Musik & Bildung

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Eine eigene Sprechfuge erfinden Register und ihre Wirkungen entdecken Boing Boom Tschak: Rhythmus, Bewegung, Warming Up

Heft 1.14

8,90 Euro

www.schott-musikp채dagogik.de

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G 21387 Januar Februar M채rz 2014

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Audio-CD und DVD zum Heft erh채ltlich


46 PRAXIS: FUGE

Doppelfuge Leonard Bernsteins „Prelude, Fugue and Riffs“

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Arbeitsblätter ▲

© imago / Harald Lange

alexander niemeyer

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Fantasiereise: New York zur Rush Hour – S. 49 Fugue – szenisch interpretiert – S. 50 Höranalyse „Riffs“ – S. 51 Bernsteins „Prelude, Fugue and Riffs“ – Kunstmusik und / oder Jazz? – S. 52

Hörbeispiele – CD ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲

Leonard Bernstein: Prelude, Fugue and Riffs HB 28: Motiv II.A („Fugue“) HB 29: Motiv II.B („Fugue“) HB 30: Motiv II.C („Fugue“) HB 31: Motivpool „Riffs“ HB 32: „Fugue“ HB 33: „Riffs“

Dateien – DVD ▲ ▲ ▲ ▲

Lösung: Höranalyse „Riffs“ Notenbeispiele „Prelude“ und „Riffs“ Höranalyse „Prelude“ + Lösung Höranalyse „Fugue“ + Lösung

schott-musikpädagogik.de ▲

Beitrag als PDF-Datei

musik & bildung 1.14

„Doppelfuge im Jazzclub“ oder „Big-Band-Riffs im Konzertsaal“? Leonard Bernsteins eigentümliche „Crossover“Komposition Prelude, Fugue and Riffs aus dem Jahr 1949 verweist schon vom Titel her auf ein eklektisches Nebeneinander von strenger barocker Form (Präludium und Fuge) und Jazzidiomatik (Riff). Kompositorisch überlagern sich kontrapunktische Gestaltungsmittel und Techniken des Jazz-Arrangements so, dass sich – nachdem das motivische Material der ersten beiden Sätze nach den Formprinzipien eines Präludiums bzw. einer Doppelfuge exponiert wurde – im dritten Satz das Perpetuierungsschema eines Big-BandRiffs mit dem Kontrapunktionsschema einer Fuge vermischt. Das eigentliche Riff-Motiv des dritten Satzes (Motiv III.A, s. „Notenbeispiele ,Prelude’ und ,Riffs’“ auf der Heft-DVD und HB 31) wird

mehrmals kontrapunktisch durch andere Motive flankiert (T. 17-24, 68-72, 95-99) oder auch selbst kanonisch zwischen Klarinette und Klavier geführt (T. 25-29). Zum Ende hin (T. 100-130) etabliert es sich schließlich als neues „Kontrasubjekt“ zu den beiden Themen der Doppelfuge (Motiv II.A und II.B auf dem Arbeitsblatt „Fuge – szenisch interpretiert“ und HB 28-30). Ebenso kann man diese letztgenannte Stelle aber auch im Sinne dreier sich überlagernder Riffs begreifen, die als fünftaktiger Block insgesamt fünfmal jeweils unterschiedlich instrumentiert wiederholt werden, bevor das Riff-Motiv als einziger Riff quasi in „Endlosschleife“ al fine repetiert wird. Die farbwechselreiche Instrumentierung des Dreier-Riffs, die – nicht nur an dieser Stelle – immer wieder mit jazzigen Soundeffekten (shakes, glissandi, Flatterzunge, slapping, plucking, stride-Patterns etc.) aufwartet, dynamisiert die „Statik“ der repetitiven Riffs gleichsam von innen heraus und erzeugt dadurch den Eindruck einer scheinbar kollektiv-improvisatorischen Sprunghaftigkeit der Instrumente.1 Die Uraufführung von Prelude, Fugue and Riffs fand 1955 in der von Bernstein moderierten Fernsehsendung The World of Jazz statt und markier-


