musikschule )) DIREKT 06/2014

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Fundraising für private Musikschulen Musizieren und Unterrichten zu Hause TISA-Abkommen gefährdet Musikschulen

musikschule )) DIREKT Vom Tiger zum Bettvorleger Vollmundig verkündete im Jahr 2006 der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers: „El Sistema können wir auch!“ So wurde JeKi als starker Tiger der musikalischen Chancengerechtigkeit geboren und gilt seitdem als deren Inbegriff in fast allen Bundesländern. Endlich sollte jedes Kind die Chance bekommen, ein Instrument zu lernen, bei Bedarf kostenfrei – und das über die gesamt Grundschulzeit und in ganz NRW. Doch die schöne Utopie wurde von der Realität einer dauerhaften Unterfinanzierung eingeholt, und so blieb JeKi lange Jahre auf das Ruhrgebiet beschränkt. Nun aber setzt die grüne Landesregierung endlich um, wovon Rüttgers träumte: die Ausweitung der musikalischen Chancengerechtigkeit auf ganz NRW unter dem neuen Namen Jekits. Allerdings existiert die neue Chancengerechtigkeit nur noch für Kinder an ausgewählten Schulen und dauert nicht mehr vier, sondern nur noch zwei Jahre. Die Kosten für Sozialermäßigungen, sofern es überhaupt noch welche gibt, werden künftig den ohnehin schon verarmten Kommunen aufgebürdet. So endet der starke Chancen-Tiger JeKi als Bettvorleger. Und wie schon bei JeKi gibt es auch für Jekits kein Konzept, kein Curriculum, keine Einbeziehung der Kompetenz der Lehrkräfte. Apropos Lehrkräfte: Geschätzte hundert Vollzeitstellen werden vermutlich wegfallen. Sollen die Lehrer doch umziehen, dorthin, wo gesungen und getanzt wird. Befristet natürlich. Mehrweglehrer sind effizient. Das bisschen Singen und Tanzen werden die doch wohl hinkriegen. Die JeKi-Unterrichtsmaterialien können sie ja einfach wegschmeißen und sich neue ausdenken. Trotz solcher kleinen Verluste sind Projekte immer noch billiger als regelmäßiger Musikunterricht. Dafür bräuchte man nämlich viel teurere festangestellte Schulmusiker, die man nicht einfach so nach ein paar Jahren rausschmeißen kann. Und ob Schulmusiker nicht sogar schlechter tanzen und singen können als Musikschullehrer, weiß man auch nicht so genau. Bildungsqualität ist schließlich wichtig. Außerdem ist es viel demokratischer, wenn Schulen sich aussuchen können, was für sie am besten ist, und sich darum bewerben müssen. Und wenn Jekits dann in ein paar Jahren auch vorbei ist, ist natürlich nicht die Ministerin schuld, sondern die Kommunen. Denn jede Kommune kann schließlich frei entscheiden, was sie finanzieren will. Was müssen die statt Jekits auch lieber verrottete Straßen sanieren. Anja Bossen

Das West-Eastern Divan Orchestra feiert 2014 sein 15-jähriges Bestehen. Der libanesische Geiger Georges Yammine hat das Orchester mit der Kamera bei Proben, Konzerten und hinter den Kulissen begleitet. Vom Glauben an die verändernde Macht der Musik erzählen auch ein Essay von Julia Spinola und ein Interview mit Daniel Barenboim. – Georges Yammine: Funkelnde Hoffnung. Das West-Eastern Divan Orchestra und die Kraft der Musik, hg. von Daniel Barenboim, Corso, Hamburg 2014, 128 Seiten, 28,– Euro, ISBN 978-3-7374-0704-5

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Fundraising für private Musikschulen

Christian Rolf

Dürfen private Musikschulen Fördermittel beantragen? Falls ja, welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein? Wer sich professionell mit dem Thema Fundraising beschäftigen möchte, wird an Themen wie Gemeinnützigkeit, Zielbildung, strategische Planung und Controlling nicht vorbeikommen.

)) Für die Umsetzung sozialer Projekte benötigen Musikschulen einen Plan, qualifizierte MitarbeiterInnen, eine funktionierende Verwaltung und ausreichend finanzielle Mittel. Nur wenn die Rahmenbedingungen stimmen, können soziale Projekte auf fruchtbarem Boden gedeihen und einen Mehrwert für die Gesellschaft bringen. Betrachtet man das Marktumfeld des außerschulischen Bildungssektors für Musikunterricht, wird deutlich, dass viele Musikschulen bereits mit Drittmitteln arbeiten. Andere Musikschulen wiederum verwenden keine Drittmittel. Doch wie soll die Umsetzung sozialer Projekte gelingen, wenn die einzige Einnahmequelle einer Musikschule Schülergebühren sind? Sofern das geplante Projekt sich nicht selbst trägt, müssen Musikschulen für die Finanzierung sorgen. Oft werden die Kosten als Werbeausgaben verbucht und erzeugen einen finanziellen Verlust. Doch warum erhalten einige Musikschulen finanzielle Zuschüsse, andere hingegen nicht?

Die Wahl der Rechtsform Um diesen Sachverhalt nachvollziehen zu können, ist ein Blick auf die gewählte Rechtsform einer Musikschule notwendig. Denn es entscheidet nicht die pädagogische Arbeit einer Musikschule darüber, ob sie Drittmittel verwenden darf, sondern die Rechtsform. Musikschulen, die als Verein oder gemeinnützige GmbH (gGmbH) geführt werden, können in der Regel Dritt-

mittel verwenden. Solche Musikschulen können dem Soziomarkt zugeordnet werden, da ihre Arbeit als gemeinnützig anerkannt ist. Das Gemeinnützigkeitsrecht ist im Steuerrecht geregelt. Musikschulen, die dem Allgemeinwohl dienen, werden steuerliche Begünstigungen, wie beispielsweise die Befreiung von Ertragssteuern, zugestanden. Die Gemeinnützigkeit wird vom Finanzamt ausgestellt, wenn der Verein oder die gGmbH gemeinnützige, mildtätige oder kirchliche Ziele verfolgt. Besitzt eine Musikschule hingegen die Rechtsform einer GmbH, GbR oder eines Einzelunternehmens ist die direkte Verwendung von Drittmitteln grundsätzlich nicht möglich. Musikschulen mit den genannten Rechtsformen werden als Unternehmen angesehen und müssen Drittmittel, egal ob es sich dabei um Geld- oder Sachleistungen handelt, als Einnahmen verbuchen – und somit auch voll versteuern. Solche Musikschulen sind dem Realmarkt zuzuordnen.

Was bedeutet Fundraising? Der Begriff Fundraising ist ein Kompositum aus to fund, was mit „fördern“, „ausgleichen“ oder „solidarisch sein“ übersetzt werden kann, und to raise, was „anheben“, „steigern“, „etwas wachsen lassen“ bedeutet. In den USA, die wohl als Mutterland des Fundraisings angesehen werden können, findet man als striktes Synonym die Begriffe friendship raising oder development work. Grundsätzlich geht es beim Fundraising darum, Menschen, Organisationen oder Stiftungen davon zu überzeugen, den Wert der Arbeit einer Musikschule anzuerkennen, sodass sie die nötigen Ressourcen für die Ausführung der Leistungen und Projekte zur Verfügung stellen.

