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Samstag, 7. Dezember 2019
Magazin «Wer CO2 in die Atmosphäre entlässt, soll dafür zahlen» Klima Der Berner Jürgen Schulz (50) berät Unternehmen in der ganzen Schweiz zum Thema Nachhaltigkeit.
Er glaubt, dass der Kapitalismus in der Klimakrise die Rettung sein kann. Mirjam Comtesse
Herr Schulz, kürzlich habe ich in dieser Zeitung über den gescheiterten Versuch geschrieben, möglichst klimaschonend zu leben. Sie finden, ich habe es falsch angepackt. Wieso? Ich glaube, Sie sind sehr repräsentativ. In meinem Umfeld erlebe ich viele Leute, die einen Beitrag leisten möchten zum Klimaschutz. Doch dann merken sie, dass es schwierig ist. Sie resignieren. Aber wenn man so schnell aufgibt, bringt aller gute Wille nichts. Was schlagen Sie vor? Man muss sich an den grossen Hebeln orientieren. Welches sind die grossen Hebel? In der Schweiz ist die Mobilität für rund ein Drittel des CO2-Ausstosses verantwortlich, Wohnen für ein Viertel, Ernährung für ein Fünftel, und den Rest machen vor allem neue Anschaffungen aus. Das sind die grossen Hebel. Reden wir über Mobilität: Fliegen ist absolut tabu, nehme ich an? Nein, das sehe ich nicht so. Wir Schweizer fliegen zwar rund doppelt so viel wie Franzosen oder Deutsche, aber wenn man es in einem vernünftigen, überlegten Rahmen tut, kann man ab und zu in die Ferien fliegen. Das macht auf die gesamte Klima bilanz nicht so viel aus. Moment. Fliegen ist gar nicht so schlimm? Man kann Flüge auch kompensieren. Das ist zwar keine direkte Lösung für das Klimaproblem, aber es sensibilisiert zumindest den Markt. Heute können die Airlines sagen: «Nur 3 von 100 Kunden kompensieren in der Schweiz ihre Flüge. Es gibt also gar kein Bedürfnis danach.» Es ist sehr wichtig, hier ein Signal zu setzen – auch an die Politik. Allgemein würde ich sagen: Eine Familie soll Ferienorte auswählen, die mit dem Zug erreichbar sind, und – falls sie es nicht jedes Jahr macht – auch mal in den Flieger steigen. Bleiben wir beim Thema Mobilität: Was macht jemand, der in einem Dorf ohne guten Anschluss an den öffentlichen Verkehr lebt, und zur Arbeit pendeln muss? Es ist natürlich wichtig, dass man nach Möglichkeit strategisch plant, wo man wohnt und arbeitet. Ich glaube allerdings, dass wir in zehn bis zwanzig Jahren gar nicht mehr gross über das Auto als CO2-Schleuder sprechen werden. Wieso? Weil sich die Technologie weiterentwickeln wird. Aber man kann schon heute einen Beitrag leisten: Vielleicht legt man sich ein E-Bike zu, um zur Arbeit zu gelangen. Falls es regnet, nimmt man dann halt ausnahmsweise doch das Auto. Wir müssen davon wegkommen, auf die perfek-
«Wir müssen davon wegkommen, auf die perfekte Lösung zu warten», sagt Jürgen Schulz in seinem Büro in der Stadt Bern.
te Lösung zu warten. Es geht nicht um Alles oder Nichts. Kleine Schritte sind besser als gar keine. Welche Schritte empfehlen Sie beim Wohnen? Man soll Strom aus erneuerbaren Energien beziehen. Eine E-Mail an den Energie-Anbieter reicht, um das entsprechend zu ändern – Sie haben dies in Ihrem Artikel irrtümlich als zu kom pliziert bezeichnet. Wenn alle das tun würden, könnten wir Strom aus fossilen Quellen ausschliessen. Und wie ernährt man sich klimaschonend? Die Faustregel ist: Je weniger Fleisch, desto besser. Falls Sie auf keinen Fall auf Fleisch verzichten wollen, dann lieber Poulet als Rind. Milchprodukte sind ebenfalls problematisch. Aber ich selber kann auch nicht ganz darauf verzichten. Ich lebe zwar vegetarisch, aber vegan, das schaffe ich nicht. Früher sprach man über das Waldsterben, später über das Ozonloch. Heute ist das kein Thema mehr. Wird es beim Klima ähnlich ablaufen? Das Ozonloch ist kein Thema mehr, weil man etwas dagegen unternommen hat. Es handelt sich um eine unglaubliche Erfolgsgeschichte internationaler Umweltpolitik. Und das Waldsterben kann man nicht mit der Klimakrise vergleichen. Es war wissenschaftlich deutlich weniger dokumentiert. Damals in den
«In diesem Fall gilt: Je zynischer, desto besser. Denn dann ist Nachhaltigkeit Teil des Business.»
