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Vorwort

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Einleitung

Einleitung

Mein Interesse am Gefühl der Rührung setzte ein vor einigen Jahren, als ich bemerkte, dass ich häufiger als in der Zeit davor in eine Gemütslage geriet, die ich als eine Mischung aus Schmerz und Glücksempfinden erlebte und die ich unschwer als Zustand des Gerührtseins identifizieren konnte. Bei aller Deutlichkeit und Vertrautheit der Emotion gelang es mir aber nicht, mir die Entstehung dieses Gefühls genauer zu erklären. In der Folge wurde ich aufmerksam gegenüber Phänomenen der Rührung auch in jenen Bereichen, mit denen ich als Wissenschaftler zu tun hatte, und ich begann, mich mit einschlägigen Beiträgen der ästhetischen Theorie zu beschäftigen. Dabei entstand die Idee – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der umfangreichen emotionstheoretischen Forschungen der letzten Jahre und Jahrzehnte –, meine Fragen und die daraus resultierenden Antworten zur Diskussion zu stellen, zunächst in Rahmen meiner Unterrichtstätigkeit, dann in Form einer Publikation. Meine Arbeit nahm ich unter der Annahme auf, dass selbst ein verhältnismässig spezifisches und wenig aufdringliches Gefühl wie Rührung schon zahlreiche und differenzierte Deutungen erfahren haben musste. Die Ästhetik der Rührung, die ich zu entfalten gedachte, sollte demnach eine solche in historischer Perspektive sein, wobei ich zugleich von der besonderen Relevanz des Themas für die Diskussion gewisser aktueller künstlerischer Phänomene überzeugt war und bin.

Es ist für die Natur dieses Buches einigermassen prägend, dass Teile davon aus den Vorbereitungen zu einer Vorlesung entstanden, die ich im Frühlingssemester 2019 an der Universität Zürich hielt. An gewissen Stellen lässt der Text noch immer die Anforderungen einer solchen Lehrveranstaltung erkennen. Dazu gehört der etwas basale Charakter der Einleitung, in der nicht nur begriffliche und methodische Prämissen erläutert werden, sondern die den Studierenden auch einen möglichst unmittelbaren und anschaulichen Einstieg ins Thema ermöglichen sollte. Auch die Schilderung persönlicher Erlebnisse und die Verwendung der Ich-Form sind vor allem den Entstehungsumständen geschuldet. Gerade weil diese aber auch in der inhaltlichen Anlage wirksam geblieben sind, habe ich mich dafür entschieden, die in der ersten Person gehaltenen Formulierungen nicht vollständig zu tilgen.

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Mit der im Untertitel des Buches artikulierten Charakterisierung der Rührung als ein wenig angesehenes Gefühl habe ich versucht, auf zwei Gründe hinzuweisen, weshalb es sich lohnen könnte, sich mit ihr zu beschäftigen. Zum einen ist dieses Gefühl in dem Sinne «wenig angesehen», als man sich – entgegen meiner Annahme – bislang verhältnismässig wenig mit ihm befasst hat. Diese Behauptung mag in Anbetracht des Umfangs der nachfolgend behandelten Werke und Theorien überraschen, aber mit Ausnahme der ästhetischen Diskurse um 1800 ist das Interesse, das der Rührung entgegengebracht wurde, deutlich geringer als jenes, mit dem die Wissenschaft Gefühle wie Angst, Liebe, Hass oder Scham bedacht hat. Das dürfte zum einen damit zu tun haben, dass Rührung nicht zu den Emotionen gehört, die uns Probleme bereiten oder die gar therapiert werden müssten. Zum anderen spielt aber möglicherweise auch eine Rolle, was mit der weiteren Bedeutung von «wenig angesehen» gemeint ist, nämlich, dass Rührung auch kaum je positiv auffällt, ja, dass ihr oftmals sogar ein schlechter Ruf anhaftet. Schnell wird sie, gerade wenn sie im Kontext von Kunst auftritt, als Anzeichen für fehlende Tiefe gesehen – sei es des Kunstwerks oder derer, die es betrachten. Besonders im Zusammenhang mit Kitschtheorien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wird von negativen Urteilen über das Rührende ausführlich die Rede sein. Es ist jedoch nicht das Programm dieser Arbeit, Rührung im Kontext ästhetischer Erfahrung als minderwertig auszuweisen, sondern das Interesse liegt darin, sie – im Lichte historischer und gegenwärtiger Theorien und in der Auseinandersetzung mit möglicherweise rührenden Kunstwerken – zu verstehen. Dabei gehören zu dem Versuch, sie zu begreifen, auch Fragen nach den normativen Interessen, die hinter der Produktion rührender Kunst stehen, und solche nach ihren Wirkungsfolgen. Oder um es aus einer persönlichen Perspektive zu formulieren: Momente der eigenen Rührung sehe ich nicht per se als Momente falscher, da übertriebener Gefühligkeit, sondern ihnen eignet für mich, auch wenn sie sich im Kontext ästhetischer Erfahrung ereignen, zunächst einmal etwas Geheimnisvolles, das zu seiner Ergründung auffordert.