Systematisches Fundraising Ich werde vier Schritte skizzieren, die zur Veranschaulichung eines systematischen Fundraising-Prozesses dienen. Dass nicht annähernd alle Methoden und Instrumente genannt werden können, die sich für die Arbeit eines Fundraisers eignen, muss erwähnt werden. Zudem sind keine exakten Angaben darüber enthalten, wo, wie und bei wem Gelder beantragt werden können. Dies muss im Einzelfall geprüft werden. ) Schritt 1: Analyse und Definition der Ziele In welcher Weise soll die Zukunft neu gestaltet werden? Widmet man sich der Beantwortung dieser Frage, kommt man an einer Analyse des Ist-Zustands nicht vorbei. In welcher Situation befindet sich die Musikschule derzeit? Existieren die rechtlichen Voraussetzungen, um Fundraising zu betreiben? Gibt es Projekte, die bereits erfolgreich durchgeführt wurden? Ist eine Datenbank möglicher Unterstützer vorhanden? Das Sammeln von Informationen dient dazu, ein möglichst realistisches Bild der Musikschule zu zeichnen, bildet die derzeitige Wissensbilanz und ist Ausgangspunkt für erfolgreiche Planung. Für die Planung von Fundraising-Aktivitäten ist eine Aufteilung in drei Zeitfelder empfehlenswert. Der erste zeitliche Rahmen umfasst Ziele, deren Realisierung in drei bis fünf Jahren erfolgen soll. Welche Art von Projekten und Aktionen sind für die Musikschule interessant? Wer soll von den geplanten Aktionen profitieren? Die langfristigen Ziele sollten schriftlich fixiert werden. Der zweite zeitliche Rahmen ist für jene Ziele, die im Zeitraum von ein bis drei Jahren umgesetzt werden sollen. Diese Ziele werden als taktische Ziele be-


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zeichnet und sollten ebenfalls schriftlich festgehalten werden. Der dritte zeitliche Rahmen bildet die Jahresplanung und beinhaltet alle Informationen, die für das operative Geschäft innerhalb des nächsten Jahres benötigt werden. Zur Zieldefinition, egal ob es sich um lang-, mittel- oder kurzfristige Ziele handelt, ist die Arbeit mit den üblichen „W-Fragen“ – wann, wer, wie, warum und wo – sinnvoll. Auch lässt sich das aus dem Projektmanagement stammende Werkzeug verwenden, nach dem die Kriterien zur Zieldefinition SMART – spezifisch, messbar, akzeptiert, realistisch, terminiert – sein sollen. ) Schritt 2: Planung von Fundraisingaktionen Nachdem die Ziele definiert wurden, kann mit der konkreten Planung begonnen werden. Welche Ressourcen sind für die Umsetzung des Projekts notwendig und wofür sollen diese verwendet werden? Zu möglichen Ressourcen zählen: Geldspenden, Sachleistungen, zeitliches Engagement von Ehrenamtlichen und Beratungsleistungen. An wen sich Musikschulen wenden können, ist von den jeweiligen geografischen und strukturellen Rahmenbedingungen abhängig. Grundsätzlich können folgende Quellen in Betracht gezogen werden: Förderprogramme, Stiftungen, Firmen, Privatpersonen und Gerichte. Wichtig ist, dass die Größe des Projekts mit der Auswahl möglicher Spender zusammenpassen muss. Ist beispielsweise geplant, dass vier Kinder aus sozial schwachen Familien für die Durchführung eines Nachmittagsprojekts finanziell unterstützt werden sollen, wird es sich nicht lohnen, Geld aus einem EU-Förderprogramm zu beantragen. In diesem Fall stimmt die Balance zwischen Projektgröße und Unterstützer-Auswahl nicht.

Nachdem die Größe des Projekts eingeschätzt und mögliche Förderer identifiziert wurden, ist es wichtig, wann, wen und um welchen Betrag Musikschulen bitten möchten. Sollen die Mittel aus Förderprogrammen oder von Stiftungen kommen, sind in jedem Fall Abgabefristen für Projektanträge einzuhalten. ) Schritt 3: Durchführung einer Fundraising-Aktion Welche Fundraising-Methode für eine Durchführung infrage kommt, ergibt sich aus den Zielen. Aufgrund der Vielzahl der Möglichkeiten im Fundraising soll sich diese Beschreibung auf den wohl effektivsten Weg, das persönliche Gespräch, reduzieren. Der Ablauf eines Fundraising-Gesprächs erfolgt in vier Phasen. In der Einführungsphase sollte das Gespräch mit einem lockeren Small-Talk begonnen werden. Diese Phase dient dazu, sich auf den Gesprächspartner einzustimmen und eine gute Atmosphäre aufzubauen. Als zweiter Schritt kommt eine kurze Einbeziehungsphase, in der es darum geht, den Gesprächspartner in die eigene Arbeit einzubeziehen und das Gespräch auf die Arbeit der Musikschule überzuleiten. Die dritte Phase dient dazu, das eigentliche Projekt vorzustellen. Hier helfen Informationsmaterialien wie beispielsweise Fotos, Flyer usw. Zum Abschluss sollte nun konkret um Unterstützung gebeten und exakt formuliert werden, wie und durch was der potenzielle Förderer helfen kann. Grundsätzlich sollten sich Musikschulen im Kontakt mit Förderern und Spendern an folgende Regeln halten: 1. Wofür das Geld benötigt wird, sollte klar und eindeutig kommuniziert werden. 2. Ehrlichkeit gegenüber Förderern ist ein absolutes Muss.

3. Die Antwort für jede Art der Unterstützung heißt: „Danke“. ) Schritt 4: Controlling Nach der Durchführung eines Projekts – dies gilt auch für ein gescheitertes, nicht zustande gekommenes Projekt –, sollte überprüft werden, ob die gesetzten Ziele erreicht wurden – und wenn nicht, warum. Die gewonnenen Ergebnisse können zur Planung neuer Fundraising-Aktionen genutzt werden. Mögliche Methoden wären hierbei die Befragungen der TeilnehmerInnen nach Abschluss des Projekts, ein Auswertungsgespräch mit den Kolleginnen und Kollegen oder eine Image-Profil-Analyse. Selbstverständlich können alle messbaren Werte für eine quantitative Ergebniskontrolle mit einbezogen werden. Jedes Ergebnis gibt Aufschluss über den Projektverlauf und darf weder verfälscht noch verschönert werden.

Resümee Ob Fundraising betrieben werden darf oder nicht, entscheidet die Anerkennung der Gemeinnützigkeit. Musikschulen, deren Rechtsform nicht als gemeinnützig anerkannt ist, nehmen eine Sonderstellung im klassischen Marktverständnis ein, da musikpädagogische Arbeit einerseits unterstützenswert ist, aber andererseits durch die Rechtsform unterbunden wird. Eine gesellschaftliche Anerkennung der Leistung privater Musikschulen bleibt in vielen Fällen offen. ))

Christian Rolf ist Diplom-Medienberater (ARS), Systemischer Organisationsentwickler und NLP-Master. Er ist Leiter der Gitarren-Akademie-Linden in Hannover.


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Die Rechtslage zum Musizieren und Unterrichten zu Hause ist oft nicht einfach zu durchschauen

Wenn die Nachbarn durchdrehen …

Andreas Masopust

)) Was für den einen zu den schönen Seiten des Lebens gehört, kann für den anderen einfach nur lästig sein. Schon Wilhelm Busch hat den Zwiespalt zwischen Musikausübung und unfreiwilligem Zuhören humorvoll auf den Punkt gebracht. Leider fehlt bis zum heutigen Tag eine gesetzliche Regelung dieses Konflikts, die Klarheit über den zulässigen Umfang des häuslichen Musizierens geben könnte. Insofern verwundert es auch nicht, dass dieses Thema immer wieder Anlass zu Streitigkeiten gibt und daher bei der Beschreibung der Rechtslage eine Vielzahl von Gerichtsurteilen beachtet werden muss. Da stets auf eine konkrete Situation bezogen, fallen die entsprechenden Urteile auf den ersten Blick teilweise zwar unterschiedlich aus. Gleichwohl können hieraus allgemein gültige Regeln über die Rechtslage abgeleitet werden.

Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit Grundsätzlich gilt zunächst, dass das Musizieren zum Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gehört, welches durch das Grundgesetz geschützt ist. Insofern ist ein absolutes Musizierverbot in den eigenen vier Wänden unzulässig. Auch auf die Qualität des Musizierens kommt es erfreulicherweise nicht an. Es macht also keinen Unterschied, ob zu einem Hauskonzert geladen wird oder ob Etüden geübt werden müssen.1 Im Sinne eines guten nachbarschaftlichen Verhältnisses sollte aber dennoch monotones Üben an Sonn- und Feiertagen sowie in den Abendstunden die Ausnahme sein. Das Musizieren ist insoweit nämlich durch das Gebot der Rücksichtnahme gegenüber Nachbarn eingeschränkt. Die rechtlichen Grundlagen finden sich u. a. im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) in den Ab-

schnitten zum Miet- (§§ 535 ff. BGB) bzw. Eigentumsrecht (§§ 903 ff. BGB).

Hausordnung muss beachtet werden Sofern spezielle Regelungen existieren wie beispielsweise eine Hausordnung als Anlage zum Mietvertrag bzw. ein Mehrheitsbeschluss einer Eigentümerversammlung sind die dort getroffenen Vereinbarungen zu beachten. Teilweise sind in den Hausordnungen jedoch nur die üblichen Ruhezeiten von 13 bis 15 Uhr bzw. von 22 bis 7 Uhr enthalten, sodass in den übrigen Zeiten grundsätzlich auch musiziert werden darf. Dies allein sagt allerdings noch nichts über die Dauer des erlaubten Musizierens. Wenn das Musizieren in Zimmerlautstärke erfolgt, wird es keine Einschränkungen der Musizierdauer geben, was sich insofern günstig für das Spielen leiser Instrumente erweist. Da die allermeisten Instrumente den Zimmerlautstärkepegel jedoch überschreiten, ist eine Begrenzung immer dann vorzunehmen, wenn Nachbarn durch die Musikausübung unzumutbar beeinträchtigt werden. Die Frage, wann diese Grenze erreicht ist, das heißt wann sich der Nachbar gestört fühlen darf, ist nicht von der konkreten Person und deren höchst subjektiven Wahrnehmungen abhängig. Maßstab ist vielmehr das Empfinden eines durchschnittlichen Bewohners. Durch Messungen kann der beim Nachbarn ankommende Schallpegel exakt festgestellt werden. Die Überschreitung geltender Richtwerte, wie sie beispielsweise in der technischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm (TALärm) oder der schalldämmtechnischen Norm DIN 4109 ausgewiesen sind, spricht allein jedoch nicht automatisch für eine

Beeinträchtigung. Zu berücksichtigen sind darüber hinaus auch alle übrigen Immissionsquellen, die auf die jeweilige Wohnung einwirken. So darf sich ein Nachbar durch Musizieren eher weniger gestört fühlen, wenn der in der Wohnung durch Straßengeräusche oder durch die Waschmaschine des Nachbarn verursachte Lautstärkepegel genauso hoch oder gar höher ist. Auch eine besonders hellhörige Wohnung geht zu Lasten des Vermieters.2 Ein sorgfältig prüfender Richter wird in der Regel daher vor Ort eine Besichtigung durchführen, um sich aus erster Hand einen unmittelbaren Eindruck zu verschaffen.

Zwei bis vier Stunden Musizieren pro Tag Nach allgemeiner Auffassung ist die zeitliche Begrenzung des Musizierens auf eine bestimmte Stundenanzahl zulässig.3 Wenn es jedoch konkret wird, scheiden sich die Geister. Das Landgericht Frankfurt am Main hat eine tägliche Musizierdauer von fünf Stunden auf dem Klavier für zulässig erachtet.4 Demgegenüber hält das Bayerische Oberste Landesgericht drei Stunden,5 das Oberlandesgericht Frankfurt nur anderthalb Stunden6 Klavierspiel am Tag für ausreichend. Im Fall eines Klarinetten- und Saxofonspielers waren es werktäglich zwei und sonntags eine Stunde.7 Nur anderthalb Stunden wurden einem Akkordeonisten8 bzw. einem Schlagzeuger zugebilligt, wobei Letzterer nicht nach 19 Uhr und im Sommer nur 45 Minuten wegen der sich im Garten aufhaltenden Nachbarn üben durfte.9 Grundsätzlich kann man von einer Zeitbegrenzung zwischen zwei und vier Stunden ausgehen, die vom Prinzip her unabhängig


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Andreas Masopust ist Rechtsanwalt und Diplom-Musikpädagoge. Er war Lehrbeauftragter am Institut für Musik der Universität Magdeburg und arbeitet als Justiziar und stellvertretender Verbandsgeschäftsführer der Deutschen Orchestervereinigung e. V. in Berlin.

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„Musik wird oft nicht schön gefunden, weil sie stets mit Geräusch verbunden.“ *

von der Anzahl der im Haushalt musizierenden Familienmitglieder gilt. Berufsmusiker bzw. Musikstudenten können diesbezüglich auch keine Sonderrechte geltend machen.10

Regelungen vereinbaren! Etwas anderes gilt jedoch, wenn im Mietvertrag beispielsweise die Erteilung von Instrumentalunterricht dem Grunde nach genehmigt wurde. Dann kann unter Umständen sogar acht Stunden werktags und sechs Stunden sonn- und feiertags musiziert werden.11 Insofern ist vor Abschluss eines Miet- oder Kaufvertrags dringend zu empfehlen, Regelungen über das Musizieren bzw. Unterrichten zu vereinbaren. Ge-

schieht dies nicht, kann dies unangenehme Folgen haben. So hat der Bundesgerichtshof jüngst die Kündigung eines Mietverhältnisses bestätigt, weil der dortige Mieter ohne Genehmigung Gitarrenunterricht erteilt hat.12 Bevor es also zu einem Konflikt kommt, sollte nach einvernehmlichen Lösungsmöglichkeiten gesucht werden. Denkbar sind dabei auch Schalldämmungsmaßnahmen, zumal diese nicht nur beim Musizierenden, sondern auch beim Nachbarn möglich sind. Selbst ein gewonnener Rechtsstreit garantiert nämlich noch kein gutes nachbarschaftliches Verhältnis, denn wie heißt es doch bei Wilhelm Busch: „Oft wird es einem sehr verdacht, wenn er Geräusch nach Noten macht“.13 ))

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Landgericht Düsseldorf, Az. 22 S 574/89. Landgericht Mannheim, Az. 5 S 175/59. u. a. Bundesgerichtshof, Az. V ZB 11/98; Oberlandesgericht Zweibrücken, Az. 3 W 48/90. 4 Landgericht Frankfurt/Main, Az. 2/25 O 359/89. 5 Bayerisches Oberstes Landesgericht, Az. 2 Z 8/85. 6 Oberlandesgericht Frankfurt, Az. 20 W 148/84. 7 Oberlandesgericht Karlsruhe, Az. 6 U 30/87. 8 Landgericht Kleve, Az. 6 S 70/90. 9 Landgericht Nürnberg-Fürth, Az. 13 S 5296/90. 10 Bayerisches Oberstes Landesgericht, Az. 2 Z 8/85. 11 Landgericht Flensburg, Az. 7 S 167/92. 12 Bundesgerichtshof, Az. VIII ZR 213/12. 13 Wilhelm Busch: Fipps der Affe, Kapitel 9. 2 3

* Wilhelm Busch: Dideldum. Der Maulwurf.


