KLARTEXT Das Magazin der Deutschen Journalistenschule 2015 I Lehrredaktion 53A I Nummer 36
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K O N F O R M I TÄT
Wissen
ordnen
riesig
S YNC HR ON GEWIMMEL DRUCK dazu gehören s i c h a b g r e n z e n P ro f i t SchutzFASZINIERENDWider stand ÜberLEBEN Mitläufer
Angst
VORBILD Regeln
zerstörerisch
Freiwillig. Zufällig. Gezwungen. Der Drang zum
SCHWARM ist immer da. Der Schritt in den Schwarm muss nicht gewollt sein. Der Schwarm ist so anziehend wie abstoßend. So vereinnahmend wie ausgrenzend. So schön wie zerstörerisch. Sein Reiz ist gefährlich. Seine Macht fasziniert. Ein Schwarm, das sind konkrete Gruppen und abstrakte Gedanken – von der Familie bis zum Internet. Er umgibt uns. In der Natur, in unserem Leben unter Anderen. Unser Handeln bestimmt die Richtung des Schwarms und der Schwarm bestimmt unser Handeln. Wann wir den Schwarm brauchen, wann wir ihn fürchten. Wie es ist, mittendrin zu sein oder außen vor. Das erzählt dieses Heft. DIE REDAKTION Klartext
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INHALT
I M PR E S SU M SC HWA R M / KL A RT E X T N R. 3 6 Das Magazin der 53A der DJS H E RAUS G EB ER Deutsche Journalistenschule e.V. Hultschiner Straße 8, 81677 München Tel.: 089 2355740, www.djs-online.de E-Mail: post@djs-online.de CH E F RE DA KT I ON Judith Issig (V.i.S.d.P), Mathias Tertilt, Marvin Strathmann (Online) CH EF I N VO M D IE N ST Claudia Steinert A RT D IRE CT IO N Stephanie Probst
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T E X TC H E FS Moritz Aisslinger, Valerie Schönian R E S SO RT L E IT U N G Katharina Kutsche, Philipp Nowotny, Josef Saller
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SC H LU S S REDA KT IO N Philipp Nowotny
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B I LD RE DA KT ION Guillaume Horst
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T I T E LF OTO Erol Gurian R EDA KT IO N Moritz Aisslinger, Bastian Benrath, Maximilian Gerl, Guillaume Horst, Judith Issig, Katharina Kutsche, Philipp Nowotny, Stephanie Probst, Natalie Raida, Josef Saller, Valerie Schönian, Claudia Steinert, Eva Steinlein, Marvin Strathmann, Mathias Tertilt
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Editorial
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Gesichter: Folgt mir
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Ihr Land hasst, wen sie lieben
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Hollywoods Helfer
Forscher belauschen Bakterien und schnüffeln Ameisen hinterher – für Kinomonster und Busrouten
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Fenster zur Welt: Olafur Eliassons Lego-Städte
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Aus dem Ruder gelaufen
Infograik: Wo die Hipster wohnen
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Geld für alle!
Die Börse ist verwirrend. Social Trading könnte den Anlegern helfen. Ein Comic 72
W IR DA N KEN Melanie Weiser (Visagistin), der Blaskapelle Grainet, der Roten Sonne München, Kristin Mansmann und Munich Kiev Queer, Luise Schricker und dem Team der DJS
Wikipedia anno 1800
Wenn Massen zusammenarbeiten, entsteht Großes. Schon lange vor dem Internet
Notizen: Der Schwarm 73
Er ist ein Freund der Menschen, nicht der Massen. Wimmelbildautor Ali Mitgutsch im Gespräch
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Gemeinsam ohne Gott
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Pro und Contra: Digitale Freundschaften
Warum um Himmels Willen treffen sich Atheisten zu liturgischen Feiern? Ein Innehalten
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„Was ist denn normal, mein Kind?“
Drei Frauen, drei Generationen. Irgendwo zwischen Bau und Fall der Mauer.
MEHR VON UNS
Keine Panik!
Unglücke bei Massenveranstaltungen sind nicht die Schuld der Menge. Sondern?
„Ich bin ein Chamäleon“
Ein Nigerianer im Bayerischen Wald
Klartext
D RU CK Bosch-Druck GmbH Festplatzstraße 6, 84030 Ergolding Tel. 0871 76050, www.bosch-druck.de
Warten auf den ersten Stich
„Mir geht es um eine heilbare Welt“
Kurz und gut: Massentauglich
LI T H O G RA P H I E Regg Media GmbH Dachauer Straße 233, 80637 München Tel. 089 1581820, www.reggmedia.de
Klare Ansagen gegen den Fluchtreflex. Über menschliches Verhalten bei Seenot
Elfriede, halt‘s Maul!
