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Integrierter Musikzug Baden-Württemberg Berufsunfähigkeitsversicherung Community Music in Deutschland

musikschule )) DIREKT Traumberuf Lokomotivführer Wenn du dich in der Schule ordentlich anstrengst und dann studierst, dann wird mal was aus dir! – So oder ähnlich wurden viele von uns von ihren Eltern motiviert. Und die Mehrheit der Leserinnen und Leser dürfte dieser Empfehlung gefolgt sein und kann ein abgeschlossenes Studium vorweisen. Doch haben die Eltern sich das mit dem „dann wird mal was aus dir“ in vielen Fällen sicherlich anders vorgestellt: Eine immer größere Zahl von studierten MusikerInnen und MusikpädagogInnen arbeitet unter prekären Bedingungen in befristeten oder pseudoselbstständigen Beschäftigungsverhältnissen. Wer krank wird, wird auch nicht bezahlt, und wenn die Krankheit zu lange dauert, dann übernimmt eben eine neue gesunde Honorarkraft die Schüler – Pech gehabt! Wer so krank wird, dass er seinen Beruf überhaupt nicht mehr ausüben kann, der steht vollends im Regen. Das aufwändige Studium ist in anderen Berufen wenig wert, schlimmer noch: Der freundliche Mitarbeiter der Arbeitsagentur wird nicht selten den Kopf schütteln und „überqualifiziert“ vor sich hin murmeln. Dabei ist das Risiko einer Erkrankung für Musikpädagoginnen und -pädagogen gar nicht so gering, wie man meinen könnte. Die Fähigkeit, sein Instrument zu spielen, kann man ganz leicht auch durch eher unspektakuläre Krankheiten einbüßen. Hinzu kommt der immer häufigere Einsatz von Instrumental- und Gesangspädagogen an allgemein bildenden Schulen und hier besonders gerne auch an Brennpunktschulen, nicht selten speziell mit dem Gedanken der Krisenprävention oder -intervention. Damit sind sie den gleichen Stressfaktoren ausgesetzt, denen auch ihre festangestellten und verbeamteten Kollegen oft hilflos gegenüberstehen. Doch während die verbeamteten Lehrkräfte durch die Regelungen zur Dienstunfähigkeit abgesichert sind, kümmern die Probleme der MusikpädagogInnen niemanden. Die einzige Möglichkeit zur Absicherung, die Berufsunfähigkeitsversicherung, ist eine eher theoretische, wie der Artikel auf Seite 5 bis 7 zeigt. Dass es auch anders geht, zeigt die Deutsche Bahn mit ihrem aktuellen Tarifvertrag: Niemand wird betriebs- oder krankheitsbedingt gekündigt. Hier übernimmt ein Unternehmen tatsächlich Verantwortung für seine Mitarbeiter. Nebenbei dürfte dies sicher auch gut für die Bindung der Mitarbeiter ans Unternehmen und deren Motivation sein. Aber bei Musikschullehrkräften ist so etwas nicht nötig, die motivieren sich schließlich selbst – und überhaupt ist das in diesem Bereich nicht so wichtig: Es geht in der Regel schließlich nur um Kinder! Jürgen Simon

Immer mehr öffentliche Musikschulen beantragen beim Verband deutscher Musikschulen Fördermittel im Rahmen der bundesweiten Bildungsinitiative „Kultur macht stark“. Aktuell leitet der VdM im Rahmen seines Verbandskonzepts „MusikLeben!“ Fördermittel an 260 Projekte weiter. Damit ist der VdM einer der Programmpartner mit den meisten Projekten. Im Rahmen der vierten Ausschreibung können sich wieder öffentliche Musikschulen und ihre Kooperationspartner mit Projekten für benachteiligte Kinder oder Jugendliche um eine „MusikLeben!“-Förderung bewerben. Einsendeschluss ist der 11. April 2014. www.vdm-musikleben.de

) Sie haben Fragen, Anregungen, Tipps oder Hinweise für die Redaktion? ) Sie möchten sich kritisch äußern zu unseren Themen und Beiträgen oder haben Vorschläge für neue Themen? Schreiben Sie uns: info@musikschule-direkt.de


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Integrierter Musikzug Baden-Württemberg

Anja Bossen

Ein Vorschlag des DTKV zur Lösung der Probleme, die sich durch die Ganztagsschule für den Instrumentalunterricht ergeben Die flächendeckende Einführung der Ganztagsschule schreitet kontinuierlich voran. Dass dies Probleme für außerschulische Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen mit sich bringt, ist mittlerweile bekannt – ebenso wie die Folgen der verkürzten Schulzeit an Gymnasien (G8): Es bleibt immer weniger Zeit, ein Hobby auszuüben – schon gar nicht ein so aufwändiges wie das Erlernen eines Instruments, das mit einem erheblichen Zeitaufwand verbunden ist.

)) Der DTKV Baden-Württemberg hat nun ein Modell entworfen, das eine Lösungsmöglichkeit für das Problem des rückläufigen Instrumentalunterrichts mit all seinen negativen Auswirkungen auf die gesamte Musiklandschaft bieten soll, indem es den Instrumentalunterricht in die Ganztagsschule integriert.1 Dadurch soll die berufliche Existenz der MusikpädagogInnen, die durch das immer kleiner werdende Zeitfenster der Schüler für den Instrumentalunterricht hochgradig bedroht ist, aufgewertet und gesichert, der Niedergang der gewachsenen Musik-Kulturlandschaft aufgehalten und ein Zuwachs des Anteils deutscher Musikstudierender an den Musikhochschulen erreicht werden. Ekkehard Hessenbruch, Jutta Palzhoff, Uta Haffner und Romuald Noll haben gemeinsam ein modulares System entwickelt, das bereits in der 1. Klassenstufe ansetzt und die gesamte Schulzeit hindurch bis zur 10. Klasse an allen Schultypen fortgeführt werden kann. Vorbild ist das bereits seit Jahren praktizierte Modell des Musikprofils in der gymnasialen Oberstufe. Die Grundidee ist die eines Musikzugs an allen Schulen, der von den SchülerInnen ab Klasse 1 frei wählbar ist: der Integrierte Musikzug Baden-Württemberg (IMBW). Wer diesen Musikzug wählt, soll von Be-

treuungs- bzw. Unterrichtsstunden befreit werden und die Schule verlassen können, um eine Musikschule zu besuchen. Der Unterricht an der Musikschule soll entweder am Nachmittag parallel zum Betreuungsbereich oder sogar parallel zum schulischen Pflichtunterricht stattfinden. Die Urheber des Konzepts erhoffen sich durch die Integration eine größere Nachfrage nach Instrumentalunterricht, auch von SchülerInnen aus sozial oder ökonomisch schlechter gestellten Elternhäusern, da auch diese Kinder durch die dargebotenen Präsentationen der Musikzug-Klassen Lust bekommen könnten, sich ebenfalls musikalisch zu betätigen. Für diese SchülerInnen wird die Forderung erhoben, sie im Bedarfsfall von den an der Musikschule anfallenden Unterrichtsgebühren zu befreien.

Modulares System mit Zeugnisrelevanz Die angebotenen Module gliedern sich in Pflicht- und Wahlmodule. Inhalte der Pflichtmodule sind Musiktheorie und Instrumentalunterricht als Einzelunterricht. Aus den Wahl- bzw. Wahlpflichtmodulen können über die verschiedenen Klassenstufen hinweg verschiedene Angebote zusätzlich frei gewählt werden, z. B. Chor, Orchester oder Ensemble, Improvisation, interkulturelle Musik, Instrumentenkunde und anderes mehr.2 Insgesamt sind im Musikzug über ein ganzes Schuljahr bis zu zwei Wochenstunden zusätzlich zum regulären Musikunterricht zu belegen. Die Grundlage für die Inhalte der Module sollen die Lehrpläne des VdM bilden. Ab der 8. Klasse könnten die zusätzlichen Musikstunden in den Musikzug-Klassen statt einer weiteren Fremdsprache oder Naturwissenschaft/Technik belegt werden.

Es ist vorgesehen, dass die jeweils auf dem Instrument erbrachten Leistungen mit in die Musiknote einfließen, wie es bereits im Profilbereich der Oberstufe praktiziert wird. Dabei soll die Musiknote durch den Instrumentalbeitrag nur verbessert, nicht aber verschlechtert werden können. SchülerInnen, die sich an einem Ensemble oder Orchester beteiligen, sollen durchweg die Note „sehr gut“ erhalten. Durch die Benotung, die allein von der Lehrkraft vorzunehmen ist, die den schulischen Musikunterricht erteilt, versprechen sich die Urheber des Modells einen rechtlich geschützten Raum für die Ausübung musikalischer Aktivitäten, wobei für die Schüler auch die Möglichkeit besteht, aus dem Musikprofil wieder auszusteigen.