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im Jazzclub Leonard Bernsteins konzertante Jazzkomposition Prelude, Fugue and Riffs verbindet auf eindrückliche Weise kompositorische Elemente einer Fuge mit Techniken des Jazz-Arrangements. Mithilfe szenischer Interpretation, Höranalyse und Quellenlektüre können SchülerInnen Analogien zwischen kontrapunktisch-barocker Satztechnik und dem linien-basierten musikalischen Denken im Jazz gestalterisch und interpretatorisch erfassen und dadurch kreative Möglichkeiten des stilistischen und musikhistorischen „Crossover“ erfahren.

te – programmatisch ans Ende der Ausstrahlung gesetzt – eine Art musikalische „Antwort“ auf die am Beginn der Sendung aufgeworfenen Fragen nach den musikalischen Merkmalen des Jazz. In seiner Moderation formulierte Bernstein diese Antwort kurz zuvor auch verbal: „In the new Jazz […] is the real beginning of serious American music, that at last the American composer has his own expression. […] the line between serious music and jazz grows less and less clear.“2 An dem „Crossover“-Stück Prelude, Fugue and Riffs lässt sich somit musikgeschichtlich eindrücklich jener „neoklassizistische“ Stilpluralismus aufzeigen, mit dem US-amerikanische Künstler wie Bernstein um die Mitte des 20. Jahrhunderts versuchten, die (vermeintlichen) Trennungslinien zwischen Jazz und Kunstmusik zugunsten eines neuen „amerikanischen“ Idioms, das sowohl als „Doppelfuge im Jazzclub“ als auch als „BigBand-Riffs im Konzertsaal“ Wirkung entfalten können sollte, zu verwischen.

UNTERRICHTSVORSCHLÄGE

Aufgrund der musikalischen Komplexität von Prelude, Fugue and Riffs sollten im Vorfeld der unterrichtlichen Thematisierung grundlegende Formstrukturen einer Fuge (Dux, Comes, Kontrapunkt, Umkehrung, Engführung etc.) ebenso wie wesentliche Gestaltungsmittel des Jazz (Improvisations- bzw. Arrangement-Techniken [Stichwort: Riff], Besetzung von Jazzbands etc.) be-

sprochen werden. Das hier vorgestellte Material eignet sich zunächst für eine szenische Interpretation, die den SchülerInnen einen handlungsorientierten Zugang zum Stück ermöglicht und gleichzeitig eine Plattform für die eigene musikbezogene Darstellungskompetenz bietet. Szenische Interpretation Die szenische Interpretation wird hier exemplarisch für den Mittelsatz Fugue (HB 32) vorgestellt, kann aber mithilfe der Notenbeispiele „Motivpool Prelude“ und „Motivpool Riffs“ (auf der Heft-DVD) und HB 31 analog auf die anderen beiden Sätze ausgedehnt werden: 1. Am Beginn kann eine Fantasiereise stehen. Aufgrund der jazzig-„urbanen“ Klanglichkeit der Musik bieten sich dazu analoge Bild- oder Imaginationsimpulse an, wie etwa die auf dem Arbeitsblatt „Fantasiereise“ zu findende Impression zu den Klängen der New Yorker Rush Hour, die vom Lehrer oder einem Schüler vorgetragen werden kann, während der Rest der Klasse mit geschlossenen Augen assoziative Bilder im Kopf entwickelt. 2. Danach können die SchülerInnen in einem ersten Hördurchgang von Fugue mithilfe der auf dem Arbeitsblatt „Fuge – szenisch interpretiert“ abgedruckten „Adjektivwolke“ versuchen, assoziativ unterschiedliche Stimmungslagen und Ausdruckscharaktere der gehörten Musik zu umschreiben. Dabei sollten die SchülerInnen ausdrücklich ermuntert werden, eigene Begriffe zu finden.