80er-Jahren gab es Panik, weil man sah, wie Bäume abstarben. Ich fange jetzt gar nicht damit an, darüber zu referieren, wie heute manche Wälder in Deutschland kollabieren. Aber ich will nicht mit Bedrohungen arbeiten, ich habe mit Unternehmen zu tun. Diese wollen Lösungen anbieten, nicht Angst machen. Sie beraten Unternehmen. Diese werden sicher nicht von sich aus aktiv beim Klimaschutz. Die Politik muss aktiv werden. CO2 muss einen Preis haben. Wer es in die Atmosphäre entlässt, soll dafür zahlen. In den aktuellen Marktpreisen für Produkte steckt oft der Schaden nicht drin, den sie anrichten. Wäre das anders, würde der Markt deutlich effizienter werden und das Klimaproblem liesse sich viel schneller lösen. Die Unternehmen, bei denen Sie ein Mandat haben, freuen sich kaum, wenn Sie Ihnen erklären, dass die Preise steigen müssen. Firmen wollen Klartext hören, damit sie Investitionsentscheide treffen können. Klar verzögern sie manchmal Neuerungen, wenn die Party noch etwas weitergehen kann. Aber im Prinzip sind sie sehr offen. Ich glaube, dass die Marktwirtschaft hervorragend geeignet ist, das Klimaproblem zu lösen. Wenn sich alle Firmen im Wettbewerb behaupten müssen, dann nehmen sie Anpassungen sehr schnell vor, sobald diese nötig werden.
Foto: Nicole Philipp
Aber keine Firma will ihre Kundinnen und Kunden mit höheren Preisen vergraulen. Wenn die Preiserhöhungen alle betreffen, ist die Ausgangslage für jeden gleich und somit fair. Natürlich gibt es Branchen, die mehr leiden werden. Die Politik hat heute die Tendenz, es allen recht machen zu wollen. Politikerinnen und Politiker sollen wieder etwas ehrlicher argumentieren: Für einige Branchen wird es schwierig werden. Welche? Mineralölgesellschaften vor allem. Aber stellen Sie sich vor: Sogar Unternehmen, die als die grössten Umweltsünder gelten, rufen mich an und wollen Beratung in Nachhaltigkeit. Denn sie wissen: Sie müssen etwas ändern, wenn sie überleben wollen. Der Schweizer Finanzplatz wird im Übrigen ebenfalls grausam umsatteln müssen: Investitionen in fossile Rohstoffe – das geht einfach nicht mehr. Die Firmen, die Sie um Rat fragen, wollen sich doch einfach ein grünes Deckmäntelchen überziehen. Die Zeiten sind vorbei. Mit den sozialen Medien, die heute über alles berichten, ist das nicht mehr möglich. Firmen, die sich nachhaltig aufstellen wollen, müssen ihr Geschäftsmodell grundsätzlich anschauen. Bemühen sich Unternehmen aus Überzeugung um Nachhaltigkeit, oder geht es dabei nur ums Geschäft?
Beides. Ganz ohne Überzeugung geht es nicht, weil der Markt noch nicht so aufgestellt ist, dass Nachhaltigkeit monetär belohnt wird. Aber natürlich ist die Motivation vor allem, dass die Firmen ihren Stakeholdern auch in Zukunft Renditen ausschütten wollen. Das klingt zynisch, aber in diesem Fall gilt: Je zynischer, desto besser. Denn dann ist Nachhaltigkeit Teil des Business. Glauben Sie, wir schaffen es noch, die Klimakatastrophe abzuwenden? Ich will es den Leuten, die ich berate, nicht noch einfacher machen, indem ich sage, es habe eh keinen Sinn mehr. (lacht) Nein, ich bin grundsätzlich optimistisch. Ich denke, wir schaffen es. Aber wahrscheinlich werden erst dann genügend Leute zur Tat schreiten, wenn sich die ersten gigantischen Naturkatastrophen ereignen. Leider muss es den Menschen wehtun, bevor sie reagieren.