Imkern ist das neue Slacklinen. Wieso eigentlich? Ein Selbstversuch
Wir sind die Roboter
Sie spielen, sie ernten, sie töten. Autonome Robotergruppen entscheiden allein 24
A N ZE IG E N Jennifer Kalisch DJS Schulungs- und Service UG (haftungsbeschränkt) Hultschiner Straße 8, 81677 München Tel. 05221 1211599, anzeigen@klartext-magazin.de
Als Einzelgänger geboren, zum Schwarm gezwungen. Von der verrückten Metamorphose der Heuschrecken
Theresa kämpft jeden Tag mit ihrer Angst. Der Angst vor allem
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Ich und ich
Verwandeln und vernichten
Ein Mensch, zwei Gesichter. Eine Fotostrecke 44
4 Fragen an 4: Fans aus vollem Herzen
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Ilhan saß im Jugendknast. Von einem Leben zwischen Schlägerei und Sehnsucht
Homosexuelle leben in der Ukraine in ständiger Gefahr. Eine Reportage aus Mykolaiw 17
Zwischen Leben
B E RAT U N G Chris Bleher (Text), Erol Gurian (Fotograie), Pascal Mänder (Layout), Carolin Schuhler (Konzept & Text), Karsten Lohmeyer & Stephan Goldmann (Online)
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Website www.klartext.de/53A
Achtung, Steinschlag!
Facebook Schwarm Magazin
Sprengen oder Abschleppen? Wie wir uns gegen Asteroiden wehren können
Twitter @schwarmmag
Das letzte Wort: Generation Hä?
Schwarm
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GESICHTER
F O LGT M I R ! Egal ob klein oder groß, Mensch oder Tier – Massen zu lenken, ist eine Herausforderung. Sechs Dirigenten haben uns ihre Taktik verraten. T E X T: N ATA L I E R A I D A & V A L E R I E S C H Ö N I A N
Andrea Langer läuft durch die Sporthalle, in die gleich 100 Studenten strömen werden.
Foto : Ma r v i n St rat hm ann
Noch einmal von vorne Fünf, Sechs, Sieben, Acht. Ein Schritt nach rechts. Linkes Bein kreuzt das rechte, drehen und Stop. Und das Ganze noch einmal. Andrea Langer schaut in die Spiegelwand vor sich. Hinter ihr stehen rund 100 Mädchen in Sportklamotten. „Trinkpause“, ruft sie in ihr Mikro und greift zum Handtuch. Seit fünfzehn Jahren tut sie sich das an: verschwitzte Körper, die sich unbeholfen zu Hits von Rihanna oder Madonna bewegen. Nicht alle sind im Takt. Doch ihre Aerobic-Kurse an der Universität München sind gefragt. Allerdings nur bei Mädchen. Jungs bekommt sie so
gut wie gar nicht zu Gesicht. „Einmal hat mir ein Junge gesagt, dass er von meiner Musik Pickel bekommt“, erinnert sich die 41-Jährige. Doch solche Kommentare kümmern sie wenig. Ihre Herausforderung: bis zu 100 Leute so koordinieren, dass sie ihre Choreografie verstehen. Ihr Ziel: Alle sollen Spaß haben und ein bisschen Quälerei darf auch nicht fehlen. Eines stört die ausgebildete Gymnastiklehrerin dann aber doch: „Die Leidensfähigkeit der Studenten sinkt.“ Die Folge: Viele wechseln zum Zumba, wo sie besser tratschen können.
Foto: Ste pha n ie Probst
Olafur Eliasson, Tirana, 2005
Halt! Stop! Kinder!
Alles unter Kontrolle: Norbert Grünleitner fühlt sich wohl in Münchens Untergrund.
Dirndl, Lederhosen und Lederhosenträger stehen am Eingang des U-Bahnhofs Theresienwiese, mehr auf- als nebeneinander. Wiesn-Zeit. Alle sind seit Stunden hier, alle wollen nach Hause und alle sind genervt – es ist einfach nur eng. „Kommen sie zu mir in die Mitte, hier ist Platz. Und ich würde so gern ihre Dirndl sehen.“ Eine Stimme aus dem Nichts, alle schauen umher, folgen ihr und ein Wunder geschieht: Alle passen in die ankommende U-Bahn. Gott sei Dank. Aber Gott war es nicht, sondern
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der Herr in dem Pavillon, zwischen den zwei Gleisen, mit dem Mikro in der Hand – Norbert Grünleitner. Seit 14 Jahren, an 12 von 14 Wiesn-Tagen macht er das. Seine Aufgabe: dafür sorgen, dass sich die Fahrgäste auf dem gesamten Gleis verteilen – jedes Jahr dirigiert der 47-Jährige Hunderttausende. Seine Strategie: geht einer, gehen sie alle. Sein Mittel: Witz. Er lockt sie zu sich in die Mitte – mit Versprechungen und Komplimenten. Platz und Dirndl-Lob, das zieht immer.