Schon eine kursorische Durchsicht des Buches beziehungsweise ein Blick ins Inhaltsverzeichnis wird eine weitere Eigenheit des Vorhabens offenbaren: Es macht nicht an den Grenzen der Kunstwissenschaft als einer auf visuelle Erscheinungen fokussierten Disziplin halt, sondern reicht auch in Gebiete anderer Medien, etwa der Dichtung oder der Musik wie auch der Philosophie, selbst wo diese den Bereich rein ästhetischer Probleme verlässt. Wie wissenschaftlich riskant ein solches Unterfangen sein kann, ist mir nur allzu bewusst – in der Einleitung werde ich erläutern, weshalb ich mich dennoch dafür entschieden habe. An dieser Stelle einzig der Hinweis: Ohne die Hilfe und den kritischen Blick von Kolleginnen und Kollegen auch aus benachbarten Disziplinen wäre der eingeschlagene Weg nicht gangbar gewesen. So danke ich besonders Wolfgang Brückle, Giancarlo Marinucci, Christoph Merki, Christoph Reusser, Kurt Steinmann und Stefan Wülfert für wertvolle Hinweise und Ratschläge. Viel schuldet der Text auch seiner Lektorin Regula Krähenbühl, die mir eine unentbehrliche Gesprächspartnerin war und deren präzise redaktionelle Eingriffe dem Buch sehr zugute kamen. Hier schliesse ich den Dank an den Gestalter Bruno Margreth an, mit dem mich eine langjährige freundschaftliche Zusammenarbeit verbindet.

Wer das Buch tatsächlich von A bis Z lesen sollte und jederzeit eine konzise Führung durch die untersuchten Gegenstände erwartet, wird vermutlich enttäuscht werden. Da führt kein fest gezwirnter roter Faden auf geradem Weg zu einem von vornherein definierten Ziel. Und doch verbinden feinere Fäden, geformt durch bestimmte Begriffe und Konzepte, einzelne Kapitel und verweben sich, so hoffe ich, im Gesamten zu einem Bild dessen, was Rührung im Kontext ästhetischer Erfahrung bedeuten könnte. Zugleich bieten sich die Kapitel auch zur gesonderten Lektüre an, jener Form des Lesens, die für die meisten von uns die alltäglichste Form des Umgangs mit Texten solchen Zuschnitts bilden dürfte. Der im Untertitel verwendete Begriff der «Erkundungen» spielt daher nicht nur auf die fachlich-wissenschaftliche Gastperspektive an, die für einige der Abschnitte kennzeichnend ist, sondern ist ebenso als Aufforderung gemeint, sich auch nur auf einzelne der Streifzüge einzulassen. Der Modus des Umherstreifens, der für die Entstehung des Buches bestimmend war, darf es auch für den Vorgang des Lesens sein.

Zürich, im Frühling 2023

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