Zur Person Jürgen Schulz hat in Bern die «Klimaplattform der Wirtschaft» initiiert, die es nun seit 14 Jahren gibt. Dabei spannen Firmen und die Stadt Bern für mehr Nachhaltigkeit zusammen. Mit seinem Unternehmen «Schulz Kommunikation» berät er zudem Unternehmen schweizweit. Der 50-Jährige ist verheiratet und hat 14-jährige Zwillinge. Er lebt mit seiner Familie in der Stadt Bern. (mjc)
Samstag, 7. Dezember 2019 Heute mit Stellenmarkt
BERNERZEITUNG.CH Auf den Spuren von Messi und Co.
Millionen aus einem Geldtransporter
Kuno jetzt auch digital
Ana Maria Crnogorcevic Die 29jährige Berner Oberländerin spielt künftig für den FC Barcelona – und damit für einen der grössten Fussballclubs weltweit. Seite 25
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Streaming Zurück in der Playlist: Züri West hat seinen Kampf gegen Plattformen wie Spotify aufgegeben. Seite 29
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Der Berner Meister im Netzwerken
Es gibt einen freundlichen Start, am Nachmittag wird es zunehmend trüb und nass.
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Heute
Obergericht Nils Fiechter und Adrian Spahr
Ehrendoktortitel für den ewigen Läufer
akzeptieren bedingte Geldstrafe nicht.
Jogging Er war ein Pionier des Laufsports und gründete den Grand Prix von Bern, motivierte Amateure und trainierte Spitzensportler. Nun wird Heinz Schild von der Universität Bern für sein Lebenswerk geehrt. Seite 11
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Hirschis WG und Essplan in Andalusien Rad Der frühere U-23-Welt- und Europameister Marc Hirschi bereitet sich mit Freunden in Malaga auf die Saison vor. Die WG funktioniert problemlos, der MeSeite 26 nüplan ist schlicht.
Das Güezi-ABC Kulinarik Von A wie Änischräbeli bis Z wie Zimtstern: Die alljährliche Hochsaison der Backkünste ist eingeläutet. Aber Achtung: Wer beim Güezele schlampt, der Seite 28 scheitert.
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Junge SVPler als Rassisten gebrandmarkt
31 32+33 34+35 37 38+39 10, 14, 16 36
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Berner Wirtschaft Als Präsident des SC Bern und des Berner Flughafens steht Beat Brechbühl in der Öffentlichkeit. Jüngst sorgte er mit der erfolgreichen Crowdfunding-Kampagne um die neue Airline Fly Bair für Aufsehen. Weniger bekannt: Auch sonst ist Beat Brechbühl bestens vernetzt. Mit nahezu
allen anderen sogenannten Berner Institutionen ist er eng verbunden. Daneben hat er als Chefpartner die Rechtskanzlei Kellerhals Carrard zur zweit grössten der Schweiz gemacht. Seine Geschichte ist die eines für Bern ungewöhnlich steilen Aufstiegs. (bit) Foto: Christian Pfander Seite 2+3
Kopfschütteln auf der einen, Erleichterung auf der anderen Seite. Mit Befriedigung gar reagierten der Verband Sinti und Roma Schweiz (VSRS) sowie die Gesellschaft für bedrohte Völker auf den gestrigen Entscheid des Berner Obergerichts. Es verurteilte die beiden Co-Präsidenten der Jungen SVP in zweiter Instanz zu bedingten Geldstrafen. Die Berner Justiz beweise mit diesem Urteil, dass sie Antiziganismus ernst nehme und entsprechend sanktioniere, schreiben die Interessenvertretungen in einer Medienmitteilung. Der VSRS hatte mit einer Anzeige gegen das sogenannte Zigeunerplakat den Stein ins
Rollen gebracht. Es zeigt einen Müllberg zwischen einem Wohnwagenpark und einem Schweizer, der sich die Nase zuhält. Damit sind Adrian Spahr und Nils Fiechter, die die Karikatur in Auftrag gegeben und veröffentlicht hatten, eindeutig zu weit gegangen. Diese Darstellung, publiziert auf Facebook mit markigen Worten, setze die Fahrenden als Ethnie herab, befand das Obergericht. Bereits gestern war klar: Dieses Urteil wird nicht rechtskräftig. Die beiden Jungpolitiker kündigten vor Ort nach Rücksprache mit ihrem Anwalt Patrick Freudiger an, den Entscheid weiterSeite 9 zuziehen. (cd)