Positive Ansätze und offene Fragen Grundsätzlich ist es begrüßenswert, Modelle zur Lösung der Ganztagsschulproblematik zu entwickeln. Aber so überzeugend der Ansatz auf den ersten Blick wirkt, finden sich doch auch einige zu kritisierende bzw. ungeklärte Punkte, auf die das Modell bisher keine Antwort gibt. Für das Modell spricht zunächst, dass möglicherweise mehr Eltern ihre Kinder für den Instrumentalunterricht anmelden und die Bequemlichkeit zu schätzen wissen, dass sie ihre Kinder nicht zur Musikschule bringen müssen, da der Unterricht überwiegend während der Schulzeit stattfindet.3 Allerdings wird es Regionen geben, in denen der Weg zur Musikschule und zurück zuzüglich 30 Minuten Instrumentalunterricht keineswegs in einer einzigen Schulstunde von 45 Minuten zu schaffen ist, abgesehen davon, dass zumindest bei jüngeren SchülerInnen das Problem besteht, dass diese auf dem Weg von einer


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Aufsichtsperson begleitet werden müssten – nicht nur wegen des vorgesehenen Einzelunterrichts und der Belegung verschiedener Module ein erheblicher Aufwand. Der Gedanke, dass Schüler ihre Leistungen auf dem Instrument in die Musiknote mit einbringen können, ist überzeugend, weil es gerecht erscheint, wenn diese ihre auch außerhalb des schulischen Musikunterrichts erworbenen Fertigkeiten zeugnisrelevant einbringen können. Dies wird in anderen Bereichen wie Sport oder Kunst seit Jahren bereits praktiziert und ist auch längst im Musikprofil der Oberstufe der Fall. Ob etwas, das bisher im Hobby-Bereich angesiedelt war (nämlich das Erlernen eines Instruments oder andere musikalische Aktivitäten), nun künftig benotet werden sollte, mag aus pädagogischer Sicht strittig sein. Andererseits ist dagegen kaum etwas einzuwenden, wenn sich die Note – wie im Modell vorgesehen – nur positiv auswirken kann und so kein zusätzlicher Leistungsdruck entsteht. Ob allerdings für alle Kinder, die sich an einem Ensemble beteiligen, zwangsläufig die Note „sehr gut“ vergeben werden sollte, ist fragwürdig. Denn es sind durchaus Unterschiede im Übeverhalten und im Können zwischen den Schülern eines Ensembles zu erwarten. Warum aber sollte jemand, der nicht übt, jedoch regelmäßig an Ensembleproben teilnimmt, dieselbe Note erhalten, wie jemand, der sich engagiert und dadurch ein höheres spieltechnisches Niveau erreicht? Diese Art der „Einheitsbewertung“ wäre nur dann zu rechtfertigen, wenn am Ensemble nur Kinder teilnehmen dürften, die ein Mindestmaß an Engagement zeigen; wer nur teilnimmt, um ein „sehr gut“ zu erhalten, wäre als „Trittbrettfahrer“ ausgeschlossen. Zu kritisieren ist hinsichtlich der Bewertung, dass die Note für den Instrumental-

Was ist ein Modul? Eine Unterrichtseinheit mit bestimmtem Inhalt ) innerhalb einer bestimmten Zeit zu erteilen (Klassenstufe, Halbjahr …) ) darin aber flexibel nach Erfordernissen der Stufe, Klasse, Gruppe und ) nach Leistungsstand und terminlicher Belastung des Kindes Modulumfang 1 Modul entspricht 1 Std./Woche, 1 Quartal oder 1 Std. alle 2 Wochen, 1 Halbjahr oder 9 Std. als Projekttag

Inhalte der Module Musiktheorie – Pflichtbereich entsprechend dem allgemeinen Lehrplan des normalen Schulfachs, also auch kompatibel mit anderen Zügen, wenn z. B. nur drei oder sechs Schüler einer Schule das Spezialfach belegt haben

2 Module entsprechen 2 Std./Woche, 1 Quartal oder 2 Std. alle 2 Wochen, 1 Halbjahr oder 18 Std. als Projekttage

Instrumentalunterricht Einzelunterricht, z. B. entsprechend den Lehrplänen des VdM, angepasst auf individuellen Leistungsstand

4 Module entsprechen 1 Std./Woche, 1 Jahr oder 2 Std./Woche, 1 Halbjahr oder 4 Std./Woche, 1 Quartal oder 36 Std. als Projektwoche

verschiedene Ausrichtungen sind möglich: Orchester oder Chor muss in jeder Altersstufe belegt, kann aber zeitweise reduziert oder ausgesetzt werden; Differenzierung nach Schulart; intensivierter Einzel- oder Kleingruppenunterricht, Ensembleunterricht Rhythmik, Improvisation, Musiktheater, interkulturelle Musik …

Wahl-/Pflichtbereich

unterricht nicht von der verantwortlichen Instrumentallehrkraft, sondern von dem Lehrer allein vergeben werden soll, der den schulischen Musikunterricht erteilt. Vermutlich wird diese Lösung angestrebt, damit Instrumentalpädagogen nicht als „eingebunden“ in den schulischen Betrieb gelten und damit auf keinen Fall beanspruchen können, fest angestellt zu werden (was die Kosten beträchtlich in die Höhe treiben würde), obwohl sie weder Zeit noch Ort noch die Schüler aussuchen können, die sie in einer Musikprofilklasse unterrichten. Das Modell würde somit die vielerorts bereits bestehenden und oft prekären Honorarbeschäftigungsverhältnisse weiter zementieren. Selbst für festangestellte Musikschullehrkräfte müsste ge-

klärt werden, wie ihnen die durch die Zusammenarbeit mit der Schule entstehenden zusätzlichen Aufgaben angerechnet werden. Statt der zurzeit umfangreichen politischen Bestrebungen, Musikschullehrkräfte aus finanziellen Erwägungen heraus auf keinen Fall in das Schulkollegium einzubinden, sollte es für eine sinnvolle musikalische Bildung endlich ein bildungspolitisches Umdenken geben. Wie können Instrumentalpädagogen ohne eine Möglichkeit zum (in der Arbeitszeit enthaltenen) Austausch mit den anderen Lehrkräften der Schule, ohne weitere Hintergrundinformationen über die Kinder und nicht eingebunden in ein pädagogisches Gesamtkonzept (auch nicht in ein einheitliches Ver-


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„Es gibt in Stuttgart Klavierpädagogen, die aufgrund der Ganztagsschule am Samstagabend oder sonntags zu unterrichten gezwungen sind.“ * haltenskonzept) einer Schule sinnvoll unterrichten und an Präsentationen mitwirken, die wiederum dem Image der Schule dienen sollen? Aus pädagogischer Sicht muss außerdem bedacht werden, dass Instrumentalunterricht ohnehin nur Sinn macht, wenn die SchülerInnen ausreichend Gelegenheit zum Üben haben. Es werden also Überäume in den Schulen benötigt, die dies ermöglichen. Wie dies angesichts der ohnehin oft problematischen Raumsituation an Schulen gewährleistet werden soll, darauf bleibt das Modell eine Antwort schuldig. Weitere Fragen: Wie soll das Üben in den Schulen betreut werden? Sollen auch jüngere Schüler und solche, die Probleme mit der Strukturierung des eigenen Lernens haben, sich völlig selbst überlassen bleiben? Nicht ohne Grund treffen die meisten InstrumentalpädagogInnen mit den Eltern ihrer Schüler Absprachen zur Unterstützung des häuslichen Übens.