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Die Chlorhühnchen der Musikpädagogik Das geplante TTIP-Abkommen, das den internationalen Handel liberalisieren soll, ist inzwischen allgemein bekannt und bei der Bevölkerung so unbeliebt, dass die Politik zunehmend Schwierigkeiten bei der Umsetzung bekommt. Aber Politiker sind lernfähig!

)) Was TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) ist, wurde in letzter Zeit regelmäßig in den Medien erläutert. Und obwohl die verhandelten Inhalte weitestgehend geheim gehalten werden, gibt es inzwischen genügend Informationen, um die Auswirkungen dieses Handelsabkommens wenigstens einschätzen zu können. Insbesondere werden in weiten Teilen der kritischen Öffentlichkeit eine weitgehende Freigabe von gentechnisch veränderten Lebensmitteln (womöglich ohne Kennzeichnung), in Chlor getauchte Hühner und weitere erhebliche Einschränkungen im Verbraucherschutz erwartet. Aber auch Einschränkungen bei den Arbeitnehmerrechten werden befürchtet. Je mehr Informationen über TTIP bekannt werden, desto größer und lauter wird der Widerstand in der Bevölkerung. Politik und Wirtschaft haben inzwischen begriffen, dass eine immer weitergehende Liberalisierung bei der Bevölkerung auf erhebliche Ablehnung stößt, was die Umsetzung

dieses Abkommens deutlich erschwert. Daraus haben die Beteiligten aus Wirtschaft und Politik eine Lehre gezogen: Ein weiteres Abkommen zur Liberalisierung von Dienstleistungen (TISA) wird noch geheimer und mit großer Eile verhandelt, in der Hoffnung, dass die Bevölkerung es – wenn überhaupt – erst dann bemerkt, wenn es zu spät ist.

Jürgen Simon

der Wasserversorgung, wie sie z. B. in Berlin durchgesetzt werden konnte, nicht mehr zulässig wäre. Aber auch die spätere Regulierung gefährlicher Spekulationsgeschäfte wäre nicht mehr möglich, wenn sie erst einmal genehmigt wurden. Selbst eine Regelung, wie die kürzlich von der EU beschlossene Begrenzung der Roaminggebühren würde künftig womöglich gegen TISA verstoßen.

Was ist TISA? TISA (Trade in Services Agreement) soll den internationalen Handel mit Dienstleistungen liberalisieren. Dabei wird der Begriff „Dienstleistung“ relativ weit gefasst. So wird die Versorgung mit Wasser ebenso als Dienstleistung eingestuft wie Gesundheitsversorgung, Bildung, die Rente oder Banken und Versicherungen. Alle diese Dienstleistungen sollen möglichst wenig durch staatliche Eingriffe reguliert werden, sondern – soweit damit irgendwie Gewinne zu erzielen sind – durch private, gewinnorientierte Unternehmen erbracht werden können. Besonders problematisch sind dabei die sogenannten Stillstands- bzw. Sperrklinkenklauseln, die besagen, dass eine einmal erreichte Privatisierung oder Deregulierung niemals mehr zurückgenommen werden kann. Konkret bedeutet dies, dass eine Entscheidung zur Rekommunalisierung

Super-Mega-Hyper-Geheim Was TISA jedoch wirklich alles beinhaltet, ist nicht festzustellen, denn weder die Parlamentarier des deutschen Bundestags noch EU-Parlamentarier haben Zugang zu den Verhandlungen. Selbstverständlich sind Verbraucherschutzorganisationen und Gewerkschaften ebenfalls von allen Informationen ausgeschlossen. Nicht einmal die Welthandelsorganisation (WTO) wird über die Verhandlungen informiert. Einzig einige Regierungsvertreter der 50 beteiligten Staaten und selbstverständlich die Lobbyisten aus der Wirtschaft sind an diesen Verhandlungen beteiligt. Das Ganze ist so geheim, dass die Verträge sogar nach dem Abschluss (oder dem Scheitern) der Verhandlungen noch mindestens fünf weitere Jahre nicht veröffentlicht werden dürfen. Hier wird nicht einmal mehr versucht, wenigstens einen An-


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Das geheime TISA-Abkommen ist eine Gefahr für Musiklehrkräfte, für Musikschulen – für uns alle! schein von Demokratie aufrechtzuerhalten. Ob ein solches Vorgehen mit dem Grundgesetz in Einklang gebracht werden kann, bezweifle ich persönlich sehr. Immerhin wurde jetzt ein erstes Dokument auf Wikileaks veröffentlicht (www.wikileaks.org/ tisa-financial). Neben dem eigentlichen TISA-Dokument, das sich jedoch ausschließlich mit Finanzdienstleistungen befasst, findet sich dort eine sehr profunde und lesenswerte Analyse von Jane Kelsey von der Universität Auckland.

Und was geht mich das an? TISA wird womöglich mehr Auswirkungen auf das Leben der Menschen haben als jeder andere Handelsvertrag einschließlich TTIP. Da nach den bisher vorliegenden Informationen in weiten Bereichen mit Negativlisten gearbeitet wird, sind automatisch alle Dienstleistungen betroffen, die nicht ausdrücklich ausgeschlossen sind. Eine spätere Ergänzung der Listen ist vermutlich ebenfalls nicht vorgesehen. Angesprochen wurde bereits die Privatisierung der Wasserversorgung, die – wie sich am Beispiel Berlin gezeigt hat – nur den Unternehmen genützt hat. Für die Bürger wurde das Wasser nur teurer. Da auch das Vermieten von Wohnungen eine Dienstleistung ist, ist auch hier mit Verschlechterungen zu rechnen. Zwar ist der Mietwohnungsmarkt ohnehin bereits überwiegend in privaten Händen, doch gibt es in Deutschland relativ viele Regelungen zum Schutz von Mietern. Eine Regelung wie die für 2015 geplante Mietpreisbremse dürfte unter dem Einfluss von TISA kaum mehr umzusetzen sein. Die dann folgende Entwicklung der Mieten kann sich jeder leicht selbst ausmalen. Auch bei anderen bereits privatisierten Dienstleistungen wie z. B. der Stromver-

sorgung besteht die Gefahr, dass existierende Regulierungen zugunsten der Verbraucher nach und nach abgebaut und neue Schutzvorschriften durch TISA verhindert werden. Nicht weniger problematisch dürften die Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung sein. Ob eine Gesundheitsreform, wie sie in Amerika durch „ObamaCare“ eingeführt wurde, nach TISA noch möglich wäre, ist fraglich. Auch im Gesundheitsbereich besteht somit die Gefahr, dass die Kosten für die Nutzer steigen, während sich der Umfang und die Qualität der Versorgung reduzieren. Bereits die heutige Teilung der Krankenversicherung in privat und gesetzlich Versicherte sorgt für ein Ungleichgewicht. Dies könnte unter TISA noch verschärft werden, indem z. B. die Möglichkeit, sich privat zu versichern, deutlich ausgeweitet wird, bis in der gesetzlichen Versicherung nur noch die zurückbleiben, die für die privaten Versicherungsgesellschaften nicht attraktiv sind.