Klartext
Foto: C laud ia St e ine rt
Gehts weida, Leit
Erst wenn alle Kinder sicher in der Schule sind, endet Angela Bachls Schicht.
Angela Bachl ist schon von Weitem gut zu sehen. Breitbeinig mit erhobener Kelle steht sie auf dem Zebrastreifen. Ihre neongelbe Weste reflektiert das Sonnenlicht. Hinter ihr bilden die Autos eine Schlange. Denn der Zebrastreifen vor der Grundschule in der Bergmannstraße in München ist ihr Revier. Hier hat sie das Sagen. Als Schulweghelferin führt sie die Kinder sicher über die Kreuzung. Jeden Morgen von 7.30 bis 8 Uhr, seit elf Jahren. „Die Kinder kennen mich. Zu Weihnachten bekomme ich einen Keks aus ihrer Keksdose. Und wenn es ihnen schlecht geht, kommen sie oft zu mir“, sagt die 50-Jährige. Für sie ist es ihre morgendliche Kontaktbörse: Angela kennt fast alle in der Bergmannstraße. Für einen Plausch ist sie immer zu haben, doch die Kinder haben oberste Priorität.
Schwarm
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GESICHTER
Foto: Ste p h anie Prob s t
Da vorne links
Kurze Verschnaufpause: Am Münchner Marienplatz wartet Grit Ranft auf die nächste Reisegruppe.
„Solang der alte Peter am Petersbergerl steht, solang die grüne Isar durchs Münchner Stadterl geht...“, stimmt Grit Ranft die „Stadthymne“ Münchens an. Ihr Publikum: eine gelangweilt dreinblickende Schulklasse. Der Alte Peter ist der Lieblingsort der Stadtführerin. Die Kirche darf auf keiner ihrer Führungen fehlen. Dass ihr Gesang nicht immer auf Gegenliebe stößt, stört die 46-Jährige kaum. „Ich muss mich eben auf die Gruppe einstellen und ihr Interesse wecken“, sagt sie. Ihr größeres Problem: niemanden in der Münchner Menschenmenge zu verlieren. Vor allem samstags im Einkaufsgetümmel eine kaum lösbare Aufgabe. „Die Leute zeigen ein Schwarmverhalten. Sie latschen ohne zu gucken hinter mir her“, weiß Grit. Ihr Gegenmittel: knallige Farben und klare Richtungsanweisungen. Und bislang hat sie erst ein Mal jemanden verloren. „Das war eine völlig chaotische Gruppe. Aber zum Glück gibt es ja Handys“, erinnert sich die Stadtführerin.
Vater jedes Jahr 200 Schafe von der Weide ins Winterquartier, einen einige Kilometer entfernten Stall. Ihr bester Mitarbeiter: Border Collie Simo, sieben Jahre alt. Hört er die drei wichtigsten Kommandos, weiß er, was zu tun ist. Um die Schafe in die richtige Richtung zu führen, stupst er sie an oder zwickt ihnen in die Wolle. „Die Schafe haben Respekt vor dem Hund. Ohne ihn hat der Schäfer keine Chance“, sagt Elke.
Fo to: Marv i n Strat hman n
Ein lauter Aufprall schreckt Elke Lampertsdörfer auf. Sie dreht sich um und entdeckt eine Lücke in ihrer Schafherde. Eines der Tiere ist ohnmächtig geworden und liegt regungslos auf der Straße. Der Grund: ein Motorradfahrer, der an der Herde vorbeirauscht. Elke entspannt sich wieder. Sie weiß, in ein paar Minuten wacht das geschockte Schaf von ganz alleine wieder auf. Denn seit sie klein ist, treibt die 45-Jährige zusammen mit ihrem
Fo t o : J ud i t h I s s i g
Geh raus! Bleib! Fertig!
Alles cool: Eduardo de la Calle bereitet sich auf seinen Gig vor.
Tschaka, bumm, bumm, bumm Ein einzelnes Schaf ist für Elke Lampertsdörfer kein Problem, sie treibt jeden Tag 200 Tiere über ihre Weide.
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Klartext
Um zwei Uhr in der Nacht ist Eduardo de la Calle hellwach. Ihn treibt seine Leidenschaft: Techno-Musik. Hinter seinem DJPult beobachtet er die Massen sich bewegender Körper. Die Köpfe wippen im Takt der Musik. Seit 20 Jahren ist er ihr Dirigent. Seine Platten führten Eduardo in die Metropolen der Welt: Paris, Barcelona, Madrid oder Berlin. In jedem Land erwartet
ihn eine andere Mentalität, ein anderes Verhältnis zur Musik. Doch sein Ziel bleibt das gleiche: „Ich möchte jede Seele berühren. Und die Musik ist mein Werkzeug dafür. Mit ihr gebe ich meine Stimmung an das Publikum weiter.“ Klappt dies einmal nicht, stört das den erfahrenen DJ kaum: „Ich spiele einfach und warte, bis die Zeit rum ist.“ Pure Gelassenheit dank Yoga.