Kostenpflichtiger Unterricht an der Schule? Vor allem aber ist bei allem Optimismus eine der Hauptforderungen des DTKV wohl kaum zu erfüllen: Die Forderung, dass bezahlter Instrumentalunterricht Bestandteil schulischen Pflichtunterrichts wird und dafür notfalls auch Gesetzesänderungen vorgenommen werden müssten. Dies ist allein aus rechtlichen Gründen kaum vorstellbar, denn hinter der Idee, dass schulischer Pflichtunterricht grundsätzlich kostenfrei zu sein hat, steht der Gedanke der Chancengerechtigkeit, zumal der schulische Musikunterricht bereits als Grundlage einer chancengerechten musikalischen Bildung „für alle“ konzipiert ist. Er enthält – sofern er denn als Fachunterricht und nicht als Rudiment innerhalb ei-

nes musisch-ästhetischen Fächerverbunds stattfindet – einen Großteil der in den Pflichtmodulen des IMBW-Modells aufgeführten Inhalte. Eine plausible Begründung, weshalb Instrumentalunterricht zusätzlich zum schulischen Musikunterricht überhaupt verpflichtend angeboten werden sollte, lässt sich kaum finden. Denn denkt man diesen Gedanken weiter, hieße das, dass auch andere Angebote, die den Anspruch erheben, der Bildung und Persönlichkeitsentwicklung zu dienen (z. B. Sport oder Schach), für alle verpflichtend und im Bedarfsfall kostenfrei angeboten werden müssten. Hinzu kommt, dass bereits seit Jahren zumindest an den öffentlichen Musikschulen lange Wartelisten existieren, die aufgrund der chronischen Unterfinanzierung der Musikschulen nicht abgebaut werden können. Es ist daher eher unwahrscheinlich, dass eine wie auch immer politisch zusammengesetzte Landesregierung tatsächlich bereit sein wird, ein noch kostenintensiveres Modell zu finanzieren, es sei denn, der Druck der Öffentlichkeit wäre immens – doch damit ist angesichts der Erfahrungen beim bisherigen Kulturabbau eher nicht zu rechnen.

Den schulischen Musikunterricht stärken! Wäre es daher nicht an der Zeit, den schulischen Musikunterricht zu stärken, wie es bereits seit Jahren von verschiedenen Verbänden gefordert wird, statt den schulischen Pflichtbereich zunehmend (preiswerteren) Musikschullehrkräften an Stelle von Schulmusikern zu überlassen? Bezüglich des Instrumentalunterrichts zeigt bereits das Beispiel „JeKi“ – auch wenn es konzeptionelle Unterschiede zum Modell des IMBW aufweist –, dass so manche Er-

wartung an einen schulisch eingebundenen Instrumentalunterricht sich nicht erfüllt, sowohl im Hinblick auf Chancengerechtigkeit und kulturelle Teilhabe als auch hinsichtlich einer erhöhten Nachfrage nach Instrumentalunterricht im Anschluss an die Projektteilnahme. Und wie auch bei anderen flächendeckenden Konzeptionen befassen sich die Urheber des IMBW-Modells nicht mit dem Beschäftigungsstatus der Musikschullehrkräfte. An keiner Stelle wird eine Festanstellung der Lehrkräfte gefordert, vielmehr ist die fehlende Einbindung der Lehrkräfte in schulische Abläufe besonders dazu geeignet, mögliche Ansprüche von Honorarkräften von vornherein auszuschließen. Viele der hier angeführten Kritikpunkte ließen sich wohl durch einfache Modifikationen des vorgestellten Modells lösen. Allerdings haben die Erfahrungen mit schulischen Reformen (z. B. jahrgangsübergreifendes Lernen, Inklusion) in den vergangenen Jahren häufig gezeigt, dass auch fundierte Ideen aus finanziellen Erwägungen heraus so mangelhaft umgesetzt werden, dass sie bestenfalls keine oder aber sogar nachteilige Wirkungen haben. Das Grundproblem, die dauerhafte Unterfinanzierung des öffentlichen Bildungsbereichs und noch mehr des Kultursektors, sowie der mangelnde politische Wille, an dieser Situation etwas zu ändern, wird auch für dieses Modell zur entscheidenden Gelingensfrage. )) 1

Der Originaltext des DTKV ist nachzulesen unter www.dtkv-bw.de/imbw.html 2 zur Übersicht über die Module siehe www.dtkv-bw.de/images/pdfs/IMBW.pdf 3 Der pädagogische Wert eines außerschulischen Lernorts soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. * Cornelius Hauptmann, Vorstandsvorsitzender des DTKV Baden-Württemberg


© pressmaster_123RF Stock Foto

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Gegen die finanzielle Katastrophe bei Berufsunfähigkeit können Versicherungen schützen – eigentlich

Gewaltige Probleme )) Die Versicherungswirtschaft bietet eine Vielzahl von Versicherungen gegen alle möglichen Gefahren und Risiken an. Auf viele dieser Versicherungen kann man getrost verzichten, da sie oft Bagatellschäden versichern, die in der Regel niemanden ruinieren. Ein ganz anderer Fall sind Versicherungen gegen Berufsunfähigkeit. Nachdem ausgerechnet die damalige rot-grüne Bundesregierung die Berufsunfähigkeitsrente ab dem Jahr 2001 für alle nach dem 1.1.1961 Geborenen abgeschafft hat, stehen viele Menschen im Fall einer Berufsunfähigkeit vollkommen ungeschützt da.

Begriffsklärung Eine Absicherung gegen Berufsunfähigkeit kann nicht mit der Absicherung gegen Erwerbsminderung verglichen werden, die heute durch die Erwerbsminderungsrente zumindest auf einem sehr niedrigen finanziellen Niveau von der Rentenversicherung übernommen wird. Die Berufsunfähigkeit bezieht sich auf den erlernten bzw. ausgeübten Beruf, der für die Frage einer Erwerbsminderung völlig irrelevant ist. Konkret: Wenn ein Geiger eine chronische Sehnenentzündung im linken kleinen Finger hat, ist er berufsunfähig – er kann nicht mehr Geige spielen. Wohingegen eine Er-

werbsminderung erst dann vorläge, wenn unser Geiger keine wie auch immer geartete Tätigkeit mindestens drei Stunden täglich (drei bis sechs Stunden für teilweise Erwerbsminderung) ausüben könnte. Dabei gibt es keine Grenzen in der Frage, welche Arbeit ausgeübt werden muss und wie gering die Bezahlung für diese Arbeit sein darf. Auch die Frage, ob der Geiger überhaupt eine Arbeit findet, spielt in diesem Fall keine Rolle, er wäre dann eben arbeitslos, aber nicht erwerbsunfähig. Wer sich gegen Berufsunfähigkeit absichern will, muss dies also bei privaten Anbietern tun, und er trägt die Kosten in der Regel allein. Allenfalls bei der Steuer können die Beiträge unter bestimmten Bedingungen geltend gemacht werden.

Für wen? Grundsätzlich ist eine Berufsunfähigkeitsversicherung für jeden, der arbeiten muss, sinnvoll. Da solche Versicherungen aber ziemlich kostspielig sind, sollte jeder überlegen, ob er die Versicherung wirklich braucht. Dabei ist die erste und wichtigste Frage, was passiert, wenn das Einkommen wegfällt. Handelt es sich bei dem Einkommen um das Haupteinkommen, das dringend zum Leben benötigt wird, dann ist

Jürgen Simon

eine solche Versicherung sehr wünschenswert. Aber auch die Höhe des Verdienstes und der damit einhergehende Lebensstandard sind ein Kriterium. Wer als prekär beschäftigte Honorarkraft an einer Musikschule ohnehin kaum über den Hartz-IVSatz kommt, hat im Fall einer Berufsunfähigkeit – davon abgesehen, dass er sich eine solche Versicherung gar nicht wird leisten können – wenig zu verlieren. Wer hingegen mit seinem Einkommen eine Familie und womöglich ein Häuschen im Grünen unterhalten muss, für den kann eine Berufsunfähigkeit leicht zur wirtschaftlichen Katastrophe werden.