Und als Musikschullehrer? Unter die Gruppe derer, die für private Krankenversicherungen nicht attraktiv sind, werden vermutlich auch Musiker und Musikschullehrer fallen. Erstens verdienen viele in dieser Gruppe zu wenig, und zweitens gibt es gerade bei Musikern viele Krankheiten, die an sich nicht gravierend sind, das Ausüben der Arbeit jedoch unmöglich machen und deshalb behandelt werden müssen. Und gewinnorientierte Versicherungen wollen natürlich möglichst wenige Behandlungskosten übernehmen. Etwas Vergleichbares könnte sogar im Bereich der Rentenversicherung geschehen. Bereits bei der Einführung der Riesterrente zeigte sich, dass häufig die Versicherer

am meisten profitieren und die Renditen bestenfalls bescheiden sind. Eine weitere Privatisierung der Rente brächte vermutlich auch wieder eine Teilung in Wohlhabende, die sich eine private Altersvorsorge leisten können, und Arme, die auf ein immer weiter marginalisiertes staatliches Restsystem angewiesen sind. Selbst die für die vielen freien Lehrkräfte essenzielle Künstlersozialkasse (KSK) könnte von TISA betroffen sein. Diese Einrichtung ist bei vielen Unternehmern eher unbeliebt, da sie eine Abgabe an die KSK abführen müssen, wenn sie selbstständige Künstler engagieren. Da häufig auch freischaffende Grafiker und zum Teil sogar Webdesigner in der KSK versichert sind, müssen auch für deren Dienste Abgaben entrichtet werden, selbst wenn der jeweilige Künstler gar nicht in der KSK versichert ist. Dabei könnte die KSK von zwei Seiten in Bedrängnis geraten: Zum einen ist sie natürlich ein Eingriff in die freie Gestaltung der künstlerischen Dienstleistungen, da die beiden Geschäftspartner eben nicht die Freiheit haben zu entscheiden, dass sie diese Versicherung nicht wollen. Solche regulatorischen Eingriffe sollen durch TISA ja gerade abgeschafft werden. Zum anderen ist es sogar vorstellbar, dass die Unternehmen, die bisher an die KSK zahlen müssen, eigene alternative Versicherungen entwickeln, deren einziges Ziel es ist, möglichst niedrige Beiträge anzubieten. Langfristig würde dies sicherlich zu Problemen für die KSK und ihre Versicherten führen. Obwohl dieses Szenario auf den ersten Blick eher abwegig erscheint, hat es bereits in der Vergangenheit Versuche gegeben, Institutionen nur mit dem Zweck der Geldersparnis für Unternehmen zu gründen oder zu finanzieren. So wurde die inzwischen nicht mehr als Gewerkschaft zu-


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Informationen zu TISA Aufgrund der Geheimhaltung gibt es nur wenige vertiefende Informationen zu TISA. Die wichtigste Quelle ist bis auf Weiteres Wikileaks: www.wikileaks.org/tisa-financial Einen sehr guten Beitrag des Bayerischen Rundfunks aus der Sendung „quer“ gibt es hier: www.br.de/mediathek/video/sendun gen/quer/140605-quer-tisa-100.html

gelassene „Gewerkschaft der Neuen Briefund Zustelldienste“ mutmaßlich durch die Arbeitgeber der Post-Konkurrenz (die das immer bestritten haben) ins Leben gerufen und finanziert, um eine willfährige Gewerkschaft für Lohndumping zu haben.

Und für die Musikschulen? Die womöglich größte Gefahr für die Musikschulen, aber ebenso für die Musikhochschulen und die gesamte Kultur in Deutschland dürfte in den Regelungen aus dem bereits erwähnten, auf Wikileaks veröffentlichten Dokument über Finanzdienstleistungen liegen. Im Kern geht es um eine möglichst weitgehende Deregulierung aller Finanzmarktgeschäfte. Da gerade die besonders gefährlichen Spekulationsinstrumente, die zur jüngsten Wirtschaftskrise geführt haben, nicht durch Regulierung „behindert“ werden sollen, ist die nächste Finanzkrise beinahe schon vorprogrammiert. Was passiert, wenn dann der Staat wieder zur Rettung der Spekulanten einspringen muss, ist aktuell in Griechenland zu sehen. Öffentliche Mittel für freiwillige Leistungen wird es dann wohl überhaupt nicht mehr geben. Ist dies also die große Stunde der privaten Musikschulen? Vermutlich wird es auch hier viele Verlierer und nur wenige Gewinner geben. Die Hoffnung, dass eine Deregulierung im Musikschulbereich dazu führen wird, dass die öffentlichen Mittel künftig auch auf die privaten Musikschulen verteilt werden, dürfte am Vergaberecht scheitern. Wie bei anderen Dienstleistungen, die von der öffentlichen Hand vergeben werden, gilt auch hier, dass derjenige, der das beste Angebot macht, den Auftrag bekommt – alle anderen gehen leer aus. Und das beste Angebot bedeutet in der Regel: das billigste Angebot.

Die taz hat einen Artikel veröffentlicht unter: www.taz.de/!141713 Und auf sueddeutsche.de findet sich eine ganze Sammlung von Artikeln: www.sueddeutsche.de/wirtschaft/ dienstleistungsabkommen-tisa-bundesregierung-gibt-sich-ahnungslos1.2017655 Nicht zu TISA, aber zu TTIP gibt es ein entlarvendes Interview unter:

Dabei ist der Gestaltungsspielraum bei den Ausschreibungen durch die Auftraggeber – in der Regel sind das die Kommunen – oft recht gering. Daher besteht auch hier die Gefahr, dass sich längerfristig einige wenige große Musikschulkonzerne das Geschäft teilen werden. Kleine private, lokale Musikschulanbieter, die mit viel Engagement und künstlerisch-pädagogischen Konzepten versuchen, möglichst guten Unterricht anzubieten, werden es in diesem Preiskampf noch schwerer als bisher haben.

Alles nur Paranoia? Die Befürworter aus Politik und Wirtschaft werden nicht müde zu erklären, dass derartige Abkommen gut für die Wirtschaft und damit auch gut für die Bevölkerung sind und sicherlich auch viele neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Während die angeblichen positiven Effekte für TISA bisher nebulös bleiben, gibt es für TTIP relativ konkrete Angaben. Allerdings fallen die in Aussicht gestellten positiven Effekte bei genauer Betrachtung eher bescheiden aus, selbst wenn man die optimistischsten Annahmen der Befürworter zugrunde legt. Das für TTIP zusätzlich prognostizierte Wirtschaftswachstum von 0,5 % für Europa ist für zehn Jahre angegeben, beträgt also nur 0,05 % pro Jahr. Wenn man bedenkt, dass sich die Prognosen für das Wirtschaftswachstum in Deutschland für 2015 je nach Institut innerhalb einer Spanne von 1,5 % und 2,4 % bewegen, scheint es eher wie Wahrsagerei, ein zusätzliches Wachstum von 0,5 % im Verlauf von zehn Jahren tatsächlich vorhersagen zu können. Nicht besser sieht es bei den versprochenen „hunderttausenden“ Arbeitsplätzen für die gesamte EU aus. Auch diese Zahl

www1.wdr.de/daserste/monitor/videos/videomonitorinterviewenglkareldeguchteuhandelskommissar100.html Wer sich gegen TISA engagieren will, sollte die Veröffentlichungen auf campact.de verfolgen: http://blog.campact.de/2014/06/tisawas-geht-hier-ab

wird zur Makulatur, wenn man bedenkt, dass in den zurückliegenden zwölf Monaten die Arbeitslosenzahl allein in Deutschland um mehr als dreihunderttausend schwankte. Außer dem zusätzlichen Wachstum und den neuen Arbeitsplätzen in einer Größenordnung, die so gering ist, dass der Nachweis schwerfallen dürfte, sind aber offenbar keine weiteren positiven Effekte zu erwarten. Keiner der Befürworter hat jemals angedeutet, es könnte Verbesserungen im Arbeitnehmer- oder Verbraucherschutz, beim Umweltschutz oder der sozialen Gerechtigkeit geben. Im Gegenteil befürchten die Kritiker in all diesen Bereichen negative Auswirkungen durch diese Abkommen. Hier muss sich jeder selbst die Frage stellen, ob die möglichen positiven Effekte groß und wichtig genug sind, um die möglichen Risiken in Kauf zu nehmen. ))

Jürgen Simon ist Cellist im Brandenburgischen Staatsorchester Frankfurt (Oder). Er entwickelte ein Orchesterverwaltungsprogramm für sein Orchester.


