiere ich über WhatsApp. Ich nutze diese Form der Lehrer-Schüler-Eltern-Kommunikation, wo immer ich sie nutzbringend in meinen Alltag einbauen kann. ) Gerne verschicke ich Hausaufgaben mit von den SchülerInnen aufgenommenen Hörbeispielen oder mit Beispielfotos der kniffligen Takte an interessierte Eltern notorischer Hausaufgabenheft-Vergesser. ) Ältere SchülerInnen bekommen regelmäßig Online-Hausaufgaben, wie etwa eine tolle Aufnahme eines Stücks auf YouTube zu suchen und mir den Link zu schicken, die Dynamik eines bestimmten Clips in ihre Noten zu übertragen oder zu vergleichen. ) Haben wir im Unterricht gemeinsam ein Play-Along mit einer App oder Software erstellt, ist dieses ebenfalls schnell mit WhatsApp versendet. Ein weiterer Vorteil: Die Jugendlichen haben diese Daten immer dabei, denn wer ist heute schon ohne Handy unterwegs? So können sie sich zwischendurch immer mal wieder mit den Unterrichtsinhalten beschäftigen. Und das tun sie auch. Freiwillig. Denn so ein Handy ist spannend! Natürlich ließe sich all das auch über EMails lösen: Auch hier könnte ich Verteiler anlegen und gezielt Informationen herausgeben, Einladungen und Flyer verteilen. Doch die Erfahrung zeigt: Für Schüler ist dieses Medium völlig uninteressant – sie nutzen es kaum noch. Und auch Eltern erreichen meine kleinen Service-Meldungen zu Raumänderungen oder Verspätungen oft erst, wenn sie am Abend ihre privaten E-Mails checken. Leider zu spät! Natürlich ist mir bewusst, dass am Samstag um 21 Uhr nicht unbedingt meine Musikschularbeitszeit ist, aber wenn Marie mir um diese Zeit den Link zu einem wit-
Kristin Thielemann
zigen Trompetenfilm schickt („Meega! Schau mal!“), dazu diverse Smileys, dann schaue ich mir den sicher an und schicke zumindest den „Daumen hoch“ zurück. Eine tolle Sache… Es sei denn, in der Schülerschar befindet sich ein Kind, dessen Eltern SMS- oder WhatsApp-Verweigerer sind. Ziemlich patzig antwortete mir kürzlich eine Mutter auf die Frage, ob sie denn inzwischen ein Mobiltelefon hätte und zumindest per SMS erreichbar sei: „Keine E-Mails, kein Handy. Wir haben ein Telefon und einen Briefkasten! Gelegentlich schalten wir den Anrufbeantworter ein…“ Die kleinen Service-Extras meines Musikunterrichts mit ihr per Briefpost zu lösen, bedeutet für mich deutlich mehr Arbeit. Ihr Kind bekommt also handgeschriebene (!) Klebezettel von mir mit. Jeden Mittwoch gleich zwei oder drei Stück: mit Hausaufgaben, Übetipps, Einladungen zu Konzertbesuchen und einigem mehr. Genau diese Mutter ist aber jedes Mal erzürnt, wenn sie durch die Musikschule irrt und nach meinem Ersatzraum sucht – und hat schon das eine oder andere Mal vor meinem Unterrichtsraum warten müssen, auf dessen Tür ein Zettel klebte: „Heute leider 10 Minuten Verspätung!“ Neulich gab ich einem interessierten Jungen eine Probestunde. Er ist im richtigen Alter und besitzt sogar schon eine Trompete. Beim Beratungsgespräch mit den Eltern habe ich es dann tatsächlich gefragt: „Besitzen Sie ein Handy? Und haben Sie … WhatsApp?“ ))
Kristin Thielemann unterrichtet Trompete an der Musikschule Kreuzlingen, ist Fortbildungsdozentin und veröffentlicht Unterrichtsliteratur für Blechbläser. www.trompetelernen.ch
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JeKi Hamburg – Glücksfall und Exportschlager
Zwei Jahre intensives Musizieren Grundschule „An der Burgweide“ im Schatten der Hochhäuser, Kirchdorf-Süd. Es ist JeKi-Tag. Normalerweise finden die hier lebenden Kinder nicht so einfach den Weg zu einem Instrument. Da ist es schon ein schönes Erlebnis, alle Kinder der dritten und vierten Klassenstufen mit Instrumentenkoffern zu den JeKiRäumen laufen zu sehen.
