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1. Karl Geigy-Hagenbach (1866–1949) und seine Autographensammlung
Für das Verständnis von Karl Geigy-Hagenbachs Persönlichkeit hilft ein Blick in die «Basler Sitten». Johanna Von der Mühll-von Thur, die als Nichtbaslerin in das Basler Patriziat eingeheiratet hatte, publizierte sie 1944, also noch zu Geigys Lebzeiten, im Auftrag der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde:

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Durch das Festhalten am Althergebrachten ist man in Basel des Zwangs überhoben, der oft lastend auf dem modernen Grossstadtmenschen ruht, womöglich mehr zu scheinen, als man ist. Im Gegenteil, hier, wo sich die Familien seit vielen Generationen genau kennen, gefällt man sich darin, eher zu wenig als zu viel vorstellen zu wollen. Das ist auch ein ‹Blaguieren›, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen, das sich unter puritanischen Einflüssen eingebürgert haben mag.1
Genau diese Geisteshaltung kommt in Geigys Aussage, «Es ist mir immer peinlich gewesen, meine Persönlichkeit in den Vordergrund zu stellen», zum Ausdruck, der sich noch mehrere andere zur Seite stellen liessen. In den Nachrufen wird er als «einer der stillen Männer unserer Stadt, einer, der immer zurückhaltend auftrat, fast unscheinbar», «ein im besten Sinne vornehmer Basler», «hochgebildeter und dabei grundgütiger Mensch von echtem humanistischem Geist», als «alter, liebenswürdiger Herr in den Strassen unserer Stadt» charakterisiert.
Diese Zurückhaltung schuf freilich eine dürftige Quellenlage für eine Skizze von Geigys Persönlichkeit. In der Presse wurde er abgesehen von seinem Tode äusserst
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► D 1.1–3 selten er wähnt. Immerhin durfte Stefan Zweig einen Artikel zu seinem 70. Geburtstag publizieren. Am aufschlussreichsten ist der von Geigy selbst verfasste Lebenslauf, der zusammen mit der Bestattungspredigt veröffentlicht wurde. Die grosse Ausnahme bildet sein Hobby, das Autographensammeln. Dazu äusserte er sich in Artikeln, dafür suchte er das Publikum. Ein schriftlicher Nachlass ist nicht überliefert. Dazu trug vielleicht auch Geigys von seinem Vater übernommene Gewohnheit bei, Briefe, sobald sie beantwortet waren, dem Papierkorb zu übergeben.2 Umso bemerkenswerter ist, dass im Umkreis der Autographensammlung ein Grossteil der rund 300 von Stefan Zweig an ihn gerichteten Briefe erhalten blieb. Zweig wiederum scheint Geigys Briefe im Zuge der Emigration vernichtet zu haben.3 Am direktesten spricht Geigy heute noch zu uns in seinen erhaltenen Briefen an den Schweizer Dramatiker Cäsar von Arx. Diese decken aber nur die Jahre 1938 bis 1949 ab, in denen Geigy nach dem Tod seiner Frau zusehends vereinsamt, an zahlreichen Altersbeschwerden leidet und mit der als unerfreulich empfundenen Gegenwart fremdelt. Das folgende Bild Geigys beruht auf diesen nicht allzu reichlichen Zeugnissen; die Hoffnung des Verfassers ist, ihm damit einigermassen gerecht zu werden.
Abb. 1.1–2 | Porträt von Karl Geigy-Hagenbach, das er 1939 der Universitätsbibliothek Basel zuhanden der Porträtsammlung über liess, zusammen mit dem Begleitbrief an Karl Schwarber, 6. 1. 1939, UB Basel, UBH Portr BS Geigy K 1866, 2a.
Vorfahren, Jugend, Ausbildung
Karl Alphons Geigy kam am 23. Mai 1866 als jüngstes Kind von Johann Rudolf und Marie Geigy-Merian (1830–1917 bzw. 1837–1912) zur Welt.4 Seine Geschwister waren Maria (1856–1933), Louise (1858–1879) und Johann Rudolf (1862–1943). Im Rückblick schrieb Geigy: «Schon von frühester Jugend an begeisterte ich mich für Literatur, Geschichte und Kunst.» Wir wissen leider nicht, wie er zu Thomas Mann (von dem er zumindest zwei autographe Briefe besass) und dessen Buddenbrooks stand. Ein Vergleich der Familien Geigy und Buddenbrook, Kaufmannsdynastien in protestantischen Städten, fördert verblüffende Übereinstimmungen und bedeutende Abweichungen zutage.
Die fiktive Lübecker Getreidehandelsfirma Buddenbrook wurde 1768 gegründet, fast zeitgleich mit der Basler Handelsfirma Geigy 1758. Beide blieben für die in Frage stehende Periode im Familienbesitz. Die Leitung ging jeweils vom Vater auf den Sohn über, wobei die Generationen der Familien Buddenbrook, Mann und Geigy fast deckungsgleich sind.