Warum nicht? Für KünstlerInnen und Lehrkräfte ist es sehr schwer, überhaupt eine Versicherung zu finden, die sie versichert. Dies stellt der Versicherungsmakler Helge Kühl im Handelsblatt fest.1 Und falls es gelingt, eine Versicherung zu finden, sind die Kosten für diese Berufe exorbitant. Die Versicherer teilen die Berufe in verschiedene Risikoklassen ein. Diese Einteilung ist ausschließlich am Risiko der Versicherung, zahlen zu müssen, orientiert. So kommt es, dass Musiker ebenso wie Schornsteinfeger in die höchste Gefahrenklasse einge-


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Informationspaket Wer sich einen Überblick über die Möglichkeiten zur Absicherung gegen Berufsunfähigkeit verschaffen will, kann ein umfangreiches Informationspaket der Stiftung Warentest erwerben. Die fünf Euro für das Paket, das auch den Test aus Finanztest 7/13 enthält, sind gut angelegt. www.test.de/Themenpaket-Berufsunfaehigkeitsversicherung-AlleTests-und-Infos-4474292-0

Berufsgruppe 1

Berufsgruppe 2

Berufsgruppe 3

Berufsgruppe 4

Berufsgruppe 5

akademische Berufe ohne besondere Gefährdungen sowie Personen mit abgeschlossener Berufsausbildung, die im Inland mehr als 75 % im Büro arbeiten

einfache Büroarbeiten und teilweise körperliche, manuelle oder kreative Tätigkeiten ohne Gefährdungen

überwiegend körperliche Tätigkeiten ohne besondere Gefährdungen, etwa handwerkliche, pflegerische, künstlerische Berufe

Tätigkeiten, die zumeist körperliche oder manuelle Arbeit erfordern und besondere Belastungen oder Gefährdungen beinhalten

Beispiele: Altenpfleger, Chemielaborant, Heizungsmonteur, KfzMechaniker, Schreiner, Möbelpolsterer, Musiker (teils nur Erwerbsunfähigkeitsschutz), Polizist

Beispiele: Kokereiarbeiter, Fleischzerleger, Fußbodenleger, Schiffsschlosser, Straßenbauarbeiter, Schornsteinfeger, Künstler, Krankengymnast

gefahrvolle Tätigkeiten und Jobs in künstlerischen oder medialen Bereichen, bei denen die Berufsunfähigkeit nur schwer oder gar nicht überprüfbar ist

Prämienniveau: 250 %

Prämienniveau: 350 %

Beispiele: Apotheker, Architekt, Bankangestellter, Diplomfinanzwirt, Unternehmensberater, Steuerberater, Rechtsanwalt, Psychologe

Beispiele: Buchbinder, Einzelhandelskaufmann, Gartenbauingenieur, Lehrer (nur mit eingeschränkter Versicherungszeit), Uhrmacher, Zahntechniker, Sekretär, Drogerist, Techniker

Prämienniveau: 100 %

Prämienniveau: 180 %

Beispiele: Rennfahrer, Berufssportler, Gesangssolist, Fotomodell (teils Erwerbsunfähigkeitsschutz), Türsteher

nicht versicherbar

Was haben Jobs in künstlerischen Bereichen und Türsteher gemeinsam? Beide gelten vielen Versicherern bezüglich einer Berufsunfähigkeitsversicherung als nicht versicherbar. Quelle: www.verbraucherforum-info.de

stuft werden. Dies ist nicht durch die Gefahren des Musikerberufs begründet – Musiker pflegen nicht von Dächern zu fallen –, sondern der Tatsache geschuldet, dass Musiker bereits mit ganz geringen gesundheitlichen Problemen berufsunfähig werden können. Diese Probleme sind oft so gering, dass sie – siehe unser obiges Beispiel mit dem entzündeten Finger – nicht einmal ohne Weiteres zweifelsfrei diagnostiziert werden können. In Heft 7/2013 der Zeitschrift Finanztest wurden verschiedene Versicherungen anhand dreier Modellkunden getestet. Dabei wurden vor allem die Versicherungsbedingungen, die Qualität der Anträge und natürlich die Preise verglichen. Allerdings wurde nur in der niedrigsten Risikoklasse ein Vertrag ohne Einschränkungen untersucht; bereits dort kostet eine Absicherung, die eine monatliche Rente von 2 000 Euro erbringen würde, zwischen 1 000 und 2 000 Euro im Jahr. Für die höchste Risikoklasse wurden überhaupt keine Werte ermittelt. Für alle übrigen Risikoklassen wurden nur Verträge mit einer Einschränkung der Laufzeit bis zum 60. Lebensjahr getestet, um die Kosten in einem akzeptablen Rahmen zu halten. Eine später eintretende Berufsunfähigkeit wäre dann nicht mehr versichert.

Sehr jung, sehr gesund! Ein weiterer Kostenfaktor sind Alter und Gesundheitszustand. Im Idealfall sollte man seinen Vertrag bereits zu Beginn des Studiums abschließen. Da die Versicherungen zumindest bei den guten Tarifen

die Möglichkeit bieten, die Versicherungssumme auch nachträglich bis zu einem gewissen Grad ohne weitere Gesundheitsprüfungen zu erhöhen, ist ein so frühzeitiger Abschluss nicht so abwegig, wie es zunächst erscheinen mag, denn mit steigendem Eintrittsalter steigen auch die Beiträge enorm an. Auch der Gesundheitszustand spielt eine erhebliche Rolle dafür, ob überhaupt, mit welchen Einschränkungen und zu welchen Konditionen man einen Vertrag abschließen kann. Selbst triviale Erkrankungen wie Akne oder Heuschnupfen können zu Vertragseinschränkungen oder Risikozuschlägen führen. Bei gravierenderen Vorerkrankungen wie chronischer Bronchitis oder psychischen Erkrankungen ist sogar mit einer Ablehnung zu rechnen. Die Angaben zum Gesundheitszustand sind einer der kritischsten Bereiche beim Abschluss einer Versicherung. Den Anträgen sind umfangreiche Fragebögen zum Gesundheitszustand und zu Vorerkrankungen beigefügt. Oft sind diese Fragen so detailliert, dass sie ohne ärztliche Hilfe kaum ausgefüllt werden können. Es ist durchaus empfehlenswert, diesen Fragebogen mit den eigenen Ärzten durchzugehen. Denn die Versicherungen akzeptieren die eingereichten Fragebögen in der Regel ohne weitere Nachfragen. Erst wenn der Versicherungsfall eintritt, prüft die Versicherung sehr akribisch, ob die beim Vertragsabschluss gemachten Angaben absolut korrekt und vollständig waren. Es geht bei Berufsunfähigkeitsversicherungen schließlich um enorme Summen, die die Versicherungen bezahlen müssen.

Berufsunfähig! Wenn ein Versicherter z. B. mit 50 Jahren berufsunfähig wird und eine Rente von 2 000 Euro im Monat bekommt, dann kostet das die Versicherung bis zum Renteneintritt weit über 400 000 Euro. Da Versicherungen auch nach jahrelang hingezogenen Prozessen nicht mehr bezahlen müssen, als im Vertrag maximal vereinbart ist, häufig jedoch am Ende eines Prozesses ein für sie deutlich preiswerterer Vergleich steht, lohnt es sich für sie, jeden Anspruch erst einmal abzuweisen. Hingegen steht der Betroffene häufig ohne Einkommen und Unterstützung da, und die Zeit spielt den Versicherern in die Hände.2 Es muss sich also jeder Versicherte, der die Leistung im Fall einer Berufsunfähigkeit in Anspruch nehmen will, darauf einstellen, umfangreiche Auseinandersetzungen mit seiner Versicherung führen zu müssen, sofern er nicht gerade beide Arme und Beine eingebüßt hat. Solche Auseinandersetzungen können nicht nur langwierig und zermürbend sein – gerade in einer Zeit, in der man aufgrund der eingetretenen Berufsunfähigkeit ohnehin stark belastet ist –, sie können auch extrem kostspielig werden. Nicht selten werden zahlreiche Gutachter benötigt, und ohne Rechtsanwalt sind solche Auseinandersetzungen unmöglich zu führen. Für diesen Fall ist eine Rechtsschutzversicherung von enormer Bedeutung. Allerdings lauern auch hier wieder einige Tücken. Rechtsschutzversicherungen treten nicht für Streitigkeiten ein, deren Ursache vor Vertragsabschluss liegt. Dies kann zu


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Erfolg beim 72. Versuch „Wie mühselig die Suche nach einer Berufsunfähigkeitsversicherung sein kann, zeigt ein Beispiel, das letztlich aber von Erfolg gekrönt war. Ein Vater aus Hameln suchte für seinen 25-jährigen Sohn einen Vertrag. Der Sohn ist Musiker, spielt Trompete und Klavier, unterrichtet und arbeitet als freier Musiker. 72 Angebote forderte der engagierte Vater für seinen Sohn per Internet an. 71 Mal kam kein Angebot oder der Antrag wurde später abgewiesen. Erst der 72. Versicherer, Gerling, nahm den jungen Mann an. Statt 1 000 Euro monatlich bot Gerling zwar nur 750 Euro Rente an, aber mit Erhöhungsoption. Auf die gewünschte Vertragslaufzeit von 40 Jahren ließ sich aber auch Gerling nicht ein, bot aber immerhin 33 Jahre. Bei Ende der Vertragslaufzeit wird der Musiker 60 Jahre alt sein.“ Quelle: www.test.de/Berufsunfaehigkeitsversicherung-Viele-sehr-gute-Angebote-fuerwenige-1190550-2190643

Problemen führen, wenn die Rechtsschutzversicherung erst nach dem Abschluss der Berufsunfähigkeitsversicherung erfolgt, denn in diesem Fall gilt in der Regel der Abschluss der Berufsunfähigkeitsversicherung als „schadenauslösendes Ereignis“. Auch bei einem Wechsel der Rechtsschutzversicherung kann es zu Problemen kommen, zumindest, wenn der Wechsel nicht nahtlos erfolgt.

nichts nützt. Auch andere Versicherungen wie Erwerbsunfähigkeitsversicherungen, die im Prinzip ähnlich wie die Erwerbsminderungsrente funktionieren, können nicht als Ersatz für eine vollwertige Versicherung gegen Berufsunfähigkeit betrachtet werden.