)) Hospitation in der Harfengruppe: Sechs Mädchen auf bunten, kniehohen Sitzkissen halten Keltische Harfen vor sich. Pachelbel-Kanon, zwei Durchläufe der bekannten Basslinie zusammen mit der Harfenlehrerin, dann wendet sie sich den Besuchern zu: „Die können das jetzt alleine, jede Schülerin wird auch eine Improvisation spielen.“ Danach die Ode an die Freude. Schülerinnen, die in der zurückliegenden Stunde nicht dabei waren, bekommen von den anderen gezeigt, was sie spielen müssen. Das alles ist erstaunlich. Die Lehrerin gibt ehrlich zu, wie aufgeregt sie selbst wegen der Hospitation sei. Nach der Harfenstunde werden die sorgsam verpackten Instrumente auf dem Gang sehr schnell zu „Verteidigungswaffen“ gegen Jungs mit dummen Sprüchen. Schnitt. Congress Centrum Hamburg – JeKi-Jahreskonzert: knapp 3 000 Menschen im Publikum, Familien mit Großeltern und Kindern aus allen Stadtteilen Hamburgs. Es ist mucksmäuschenstill. Auf Bühne und Großbildleinwand sind Scheinwerfer und Kameras auf vier Mädchen gerichtet. Sie sitzen auf bunten, kniehohen Sitzkissen und halten Keltische Harfen vor sich. Zwei durften wegen der Filmaufnahmen nicht mitspielen. Pachelbel-Kanon. Konzentration. Ein Durchlauf der bekannten Basslinie zusammen mit der Lehrerin, danach machen sie alleine weiter und jede der jungen Musikerinnen spielt eine Impro-
Markus Menke
visation. Schlussakkord. Stille. Und dann dieser begeisterte Applaus, den wir alle kennen nach einem großartigen Konzerterlebnis.1 Und es war nicht der einzige an jenem Abend im Jahr 2013 beim zweiten JeKi-Jahreskonzert. Ebenso hätte der Auftritt der Percussiongruppe einer Förderschule beschrieben werden können. Nach dem Solo der Beatboxer stand die Halle vor Begeisterung Kopf. Am Ende dann das gemeinsame JeKi-Lied: „Singt doch einfach mit, passt gut auf, wir singen es euch vor.“2 250 Kinder musizieren mit ihren Instrumentallehrerinnen auf der Bühne – und der ganze Saal singt mit.
mentalunterricht an 62 Grundschulen regulärer Unterricht am Vormittag. Für alle Kinder, wie Mathe oder Deutsch! Weitere acht Schulen werden im JeKi-Programm der Hochschule für Musik und Theater betreut. Die 200 Grundschulen Hamburgs konnten sich für die Teilnahme an JeKi bewerben. Sie mussten sich verpflichten, in ihrem Musikprofil die Grundlagen für JeKi zu schaffen. Heute nehmen jedes Jahr 10 000 Kinder am Programm teil. Bei der Auswahl der JeKi-Schulen wurde auf eine breite regionale Streuung geachtet. Schulen mit soziokulturellem Entwicklungsbedarf wurden verstärkt berücksichtigt.
Regulärer JeKi-Unterricht für alle Kinder am Vormittag
Jahrgang 1: Grundmusikalisierung
Wie konnte das geschehen und geschieht es immer wieder, auch im Jahr 2016? Seit die JeKi-Idee im Schuljahr 2009/10 aus Nordrhein-Westfalen kommend auch in Hamburg Fuß gefasst hat, ist der Instru-
Der Musikunterricht entwickelt allgemeine musikalische Fähigkeiten der Kinder und legt die Grundlagen für das Erlernen eines Instruments. Die Freude am Musizieren und das spielerische Erleben stehen im Vordergrund. Alle Aspekte des geltenden Rahmenplans werden berücksichtigt.
Musikunterricht in den JeKi-Schulen Jahrgang 1
Grundmusikalisierung: Singen, Hören, Rhythmus, Bewegung und Tanz, Spiel auf Instrumenten (vor allem Stabspiele und Rhythmusinstrumente), Musikwissen
Jahrgang 2
Musikunterricht 1 Stunde pro Woche
JeKi-Unterricht* 1 Stunde pro Woche Kennenlernen der Instrumente, Wahl des Instruments für Klasse 3 und 4
Jahrgang 3 und 4
Musikunterricht 1 Stunde pro Woche
JeKi-Unterricht* 1 Stunde pro Woche Instrumentalunterricht in Gruppen mit etwa sieben Kindern
* In Förder- und Sonderschulen findet der JeKi-Unterricht teilweise in anderen Klassenstufen und mit kleineren Gruppen statt.
© JeKi Hamburg
© Markus Hertrich
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Jahrgang 2: Kennenlernen der Instrumente
Im JeKi-Unterricht bildet die Klasse zwei Gruppen, nun kommen zusätzlich InstrumentalpädagogInnen in die Schulen. Die Schülerinnen und Schüler lernen verschiedene Instrumentengruppen durch spielerisches Erproben kennen, beispielsweise Saiten-, Holzblas-, Blechblas-, Tasten- und Schlaginstrumente. Die Instrumente stehen in der Schule zur Verfügung. Am Ende wählt jedes Kind, welches Instrument es in Klasse 3 und 4 lernen möchte. Jahrgang 3 und 4: Instrumentalunterricht in Gruppen
Der JeKi-Unterricht findet in Gruppen mit etwa sieben Kindern statt. Die Lehrkräfte sind InstrumentalpädagogInnen, die zusätzlich in die Schulen kommen. Die Schule schafft geeignete Instrumente in Kindergrößen an. Jedes Kind erhält sein Instrument leihweise und kostenlos.
Lehrkräfte und Kosten Der JeKi-Unterricht wird von erfahrenen Fachlehrkräften erteilt. Dazu arbeitet die Behörde für Schule und Berufsbildung auch mit der Staatlichen Jugendmusikschule Hamburg, dem Hamburger Konservatorium und mit zahlreichen privaten Musikschulen zusammen. Die Freie und Hansestadt Hamburg finanziert das Programm. Die Instrumente werden kostenlos an die Kinder ausgeliehen. Es werden keine Gebühren für den Unterricht erhoben. Die Kinder nehmen ihr Instrument zum Üben mit nach Hause. Die Lehrkräfte zeigen den Kindern im Unterricht, was sie zu Hause üben sollen und wie man übt. Dadurch erleben auch die Eltern, welche Lieder in der Schule gespielt werden. Am Ende des Jahres finden Konzerte statt, in denen die JeKi-Kinder ihr Können zeigen.