3. Anschließend werden Gruppen gebildet, wobei jede Gruppe aus drei Teams besteht (z. B. Sechsergruppen mit je zwei SchülerInnen pro Team). Jedes Team konzentriert sich in der Folge auf jeweils eines der drei Hauptmotive aus dem zweiten Satz Fugue (Motiv II.A = Fugenthema 1; Motiv II.B = Fugenthema 2; Motiv II.C = Kontrasubjekt der Doppelfuge). Die drei Motive finden sich als Notenbeispiele auf dem Arbeitsblatt „Fuge – szenisch interpretiert“ sowie als Hörbeispiele 28-30 (jedes dreimal im Abstand von fünf Sekunden wiederholt). Mithilfe dieser Hörbeispiele, die den Gruppen wenn möglich auf portablen Audiogeräten (MP3-Player, Handy etc.) für die individuelle und räumlich flexible Arbeit zur Verfügung gestellt werden sollten, entwirft jedes Team pro Gruppe reihum für ihr jeweiliges Motiv ein Standbild bzw. eine Pantomime, während die anderen Gruppenmitglieder beobachtend, beratend und korrigierend zur Seite stehen. 4. Die SchülerInnen hören nun mehrmals den zweiten Satz Fugue. Dabei versuchen sie – zunächst in den einzelnen Teams – ihr jeweiliges Motiv mitzuverfolgen und nach und nach ihre eingeübten Standbilder bzw. Pantomimen zur Musik auszuführen und schließlich in der gesamten Gruppe eine Gesamtchoreografie des Satzes zu formen. Dabei sollten die SchülerInnen ausdrücklich dazu aufgefordert werden, gemäß dem Spannungsverlauf der Musik improvisierend Varianten in ihre Darstellung einzubinden. Ggf. sollten in diesem Arbeitsschritt Hinweise in Bezug auf drei Besonderheiten der Satzstruktur gegeben musik & bildung 1.14


© imago / Rolf Hayo

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Der Komponist und Dirigent Leonard Bernstein

werden: 1. die Umkehrung von Motiv II.A während dessen zweiter Durchführung (T. 15 ff.), 2. die Engführung von Motiv II.B während dessen zweiter Durchführung (T. 46 ff.) sowie 3. die Verdichtung beider Fugenthemen zur Doppelfuge (T. 54 bzw. T. 67). 5. Schließlich finden sich alle Gruppen wieder im Klassenverband zusammen und führen reihum ihre Choreografien von Fugue auf, während das Plenum anhand des auf dem Arbeitsblatt „Fuge – szenisch interpretiert“ abgedruckten Fragenkatalogs das Geschehen beobachtet. Diese Beobachtungen können danach in einer Abschlussdiskussion reflektiert werden. Höranalyse Ausgehend von den Ergebnissen der szenischen Interpretation von Fugue, mithilfe derer die SchülerInnen nun mit den beiden Fugenthemen und ihrer kontrapunktischen Verarbeitung vertraut sein sollten, kann in einem nächsten Schritt eine Höranalyse der Instrumentation des letzten Satzes Riffs erfolgen (HB 33), anhand derer exemplarisch die stetig wechselnden Klangfarben des Riff-Motivs (= Motiv III.A aus dem Noten- bzw. Hörbeispiel „Motivpool Riffs“ (auf der Heft-DVD bzw. HB 31) sowie der beiden Fugenthemen erkannt und davon ausgehend die Verschränkung von Riff- und Fugenprinzip diskutiert werden sollen. Dazu kann das auf dem Arbeitsblatt „Höranalyse ,Riffs’“ abgedruckte Formschema genutzt werden, in dessen Lücken eine vorgegebene Anzahl von Instrumentenkürzeln eingetragen werden soll. Ein entsprechendes Lösungsblatt, das ggf. auch als Alternative zur Höranalyse im Sinne einer schematisierten Partitur für den hörenden musik & bildung 1.14