Alternativen

Eigentlich ist eine Berufsunfähigkeitsversicherung eine der wenigen Versicherungen, die jeder haben sollte. „Wer jünger als 52 Jahre ist, sollte sich unbedingt privat schützen. Das empfehlen Verbraucherschützer, Versicherungsberater und Politiker in ungewohnter Einigkeit.“4 Leider ist die Realität alles andere als befriedigend. Die Versicherer verkaufen eifrig Versicherungen gegen Berufsunfähigkeit, aber diejenigen, die diese Versicherungen am dringendsten benötigen, bleiben außen vor; entweder sie bekommen gar keinen Vertrag oder die Versicherung ist so teuer, dass sie nicht finanzierbar ist. Und der Eintritt des Versicherungsfalls stellt die Versicherten erst recht vor enorme bis unüberwindbare Schwierigkeiten. Hier wäre die Politik gefordert, einen Ersatz für die abgeschaffte Berufsunfähigkeitsrente zu schaffen, denn offensichtlich ist die private Versicherungswirtschaft nicht willens und in der Lage, eine faire und für alle bezahlbare Absicherung gegen eines der ganz großen Risiken zu schaffen – es wird geschätzt, dass ca. 40 Prozent der heute 20-Jährigen irgendwann einmal in ihrem Berufsleben berufsunfähig werden.5

Wer sich keine „richtige“ Berufsunfähigkeitsversicherung leisten kann, sucht eventuell eine preiswertere Alternative. Allerdings sind diese Alternativen in den seltensten Fällen ein wirklich guter Ersatz für eine gute Berufsunfähigkeitsversicherung. Bereits die Begrenzung der Laufzeit stellt ein nicht unerhebliches Risiko dar. Noch problematischer ist die gerne als Alternative angebotene Unfallversicherung mit spezieller Gliedertaxe. Solche Versicherungen zahlen im Falle eines Unfalls mit bleibenden Schäden einen vorher festgelegten Betrag zur Abfederung der Unfallfolgen. Für MusikerInnen gibt es dabei spezielle „Gliedertaxen“, die z. B. bereits beim Verlust eines einzigen Fingergliedes die volle Entschädigung zahlen. Allerdings ist der Nutzen einer solchen Versicherung relativ gering angesichts der Tatsache, dass laut einer Untersuchung des Analysehauses Morgen & Morgen nur ca. 10 Prozent der Fälle von Berufsunfähigkeit durch einen Unfall versursacht werden.3 Das bedeutet umgekehrt, dass in 90 Prozent der Fälle von Berufsunfähigkeit eine Unfallversicherung

Eigentlich wünschenswert, aber …

Wer sich trotz aller Probleme mit dem Thema befassen möchte, der sollte sich auf alle Fälle mit dem Informationspaket der Stiftung Warentest befassen (siehe Kasten), auch wenn der Test der Berufsunfähigkeitsversicherungen naturgemäß unvollständig ist. So werden nur der Vertragsabschluss und die Bedingungen getestet – wie sich die Unternehmen hingegen im Schadensfall verhalten, bleibt ungewiss. Im Zweifelsfall sollte man sich bereits im Vorfeld und bei der Suche einer Versicherung qualifizierte und unabhängige Hilfe suchen, z. B. bei Verbraucherberatungen oder einem unabhängigen Versicherungsmakler, der nicht auf Provisionsbasis, sondern gegen Honorar arbeitet. ))

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www.handelsblatt.com/finanzen/vorsorgeversicherung/nachrichten/berufsunfaehigkeitsversicherung-warum-so-wenige-bu-versicherungenbekommen/8681716-4.html 2 Diese Verfahrensweise wird sehr anschaulich beschrieben unter: www.handelsblatt.com/finanzen/vorsorge-versicherung/nachrichten/berufsunfaehigkeit-wie-versicherer-invalide-abweisen/ 8809594.html 3 „Deutlich mehr Leistungsfälle in der Berufsunfähigkeit – Versichererkompetenz ist entscheidend (18.04.2013)“; www.morgenundmorgen.com/ pressenews/pressemitteilungen 4 www.handelsblatt.com/finanzen/vorsorgeversicherung/nachrichten/berufsunfaehigkeitsversicherung-ueberschaetzt-teuer-oder-wertlos/ 8681716.html 5 ebd.

Jürgen Simon ist Cellist im Brandenburgischen Staatsorchester Frankfurt (Oder).


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Wie viel Geld kann ich verlangen?

Reinhild Spiekermann

Unterrichtsvertrag und finanzielle Organisation für selbstständige Instrumentalpädagogen Im Dezember 2013 begann unsere Artikelserie zur Selbstständigkeit von InstrumentalpädagogInnen mit dem Basisartikel „Ich mache mich selbstständig – aber wie?“ Im Februar wurden unter der Überschrift „Professionell von Anfang an“ die Bereiche Management und Organisation erläutert. Im dritten Teil geht es um vertragliche und finanzielle Aspekte.

)) „Musikunterricht für jedes Alter in Ihrem Wohnzimmer. Klavier, Akkordeon, Gitarre. Keine Verträge.“ – Seit geraumer Zeit stolpere ich über diese regelmäßig im örtlichen Kleinanzeiger geschaltete Annonce. Der Inserent wirbt mit Vertragsfreiheit, was dem Kunden höchstmögliche Freiheit suggeriert und dem Inserenten einen Status zuweist, der dem des Musiklehrers im 19. Jahrhundert ähnelt: „ein Miethling“, dem man „abdanken“ kann zu jeder Stunde.1 Wem dient diese (vermeintliche) Freiheit? Sollte sich der Instrumentallehrer als Freiwild verstehen? – Wer seinen Beruf professionell ausüben will (das heißt mit der Intention, davon zu leben!), der muss sich professionell aufstellen. Kurzum: Dreh- und Angelpunkt einer professionellen Lehrtätigkeit ist ein Unterrichtsvertrag, der die wichtigsten Punkte zwischen Lehrkraft und Schülern/Eltern regelt. Auch wenn mündliche Vereinbarungen rechtlich wirksam sind, lassen sich im Streitfall schwerlich Nachweise erbringen, was vereinbart wurde. Sinnvoll ist es, auf Musterverträge zurückzugreifen. Solche stellt die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di bereit (http://musik.verdi.de/ musikschulen/freiberuflich/mustervertraege). Bei Mitgliedschaft im Deutschen Tonkünstlerverband DTKV (www.dtkv.org) kann man über den jeweiligen Landesverband gegen eine geringe Gebühr Verträge bekommen.2 In beiden Fällen ist man z. B. bei veränderter Rechtssprechung auf der sicheren Seite, da diese Verträge entsprechend modifiziert werden. Wer einen individuellen Vertrag erstellen möchte, sollte diesen rechtlich prüfen lassen.