JeKi-Schulorchester fassen die Ergebnisse vieler Gruppen zusammen. In Jahreskonzerten kommen Gruppen aus mehreren Schulen zusammen und musizieren vor einem großen Publikum in einem repräsentativen Konzertsaal.
Programm-Gruppe JeKi Hamburg hat eine Programm-Gruppe, die im Referat Musik der Schulbehörde angesiedelt ist. Unter der Leitung von Theodor Huß (Fachreferent Musik) wirken Vertreterinnen von Schulmusik, Instrumentalmusik und Musikschulen als ständige Ansprechstation. Aufgaben sind die Bereitstellung aller Veröffentlichungen auf der Homepage, regelmäßige Newsletter, Qualitätsentwicklung, Planung von Fortbildungen und JeKi-Tagen, Unterrichtshospitationen, Konzertbesuche, Jahreskonzert-Planung, Organisation der Koordinatorinnen- und Schulleitungs-Treffen, Ratschlag bei Instrumentenanschaffung, Hilfe für Schulen bei der Personalplanung, Steuerung von Ressourcen und Personal sowie die Beteiligung am „Forum der musikpädagogischen Kooperationsprogramme in Grundschulen“. Damit das ambitionierte Programm umgesetzt werden kann, gibt es in jeder Schule eine Koordinationskraft. Sie organisiert das Programm vor Ort, hält den Kontakt zwischen Programm-Gruppe, Schulleitung, schulischen Lehrkräften, Instrumentallehrkräften, Schülerinnen und Schülern und Eltern. Etwa 190 externe Instrumentallehrkräfte und einige schulische Musiklehrkräfte unterrichten die JeKi-Gruppen. Zu Beginn des Programms war klar, dass sich alle Beteiligten aufeinander zu bewegen müssen. Ein wichtiger Schritt war die Bereitschaft der Schulbehörde in Hamburg, eine aus-
kömmliche Finanzierung und Honorierung der Instrumentallehrkräfte bereitzustellen. Zur Unterrichtsform mit Gruppen zu sieben Kindern und zu den meisten Abläufen gab es noch wenig oder keine Erfahrungen. JeKi-Unterricht bedeutet also Fortbildung. JeKi-Unterricht bedeutet auch, in jeder Stunde mit allen Kindern zu musizieren. Am 10. Oktober 2015 wurde von der Programm-Gruppe der 10. Hamburger JeKiTag veranstaltet. Die JeKi-Tage haben sich zu einer wichtigen Fortbildungssäule entwickelt, an denen die Lehrkräfte und Koordinatorinnen zahlreich teilnehmen. In Kooperation mit der Landesmusikakademie Hamburg werden zusätzlich ganzjährig spezifische Fortbildungen für den JeKiUnterricht angeboten. Ensembleleitung, Dirigieren, Arrangieren, Organisieren, System Schule: alles Themen, die nicht unbedingt im Studium vorkommen. Gleichzeitig sehen die schulischen Musiklehrkräfte durch die Kompetenz der Instrumentallehrkräfte ihr Instrument im neuen Licht – auch eine Motivation für Fortbildung. Den Instrumentalunterricht in schulischen Gruppen zu einem gemeinschaftlichen musikalischen Lernen zu machen, ist und bleibt die zentrale Herausforderung des Hamburger JeKi-Programms und gehört auch längerfristig zu den Entwicklungsaufgaben der Instrumentaldidaktik.