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Viele neue und wichtige Aspekte in Stefan Lindemanns Ratgeber

Pflichtlektüre Stefan Lindemann Marketing und Management für Musikpädagogen 3., erweiterte und aktualisierte Auflage Bosse, Kassel 2014, 168 Seiten, 19,95 Euro

)) Nach mehrfachen Ankündigungen liegt nun endlich die überarbeitete Auflage von Stefan Lindemanns Marketing und Management für Musikpädagogen vor. Auch wenn die Struktur des Handbuchs im Wesentlichen der der erprobten alten Auflage entspricht, ist es Lindemann gelungen, viele neue, wichtige Aspekte einzuarbeiten. Diese Erweiterungen spiegeln damit auch ein Stück weit die Entwicklungen im Bereich Instrumentalunterricht bzw. Selbstständigkeit als Instrumentallehrkraft wider. Nach den bekannten Kapiteln zu Selbstverständnis und Zielen folgen im Abschnitt „Organisation“ unter „Eigenorganisation“ jetzt z. B. Informationen zur GEMA oder zum Kopierverbot von Noten, zu Downloadportalen, zur Möglichkeit von Lizenzverträgen mit der VG Musikedition oder zum Rundfunkbeitrag. Nach dem nur minimal veränderten Kapitel über Unterrichtsverträge folgt im Abschnitt „Honorare“ ein willkommener Einschub über Tarifstruktur, -systematik und Tariferhöhungen. Unter „Steuern“ werden nach wie vor (und das ist sinnvoll) nur einige übergeordnete Hinweise gegeben, während unter „Finanzierungshilfen“ Informationen zur Existenzgründung aus der Arbeitslosigkeit heraus neu aufgenommen wurden („Gründerzuschuss“ bei Bezug von ALG 1, „Einstiegsgeld“ bei ALG 2). Auch liefert Lindemann ein Muster für einen Businessplan mit Umsatz- und Rentabilitätsvorschau, der auch für Kreditgeber wichtig ist. Bei den Kapiteln über Versicherungen sind notwenige Aktualisierungen im Zahlen-

werk vorgenommen worden, der Passus über Berufsunfähigkeitsversicherungen ist nun zum Glück so ausführlich, dass man einen Eindruck davon bekommt, wie schwierig es ist, eine solche Versicherung abzuschließen. Ausführungen zur Altersvorsorge fehlten in der alten Buchausgabe, die jetzt gelieferten Infos beziehen sich schwerpunktmäßig auf „Riester-Produkte“. Ein Detail: Sehr gut ist, dass Lindemann darauf hinweist, dass man Anbietern von „Riester-Produkten“ immer wieder klarmachen muss, dass man als KSK-Pflichtversicherter Anspruch auf Riester-Förderung hat! Im zweiten Teil des Buchs geht es nun wie gewohnt weiter mit grundlegenden Gedanken zu „Kunden“ und zur Kommunikation mit ihnen. Jeder, der sich selbstständig macht, sollte nach Festlegung seiner Produktprofils eine Bedarfsuntersuchung vornehmen, wer sein Angebot vermutlich nachfragen wird. Lindemann erläutert dazu verschiedene Modelle, in denen soziologische Zielgruppen definiert werden (jetzt mit gut aufbereiteten Abbildungen). Die nachfolgenden Passagen zu Absatzwegen und Werbung sind ergänzt durch Details im Bereich Internet bzw. die Möglichkeiten der Social Media. Neu auch die kurzen Kapitel „Timing“ (von Werbemaßnahmen) und „Unternehmensname“. Stefan Lindemann wird nicht müde, auf die Bedeutung des Vorgesprächs vor Unterrichtsbeginn hinzuweisen; kein Wunder, dass er auch dieses Buchkapitel neu geordnet und überarbeitet hat. Im Anhang finden sich wie gewohnt diverse Vordrucke, Grafiken und Zahlen (Beitragsbemessungsgrenzen, steuerrelevante Summen). Erstaunt hat mich, dass die „Übersicht über die monatlichen Vergütungen“ die gleichen Zahlen/Unterrichtshonorare enthält wie schon in der Auflage

Reinhild Spiekermann

von 2002. Sollte das angenommene Jahreshonorar von 960 Euro zwölf Jahre lang stabil geblieben sein? Auch verstehe ich nicht, warum unter der Tabelle der „Beitragsbemessungsgrenzen und Beiträge nach den KSVG“ ein (bereits nicht mehr funktionierender) Linkhinweis ist, der zu einer Anleitung führen soll, wie das Steuerformular „EÜR“ auszufüllen ist. Das Buch ist sehr gut lesbar, Zitatbelege erfolgen sehr kompakt, neu sind vor allem eingestreute Internetquellen. Stefan Lindemann gelingt noch etwas, was das Buch weiter auszeichnet und eine neue inhaltliche Dimension erschließt: Er bringt an verschiedenen Stellen Management- und Marketingbeispiele aus der Wirtschaft, die er teilweise überträgt in unsere Branche, den Transfer teilweise aber auch dem Leser „als Hausaufgabe“ aufbrummt. Ob es nun die klassische Bankfiliale im Zeitalter des Online-Bankings ist, der angeritzte Kaffeepad auf dem Heizkörper (die Macht der Gerüche), das „Aus“ der Baumarktkette „Praktiker“, die gescheiterte Friseurin mit zu billigem Kinderhaarschnitt, TupperPartys oder die Einführung eines Deos, auf das keiner gewartet hat – hier zeigt sich die Hauptbotschaft des Buchs: als selbstständige Lehrkraft bin ich vor allem auch Unternehmer, mit allen Konsequenzen! Der Ratgeber ist jetzt auf dem Stand vom April 2012, Aktualität wird gewährleistet durch die Internetverweise. Mein Fazit: absolute Pflichtlektüre für Berufsanfänger und Fortgeschrittene! ))

Reinhild Spiekermann ist Professorin für Allgemeine Instrumentalpädagogik, Klavierdidaktik/-methodik sowie Studiengangsleiterin für instrumentalpädagogische Studiengänge an der Hochschule für Musik Detmold.


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musikschule )) DIREKT 6.2014

Mitarbeiter(de)motivation

Anja Bossen

Mit einem skandalösen Prämienmodell versuchen einige private Musikschulen, ihre Lehrkräfte zu „motivieren“

Was ist eigentlich Mitarbeitermotivation und warum sollte ich das überhaupt machen? Eigentlich ist diese Frage relativ leicht zu beantworten: Wenn ich es schaffe, meine Mitarbeiter zu motivieren, dann kommen sie gerne zur Arbeit, sind leistungsbereit, engagiert und bringen sich möglichst eifrig in mein Unternehmen ein. Sie sind eben „motiviert“ – und das ist gut für mein Unternehmen. So einfach ist das.