Das Tram wird trotzdem verlängert
Ständeräte der FDP und der CVP sind skeptisch
Kleinwabern Von den ambitionierten Plänen von Ende 2013 ist nichts mehr übrig, das grosse Bundesverwaltungszentrum auf der Balsigermatte in Kleinwabern hat sich in Luft aufgelöst. Mit dieser Kunde überraschte Gemeinderat Christian Burren vor Monatsfrist das Könizer Parlament – um genauso deutlich klarzumachen: Das Nünitram wird trotzdem von Wabern nach Kleinwabern verlängert. Ungeachtet dessen, dass in der Vergangenheit das Tram ohne die Überbauung und die Überbauung ohne das Tram nicht denkbar zu sein schien. Der Bedarf sei dank der regen Bautätigkeit in den letzten Jahren gegeben, sagt Seite 6 Burren nun. (skk)
Überbrückungsrente Die neuen Überbrückungsleistungen für ausgesteuerte ältere Arbeitslose haben bei den Bürgerlichen einen schweren Stand. Vor der Debatte im Ständerat zeigen sich manche Vertreter von FDP und CVP skeptisch. Die SVP lehnt die Vorlage des Bundesrats rundweg ab. Zwar dürfte im Ständerat neben SP und Grünen eine Mehrheit der CVP-Ständeräte zustimmen. Doch in der FDP-Fraktion harzt es. Laut Ständerat Josef Dittli ist es nicht ausgeschlossen, dass eine Mehrheit der FDPStänderäte Nein sagt. Dabei war es FDP-Bundesrätin Karin Keller-Sutter, die die Überbrückungsleistungen im Bundesrat vorangetrieben hat. (br) Seite 12
Neonazis trafen sich im Kanton Schwyz
«Man kann ab und zu in die Ferien fliegen»
Grünliberale Rechenspiele vor den Wahlen 2020
Extremismus In Galgenen SZ ist es am vergangenen Wochenende zu einer der grössten rechtsextremen Veranstaltungen der letzten Jahre gekommen. Unter den knapp 100 Teilnehmern befanden sich vor allem Schweizer. Zum Konzert in Unterwasser SG waren 2016 dagegen noch sehr viele deutsche Neonazis geströmt. Das Konzert führte zu Diskussionen, weil die St. Galler Polizei nichts dagegen unter-
Klimawandel Was darf man denn überhaupt noch? Die Diskussion um ein umweltfreundliches Leben verunsichert viele Menschen. Jürgen Schulz von der Klimaplattform Bern rät, bei den grossen Hebeln anzusetzen: Mobilität, Wohnen und Ernährung. Wenig Fleisch und Milchprodukte essen, Ökostrom beziehen und mit dem Elektrovelo statt dem Auto zur Arbeit fahren. Dann liege auch hin und wieder ein Flug
Stadt Bern Noch bis Ende Jahr, dann muss sich die GLP entscheiden, wie sie 2020 in die Berner Gemeinderatswahlen steigen will. Nachdem es nicht gelungen ist, den Bisherigen Reto Nause (CVP) von einer weiteren Kandidatur abzuhalten, ist ein Bürgerlich-Grün-Mitte-Bündnis nur noch mit Nause zu haben. Auch bei einer Mitteliste würde sich die Frage stellen: Kann die GLP Nause schlagen? (hae) Seite 5
nommen hatte. Beim jüngsten Treffen waren die Schwyzer Kantonspolizei und die Bundesbehörden informiert, schauten aber nur zu. Einzig das Grenzwachtkorps griff ein, als der deutsche Neonazi Frank Kraemer in die Schweiz einreiste. Rechtsextremes Propagandamaterial und Unterlagen für den Vortrag, den er halten wollte, wurden ihm abgenommen. Doch dann durfte er weiterfahren. (K.P.) Seite 13
in die Ferien für die ganze Familie drin. Grundsätzlich sei aber die Politik gefordert, die es heute allen recht machen wolle. «CO2 muss seinen Preis haben», sagt Schulz, «wer es in die Atmosphäre entlässt, soll dafür bezahlen.» Er berät Firmen, die ökologischer wirtschaften wollen. Wenn die Politik den richtigen Rahmen setze, könne der Kapitalismus in der Klimapolitik die Rettung sein. (mfe) Seite 27