Schwarm
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REPORTAGE
С ее , е я е ше е еш х ях е е еше е
Antonina und Anastasia sind seit zwei Jahren ein Paar. Seit ihrem Outing hat Antonina keinen Kontakt mehr zu ihrer Mutter.
„Offen schwul, lesbisch oder bi zu sein ist in unserem Land unter den jetzigen Umständen eine mutige Entscheidung“
Di e s e s und a l l e we i t ere n Z i t at e s i nd a us d e m B uc h „ A nt wo rt e n au f s c hwi e r i g e Fra g e n“ d e r A k t i v i s t i n N i na Ve rb y t s kay a
TEXT & FOTOS: EVA STEINLEIN
Sie lieben einander, ihr Land hasst sie. Der Regenbogen ist ihr Symbol, leben müssen sie im Schatten: Schwule, Lesben, Bisexuelle und Transgender in der Ukraine. Die Community versucht, sich selbst zu helfen.
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Klartext
Schwarm
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REPORTAGE
V
iktoria schwingt die eiserne Kugelhantel, als wäre sie leicht wie ein Ballon. Sie geht in die Hocke, richtet sich auf. Ihr tätowierter Arm führt die Kugel nach oben, hält ein paar Sekunden inne und holt sie mit einer kontrollierten Bewegung zurück. Zehn Frauen sitzen auf einer Wiese im Kreis um sie herum. Beeindruckt verfolgen sie Viktoria mit ihren Blicken. Wenn Viktoria Kraftsport macht, wird sie normalerweise angestarrt – meistens von Männern, mit abfälligen Blicken. Die starke Frau mit Bürstenhaarschnitt ist Ukrainerin. Ukrainerinnen sind eigentlich nicht tätowiert, tragen keine kurzen Haare, stemmen keine Kugelhanteln. Die Gesellschaft hat ihnen beigebracht: Wenn Frauen trainieren, sehen sie dabei zart und hübsch aus, lächeln und flirten mit den Männern, die ihnen zugucken. Aber Viktoria interessiert sich nicht für Männer, die Frauen um sie herum auch nicht. Viktoria und ihre Zuschauerinnen sind lesbisch oder bisexuell und Teilnehmerinnen an einem Frauensportfest, das Ende Mai in einem Feriendorf bei Mykolaiw stattfindet, 100 Kilometer von Odessa am Schwarzen Meer. Für die Workshops und Wettkämpfe sind 40 Frauen aus der ganzen Ukraine hierher gekommen. Sie spielen Fußball, Volleyball oder Darts und lernen, wie sie die Gemeinschaft der Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgender, die LGBT- Community, stärken können. Viktoria gibt einen Workshop mit dem Titel „Fitnessprogramme organisieren für die Community“. Die Teilnehmerinnen kennen abschätzige Blicke und grobe Männerkommentare nur zu gut. „Wie kann ich im Fitnessstudio Eisen stemmen, wenn mich alle anstarren?“, fragt Viktoria rhetorisch. Alle reden durcheinander, erzählen ihre Erlebnisse, eine ahmt die Gaffer nach, indem sie sich die Hände wie ein Fernglas vor die Augen hält. Zu dem Festival im Umland von Mykolaiw sind die Frauen gemeinsam mit dem Bus gefahren. Der Treffpunkt war vor dem Eisentor, hinter dem die LGBT-Organisation Liga ihr Büro hat. Um eingelassen zu werden, mussten sie die Handynummer der Organisationsleiter haben und anrufen.