)) Wesentlich schwieriger zu beantworten ist allerdings die Frage: Wie motiviere ich denn nun meine Mitarbeiter? Eine wirklich „besondere“ Antwort auf diese Frage hat die Redaktion der Zeitschrift musikschule intern in ihrer Ausgabe 2/2014 gefunden. Die Redaktion riet in ihrer Antwort auf die Anfrage eines Musikschulleiters zur Motivation der Mitarbeiter zu einer Leistungsprämie. Er solle sie denjenigen seiner Honorarkräfte zahlen, die sich über die bezahlten Unterrichtsstunden hinaus engagierten, z. B. für Schülerkonzerte oder Konferenzen. Diese Prämie solle jedoch unregelmäßig und in immer unterschiedlicher Höhe ausgezahlt werden, damit sich daraus nicht etwa irgendwelche Rechte ableiten ließen. Man stelle sich ein solches Verfahren einmal bei einem Handwerker vor: Ich engagiere einen Malermeister, der mein Wohnzimmer neu tapezieren soll – gegen Bezahlung versteht sich. Und dann erkläre ich ihm, wenn er auch die Küche neu ta-

peziere, dann bekäme er vielleicht einen bescheidenen Bonus. Bei diesem Vergleich ist wohl für Jedermann offensichtlich, dass Mitarbeitermotivation so mit Sicherheit nicht funktioniert. Und hier zeigt sich auch das Perfide am Vorschlag der Redaktion von musikschule intern: Sie setzt bei Musikschullehrkräften ganz selbstverständlich voraus, dass diese außer dem Unterricht, für den sie bezahlt werden, unentgeltlich noch weitere zusätzliche Arbeiten erledigen. Wer dazu nicht bereit ist, ist eben nicht wirklich motiviert. Hier zeigt sich eine Missachtung der Lehrkräfte und ihrer Arbeit, die das genaue Gegenteil von Mitarbeitermotivation darstellt. Um meine Mitarbeiter zu motivieren, muss ich ihnen zeigen, dass ich sie und ihre Arbeit wertschätze. Und das mindeste, was ein Mitarbeiter dann erwarten kann, ist, dass er für seine Arbeit fair bezahlt wird. Natürlich ist es wichtig und richtig, Mitarbeiter, die sich ganz besonders engagieren, zu belohnen – ob mit Geld oder „nur“ einem ernst gemeinten Dank ist dabei oft gar nicht so entscheidend. Aber eine Belohnung wird nur zusätzlich und nicht anstelle einer angemessenen Bezahlung zu einer Belohnung. In Ausgabe 3/2014 von musikschule intern wird es dann noch schlimmer. Auf die sehr fundierte Kritik einer Leserin antwortet die Redaktion ausführlich, ohne dabei auch nur im Geringsten von ihren Vorschlägen abzurücken. Vielmehr begründet sie ausführlich, dass es zwar bedauerlich, aber unvermeidlich sei, dass Honorarkräfte regelmäßig unbezahlte Arbeiten wie Schülervorspiele erledigten.

Die Begründungen dafür sind ebenso vielfältig wie die Schuldigen, die von der Redaktion ausgemacht werden. Der Gesetzgeber ist schuld, weil er verbietet, Honorarkräften Dienstanweisungen zu geben, anderenfalls bestehe die Gefahr, dass sie in ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis abrutschen (!) könnten. Natürlich sind auch die kommunalen Musikschulen schuld, da sie im Gegensatz zu den privaten Musikschulen öffentlich gefördert werden. Und auch die Eltern, die nicht bereit sind, mehr für den Unterricht zu bezahlen, sind schuld. Den Gipfel bildet jedoch die larmoyante Behauptung, dass die Leiter privater Musikschulen in der überwiegenden Mehrzahl deutlich schlechter als ihre Lehrkräfte verdienen würden. Ohne den Wahrheitsgehalt dieser Behauptung überprüfen zu wollen, kann man dazu nur sagen: Wenn jemand ein Geschäft betreibt, das so wenig einbringt, dass er selbst nicht vernünftig damit verdient, und das überhaupt nur aufrechterhalten werden kann, wenn die Mitarbeiter regelmäßig unbezahlte Mehrarbeit leisten, dann ist offensichtlich das gesamte Geschäftsmodell unbrauchbar. ))

Ein ausführlicher Beitrag zu diesem Thema ist erschienen in der neuen musikzeitung 10/2014, S. 37; www.nmz.de/artikel/lotterie-statt-lohn


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Jungenmusik – Mädchenmusik

Anja Bossen

© Nele Engler

Geschlechtsspezifische Aspekte der Musikschularbeit )) Berlin-Wedding, eine MGA-Stunde mit einer ersten Klasse an einer „BrennpunktGrundschule“. Zwölf Kinder – neun Mädchen und drei Jungen – stehen im Kreis und sollen gemeinsam ein Frühlingslied singen, nachdem die Lehrerin die darin vorkommenden Begriffe (z. B. „Osterglocke“) mittels Bildern erläutert hat. Die Mädchen singen begeistert, auch einer der drei Jungen. Doch Onur und Max schauen hierhin und dorthin, winden sich und haben ganz offensichtlich keine Lust zu singen. Auch mehrmalige Ermahnungen der Lehrerin und deren Appell an den Zusammenhalt der Gruppe beim Singen („Es klingt doch viel schöner, wenn wir alle gemeinsam singen!“) ändern daran nichts. Die beiden Jungen entfernen sich aus der Gruppe und fangen an, durch den Raum zu rennen. Die Lehrerin versucht, die beiden zum Zurückkommen zu bewegen, und befasst sich intensiv mit ihnen, während der Rest der Gruppe unbeschäftigt bleibt. Die Situation läuft aus dem Ruder und mit dem gemeinsamen Singen ist es nun ganz und gar vorbei. Schließlich bringt es Onur auf den Punkt: „Ich will aber nicht singen.“ „Ich auch nicht!“, schreit Max.

Jungen in der Musikpädagogik Damit stehen Onur und Max nicht allein. Zweifellos sind musikalische Erfahrungen von Erstklässlern sehr heterogen. Doch Jungen wollen heutzutage oft schon in der ersten Klasse nicht singen, Mädchen hingegen tun dies gern. Und wenn Jungen überhaupt singen, dann am liebsten wie ein Pop-Star, oder sie brüllen sich gegenseitig bzw. die Mädchen nieder, wie Monika Oebelsberger feststellt.1 Jungen für einen Chor zu gewinnen und sie zum dauerhaften Bleiben zu bewegen, erweist sich ebenfalls zunehmend als schwierig.

Dafür bewegen Jungen sich lieber als Mädchen zu Musik, allerdings gibt es auch hier Unterschiede: Jungen bevorzugen kraftvolle, eckige, schnelle Bewegungen und Stile wie Breakdance oder Hip Hop, Mädchen weiche und langsamere; sie haben auch eher Spaß am Tanzen historischer Tänze oder Ballett. Woran liegt das? Dass Jungen und Mädchen unterschiedlich erzogen und sozialisiert werden, ist lange bekannt. So überrascht es auch nicht, dass Jungen in musikalischer Hinsicht eine andere Sozialisation durchlaufen als Mädchen, sodass sie oft bereits im KitaAlter geschlechtsspezifisch geprägt sind. Aber Jungen scheinen sich dabei zunehmend als „Verlierer“ der musikalischen Sozialisation zu erweisen, denn ihnen fehlen (noch) mehr als Mädchen Grunderfahrungen mit der Stimme und dem Körper. Die österreichische Sozialwissenschaftlerin Edit Schlaffer behauptet, dass die männliche Jugend kulturell zunehmend aussteigt: „Musik, Kunst, Ästhetik und sogar die alltäglicheren Kulturleistungen wie Lesen und Schreiben gelten den Jungen zunehmend als absolut unmännlich […]. Früher machte das weniger aus. Irgendwann wuchsen die Männer dann trotzdem in diese Kultur hinein […]. Heute ist das anders: […] Ästhetik ist für Jungen zum Tabu geworden!“2 Kein Wunder, denn wenn die eigenen Väter von ihren Söhnen niemals selbst musizierend wahrgenommen werden, vielleicht sogar noch Singen von den Vätern als „unmännlich“ abqualifiziert wird, prägt dieses Vorbild natürlich die Rollenvorstellungen der Jungen und diese wiederum später ihr eigenes Verhalten als Väter. Jungen verfügen auch über ein schlechteres Selbstkonzept in Bezug auf Singen als Mädchen, das heißt sie denken von sich selbst eher als Mädchen, dass sie es nicht

so gut können. So werden die negativen Sing-Erfahrungen von Vater-Generation zu Vater-Generation weitergegeben. Verantwortlich für die Ausbildung von Klischees sind sicher auch die medial vermittelten Vorbilder, die allzu oft muskulöse Männer mit E-Gitarren oder am Schlagzeug und Frauen als spärlich bekleidete Sängerinnen zeigen – und Männer, wenn schon als Sänger, dann als Pop-Star.