Vertragsinhalte Beide genannten Varianten an Musterverträgen ähneln sich in ihren Grundzügen. Folgende Aspekte werden geregelt: ) Personalien der Vertragspartner ) Unterrichtsfach, -form, -ort und -dauer je Einheit ) Vertragsbeginn und Laufzeit („auf unbestimmte Dauer“ oder „befristet auf ein Unterrichtshalbjahr“ mit automatischer Verlängerung bei Nichtkündigung) ) Kündigungsmodalitäten (da der Gesetzgeber nur sehr kurze Kündigungsfristen als Mindestfristen vorsieht, ist es ratsam, längere Fristen zu vereinbaren, also z. B. „sechs Wochen zum Quartalsende“) ) Probezeit (ist für beide Vertragsseiten sinnvoll; innerhalb der Probezeit kann mit Wochenfrist gekündigt werden) ) Ferienregelung ) Honorar und seine Fälligkeit (üblich ist inzwischen, von einem Jahres- oder Halbjahreshonorar auszugehen, das in zwölf bzw. sechs gleichen Raten zu zahlen ist, fällig z. B. am 1., 10. oder 15. eines Monats) ) Zahlweise (bar, Dauerauftrag oder Lastschrift, zum SEPA-Verfahren siehe musikschule )) DIREKT 1/2014, S. 5; an dieser Stelle des Vertrags werden auch die Bankdaten der Zahlungspflichtigen erfasst) ) Unterrichtsausfall (sicherlich der schwierigste Punkt: beide Musterverträge gehen von einer Honorarfortzahlung von sechs Wochen im Krankheitsfall aus, was erfahrungsgemäß bei vielen Zahlungspflichtigen auf Widerstand stößt; auch wird hier geregelt, wie mit kurzfristigen Absagen oder Unterrichtsverlegungen umzugehen ist)

) Möglichkeiten und Modi einer Honorarerhöhung („nach billigem Ermessen“, das heißt man hat einen Gestaltungsspielraum innerhalb der Grenzen einer angemessenen und gerechten Preisfindung) ) Regelung bei ansteckenden Krankheiten (der Schüler hat sich zu verpflichten, zu Hause zu bleiben, wenn er so krank ist, dass er den Lehrer anstecken könnte). Die DTKV-Verträge verlangen darüber hinaus vom Schüler, dass er eine Erlaubnis einholt, wenn er bei Veranstaltungen Dritter öffentlich auftritt. Außerdem wird vom Schüler regelmäßiger Unterrichtsbesuch verlangt bei angemessenem Übepensum. Sinnvoll ist, wie es beispielsweise der Landesverband Bayern im DTKV vorsieht, eine Unterschriftszeile, in der sich Schüler und Erziehungsberechtigte dazu bereit erklären, Ton- und/oder Bildaufnahmen und ihre Nutzung z. B. für Imagebroschüren oder im Internet zu gestatten. Dies spart viel Arbeit, müsste man sonst doch jeweils direkt vor einzelnen Veranstaltungen Einverständniserklärungen einholen. Der Mustervertrag von ver.di ist insgesamt knapper gehalten und verweist auf „umseitig abgedruckte“ AGB als allgemeine Unterrichtsbedingungen. Diese Zweiteilung findet sich in der Praxis häufig, werden so doch regelmäßig wiederkehrende Bedingungen auf eine zweite Seite „ausgegliedert“ zugunsten eines kürzeren Vertragstextes. Die Verträge des Tonkünstlerverbands sind entsprechend länger und etwas detaillierter. Grundsätzlich gilt: Alle Vertragsdetails mit dem angehenden Vertragspartner gründlich durchsprechen und gegebenenfalls erläutern!


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Literatur Goetz Buchholz: Der Ratgeber Selbstständige, mediafon, Berlin 2011

© pyotr_123RF Stock Foto

Stefan Lindemann: Marketing und Management für Musikpädagogen, Bosse, Kassel 2002 (Neuauflage geplant für Juli 2014) Michael Roske: „Umrisse einer Sozialgeschichte der Instrumentalpädagogik“, in: Chr. Richter (Hg.): Instrumental- und Vokalpädagogik 1: Grundlagen, Bärenreiter, Kassel 1993

Geschäfts- und Privatkonto Wie organisiere ich meine beruflichen finanziellen Angelegenheiten? Steuerberater empfehlen, von Anfang an zusätzlich zum privaten Girokonto ein Geschäftskonto zu eröffnen, um privaten und beruflichen Geldverkehr getrennt zu verwalten. Allein wegen der Aufbewahrungspflicht von betrieblichen Belegen von derzeit zehn Jahren ist das sinnvoll. Goetz Buchholz empfiehlt in seinem Ratgeber Selbstständige, sich jedoch genau zu überlegen, in welchem Umfang voraussichtlich Buchungen erfolgen werden, denn ein zusätzliches Geschäftskonto kostet Geld: eine Grundgebühr von einigen Euro monatlich zuzüglich Beträge für jede Einzelbuchung. In den Geschäftsbedingungen von Geldinstituten finden sich häufig Regelungen, die die gewerbliche Nutzung eines privaten Girokontos untersagen. Da die Instrumentallehrkraft als Solo-Selbstständige aber kein Gewerbe treibt, könnte es ein Gespräch mit der Hausbank wert sein, ob man für freiberufliche Einnahmen nicht ein zweites Girokonto eröffnet und den Geldverkehr im Rahmen einer Monatspauschale abwickelt. Sollte es sich um eine überschaubare Anzahl an Buchungen handeln, kann man auch das vorhandene Privatgirokonto nutzen. Das Finanzamt interessiert lediglich eine nachvollziehbare, geordnete Darlegung von Betriebseinnahmen und -ausgaben, also eine sogenannte EinnahmenÜberschuss-Rechnung, die man durchaus anhand des eigenen Girokontos erstellen kann. Ob das Finanzamt aber damit auch erfahren soll, was und in welchen Geschäften ich per EC-Karte kaufe oder in welchen Abständen ich Bargeld in welcher Höhe abhebe, das muss jeder für sich entscheiden. Wichtig ist nur, eine lückenlose,

zeitlich und inhaltlich geordnete Aufzeichnung (mit Belegen) aller Geschäftsvorfälle anzulegen. Wie verwalte ich die Zahlungen von SchülerInnen? Mehrere Versionen sind denkbar: Nutze ich ein Geschäftskonto meiner Hausbank, kann ich über deren Software (Abo-Verfahren) im Rahmen von OnlineBanking alles abwickeln, auch Lastschrifteinzüge. Alternativ kann ich eine einfache Buchhaltungssoftware benutzen (z. B. die auch vom Finanzamt empfohlene Freeware Easy Cash & Tax für Windows, www.easyct.de), die über ein ELSTER-Plugin direkt in das elektronische Steuererklärungssystem des Finanzamts (ELSTER, www.elster.de) eingegeben werden kann. Hiermit ist allerdings kein Lastschriftverfahren möglich. Oder ich ordne berufliche Ein- und Ausgaben direkt einem von mir individuell gestalteten Tabellenprogramm zu (z. B. als Excel-Tabelle) und übertrage die relevanten Daten von Hand in mein ELSTERFormular.3 Abzuwarten bleibt, inwieweit „Elster in die Wolke fliegt“ und sich mit einem Smartphone relevante Belege abfotografieren lassen, um dann per App in einer ElsterBox der ElsterCloud ein unkörperliches, digitales Dasein zu fristen.4 Nostalgiker greifen aber auch immer noch auf die „Zwei-Schuhkarton-Variante“ zurück, die einmal im Jahr das große Sortieren, Abheften und In-digitale-Daten-Verwandeln verursacht und gleich dem Frühjahrsputz kathartische Wirkung zeigen kann.

Kalkulation der Honorare Zuletzt: Wie kalkuliere ich meine Honorare? Wie viel Geld kann ich für welche Unterrichtsleistung verlangen? Vielleicht die schwierigste Frage, auf die keine allgemein gültige Antwort gegeben werden kann,

hängt dies doch von vielen Faktoren ab.5 Zu empfehlen ist eine gründliche Recherche der Situation vor Ort (Preisstruktur von Privatanbietern, Musikschulen, sonstigen Bildungseinrichtungen, unter Umständen auch vom Musikalienhandel). Anhaltspunkte bieten weiterhin Honorarumfragen, wie sie die Regionalverbände des DTKV unternehmen, oder auch eine umfassende Datenbank der mediafon mit Beispielhonoraren aus unterschiedlichsten freien Berufen (www.mediafon.net > Honorare/ Verträge > Honorarumfrage Solo-Selbstständige, als Stichwort Musikschule, Instrumentallehrer oder Musiklehrer eingeben). Bei mediafon findet sich mit Stand vom Januar 2013 auch eine Vergleichsrechnung, was freie Instrumentallehrkräfte verdienen müssten, wenn sie einem Angestellten im TVöD gleichgestellt wären (www.mediafon.net > Honorare/Verträge > Honorarumfrage für alle Branchen > Musikschulen: Honorar- und Gehaltstabellen). ))

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Michael Roske: „Umrisse einer Sozialgeschichte der Instrumentalpädagogik“, in: Christoph Richter (Hg.): Instrumental- und Vokalpädagogik 1: Grundlagen (= Handbuch der Musikpädagogik, Bd. 2), Kassel 1993, S. 158-196, hier: S. 176. 2 Wer eine private Musikschule gründen möchte: musikschule intern bietet zum Preis von 100 Euro (zzgl. MwSt.) derzeit zwei Musterverträge an: Freier-Mitarbeiter-Vertrag für Honorarkräfte bzw. Unterrichtsvertrag für Schüler, www.musikschuleintern.de/?page_id=220 3 Selbstständige müssen ELSTER benutzen, Papierformulare sind für sie nicht mehr zugelassen. 4 vgl. z. B. www.mgm-tp.com/oeffentlicheauftraggeber/kompetenzbereiche/elsterbox 5 vgl. Stefan Lindemann: Marketing und Management für Musikpädagogen, Kassel 2002, S. 46-55.