nehmerin sich in 30 Sekunden vorstellen soll, nennen die meisten ihren Beruf und ihre Hobbys. Das Wort lesbisch fällt kein einziges Mal. Nina nennt sich selbst Feministin, in der Ukraine ist das ein Reizwort. Über sexuelle Orientierung und Geschlechteridentitäten zu sprechen, fällt vielen schwer. Deshalb hat Nina ein Buch geschrieben. Titel: „Antworten auf schwierige Fragen“ – „das meistverlorene Buch der Ukraine”, scherzt sie. Jugendliche lassen es vor ihrem Coming Out oft in Sichtweite der Eltern liegen, in der Hoffnung, dass diese es lesen. Das Buch ist Ninas Eltern gewidmet, gelesen haben sie es nicht, sagt sie. Sie wissen, dass Nina mit ihrer Freundin in einer gemeinsamen Wohnung in Kiew lebt. Irgendwann haben sie wohl von selbst verstanden, warum. Vor ihrem Vater hat sie sich nie geoutet, ihre Mutter erklärt vor Verwandten und Freunden Ninas „Interesse” an LGBT-Themen damit, dass sie „auf der Arbeit so viel mit Psychologie zu tun habe”. Als Kommunikationstrainerin bringt Nina an der nationalen Polizeiakademie zukünftigen Staatsdienern bei, wie problematisch Diskriminierung ist. Hass und Vorurteile sitzen in der Gesellschaft so tief, dass sich Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender lieber verstecken. „Auf der Straße oder in der Metro halten wir nie Händchen”, sagt die Teilnehmerin Natascha, die sich in einer Pause auf das Sofa im Eingangsbereich der Ferienunterkunft gesetzt hat. In ihren Augen schimmern Tränen. „Und jetzt haben wir sogar zu Hause angefangen, es weniger zu tun.” Ihre Freundin Alla blickt zärtlich zu ihr herüber, Kopf und Füße drehen sich in Nataschas Richtung, doch sie bleibt einen halben Meter entfernt neben ihr sitzen.
Viktoria gibt im Workshop „Fitnessprogramme organisieren für die Community“ ihre Erfahrungen weiter.
„Jeder Mensch träumt von der Gründung einer Familie mit einem geliebten Menschen. Die Angehörigen der LGBT-Community sind keine Ausnahme“ Alla und Natascha wohnen zusammen in Kiew, „weil Nataschas Wohnung näher an Allas Arbeitsstelle liegt“. So haben sie es ihren Eltern gesagt. Fast alle Ukrainerinnen und Ukrainer halten mit ihren Eltern engen Kontakt, auch dann noch, wenn sie wie Natascha und Alla selbst längst erwachsen sind. Natascha sagt, ihre Eltern hätten Alla „aufgenommen wie eine Tochter“. Das bedeutet: Bei Familienbesuchen geben sich die zwei wie gute Freundinnen, kichern miteinander oder richten sich gegenseitig die Kleidung. Kein tiefer Blick in die Augen der anderen, keine Berührungen, kein Kuss. Zu groß ist die Angst, von der Familie abgelehnt und ausgestoßen zu werden – denn die ist in der ukrainischen Kultur das Zentrum des Lebens.
Die jüngeren Lesben wagen mehr Offenheit, doch nicht immer geht das gut. Antonina ist 20 und mit ihrer Freundin Anastasia auf dem Festival. Bei der Vorstellungsrunde in Ninas Workshop wusste Antonina nicht, was sie sagen soll. „Sie ist eine ganz Liebe, nur ein bisschen schüchtern“, verkündete die drei Jahre ältere Anastasia an ihrer Stelle. Seit zwei Jahren sind die beiden ein Paar. Sie haben sich in einem Club in der Provinzstadt Krywyj Rih kennengelernt. Anastasia organisiert dort Partys für die Community, alle in ihrem Umfeld wissen, dass sie lesbisch ist. Irgendwann hat auch Antonina ihrer Mutter gesagt, was sie mit Anastasia verbindet. „Seitdem haben wir keinen Kontakt mehr“, sagt sie leise und tonlos, senkt den Blick. Und seitdem wohnen sie und Anastasia zusammen, Anastasia geht zur Arbeit, Antonina studiert noch und jobbt nebenbei. Auf dem Sportfest sind die Frauen unter sich, weit weg von ihren Alltagsproblemen. Die Gegend um das Feriendorf ist ruhig. Trotzdem lässt sich kaum ein Paar bei einem Kuss erwischen. Einige halten Händchen, vermeiden dann aber jeden Blickkontakt. Bis hierher folgt ihnen die Angst vor dem Hass der Gesellschaft. Dieser Hass kann schnell von Mobbing in Gewalttaten umschlagen. Eine Woche nach dem Sportfest in Mykolaiw findet der Kiew Pride statt. Mehr als tausend Polizisten schirmen in Dreierreihen die 250 Teilnehmer des „Marschs der Gleichheit“ ab. Sie laufen am Ufer des Dnepr entlang, um Gegnern weniger Angriffsfläche zu bieten. Denn die nationalistische Vereinigung Rechter Sektor hat zuvor auf ihrer Internetseite gedroht: „Gemeinsam mit anderen Nationalisten werden wir, die Kämpfer des 13. registrierten Bataillons des ukrainischen Freiwilligencorps des Rechten Sektors alles für uns Mögliche tun, um diesen sodomistischen Umtrieb in Kiew nicht zuzulassen.“ Am Tag des Marschs rottet sich in Kiew ein maskierter Mob aus Schlägertypen zusammen, bewaffnet mit Pfefferspray und Leuchtraketen, die sie mit Nägeln in Rohrbomben verwandelt haben. Ein Polizist wird in die Halsschlagader getroffen, Rettungskräfte bringen ihn ins Krankenhaus. Panik
Das Fußballteam „Rosa Flamingo“ gewinnt dank Kapitänin Arina das Turnier.