Handreichungen In den Jahren sind praxisbezogene Handreichungen entstanden, die immer wieder in Zusammenarbeit von schulischen Lehrkräften und Instrumentallehrkräften überarbeitet werden:3 ) ein ausführliches Papier zu allgemeinen pädagogischen und instrumentenspezifischen Zielen,
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Infos und Materialien © Markus Hertrich
Informationen und die genannten Materialien sind zu finden unter www.hamburg.de/jeki Fortbildungsangebote unter www.landesmusikakademie-hamburg.de
) der Methodenratgeber für Unterricht in der Schule, ) das Aktionsmanual Gruppenunterricht ) und der Präsentationsbaukasten. Außerdem entsteht ein ständig wachsender Fundus an Noten, die sich für den JeKi-Unterricht als besonders geeignet erwiesen haben.4
Konzerte 120 Schulkonzerte oder schulübergreifende Regional- und Jahreskonzerte pro Schuljahr sind die Höhepunkte. Die unterschiedlichsten Formate finden hier Berücksichtigung. Es beginnt bei Instrumentalgruppen, die einander vorspielen, JeKiKlassenstufen, die für die Schulöffentlichkeit musizieren bis hin zu oben beschriebenen Regional- oder Jahreskonzerten. In großen Konzertsälen treffen sich die Instrumentalgruppen aus acht bis zwölf Schulen mit ihren jeweiligen Beiträgen und zum gemeinsamen Musizieren bis hin zur Sinfonieorchesterstärke. Konzertanten Charakter haben auch die Instrumententage. Gitarrengruppen oder Percussiongruppen, Gruppen von Tasteninstrumenten, Bläsern oder Streichern werden instrumentenhomogen eingeladen, einander in einem großen Konzertsaal vorzuspielen, erhalten aber auch in der Vorbereitung Werke, die dann gemeinsam am Instrumententag geprobt und gemeinsam musiziert werden. Hinzu kommen stiftungsfinanzierte Konzerte für die JeKiKinder mit Profi-Ensembles in Schulen
Wie geht es weiter? JeKi endet mit der Grundschulzeit. Doch viele weiterführende Schulen haben außerunterrichtliche musikalische Angebote, etliche haben ein ausgeprägtes musisches
Profil mit erweitertem Musikunterricht, Streicher- oder Bläserklassen. Der JeKiUnterricht ist auf Anschlussfähigkeit ausgelegt. Also besteht die Aufgabe darin, dass Programme in Stadtteilschulen und Gymnasien bewusst JeKi-Kinder aufnehmen und ihnen die Möglichkeit geben, ihr Instrumentalspiel weiterzuentwickeln. Musikschulen und freie Instrumentallehrkräfte sind in Hamburg offen für die Kinder, die durch JeKi das buchstäbliche Feuer gefangen haben. Staatliche Jugendmusikschule und Hamburger Konservatorium stellen für diese Kinder Plätze bereit, deren Kosten sozial gestaffelt sind oder sogar ganz als Stipendium von Paten übernommen werden. Für eine erfolgreiche Fortführung des Unterrichts ist ganz besonders das Engagement der Instrumentallehrkräfte gefragt. Sie können vor allem die Eltern überzeugen, ihre Kinder weiter zu unterstützen. Und am besten motivieren sowieso die Konzerterlebnisse! Hospitation in der Trompetengruppe in der Schule Arnkielstraße im quirligen Stadtteil Eimsbüttel. Drei Jungs, vier Mädchen, vierte Klassenstufe. Die Noten werden vom Laptop des Trompetenlehrers auf das Smartboard projiziert, es gibt vier nach Schwierigkeitsgrad differenzierte Stimmen. Ein türkischer und ein pakistanischer Junge legen mit dem neuen Lied los. Frage des Beobachters: „Habt ihr auch noch anderswo Trompetenunterricht?“ Antwort unisono: „Wir spielen Trompete nur hier in JeKi, aber wir lieben unsere Trompete.“ Auch über die Landesgrenzen hinaus findet JeKi Interesse: Nach zwei Besuchen von Leitern und Lehrkräften aus dänischen Musikschulen wurde im Februar 2016 ein erstes dänisches Projekt an der Hornbaek Skole in der Region Helsingör gestartet. Der Titel dort: „Alle Spiller Instrument“. Augenöffner waren nach Aussage der dä-
nischen Kollegen die Unterrichtsbesuche in Hamburger JeKi-Schulen und die Erkenntnis: Ja, es geht, auch in einer Gruppe ist sinnvoller Instrumentalunterricht möglich. JeKi Hamburg hat stabile Säulen: Schulverwaltung, Finanzierung, Organisation, Schule, Musikschule, Konservatorium, Instrumentallehrkräfte, Fortbildung, private Förderer. In Zeiten von Ganztagsschule und einer Vielfalt von Angeboten werden alle Kinder einer JeKi-Schule zwei Jahre erreicht, um intensiv zu musizieren. Das klappt nicht immer wie im Bilderbuch, hat aber großes Potenzial, Kinder nachhaltig für ihr Instrument zu begeistern. Musikschulen standen dem Anfangsgruppenunterricht zunächst skeptisch gegenüber. Nach sechs Jahren Erfahrung in Hamburg steht der Kommentar eines Instrumentallehrers als zusätzliche Stimme im Chor der Instrumentalpädagogik: „Mir macht der Gruppenunterricht inzwischen viel mehr Spaß als dieser Einzelunterricht.“ ))
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www.youtube.com/watch?v=KWpxlIXJNOo www.youtube.com/watch?v=uEbqy9d5Vks 3 http://bildungsserver.hamburg.de/jeki/unterricht 4 http://bildungsserver.hamburg.de/jeki-noten 2
Markus Menke, Direktor des Hamburger Konservatoriums, unterrichtet seit 1999 Berufskunde an Musikhochschulen. Seit 2009 ist er Mitglied der Programmgruppe JeKi-Hamburg.
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Zurück in die Zukunft Jörg Sommerfeld
Die Instrumentalpädagogik im Jahr 2030 – eine Vision? Es bleibt nur noch wenig Zeit als Musikschullehrer, denn 2034 erreiche ich tatsächlich das Rentenalter. Aber so richtig kann ich mich noch nicht auf den Ruhestand freuen, denn gerade in den vergangenen zehn Jahren von 2020 bis 2030 gab es noch so unglaublich viel Neues in meinem Beruf, dass ich gerne noch etwas länger gearbeitet hätte…
)) Die Entwicklung begann in den 2020er Jahren. Einen einzelnen Auslöser gab es damals nicht, es war ein Zusammenwirken ganz unterschiedlicher Impulse. So drängten etwa nach den Veränderungen in den Studiengängen der Musikhochschulen nach und nach immer mehr hochqualifizierte InstrumentalistInnen in den Markt. Sie hatten einen musikpädagogischen Masterabschluss, nicht selten sogar eine Promotion, und trotzdem keine Chance auf eine Festanstellung in Vollzeit – um von den damals üblichen Gehältern und Honoraren gar nicht erst zu reden. Ein zweiter wichtiger Anstoß war die sich sehr plötzlich ändernde Erlasslage in den Schulen. Nachdem Anfang des Jahrtausends viele Musikschulen ihren Betrieb in Kooperationsprogrammen eng mit dem Schulsystem verwoben hatten, entstand eine große strukturelle und finanzielle Abhängigkeit. Ohne Schulkooperationen waren Musikschulen nicht mehr finanzierbar und organisierbar, schon allein wegen der inzwischen fast überall entstandenen Ganztagsschulen war eine Zusammenarbeit unumgänglich.