Reinhild Spiekermann ist Studiengangsleiterin für instrumentalpädagogische Studiengänge an der Hochschule für Musik Detmold.


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musikschule )) DIREKT 2.2014

Ein internationales Konzept erobert Deutschland

Community Music

)) Es gibt viele Arten, Musik zu machen. Ob in einem Gefängnischor, in einer Früherziehungsgruppe, in einer Samba-Band von Behinderten und Nicht-Behinderten, in einer Rockband im Altenheim oder einfach mit Freunden jammen – alle verbindet die Freude an der Musik und an der gemeinsamen musikalischen Erfahrung. Es spielt keine Rolle, ob die Musik gut klingt; ob die Beteiligten Notenlesen können; ob sie musikalisch „begabt“ sind, „normal“ oder verhaltensauffällig; ob sie Klassik, Rock oder World Music spielen. Das einzige, was zählt, ist, dass die Beteiligten Spaß haben, sich persönlich und musikalisch ausdrücken und entwickeln können, sich als Teil einer Gemeinschaft erfahren. Dann sind sie Teil von Community Music.

Eine Annäherung Community Music ist eines der international erfolgreichsten musikpädagogischen Konzepte der vergangenen Jahre, das nun auch in Deutschland bekannter wird.1 Im England der 1960er Jahre als Teil der Alternativkultur des Community Arts Movements entstanden, das sozial Benachteiligten Zugang zu Kultur ermöglichen wollte, ist Community Music seit fast 20 Jahren ein wichtiges Konzept in der internationalen Musikpädagogik. Was hat Community Music so populär gemacht? Sicher die pädagogischen Ideale: Inklusion, kulturelle Teilhabe und soziale Gerechtigkeit. Im Mittelpunkt von Community Music steht die Idee, jedem Menschen Zugang zu Musik zu ermöglichen. Die individuellen Interessen und Möglichkeiten sind Ausgangs-

Alexandra Kertz-Welzel

punkt für musikalische Aktivitäten. Es geht nicht um Perfektion, sondern um Spaß am Musikmachen. Es geht auch um eine musikalische Gemeinschaft, als deren Teil man sich erfährt und in der man sich musikalisch und persönlich weiterentwickeln kann. Wie kann Community Music diese Ideale verwirklichen? Durch Improvisation, leicht spielbare Musik und Lernen durch Hören bzw. Imitation. Musikalische Vielfalt ist wichtig, gleichgültig, ob Popsongs oder Samba gespielt werden. Die Gemeinschaft stützt den Einzelnen. Jeder beteiligt sich so am Musikmachen, wie es seine momentanen Fähigkeiten erlauben. Lehrerin oder Ensembleleiter haben nur eine vermittelnde Aufgabe, als Facilitator oder Coach. Jeder kann irgendwann selbst diese Rolle übernehmen, wenn er entsprechende Fähigkeiten hat.

Ein Konzept und seine Ideen Die Ideen von Community Music sind doch nicht neu, oder? Stimmt, sie waren alle schon mal da. Und trotzdem: Die spezifische Kombination von Prinzipien, Methoden und Zielen ist sicherlich etwas Neues. Deshalb noch einmal ein genauerer Blick auf das, was Community Music kennzeichnet: ) Inklusion: Jeder ist willkommen, darf Musik machen, Teil eines Ensembles sein. Es sind keine Vorkenntnisse, besonderen Begabungen oder Fähigkeiten erforderlich (hospitality, inclusion). ) Kulturelle Teilhabe: Jedem Menschen soll ein Zugang zu Musik ermöglicht werden, unabhängig von seinen finanziellen

Möglichkeiten und seinem kulturellen oder ethnischen Hintergrund ( participation). ) Soziale Gerechtigkeit: Wenn alle Menschen, die wollen, gemeinsam Musik machen, wird musikalisch Teilhabegerechtigkeit verwirklicht. Community Music will versuchen, die Gesellschaft zu verändern. Musik hat für Community Music auch politische Dimensionen. Durch Konzerte mit Musik unterschiedlicher Kulturen kann z. B. auf die Situation einzelner Migrantengruppen aufmerksam gemacht werden. Die Integration von älteren Menschen oder Behinderten in Ensembles kann gesamtgesellschaftliche Möglichkeiten aufzeigen. Besetzung oder Repertoire von Ensembles können auf die Gesellschaftsstruktur in bestimmten Stadtteilen hinweisen und durch inklusive Aktivitäten Diskriminierung überwinden helfen (social justice). ) Persönlichkeitsentwicklung: Musikmachen dient nicht nur dem Erwerb musikalischer Kompetenzen, sondern auch dem persönlichen Wachstum. Selbstwirksamkeit als Teil eines Ensembles oder im individuellen Musizieren zu erfahren, ist wichtig ( personal growth). ) Musikalisierung der Gesellschaft: Jeder verfügt grundsätzlich über musikalische Fähigkeiten. Sie werden aber oft nicht entwickelt. Musik und Musikmachen sollen wieder ein natürlicher Teil des individuellen und gesellschaftlichen Lebens sein (cultural democracy). Community Music ist in manchem den Idealen des Laienmusizierens nicht unähnlich, auch Elementarer Musikpädagogik (EMP) verwandt. Die Musikethnologie hatte ebenfalls Einfluss auf Community


© Monika Rittershaus

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Gutes Beispiel für Community Music Im Herbst 2013 startete das EducationProjekt „Vokalhelden“ der Berliner Philharmoniker, das langfristig Lebensräume für das Singen und das gemeinsame Musikmachen schaffen möchte. In verschiedenen Stadtteilen Berlins wurden und werden weiterhin Standorte für die ChorProben der „Vokalhelden“ eröffnet. Mit diesem Projekt sollen Kooperationen und nachbarschaftliches Miteinander sowie der Bereich der kulturellen Bildung und Chancengleichheit gefördert werden.

Recken und strecken: Chordirigent Simon Halsey, umgeben von vielen „Vokalhelden“

Music. Es geht bei Community Music vor allem um elementare Formen des Musizierens: Improvisation, vereinfachte Fassungen von Musik verschiedener Kulturen (z. B. Samba), unproblematische Arrangements von Pop- oder Folksongs usw., die die Teilhabe aller und eine Differenzierung nach verschiedenen Leistungsniveaus ermöglichen. Informelles Lernen, Lernen durch Hören bzw. Imitation und gegebenenfalls ein Verzicht auf Notenschrift unterstützen dies. Der Lehrer agiert nicht als allwissender Experte, sondern als Vermittler und Lernpartner. Jeder kann irgendwann diese Rolle übernehmen. Ebenfalls wichtig für Community Music: Konzerte bzw. Auftritte. Man will Teil des kulturellen Lebens z. B. eines Stadtteils sein und es beeinflussen.

Internationale Community Music Die Faszination von Community Music in der internationalen Musikpädagogik hat verschiedene Gründe. Ein Grund mag die übertriebene Leistungsorientierung in manchen Ländern sein. In der amerikanischen Schulband- und Schulorchesterkultur geht es z. B. vor allem um Perfektion. Leistungsschwache SchülerInnen sind in vielen Ensembles nicht willkommen. Auch im Instrumental- oder Gesangsunterricht, z. B. in China, stehen die Vorbereitung auf erfolgreiche Wettbewerbsteilnahmen oder Aufnahmeprüfungen im Vordergrund. Wenn es nur um musikalische Spitzenleistungen geht, werden ästhetische, therapeutische oder soziale As-

pekte von Musik oft ausgeblendet. Community Music bietet hier ein Alternativkonzept. Lee Higgins, englischer Community Musician und Professor für Musikpädagogik, nennt in seinem Buch Community Music in Theory and Practice (2012) einige typische Beispiele für Community Music: Nachmittagsprogramme für ukrainische Jugendliche, die nach der Schule durch Musikunterricht, Tanzangebote oder Theaterproben vor einem Abrutschen ins kriminelle Milieu geschützt werden sollen; Ensembles für verhaltensauffällige Kinder in Schulen im israelischen Haifa; Trommelgruppen in Schottland für Menschen mit psychischen Problemen, die in ihren Aktivitäten unterschiedliche Phasen durchlaufen (von Kleingruppen-Sessions in Klinikräumen und unter Aufsicht von Mitarbeitern über das Musikmachen in von allen besuchten Klinikräumen bis hin zur Öffnung der Gruppe für neue Mitglieder und neue Orte des Musikmachens); ein Theaterprojekt in Liverpool, bei dem Jugendliche aus Müll Instrumente herstellen und damit musizieren; Bands oder Orchester in brasilianischen Dörfern, bei denen alle mitmachen dürfen; multiethnische Jugendfestivals in Mazedonien; sozial benachteiligte Kinder in Australien erstellen mit Hilfe der Software jam2jam eigene Kompositionen; per Skype werden, von einer amerikanischen Universität aus koordiniert, behinderte und nicht-behinderte Musiker weltweit unterrichtet und musizieren gemeinsam; Workshops für Songwriting, Rap oder Trommeln in englischen Jugendzentren.