NICHTS FRAGEN, NICHTS SAGEN Der Busfahrer hat die Frauen mit kurzen Haaren, Hoodies und Turnschuhen gesehen und nichts gesagt. Nichts fragen, nichts sagen – in der Ukraine ist das für viele das Maximum an Akzeptanz. Denn offen gelebte Homosexualität oder ein Ausbrechen aus typischen Geschlechterrollen wird in der Ukraine als Bedrohung traditioneller Werte empfunden. Der heterosexuelle Teil der Gesellschaft hat eine diffuse Angst, dass Kinder durch diese „ungesunde Lebensweise“, diese „Krankheit“ und „Perversion“ geschädigt werden könnten. Schwule werden als „Päderasten“ verunglimpft, Lesben nicht ernst genommen und ständig nach ihren Heiratsplänen gefragt. „Die ukrainische Gesellschaft ist zu ungebildet und aggressiv gegen das, was sie nicht kennt und nicht versteht“, sagt die lesbische Aktivistin Nina Verbytskaya. Auf dem Sportfest gibt sie einen Workshop zu „Effektiver Kommunikation“. „Der erste Eindruck von einer Person ist entscheidend dafür, wie die Kommunikation mit ihr verlaufen wird“, erklärt sie. Als jede Teil-
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Klartext
Schwarm
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REPORTAGE
Rechte Schläger griffen die Teilnehmer des Marschs mit Rohrbomben an. Ein Splitter traf einen Polizisten in die Halsschlagader.
LGBT-Community hat Bekannte, die betroffen waren, oder kann selbst von solchen Erlebnissen erzählen. Vor allem Jugendliche werden geschlagen, gedemütigt, beraubt oder im Internet gegen ihren Willen geoutet. Deshalb setzt sich Sviatoslav in der „Koalition gegen Diskriminierung“ für Gesetzesreformen ein. Zu dem Dachverband gehören mehr als 50 verschiedene Menschenrechtsorganisationen. Er will erreichen, dass Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität gesetzlich verboten wird. Derzeit wird in der Ukraine zwar eine nationale Menschenrechtsstrategie vorbereitet. Die Rechte von lesbischen, schwulen, bisexuellen oder transgeschlechtlichen Menschen werden darin jedoch bislang nicht erwähnt.
Sviatoslav war früher Beamter. Weil er schwul ist, wurde er aus dem Staatsdienst entlassen – und arbeitet heute als Aktivist und professioneller Bodybuilder.
SPORT IST AUCH WIDERSTAND Sviatoslav ist klar, dass es bis zur expliziten Aufnahme sexueller Minderheiten in den Gesetzestext ein langer Weg sein wird: „Erstens wollen viele Beamte nichts machen, was überhaupt mit LGBT-Themen zu tun hat. Zweitens arbeiten sie oft nicht professionell“, sagt er. „Manchmal kommt es vor, dass wir als Experten einer nicht-juristischen Organisation bessere Dokumente und Lösungswege ausarbeiten als sie. Drittens haben sie zu wenig kompetente Leute, die auch noch zu langsam arbeiten.“ Sviatoslav war selbst Beamter. Vor 15 Jahren wurde er wegen seiner Homosexualität aus dem Staatsdienst entlassen. Jetzt steht er auch physisch für die LGBT-Community ein: In seiner Freizeit betreibt der 111 Kilo schwere Mann professionelles Bodybuilding. Für ihn hat Sport in der postsowjetischen Ukraine auch politische Bedeutung. „Sport ist eine Form des friedlichen Widerstands, mit dem man seine Beharrlichkeit,
Fo t o s : p ri v at
macht sich breit, die Teilnehmer flüchten, doch niemand will ihnen helfen: Die öffentlichen Busse schließen ihre Türen und brausen vorbei. Zehn Menschen werden beim Kiew Pride verletzt. Die Aktivisten sammeln später Spenden für den verletzten Polizisten. Ein Sanitäter gibt ihnen die Schuld für dessen Wunden. Schon beim ersten „Marsch der Gleichheit“ im Jahr 2013 gab es Verletzte. Einer von ihnen war der LGBT-Aktivist und Bodybuilder Sviatoslav Scheremet. Noch heute zuckt und schmerzt seine Augenhöhle dort, wo ihn die Schläge ins Gesicht getroffen haben. Eine Gruppe vermummter Schwulenhasser stürzte sich damals auf Sviatoslav, brachte ihn zu Boden. Zu fünft traten sie auf ihn ein. Eine Journalistin, die sich mit gezückter Kamera näherte, rettete Sviatoslav vor lebensgefährlichen Verletzungen. Selten gelingt es der Polizei, nach solchen Attacken die Täter zu fassen. Strafrechtlich werden sie dann als „Hooligans“ verfolgt, denn Homophobie ist in der Ukraine kein Tatbestand. Dabei ist in den letzten Jahren die Zahl schwulen- und transfeindlicher Angriffe stark gestiegen. Jeder und jede aus der