Nachvollzug der Musik eingesetzt werden kann, findet sich auf der Heft-DVD; ergänzende Formschemata samt Höraufgaben zu den anderen beiden Sätzen Prelude und Fugue sind auf den Arbeits- und Lösungsblättern „Höranalyse ,Prelude’“ bzw. „,Fugue’“ auf der Heft-DVD enthalten.3 Auf Basis dieser hörend erfassten Strukturanalyse(n) kann sich eine „Reproduktion“ bzw. Erweiterung der szenischen Interpretation anschließen, die sich die Analyseergebnisse als Inspiration für eine neuerliche Gestaltungsarbeit nutzbar macht, und / oder es kann eine kulturgeschichtliche Reflexion über die Komposition Bernsteins erfolgen. Auf dem Arbeitsblatt „Bernsteins ,Prelude, Fugue and Riffs’ – Kunstmusik und / oder Jazz?“ finden sich zu Letzterem zwei transkribierte Auszüge aus Bernsteins Moderationen der Omnibus-Sendungen The World of Jazz (16. Oktober 1955) und Johann Sebastian Bach (31. März 1957), in denen Bernstein jeweils auf spezifische Weise das Bild eines amerikanischen Komponisten zeichnet, der sich stetig zwischen den Welten der (europäischen) Kunstmusik und des (amerikanischen) Jazz bewegt und gerade in der Symbiose beider Genres – konkretisiert am horizontal angelegten musikalischen Denken des Bach’schen Kontrapunkts sowie der linearen Musikgestaltung im Jazz – fruchtbringende Impulse für das eigene Komponieren zu sehen vermag. Inwieweit Prelude, Fugue and Riffs eine solche Symbiose tatsächlich einlöst, kann auf Basis der Lektüre mit den SchülerInnen offen und diskursiv erörtert werden. Hieran können sich ggf. auch weiterführende Überlegungen z. B. zum ästhetischen Spannungsfeld von Originalität und Eklek-

ENTSTEHUNG UND URAUFFÜHRUNG Die Uraufführung von Bernsteins Prelude, Fugue and Riffs hätte eigentlich Ende 1949 stattfinden sollen. Der Bandleader und Klarinettist Woody Herman, für dessen Big Band bereits Igor Strawinsky 1945 sein Ebony Concerto komponiert hatte, war auch an Bernstein mit einem Kompositionsauftrag für Klarinette und Jazzensemble herangetreten, den dieser im November 1949 ausführte – etwas zu spät, da sich Hermans Band kurz zuvor aufgelöst hatte und Bernstein nicht mehr auszahlen konnte. Nach drei Jahren holte Bernstein die Komposition wieder hervor und arbeitete sie zu einer Ballettmusik für die ersten Aufführungen von A Wonderful Town in Boston und Philadelphia um. Vor der Broadway-Premiere des Musicals 1953 wurde die Ballettmusik jedoch aus dramaturgischen Gründen wieder gestrichen. So dauerte es weitere drei Jahre, bis das Stück – nun wieder in der „konzertanten“ Version – unter dem Titel Prelude, Fugue and Riffs seine Uraufführung durch Al Gallodoro* und einem Jazzensemble fand: am 16. Oktober 1955 in der von Bernstein moderierten Fernsehsendung The World of Jazz, die im Rahmen der CBS-Sendereihe Omnibus ausgestrahlt wurde. * Benny Goodman war nicht Solist der Uraufführung, wie in den meisten Quellen angegeben. Wir danken dem „Leonard Bernstein Office“ für diesen Hinweis.

tizismus in der Musik ebenso anschließen wie auch (etwa im Rahmen eines transkulturellen Musikunterrichts) kritische Betrachtungen der Problematik des Hegemonieanspruchs europäischer bzw. westlicher Musik.

Anmerkungen 1 Für eine detaillierte Analyse vgl. Clarence J. Stuessy: The Confluence of Jazz and Classical Music from 1950 to 1970, PhD University of Rochester, NY 1977, S. 182-204 (als PDF abrufbar unter: https://urresearch.rochester.edu/institutionalPublicationPublicView.action?institutionalItemId=7953). 2 Leonard Bernstein: „The World of Jazz“, in: ders.: The Joy of Music, Pompton Plains, NJ, Cambridge, UK 2004, S. 131. 3 Die Formschemata auf den Arbeitsblättern „Höranalyse“ sind angelehnt an Stuessy: Confluence of Jazz and Classical Music, a. a. O., S. 183, 186, 189.