Buddenbrooks Geigys Manns
Johann (?) Johann Rudolf (1733–1793)Joachim Siegmund (1728–1799)
Johann d. Ä. (1765–1842)Hieronymus (1771–1830)
Johann Siegmund d. Ä. (1761–1848)
Konsul Johann d. J. (Jean) (ca. 1800–1855) Carl (1798–1861) Johann Siegmund d. J. (1797–1863)
Senator Thomas (1826–1875) Johann Rudolf (1830–1917)Heinrich (1840–1891)
Hanno (1861–1877)Johann Rudolf (1862–1943) und Karl Alphons (1866–1949) Heinrich (1871–1950) und Thomas (1875–1955)
1758 gründete Geigys Ururgrossvater Johann Rudolf Geigy (1733–1793) die Handelsfirma Joh. Rudolf Geigy. Er handelte mit Drogen und Spezereien, also mit Medikamenten sowie Gewürzen, Kaffee und Kakao. Konnte man ihn noch zum Kleinkaufleutestand zählen, so entwickelte sich die Firma unter seinem Sohn Hieronymus (1771–1830), der eine Tochter des reichen Seidenbandfabrikanten und Erbauers des Weissen Hauses Jakob Sarasin heiratete, zu einem der grossen Handelshäuser. Der Haushalt und die Zentrale des Handelsgeschäfts befanden sich, wie damals üblich, im gleichen Gebäude, seit 1796 im (1959 abgerissenen) alten Lichtenfelserhof (Münsterberg 7/9).
Hieronymus’ Sohn Carl Geigy-Preiswerk (1798–1861) entwickelte die Firma weiter, indem er den weniger rentablen Handel mit Pharmazeutika in eine andere Firma auslagerte, und die «J. R . Geigy» auf die Herstellung von und den Handel mit Farben fokussierte, die von der rasch wachsenden industriellen Textilproduktion stark nachgefragt wurden. Am Hinteren St. Albanteich betrieb er 1833 bis 1858 hintereinander zwei Farbholzmühlen. Daneben expandierte er in andere zukunftsträchtige Felder. Er wurde Mitbegründer und Vorstandsmitglied der Giro- und Depositenbank in Basel (ab 1845 Bank in Basel), später Mitbegründer des Kreditvereins. Wie Konsul Buddenbrook sah auch er, dass ein gut ausgebautes Schienennetz für den allgemeinen und seinen Wohlstand zentral sein würde. Deshalb unterstützte er 1843 die Verlängerung der Bahn von Strassburg bis nach Basel, die erste Eisenbahnlinie in der Schweiz. 1850 erstellte er ein Gutachten zum Aufbau eines gesamtschweizerischen Eisenbahnnetzes, in dem er einen Ausbau unter Leitung und auf Kosten von Bund und Kantonen empfahl. Das Parlament entschied 1852 anders und setzte auf Privatbau und freie Konkurrenz. Geigy gründete als Reaktion darauf zusammen mit anderen Baslern 1852 die Schweizerische Centralbahn und wurde deren Verwaltungsratspräsident (1852–1861) und Direktionspräsident (1856–1861). Daneben war er Mitglied des Grossen Rats (1845–1861) und des Kleinen Rats (1847–1858) sowie zahlreicher politischer Kommissionen.
Carls Sohn Johann Rudolf (1830–1917), Karl GeigyHagenbachs Vater, wurde sorgfältig auf seine künftige Aufgabe vorbereitet.5 Auf die Schulzeit, die letzten beiden Jahre am Basler Gymnasium (Pädagogium) u. a. bei Jacob Maehly, folgten 1847–1850 eine Lehre im väterlichen Betrieb, dann fünf Wanderjahre mit den Hauptstationen Marseille, Le Havre und London. 1853 brach Geigy zu einer langen Indienreise auf. 1854 trat er in die väterliche Firma ein und ein Jahr später heiratete er Marie Merian. Das Paar zog 1855 ins Haus des Schwiegervaters Samuel Merian-Merian, den Regisheimerhof (Münsterplatz 10). Da sein Vater gesundheitlich angeschlagen und mit seinen politischen Aufgaben ausgelastet war, übernahm Johann Rudolf bald die Geschäftsleitung. Sie trennten Handel und Fabrikation auf zwei Firmen auf. Die Farbextraktion wurde modernisiert und an einen neuen Standort neben dem 1862 eröffneten Badischen Bahnhof verlegt. Bald begannen Versuche, künstliche Anilinfarbstoffe auf Teerbasis herzustellen. Trotzdem umfasste die Produktpalette links: Abb. 1.6 | André Lambert/ Eduard Stahl: Moderne Architektur, Stuttgart 1891, Taf. 54: Villa Klein Riehen bei Basel. J. J. Stehlin, Architekt. rechts: Abb. 1.7 | Aeschenvorstadt 13, Wohnsitz der Familie Geigy-Merian ab 1870, Staatsarchiv Basel-Stadt, NEG 4634 (Fotoarchiv Wolf). noch lange Naturfarben neben den synthetischen. Ebenso hielt man in den 1860er- und 1870er-Jahren weiterhin am Farbgrosshandel fest; erst danach erfolgte die Fokussierung auf die Produktion. Auch das alte Stammhaus am Münsterberg im Zentrum der Altstadt, wo Haushalt und Betrieb noch unter einem Dach versammelt waren, wurde 1859 aufgelöst. Carl Geigy zog in eine neu erbaute Villa in der Nähe des Cen tralbahnhofs. Das Geschäftsdomizil wurde an die Bahnhofstrasse 3 (heute Riehenring) in die Nähe des 1862 in Betrieb genommenen (alten) Badischen Bahnhofs verlegt. Die Geschäfte liefen gut. 1870 erbaute Geigy-Merian ein eigenes Haus an der Aeschenvorstadt 13, 1876 vor der Stadt die Bäumlihof-Villa in Riehen.


Abb. 1.5 | Der Regisheimerhof (Münsterplatz 10), Haus in der Mitte, Wohnsitz der Familie Geigy-Merian 1855–1870, ca. 1918, Staatsarchiv BaselStadt, NEG 2065 (Fotoarchiv Wolf).