Irgendwann gab es dann den Fall, dass ein Instrumentallehrer gegenüber Schülerinnen übergriffig wurde. Dessen Auswirkungen konnte anfangs niemand absehen. Wie sich nämlich zeigte, war dieser Instrumentallehrer über einen Honorarvertrag bei der Musikschule beschäftigt, was die Boulevardpresse zum „Hilfslehrerskandal“ mit immer mehr Beispielen aus ganz Deutschland über Monate hinweg mehr und mehr aufbauschte. Der letztlich daraus folgende Beschluss der Kultusministerkonferenz zu außerschulischen Kooperationspartnern führte dazu, dass Musikschulen allerhöchste Anforderungen an die pädagogische, fachliche und menschliche Qualität ihres Personals stellen und das auch dokumentieren mussten, etwa durch Weiterbildungen und Zertifizierungen. In einigen Bundesländern müssen seitdem externe Lehrkräfte im Schulsystem, wie es die InstrumentalpädagogInnen sind, sogar mit Unterrichtsbesuchen und Bewertungen durch die Schulbehörden rechnen.
Eine neue Standesorganisation Die dritte und vielleicht die wesentliche treibende Kraft war der neue „Deutsche Instrumental- und Gesangslehrerverband“ (DIGV), den jüngere KollegInnen daraufhin gründeten und der durch einige kluge Entscheidungen Katalysator der nachfolgenden Entwicklungen wurde. Dieser neue Verband stellte das System der Instrumentalpädagogik auf den Kopf. Oder vom Kopf wieder auf die Füße, wie viele damals sagten. Der Slogan lautete: „Fachdidaktik ist Lehrersache“. Diese ein-
fache Formel brachte es auf den Punkt und mobilisierte die fähigsten Köpfe, ihr Wissen über das Was und Wie in der Instrumentalausbildung zu dokumentieren, zu teilen und zu diskutieren. Es ging im neuen Berufsverband zunächst nicht um Tarifverträge oder eine Rechtsvertretung der Mitglieder, sondern es ging um die Sache des Musik-Unterrichtens selbst. Mit großer Begeisterung fanden viele berufserfahrene Fachleute und hochqualifizierte BerufsanfängerInnen hier ihr Forum. Die meisten Musikhochschulen haben damals erst sehr spät erkannt, dass sie mit ihren Studierenden ja nur einen ganz kleinen Ausschnitt des Berufsfelds kennen. Ihre Fokussierung auf die Nachwuchsausbildung verhinderte, dass die sie den enormen Wissens- und Könnens-Vorsprung erfahrener Lehrkräfte überhaupt wahrnahmen. Der neue Verband war von einem „reflektierenden Pragmatismus“ geprägt, ein Schlagwort der Erziehungswissenschaften der damaligen Zeit. Zuerst wurde das Allernötigste angegangen: die Beschreibung der verschiedenen Fachdidaktiken in modernen Lehrplänen. Das Wissen um Ziele und Möglichkeiten in den verschiedenen Fächern, ihre genaue und praxisbezogene Beschreibung und vor allem die darauf abgestellte umfassende Notendatenbank brachten endlich ein flächendeckendes curriculares Verständnis ins System. Die Verlage mussten ihre Schülerausgaben in dieser Datenbank detailliert dokumentieren, um weiterhin nennenswerte Verkaufszahlen zu erreichen. Lehrkräfte konnten nun mit Lehrplan und Notendatenbank sehr differenziert nach geeignetem Unter-
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musikschule )) DIREKT 4.2016
Erläuterungen Viele scheinbar utopische Ideen dieses Artikels spielen auf außerhalb der deutschsprachigen Instrumentalpädagogik bereits Existierendes an.
) Ein differenziertes Lehrplansystem bietet etwa das im angelsächsischen Raum verbreitete Associated Board of the Royal Schools of Music: www.abrsm.org
richtsmaterial für jede Gruppe und jeden Schüler suchen. Die neuen Lehrpläne wurden fast schon basisdemokratisch von allen DIGV-Lehrkräften gemeinsam entwickelt. Sie enthalten inzwischen Kompetenzstufenmodelle für die verschiedensten Fächer, Unterrichtsformen und Ensembles. Der Verband sorgte nach und nach für eine immer bessere empirische Fundierung dieser meist von Praktikern entwickelten Modelle. Vor allem die vielen darauf bezogenen Empfehlungen und praxisbezogenen Kommentierungen von Unterrichtsmaterial führten dazu, dass immer mehr KollegInnen ihren Unterricht freiwillig an den neuen Plänen ausrichteten. Am Ende wurden die neuen Lehrpläne zum Standard erhoben, der Verband deutscher Musikschulen (VdM) stellte sein Lehrplanwerk ein und verwies auf das des neuen Berufsverbandes.