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Ich gehe durch die Straßen von Manhattan / New York. Die Strahlen der Abendsonne reflektieren sich hundertfach an den verglasten und verchromten Fassaden der Wolkenkratzer, die mit ihren eigenen Beleuchtungen aus dem Innern der Gebäude ebenfalls die ganze Stadt erhellen. Unten auf dem Boden angekommen vermischt sich das Sonnen- und Bürolicht mit den funkelnden Farbspielen der knallbunten Leuchtreklamen, der Ampeln und der Autos. Letztere drängen sich dicht an dicht im Stop-and-Go-Prinzip vorwärts. Überall sind Hupen zu hören; ebenso die Motoren, die beim Anfahren kurz aufheulen oder beim abrupten Abbremsen wieder gedrosselt werden. Quietschende Reifen – vermutlich eine Vollbremsung. Von Ferne erklingt die Sirene eines Polizeiautos, die mal langezogen und glissando-artig auf- und absteigt, mal wie ein penetrantes asthmatisches Lachen in kürzesten Intervallen „Uiuiuiu“ ans Ohr dringt. Aus dem heruntergekurbelten Fenster eines der vielen gelben Taxis, an denen ich vorbeikomme, ertönen Funkgeräusche und verzerrte Wortfetzen einer Telefonstimme. Auch die Autoradios beschallen die Straße mit unterschiedlichster Musik: Diese reicht von tiefen und durchdringenden Techno-Bässen über Hip-Hop-Beats und Rockmusik bis zur Opernarie. Zwei junge Frauen trällern lauthals (und nicht ganz „intonationsrein“) Rihannas Song Diamonds mit. Doch nicht nur der befahrene Teil der Straße, auch die Bürgersteige halten zahllose Geräusche bereit: staccato-artiges Geklapper von Stöckelschuhen und Ledersohlen; direkt hinter mir mein Koffer, der mit einem dumpfen Brummen über den Boden rollt. An jeder Verfugung der großen Betonplatten stockt das Brummen für den Bruchteil einer Sekunde, um anschließend in einer etwas anderen Nuance – der Beton der jetzigen Platte ist wohl etwas rauer – wieder einzusetzen. Um mich herum das Stimmengewirr der sich wuselig und hektisch durcheinander drängenden Menschen. Es schillert in den unterschiedlichsten Klangfarben der unterschiedlichsten Stimmlagen und der unterschiedlichsten Sprachen. Hohe und tiefe Frauenstimmen, tiefe und hohe Männerstimmen, Kindergelächter, Babygeschrei aus einem Kinderwagen. Ich höre natürlich vornehm-

lich Englisch, aber auch Spanisch, Französisch, Deutsch; ist das dort hinten Chinesisch? Oder doch Japanisch? Mittlerweile ist es dunkel geworden. Ein wenig beruhigt sich der Verkehr, die Autos fahren wieder flüssiger und auch die Bürgersteige lichten sich etwas. Ich komme an einem Club vorbei, aus dem Jazzmusik erklingt. Neugierig gehe ich zusammen mit einem großen Schwung anderer Menschen hinein. Nachdem ich mich an die schummerige Beleuchtung gewöhnt und mich durch die Menge ein wenig weiter in den Raum vorgearbeitet habe – ein nicht gerade leichtes Unterfangen mit meinem Rollkoffer –, sehe und höre ich eine große Big Band auf der Bühne: Zunächst hatten vor allem die Blechbläser mächtig Sound gemacht. Nun sind gerade die Saxofone an der Reihe – aber was spielen die da denn plötzlich? Ist das etwa eine Fuge? Klingt vom formalen Ablauf her jedenfalls ganz ähnlich, wie die Fugen, die wir neulich im Musikunterricht besprochen haben. Und dann der dritte Satz mit diesem ständig wiederholten quirligen Motiv und dem kunterbunten Durcheinander der Instrumente – was ist das denn für ein merkwürdiges Stück?