„Homosexualität ist keine Seuche, sie wird nicht sexuell oder durch Tröpfcheninfektion übertragen“ die Schönheit seines Körpers und seine Willensstärke zeigen kann und sich für sein Land einsetzt“, sagt Sviatoslav. „Ich merke das selbst, denn es fällt unseren Leuten schwer, sich einen schwulen Sportler vorzustellen – aber da bin ich!“ Auch in Mykolaiw blühen beim Sport viele Teilnehmerinnen auf. Arina, Kapitänin der Fußballfrauschaft Rosa Flamingos, hat sich die pinke Mannschaftsschleife um ihren Samurai-Dutt gebunden. Sie tigert im ukrainischen Nationaltrikot die Seitenlinie auf und ab, schreit Kommandos über den Platz. „Nastya, lauf nach vorne! Achtung am Tor! Kämpfen, kämpfen!“ Niemand nimmt hier Anstoß an Arinas kehliger, lauter Stimme, ihren vehementen Armbewegungen, stattdessen zollt man ihr Respekt. Die Zuschauerinnen nennen Arina einen „Profi“, die Spielerinnen lassen sich von ihr dirigieren. Kaum eine der Frauen hat vorher schon Fußball gespielt, aber alle sind mit Elan dabei, jagen über den Platz, passen, lernen ganz nebenbei, wann welche Mannschaft einen Freistoß oder Einwurf bekommt. Am Ende tragen die Rosa Flamingos den Gesamtsieg davon.
Mehr als tausend Polizisten schützten die Teilnehmer des Kiew Pride 2015.
Viktoria, von der die anderen Frauen das Kugelhantel-Stemmen lernen, ist es gewohnt, als Tischtennislehrerin auch im Alltag sportliche Kommandos zu geben. Doch dabei muss sie immer aufpassen, sich nicht zu outen – vor allem, weil sie Kinder unterrichtet. „Ich bin eine Frau, ich bin alt, in meiner Stadt gibt es wenige Möglichkeiten. Wenn ich meine Arbeit verliere, wird es schwer, eine neue zu finden“, sagt sie. In ihrer Freizeit hat Viktoria schon mehrmals Sportveranstaltungen für die LGBT-Community in ihrer Heimat Charkiw organisiert, die 50 Kilometer von der russischen Grenze entfernt liegt. Teilnehmen konnten nur Frauen, die sie per Email eingeladen hatte. Dazu hat sie die Turnhalle gemietet, in der sie arbeitet, und zehn Frauen in ihrer kleinen Wohnung übernachten lassen. Die Teilnehmerinnen kamen aus der ganzen Ukraine. Einfach nur, um ein Wochenende beim Sport unter sich zu sein. Zumindest einander nichts verheimlichen zu müssen. Ursprünglich hatte auch das Frauensportfest in Charkiw stattfinden sollen. Als der militärische Konflikt zwischen Armee und Separatisten zu nah an die Stadt rückte, verlegten die Organisatorinnen das Fest nach Mykolaiw. Ob den Vermietern des Feriendorfs klar ist, dass es sich um eine LGBT-Veranstaltung handelt, wissen nicht einmal die Organisatorinnen: „Sie haben uns nichts gefragt.“ Immerhin bleibt das Frauenfestival von Angriffen verschont. Heimlichkeit ist der Preis für Sicherheit. ENDLICH SICHTBAR WERDEN Doch die ukrainische LGBT-Community will endlich sichtbar werden und arbeitet deshalb mit internationalen Menschenrechtsorganisationen und LGBT-Gruppen zusammen. Neben „Amnesty International“ und der Kontaktgruppe „Munich Kiev Queer“ aus Kiews Partnerstadt München setzten sich auch deutsche Politiker und Politikerinnen aus Bundestag und
Fo to: pr ivat
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Klartext
Schwarm
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REPORTAGE
„Lesben, Schwule, Bisexuelle und transgeschlechtliche Menschen sind in erster Linie Menschen. Nichts Menschliches ist ihnen fremd“