Zertifizierung der Lehrkräfte Engagierte Köpfe im DIGV erkannten schnell, dass die Anwendung eines Lehrplanwerks allein noch keine Garantie für guten Unterricht war. Nach dem „Hilfslehrerskandal“ konnten sie jedoch erhebliche öffentliche Mittel bekommen, um nach eigenen Vorstellungen eine Weiterbildung und Zertifizierung von Lehrkräften zu entwickeln. Mit diesen Geldern konnte man auf einmal inhaltlich gestalten, Fortbildungen organisieren, fachdidaktische Tagungen und Kongresse durchführen und vor allem den Unterricht nach eigenen Kriterien evaluieren. Es ging nun überall um die detaillierte Beschreibung und Ent-
) Eine Zertifizierung gibt es in den USA beim National Board for Professional Teaching Standards: www.nbpts.org Das dortige Schulsystem enthält auch viel Instrumentalpädagogik, auch dafür bietet NBPTS Standards.
www.evidencebasedteaching.org.au/ hattie-his-high-impact-strategies Hattie hat solche Lehrer in empirischen Studien immer wieder gefunden und die Unterschiede von deren Unterricht zu dem von „normalen Lehrern“ erforscht.
) Der „High Impact Teacher“ (in freier Übersetzung: der „hochwirksame Lehrer“) ist ein Begriff des australischen Bildungsforschers John Hattie:
) Und schließlich: Die Überschneidung der Arbeitsfelder von InstrumentalpädagogInnen und SchulmusikerInnen ist seit Jahren Realität.
wicklung der professionellen Lehrkompetenzen, die in einem Zertifikat dokumentiert werden sollten. Die damals sehr umstrittene Bestimmung, dass nur Lehrkräfte mit mindestens sechs Jahren Berufserfahrung für diese Zertifizierung in Frage kamen, hat sich am Ende als genau richtig herausgestellt. Nach einigen Jahren im Beruf kann man sich nun als eine Art „High-Impact-Teacher“ zertifizieren lassen. Die Hürden sind hoch, und schon die Zulassung zum Verfahren gilt inzwischen als Auszeichnung. Aber die Chance, nach einigen Jahren seine subjektive Berufserfahrung nochmals zu überprüfen und weiterführende Methoden auch zur Evaluation des eigenen Unterrichts an die Hand zu bekommen, setzt Dynamik und Motivation frei. Dabei ist die Zertifizierung anspruchsvoll und zeitaufwändig. Über zwei Jahre müssen Kandidaten mit ausgewählten Unterrichtsreihen in den unterschiedlichsten Szenarien ihr Können weiterentwickeln und dokumentieren. Videografie spielt dabei eine wichtige Rolle und wurde zum Standard in der Unterrichtsbeobachtung, als fast alle Smartphones mit 360-GradKameras ausgeliefert wurden. Zertifizierte InstrumentallehrerInnen sind heute gefragter denn je, viele von ihnen werden nun auch direkt in allgemein bildenden Schulen angestellt, nachdem die Zertifizierung des DIGV im Jahr 2029 von der Kultusministerkonferenz einem abgeschlossenen Referendariat gleichgestellt wurde. Der Beschluss der Kultusministerkonferenz hatte seinen Grund im Mangel an ge-
eignetem Musiklehrernachwuchs, er war aber natürlich bei den Schulmusikern heftig umstritten. Es war bereits seit vielen Jahren üblich, dass Schulmusiker im Klassenmusizieren oder in der Orchesterarbeit auch Instrumentalpädagogik betrieben. Umgekehrt entwickelten viele Instrumentalpädagogen in den Kooperationsprogrammen eine Klassenführungskompetenz. Die Entscheidung des DIGV, auch Schwerpunkte aus dem Schulfach Musik für eine Zertifizierung einzufordern, erwies sich aus Sicht der Instrumentalpädagogen daher als richtig.
War es früher besser? Inzwischen hat die Instrumentalpädagogik ein ganz anderes gesellschaftliches Gewicht als noch zu Beginn meiner Berufstätigkeit. Zur Professionalisierung vieler Lehrkräfte kam dann auch die politische Einsicht über die Wichtigkeit des Fachs für die Persönlichkeitsentwicklung. Nach ersten Ansätzen im 20. Jahrhundert hat eine aufsehenerregende Studie dann bewiesen, wie viel an „Metakompetenz“ (ebenfalls ein Schlüsselwort der Bildungsdiskussion zu Beginn des 21. Jahrhunderts) von versierten Instrumentallehrkräften vermittelt werden kann. Die Studie dokumentierte und beschrieb erstmals die besonderen Kompetenzen der Instrumental- und Gesangspädagogen in der Übedikaktik, und gerade dieser Aspekt wurde dann auch zu einer der wichtigsten Zertifizierungsgrundlagen des DIGV. Insgesamt gibt es heute eine große Anzahl an Instrumentallehrkräften, die vergleich-
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Sie mit! n e h c a M Positiv oder negativ? Teilen Sie uns Ihre Meinung zum Szenario von Jörg Sommerfeld mit. Unter http:// goo.gl/forms/Fj4VqwCYMnHEEgyG2 oder über den QR-Code haben Sie bis zum 30. September 2016 die Möglichkeit abzustimmen und Kommentare abzugeben. Wenn sich genügend LeserInnen beteiligen, werden wir in einer der kommenden Ausgaben die Antworten darstellen.