© imago / Geisser

!

© imago / Caro

Fantasiereise: New York zur Rush Hour

Lauscht der oben stehenden Geschichte, die euch eure Lehrerin / euer Lehrer oder einer eurer Mitschüler laut vorträgt, und lasst bei geschlossenen Augen eure Fantasie von den geschilderten Klängen und Geräuschen anregen! Welchen Eindruck macht das Gehörte auf euch? musik & bildung 1.14


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Fugue – szenisch interpretiert

!

1.

Hört euch den zweiten Satz Fugue aus Leonard Bernsteins Stück Prelude, Fugue and Riffs an. Beschreibt die unterschiedlichen Stimmungslagen und Ausdruckscharaktere der Musik! Ihr könnt dazu unten stehende Adjektive verwenden. Findet ihr noch weitere Begriffe zur Umschreibung?

witzig

tricky lässig cool gedämpft

stimulierend

vergnügt

ekstatisch

vig groo

abgehackt

entfesselt

statisch

frech chaotisch

aggr essiv

mela ncho lisch

sanft

ängstlich

aufgeregt

geordnet

meditativ

zerrissen

heiter

lebhaft

Team 2

Team 3

© Used by permission of The Leonard Bernstein Office, Inc.

Bildet Gruppen mit jeweils drei Unterteams (z. B. Sechsergruppen mit je zwei pro Team). Jedes Team konzentriert sich auf eines der drei Motive und entwickelt dazu ein Standbild bzw. eine Pantomime. Die Einstudierung in den Teams erfolgt reihum; die jeweils nicht aktiven Teams beobachten das Geschehen und geben Ratschläge und Hilfestellung. Anschließend verfolgt jedes Team hörend den Entwicklungsgang seines Motivs innerhalb des Verlaufs von Fugue und führt das einstudierte Standbild bzw. die einstudierte Pantomime nach und nach zur Musik aus und entwickelt sie entsprechend dem musikalischen Spannungsbogen weiter. Fügt schließlich die einzelnen Standbilder bzw. Pantomimen aus den Einzelteams in eurer Gruppe zu einer Gesamtchoreografie von Fugue zusammen.

Team 1

3.

wild

strahlend

gespannt

steril

2.

t erns energisch

geheimnisvoll

Führt eure Gruppenchoreografien vor der Klasse auf. Das jeweiliges Publikum beobachtet die einzelnen Darstellungen unter folgenden Fragestellungen: Welche Ausdrucksgesten lassen sich in den Standbildern bzw. Pantomimen festmachen? In welcher Beziehung stehen die unterschiedlichen Standbilder bzw. Pantomimen zueinander? Wie korrespondieren sie mit der Musik? Wie lässt sich der Entwicklungsprozess der musikalischen Motive beschreiben? Wie wird dieser Prozess in der Choreografie dargestellt? Diskutiert eure Aufführungserfahrungen und -beobachtungen!

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Höranalyse „Riffs“

3.

! durch „___“ gekennzeichneten Lücken aus. Die Anzahl der einzusetzenden Instrumentenkürzel lautet: Klar (5x) – Sax (2x) – Holz (1x) – Tr (1x) – Pos (1x) – Blech (1x) – Klav (2x) – Vib (1x) – Xyl (1x) – Perc (1x). 2. Beschreibt den Entwicklungsgang der Motive II.A, II.B und III.A. Wieso heißt der Satz Riffs und in welcher Beziehung steht er zum vorangegangenen Satz Fugue?