Mädcheninteressen – Jungeninteressen Was aber kann man konkret tun, wenn man als Lehrkraft in eine solche Situation wie eingangs geschildert gerät? Wie kann man mit der Verschiedenheit von Jungen und Mädchen im Musikunterricht umgehen? Zunächst ist es wichtig, Themen und Umgangsweisen mit Musik zu kennen, die grundsätzlich eher Mädchen bzw. eher Jungen ansprechen. Hier kann man sich z. B. an dem orientieren, was bereits aus der Leseforschung bekannt ist. Denn Jungen (zwischen 6 und 18 Jahren) bevorzugen auch beim Lesen andere Themen als Mädchen: Sie lesen eher Sachtexte, vor allem zu naturwissenschaftlichen oder technischen Inhalten. Außerdem stehen Fußball-, Piraten- und Abenteuergeschichten sowie Krimis und Science Fiction auf der Liste bevorzugter Themen. Mädchen hingegen mögen Belletristik, fiktive Literatur und Tier- und Problemgeschichten. Diese Themen könnten auch im Musikunterricht berücksichtigt werden. Hinsichtlich der musikalischen Präferenzen ist bekannt, dass Mädchen weicher klingende Melodieinstrumente bevorzugen, wie sie in der klassischen Musik gespielt werden, Jungen hingegen eher Perkussionsinstrumente oder Instrumente, die in der Rock- und Popmusik gespielt wer-


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musikschule )) DIREKT 6.2014

Literaturtipps Bischof, Ulrike/Horst Heidtmann: „Lesen Jungen ander(e)s als Mädchen? Untersuchungen zu Leseinteressen und Lektüregratifikationen“, in: medien praktisch 3/2002 Schattel, Bertram: „Männersache. Anregungen zur Entwicklung eines Knabenchors“, in: üben & musizieren 6/2012

den. Mädchen erfinden lieber als Jungen Musik und führen auch lieber etwas auf. Beim Musikhören sind geschlechtsspezifische Unterschiede bis zum Alter von etwa zehn Jahren noch nicht so ausgeprägt. Jungen und Mädchen hören gleichermaßen gern Musik. Die Kinder sind grundsätzlich offen gegenüber vielen verschiedenen und auch unbekannten und unkonventionellen Musikstilen; dies wird als „Offenohrigkeit“ bezeichnet.3 Ab ca. zehn Jahren wird dann allerdings zunehmend von beiden Geschlechtern Popmusik bevorzugt, während klassische Musik an Ansehen verliert. Ob dies jedoch nur für das Musikhören oder auch für das instrumentale eigene Musizieren gilt, ist weitgehend unbekannt.

Was können Lehrkräfte tun? Man ist also gut beraten, sich vor der Auswahl eines Liedes oder auch instrumentalen Stücks Gedanken darüber zu machen, wie dies wohl bei Jungen oder Mädchen ankommt. Natürlich kann man keine hundertprozentigen Vorhersagen treffen, und jede Lehrkraft hat bereits die Erfahrung gemacht, dass bestimmte Lieder und Stücke in einer Gruppe hervorragend ankommen, und zwar bei Mädchen und Jungen gleichermaßen, und von einer anderen komplett abgelehnt werden, ohne dass die Gründe dafür offensichtlich sind. Dennoch ist es hilfreich, Alternativen anzubieten, um auch die Schülerinnen oder Schüler einzubinden, die dem ausgewählten

musikschule )) DIREKT erscheint

alle zwei Monate als Supplement zu üben & musizieren

„Musik, Kunst, Ästhetik und sogar die alltäglicheren Kulturleistungen wie Lesen und Schreiben gelten den Jungen zunehmend als absolut unmännlich“ * Lied/Stück bzw. der Umgangsweise damit (Singen/Tanzen) eher ablehnend gegenüber stehen, weil sie es „uncool“ finden. In der eingangs geschilderten Situation wäre es denkbar, mit Onur und Max auszuhandeln, was denn ihr Beitrag zu dem Lied sein könnte, z. B. eine selbst ausgedachte Bewegungsabfolge, die Übernahme einer bestimmten Rolle (der Frühling, der die Blumen = Mädchen begrüßt/das Aufwecken der Blumen = Mädchen durch Antippen etc.). Zwar schulen die Jungen auf diese Weise zunächst einmal nicht ihre Stimme, sind aber zu motivieren, überhaupt zu einem Gesamtergebnis der Gruppe etwas Sinnvolles beizutragen und können später wiederum aufgefordert werden, auch mitzusingen oder einen Rollentausch mit den Mädchen vorzunehmen. Hat man die Jungen schließlich zum Singen bewegen können, ist es wichtig, auf einen differenzierten Einsatz ihrer Stimme hinzuweisen. Es sollte also nicht gebrüllt, sondern die Stimme mit ihren verschiedenen Klangmöglichkeiten erfahren werden, wozu sich Klanggeschichten oder andere stimmliche Experimente gut eignen, in denen vielfältig mit der Stimme experimentiert werden kann. Was das instrumentale Musizieren in der Gruppe betrifft, sollten auch Mädchen Perkussionsinstrumente spielen und Jungen Melodieinstrumente, und nicht immer muss ein Junge am Schlagzeug sitzen, auch wenn der männliche Ansturm darauf groß ist.

Wichtig ist, sowohl Mädchen als auch Jungen Räume zum Sich-Ausprobieren zu geben. Es kann zwar hilfreich sein, geschlechtsspezifisches Verhalten und eine Vielfalt an Lernwegen einerseits in gewissem Ausmaß zuzulassen; andererseits sollten Rollenklischees aber auch thematisiert und geschlechtsunspezifisches Verhalten unterstützt werden. Und nicht zuletzt kann man mit den Schülern gemeinsam besprechen, für welche Themen sie sich interessieren. Die Umgangsweisen damit können dann vielfältig und abwechslungsreich für Mädchen und Jungen gestaltet werden. Denn geschlechtsspezifische Verhaltensweisen zu überwinden, bedeutet, den Schülerinnen und Schülern neue Erfahrungen jenseits des bereits Bekannten zu ermöglichen, Erfahrungsdefizite auszugleichen und damit zu einer Bereicherung des musikalischen Erlebens beizutragen. ))

1

Monika Oebelsberger: „Mädchen singen, Jungen trommeln“, in: mip-Journal 7/2003. 2 Edit Schlaffer: „,Zwischen Barbie und einsamen Cowboys‘ – Mädchen und Buben heute“ (Referat des Impulstages des Frauenreferates des Landes Tirol und des Referates Frau, Familie und Senioren der Stadt Innsbruck vom 6.3.2001), zit. nach Oebelsberger 2003 3 Marco Lehmann/Reinhard Kopiez: „Der Musikgeschmack im Grundschulalter. Neue Daten zur Hypothese der Offenohrigkeit“, in: Wolfgang Auhagen/Claudia Bullerjahn/Holger Höge: Musikpsychologie. Musikselektion zur Identitätsstiftung, Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie, Bd. 21, Göttingen 2011, S. 30-55. * Edith Schlaffer, a. a. O.

Redaktion: Anja Bossen und Rüdiger Behschnitt Layout: Rüdiger Behschnitt Grafik: Nele Engler


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