bar viel verdienen wie die Lehrkräfte im Regelschulsystem. Viele arbeiten auch direkt in den Schulen, etwa als BläserklassenlehrerInnen oder MusiklehrerInnen mit Instrumentalbefähigung, ganz ähnlich wie das vorher in den USA schon der Fall war. Jedoch ist der Berufseinstieg nun schwieriger geworden. Honorarverträge und geringfügige Beschäftigungen gibt es kaum noch und viele Anstellungen sind ohne abgeschlossenes Zertifikat gar nicht mehr zu bekommen. Um die wenigen kleineren Stellen entbrennt immer wieder ein heftiger Kampf, denn nur hier kann man sich die Berufserfahrung aneignen, die für die Zertifizierung des DIGV nötig ist. Es kam zu Beginn der Entwicklung auch gar nicht so selten zu betriebsbedingten Kündigungen, wenn einzelne Musikschullehrkräfte in den allgemein bildenden Schulen nicht mehr zugelassen wurden, weil sie zum Beispiel obligatorische Fortbildungen nicht erfolgreich abschließen konnten. Dadurch wurden viele InstrumentalpädagogInnen gezwungen, sich selbstständig zu machen. Insbesondere von solchen Lehrkräften, die mit dem sich verändernden System nicht zurechtkamen, kam viel Kritik an den Entwicklungen. Bei den Bläserklassenlehrern etwa, die durch viele Austauschtreffen und Vorlagen aus den USA schnell sehr differenzierte Lehrpläne und Standards entwickelten, war die Rede von „Stadtpfeifergilden“, die sich nun breit machen würden. Die neuen Lehrpläne wurden von manchen Traditionalisten als kunstfeindlich und als Kreativitätsbremse beschrieben. Allerdings
fand ich schon damals, dass niemand je den Beweis angetreten hat, dass ein lehrplanferner Unterricht vorher bessere Lernergebnisse, kreativere Musik oder zufriedenere Schüler erzeugt hätte. Spätestens als sich einige Jahre später das Laienmusizieren exponentiell auf sein heutiges Niveau entwickelte, war auch diese Diskussion beendet. Die vielen Orchester, Chöre und Bands brauchten einfach eine wirklich gut strukturierte Ausbildung in Schule und Musikschule, um ihr heutiges Niveau zu erreichen.
Vom Beruf zur Profession Insgesamt ist die Instrumentalpädagogik heute dort angekommen, wohin sich auch andere Berufsgruppen auf den Weg gemacht haben. Sie hat einen hohen inneren Organisationsgrad und eigene Verhaltensregeln entwickelt. Inzwischen sind es die InstrumentalpädagogInnen selbst, die Standards des Fachs diskutieren. Ihr Verband DIGV tritt sehr selbstbewusst auch gegenüber dem Trägerverband VdM oder den Musikhochschulen auf und vertritt instrumental- und gesangspädagogische Interessen in politischen Gremien. Der Berufsstand „Instrumentallehrer/in“ hat heute ein enorm hohes Ansehen bei Eltern und Kindern, die Attraktivität des Berufs auch für hochqualifizierte Lehrkräfte hat deutlich zugenommen. Diese Entwicklung gab es nicht nur in meinem Arbeitsbereich, auch andere machten sich auf diesen Weg zur „Profession“: Ich denke zum Beispiel an die Emanzipation der Pflegewissenschaft vom Fach Medizin und
die damit verbundene Aufwertung dieser Berufsgruppe. Interessant ist auch, dass der Untergang des Abendlandes nicht eingetreten ist, den viele zu Beginn der digitalen Revolution vorausgesagt haben. Wir haben heute wie vor dreißig Jahren dieselbe Nachfrage nach Instrumental- und Gesangsunterricht. Digitale Musikproduktion, der Einsatz von Medien im Unterricht, die professionelle Auseinandersetzung mit freien Lernplattformen und mit den immer weiter ausufernden Foren und Netzwerken der Amateure (früher „Dilettanten“ genannt), alles das gibt es. Jedoch hat sich die grundlegende Form des Musiklernens kaum verändert und die beliebtesten Instrumente sind immer noch mehr oder weniger dieselben. Nur die Lernausbeute ist viel größer und – wie Forschung zeigen konnte – ebenso die Zufriedenheit bei LehrerInnen und SchülerInnen. Aber es gibt auch subkulturelle Gegenströmungen, die das lehrplanfreie, vollständig selbstbestimmte Lernen wieder betonen. Die Renaissance des Autodidakten als „Digital Learner“ oder die Musik des „Re-Punk“ sind da Beispiele. Vermutlich braucht eine Gesellschaft einfach beides: eine Art Ursuppe, aus der neue Gedanken und Strömungen entstehen, und ein hochstrukturiertes Bildungssystem, wie es mit der neuen Instrumentalpädagogik entstanden ist. )) Jörg Sommerfeld ist Instrumentalpädagoge, Jazzsaxofonist, Autor und stellvertretender Schulleiter der Musikschule Monheim am Rhein. www.saxlehrer.de
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musikschule )) DIREKT 4.2016