1. Achtet auf die Instrumentierung der einzelnen Motive und füllt die untenstehenden,

152 Takte Formstruktur „Riffs“ (for Everyone)

51

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Bernsteins „Prelude, Fugue and Riffs“ – Kunstmusik und / oder Jazz? In den 1950er-Jahren präsentierte Leonard Bernstein mehrere Sendungen in der US-Fernsehreihe Omnibus, in denen er dem Publikum verschiedene Arten und Aspekte von Musik nahebrachte. In zwei dieser Sendungen, die sich mit vordergründig sehr unterschiedlichen Themen beschäftigten – die eine handelte von der „Welt des Jazz“, die andere ging über „Johann Sebastian Bach“ – kam Bernstein jeweils auf einen Vergleich zwischen (europäischer) Kunst- und (amerikanischer) Jazzmusik zu sprechen:

»

Manche erblicken in dem neuen Jazz den wirklichen Anfang einer ernsten amerikanischen Musik, in der der amerikanische Komponist seinen eigenen Ausdruck gefunden hat. Das heißt natürlich auch, dass alle bisherige symphonische Musik in Amerika nur Werke der persönlichen Nachahmung des europäischen symphonischen Erbes von Mozart bis Mahler vorzuweisen hätte. Ich muss gestehen, dass ich bisweilen selbst so denke. Vielleicht ist das alles richtig. In jedem Falle ist eines sicher: die Grenze zwischen ernster Musik und Jazz verwischt immer stärker. Es gibt ernst zu nehmende Komponisten, die sich der Sprache des Jazz bedienen, und manche Jazz-Musiker werden zu ernsten Komponisten. Der Jazz lebt. Er sucht noch immer neue Wege, greift manchmal auf alte Formen zurück und bemüht sich stets um das Ursprüngliche.

»

© Imago / Rolf Hayo Leonard Bernstein

!

Diskutiert die beiden oben zitierten Aussagen Bernsteins im Hinblick auf sein Stück Prelude, Fugue and Riffs! Inwieweit zeigen sich in dieser Musik „europäische“ und „amerikanische“ Elemente? Welche Intention könnte Bernstein mit seiner Komposition verfolgt haben? Wie versteht ihr selbst das Stück?

»

»

Leonard Bernstein: „Die Welt des Jazz“ [Transkript der CBS-Sendung Omnibus vom 16. Oktober 1955], in: ders.: Freude an der Musik, übers. von Kora Tenbruck, München 1982, S. 110 f.

Der Kontrapunkt ist eine Melodie, nur wird diese Melodie zur gleichen Zeit von einer oder mehreren anderen begleitet. […] Der Gedanke ist der, dass zwei gleichzeitig gespielte Melodien auch doppelt so interessant sein müssen. Aus demselben Grund sind sechs auf einmal gespielte Melodien auch sechsmal so interessant und sechsmal schwieriger zu schreiben; außerdem, ich muss es gestehen, ist auch das Zuhören sechsmal so schwer. Aber […] das liegt nur daran, dass wir an die Musik gewöhnt sind, die wir die meiste Zeit hören und bei der die Harmonie anstelle des Kontrapunkts im Vordergrund steht. Mit anderen Worten: wir sind daran gewöhnt, oben eine Melodie zu hören, die von unten her von Akkorden gleichsam wie von Säulen getragen wird – Melodie und Harmonie, ein Thema und seine Begleitung […]. Das entspricht nur deswegen unserer üblichen Vorstellung von Musik, weil sich die Musik der letzten zweihundert Jahre in diese Richtung entwickelt hat. Vor dieser Zeit aber haben Menschen Musik völlig anders gehört. Das Ohr war auf Linien eingestellt, gleichzeitig gespielte melodische Linien, und nicht auf Akkorde. […] [A]uch der Jazz ist an die melodische Linie gebunden. Das ist der Grund, warum die Jazzmusiker in Bach ein Idol sehen. Mit seinen stetig fortlaufenden Melodien ist er für sie das große Vorbild; und das ist ganz natürlich, denn beide, Bach und die Jazzmusiker, fassen die Musik linienhaft auf, gewissermaßen horizontal. Leonard Bernstein: „Johann Sebastian Bach“ [Transkript der CBS-Sendung Omnibus vom 31. März 1957], in: ders.: Freude an der Musik, übers. von Kora Tenbruck, München 1982, S. 217 ff.

Zitate: © Used by permission of The Leonard Bernstein Office, Inc.

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