Community Music vollzieht sich aber nicht nur in Gruppen oder Ensembles. Auch Einzelunterricht kann von Prinzipien oder Methoden von Community Music geprägt sein. Eine Schülerin kann mit ihrer Lehrerin ihre Fähigkeiten in einer bestimmten Art der Improvisation oder einem bestimmten musikalischen Genre verbessern. Vielleicht will sie später in ihrem Ensemble mehr Verantwortung übernehmen. Ein klarer Gesellschafts- oder Gemeinschaftsbezug des Musikmachens ist auch typisch für Community Music. Keine Frage, die als Community Music beschriebenen musikalischen Aktivitäten sind faszinierend. Sie zeigen auf, was Musik bewirken kann. Allerdings wird auch klar, dass Community Music nicht unproblematisch ist. Das wird in der internationalen Musikpädagogik oft übersehen. Musikalische Professionalisierung und systematischer Kompetenzerwerb spielen bei Community Music oft nur eine untergeordnete Rolle. Naive Vorstellungen von der persönlichkeitsverändernden Macht der Musik scheinen einem kritischen Betrachter manchmal wirklichkeitsfremd. Die heilende Wirkung des musikalischen Gemeinschaftserlebnisses ist auch nicht unproblematisch. Und trotzdem: Community Music ist ein interessantes Konzept für Deutschland.

Warum Community Music in Deutschland? Natürlich gibt es Community Music schon in Deutschland.2 Es gibt Ensembles, in denen Behinderte und Nicht-Behinderte ge-


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musikschule )) DIREKT 2.2014

Community Music – die berufliche Realität Community Musicians arbeiten in unterschiedlichen Bereichen: Musikschulen, Kulturzentren, Ganztagsschulen, Theaterinitiativen, Volkshochschulen, Jugendzentren, Heimen etc. Sie arbeiten mit Kleinkindern, älteren Menschen, Jugendlichen, Erwachsenen, Behinderten, sozial Benachteiligten. Sie veranstalten Workshops, Proben, Konzerte, Festivals. Sie gründen und leiten Ensembles, unterrichten und vermitteln Musik. Sie sind in der freien Projektarbeit tätig, werden aber auch von Kulturreferaten, Musikschulen oder Stiftungen bezahlt. Community Musicians verbinden Instrumentalpädagogik, soziale Arbeit, Musiktherapie und Kulturmanagement. Community Musicians werben Gelder ein, überzeugen Verantwortliche von ihren Visionen, wollen das kulturelle Leben von Stadtteilen verändern. Dazu brauchen Community Musicians Mut, Durchhaltevermögen und Kompetenzen in verschiedenen Bereichen. Ein Student der Community Music muss z. B. an der University of Chichester (England) folgende Module belegen: World Music, Improvisation and Composition, Outreach, Advanced Improvisation and Composition. Ein Community Musician muss musikalisch vor allem in Improvisation gut sein, aber auch mit Menschen umgehen und sie motivieren können („Outreach“). Besonderer Wert wird auch auf Fähigkeiten im Projektmanagement gelegt. Community Musicians sind Musiker, Manager und Pädagogen. Wenn sie ihre Arbeit gut machen, können sie vielen Menschen helfen und die Gesellschaft verändern.

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meinsam Musik machen. Es gibt Sozialarbeiter, die mit straffällig gewordenen Jugendlichen musikpädagogisch arbeiten. Und es gibt Musiktherapeutinnen, die mit verhaltensauffälligen Kindern in Schulen Trommelworkshops gestalten. Und doch: Das musikpädagogische Konzept Community Music fehlt. Es fehlen oft musikpädagogische Prinzipien und Methoden, um Inklusion, soziale Gerechtigkeit und kulturelle Teilhabe in Instrumentalunterricht und Ensembles zu verwirklichen. Community Music bietet dies. Durch musikalische und methodische Vielfalt wird Menschen aller gesellschaftlichen Schichten und Begabungsvarianten ein Zugang zu Musik ermöglicht.3 Community Music verbindet Musikpädagogen, Musiktherapeuten, Sozialarbeiterinnen und Instrumentallehrer durch gemeinsame Ziele und Methoden. Wer sich um die Ideale von Community Music bemüht, wird zum Community Musician.4 Um Community Music als musikpädagogisches Konzept in Deutschland zu etablieren, wurde im Februar 2013 an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München im Rahmen eines internationalen Symposiums5 das Munich Community Music Center (MCMC)6 gegründet. Das MCMC versteht sich als Vermittler und Koordinator zwischen internationaler und deutscher Community Music. Durch Forschungsprojekte soll das internationale Konzept Community Music in einer für Deutschland sinnvollen Weise weiterent-

wickelt werden. Das geschieht auf theoretisch-konzeptioneller Ebene genauso wie auf praktischer Ebene, z. B. durch Abschlussarbeiten von Studierenden zu verschiedenen Community-Music-Projekten. Das MCMC arbeitet zudem im Bereich Networking an einer deutschlandweiten Datenbank zu Community-Music-Aktivitäten, um die entsprechenden Projekte miteinander zu vernetzen und ihnen die Verbindung zu internationaler Community Music zu ermöglichen. Im Hinblick auf die Praxis bietet das MCMC Auftrittsmöglichkeiten und unterstützt bei Projekten. Zudem finden am MCMC Fortbildungen statt, in deren Mittelpunkt das Konzept Community Music steht. Community Music bietet neue musikpädagogische Perspektiven.7 In einem Ensemble, in dem Behinderte und Nicht-Behinderte zusammenspielen, sich ältere und jüngere Menschen treffen, wird ein Ideal von Inklusion und Teilhabe praktiziert, das gesamtgesellschaftlich erst noch Realität werden muss. Wenn jeder Musikmachen und persönliche Ziele erreichen kann, verändert dies etwas. Musikmachen im Sinne von Community Music hat gesellschaftliche Relevanz. Um Community Music in Deutschland etablieren zu können, ist die Mithilfe jeder einzelnen Musikpädagogin, jedes einzelnen Musikpädagogen notwendig, die es wagen, vielleicht ungewohnte Wege zu gehen und sich mit Community Musicians auf der ganzen Welt verbunden zu fühlen. ))

musikschule )) DIREKT erscheint

Redaktion: Anja Bossen und Rüdiger Behschnitt Layout: Rüdiger Behschnitt Grafik: Nele Engler

alle zwei Monate als Supplement zu üben & musizieren

Allgemeine Informationen zu Community Music sind hier zu finden: www.communitymusic. musikpaedagogik.uni-muenchen.de/index.html 2 Alexandra Kertz-Welzel: „Internationalizing and localizing: Shaping community music in Germany“, in: International Journal of Community Music 6, Nr. 3 (2013), S. 263-272. 3 Informationen zu Methoden der Improvisation und Community Music sind hier zu finden: Lee Higgins/Patricia Shehan Campbell: Free to be musical. Group improvisation in music, Lanham 2010. 4 Es gibt auch Studiengänge für Community Music, z. B. am Liverpool Institute for Performing Arts, www.lipa.ac.uk/index.aspx 5 Videos der Präsentationen des Community Music Symposiums 2013 unter http://videoonline.edu. lmu.de/de/sommersemester-2013/4488 6 Website des Munich Community Music Center: www.musikpaedagogik.uni-muenchen.de/ mcmc_deutsch/index.html 7 weitere Informationen zu Community Music in einem Beitrag der neuen musikzeitung unter www.nmz.de/artikel/gegenentwurf-zur-hochkultur

Alexandra Kertz-Welzel ist Professorin für Musikpädagogik an der LudwigMaximilians-Universität in München. Sie ist seit mehr als 20 Jahren als Klavierpädagogin tätig und unterrichtete in Deutschland und in den USA.


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