Musik nützt
Anja Bossen
Wirkungen außerunterrichtlicher Musikangebote im Ganztag )) Die Ganztagsschule wurde unter dem Stichwort „Chancengerechtigkeit“ eingeführt und soll zur Entwicklung kognitiver und sozialer Kompetenzen beitragen – so die Hoffnung neben familien-, sozial- und arbeitsmarktpolitischen Zielen. Was Ganztagsschulen tatsächlich leisten, wird seit 2005 im Rahmen der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten StEG-Studie (Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen) evaluiert, aus der aktuell die Befunde der Jahre 2012 bis 2015 veröffentlicht wurden. Die StEGStudie 2012-2015 gliedert sich in drei Teilstudien, von denen Teilstudie A sich mit der Stabilisierung von Bildungsverläufen durch Ganztagsangebote befasst und dabei insbesondere die Wirkungen musikalischer Angebote in den Blick nimmt. Mittlerweile ist deutschlandweit jede zweite Schule eine Ganztagsschule, wenngleich es je nach Bundesland und Schulart Unterschiede bezüglich der Ausgestaltung als offene oder gebundene Ganztagsschule, der Öffnungszeiten sowie bezüglich des Umfangs von Angeboten gibt. Mehr als jeder zweite Grundschüler nutzt mittlerweile das Ganztagsangebot, die Nachfrage übersteigt das Angebot dauerhaft. Noch höher als an Grundschulen liegt die Teilnahmequote in der Sekundarstufe I − außer an Gymnasien, wo sie seit 2012 auf einem Niveau unterhalb von 50 Prozent stagniert. An nahezu allen Schulen umfasst der Ganztagsbetrieb auch musisch-kulturelle Ange-
musikschule )) DIREKT erscheint
alle zwei Monate als Supplement zu üben & musizieren
bote. Kooperationen mit Akteuren aus der kulturellen Bildung stehen an Primarschulen und Gymnasien an zweiter Stelle und werden nur von Kooperationen mit Sportvereinen übertroffen. In der Sekundarstufe I außerhalb von Gymnasien hingegen nehmen nach den Sportvereinen Anbieter aus der Kinder- und Jugendhilfe den zweiten Platz ein. Musisch-kulturelle Bildung von Jugendlichen spielt sich offenbar vor allem dort ab, wo sie traditionell schon immer angesiedelt war: an Gymnasien. Positiv im Hinblick auf Chancengerechtigkeit ist hingegen zu bewerten, dass ein genereller Rückgang an Kostenbeiträgen für Angebote an Grundschulen zu verzeichnen ist; inwiefern dies speziell für kulturelle Angebote gilt, wird in der Studie allerdings nicht explizit herausgestellt. Die Nutzung von Ganztagsangeboten ändert sich über die Klassenstufen. Je älter die SchülerInnen werden, desto schmaler wird ihr Interessenspektrum und desto eher werden statt freizeitbezogener Aktivitäten Angebote zur Berufsorientierung, zum sozialen Engagement oder Angebote, die das schulische Lernen unterstützen, genutzt. Werden Musikangebote in der 5. Klasse noch von 218 SchülerInnen genutzt (bei einer Gesamtstichprobe von 1 293 Befragten ein recht kleiner Anteil), so sinkt die Zahl der NutzerInnen auf 77 in der 10. Klasse. Musik ist zudem eine weibliche Domäne: Mädchen sind bei Musikangeboten deutlich überrepräsentiert, während Jungen eher ein sportliches Profil wählen.
Diejenigen, die Musikangebote über einen längeren Zeitraum nutzen, profitieren davon: Sie schätzten sich am Ende der Pflichtschulzeit als durchsetzungsfähiger in Bezug auf das Erreichen selbst gesetzter Ziele ein und sie erreichten bessere Noten als diejenigen, die an anderen freizeitbezogenen oder keinen Angeboten teilgenommen hatten. SchülerInnen mit besseren Noten wiederum entschließen sich zu einem längeren Schulbesuch. Die Studie zeigt, dass es nicht darauf ankommt, Ganztagsangebote überhaupt zu nutzen, sondern darauf, welche Angebote genutzt werden und wie lange sie genutzt werden. Dass Musikangebote zu einer positiven Persönlichkeitsentwicklung beitragen können, wird in der StEG-Studie einmal mehr bestätigt und ist wenig überraschend. Trotz dieser positiven Befunde bleibt am Ende allerdings die Feststellung, dass an offenen Ganztagsschulen freizeitbezogene Angebote kaum genutzt und dass Musikangebote vorrangig von ohnehin bildungsaffinen Gymnasiasten wahrgenommen werden. Die Nutzung von Musikangeboten hängt trotz aller Bildungsbemühungen auch weiterhin vom milieuspezifischen Habitus – den „feinen Unterschieden“ im Sinne Bourdieus – ab. ))
Die Studie steht zum Download unter www.projekt-steg.de/sites/default/ files/StEG_Brosch_FINAL.pdf
Redaktion: Anja Bossen und Rüdiger Behschnitt Ständige Mitarbeiter: Jürgen Simon und Bernd Dahlhaus Layout: Rüdiger Behschnitt Grafik: Nele Engler