Europarat für den Kiew Pride ein. Eine Münchner Stadträtin wurde vorab im Kiewer Rathaus vorstellig und forderte Polizeischutz. Eingeladen hatte der Bürgermeister Vitali Klitschko weder sie noch die angereisten Unterstützer. Er schrieb vor dem Marsch der Gleichheit auf seiner Webseite: „Während der Krieg in der Ostukraine fortdauert, ist die falsche Zeit, Massenveranstaltungen abzuhalten, die in der Gesellschaft unterschiedlich bewertet werden.“ Er bitte jeden, „keinen Hass zu entflammen“. Vielen Gegnern der LGBT-Community dient der Konflikt im Osten der Ukraine als Totschlagargument. Der ukrainische Präsident Poroschenko stellte sich mit bemüht europäischer Haltung hinter den Pride: Er sei zwar Christ und werde am Marsch nicht teilnehmen. Aber er sehe „keine Hindernisse, die den Kiew Pride verhindern könnten“, denn es gehe um das „Grundrecht jedes ukrainischen Bürgers“. Wie wichtig das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit ist, hat vielen Ukrainerinnen und Ukrainern die Maidan-Revolution gezeigt. Auf das Sportfest in Mykolaiw hat die ukrainische Frauen-Community deshalb auch internationale Aktivistinnen eingeladen, um von ihnen zu lernen. Die Münchner Künstlerin Naomi Lawrence ist seit den 80er-Jahren in der lesbischen Protestbewegung ihrer Heimatstadt aktiv. Sie bringt den Frauen bei, dass Widerstand kreativer aussehen kann, als Plakate hochzuhalten und Slogans zu skandieren. „Stellt euch vor, Poroschenko fährt heute Abend in Mykolaiw vorbei“, trägt Naomi den Workshop-Teilnehmerinnen auf. „Wie schafft ihr es, als lesbische Aktivistinnen für ihn sichtbar zu werden?“ DAS SYSTEM AUSTRICKSEN Mit Protest in eigener Sache haben die Frauen keine Erfahrung. Und doch finden vier von ihnen einen Weg, das System auszutricksen. Eine von ihnen spielt Poroschenko, zwei andere gehen als Fußgängerinnen auf ihn zu. „Herr Präsident, dürfen wir Sie um ein Foto mit Ihnen bitten?“, fragen sie artig. Poroschenko stimmt zu, stellt sich zwischen die beiden Frauen und breitet die Arme über ihre Schultern. Eine imaginäre Fotografenmeute stürzt sich auf das attraktive Bild. Was Poroschenko nicht sieht: Hinter ihnen steht die vierte Aktivistin und macht das Foto, um das es eigentlich geht. Denn die Frauen an seiner Seite halten hinter seinem Rücken Händchen.
Nur wenige Paare trauen sich, auf der Eröffnung des Sportfests ihre Liebe offen zu zeigen.
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Klartext
4 FRAGEN AN 4
Fans. Sie bewundern, unterstützen, organisieren. Stars brauchen sie, denn was sonst macht ihren Bekanntheitsgrad aus?
Verrückt nach .. . ... Se m ino R o ss i
Wie unterstützen Sie Ihren Star?
Wie viel Zeit invetieren Sie?
be Wi i r fü Hit vot r S pa en em rad in en o
Karola
Für unsere alljährliche Clubzeitung brauchen mein Mann und ich etwa
100 Std.
Kon z ept: Kath ar ina Ku tsc he & Gui lla ume Ho rst
in drei Wochen
Wann würden Sie Ihren Star nicht mehr gut finden?
Ihr schönstes Erlebnis mit Ihrem Star?
... Boru ssia Dort mund
Kevin
Für mich ist es selbstverständlich, auch in (sportlichen)
KRISENZEITEN
S e it 5 J a hr en h abe i c h kei n S PI EL d es BV B ver pa ss t
Urlaube am Drehort: am Wilden Kaiser
1/2 S t unde pro Tag
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ROCK´ N´R OL L
Eine Fankreuzfahrt durch das Mittelmeer
Michaela
zu meiner Mannschaft und zu meinem Klub zu stehen
E r müs s t e s i nge n ;- )
... Der Berg dokt or
... L a dy Di
Evelyn
Wir sind immer am 31. August in London vor dem Kensington Palast und zu ihrem Geburtstag auf ihrem Heimatgut Althorp – mit Karten, großen Postern und Blumen
1 Wo ch e i m M ona t, j e nac hde m , w as a nl ie g t
Ich werde Prinzessin Diana of Wales immer verehren. Sie war eine Jahrhundertprinzessin
Da fällt mir spontan nichts ein
Diese Frage stellt sich für mich nicht
DFB-Pokalendspiel 2012 in Berlin gegen FC Bayern München. Mit 20 000 Menschen beim Public Viewing für BVB-Fans und einem 5:2-Erfolg
Schwarm
Alle Interviews, die ich mit den Schauspielern geführt habe
D i a nas Bru d e r C HAR LES S PE N C E R beg r üß t m i ch au f A lt h o rp i nz wi s ch e n pe r H and sc h l a g
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REPORT
H OL LY W O O D S H EL FER
Mit Tausenden oder gar Milliarden zusammenleben - in der Natur kein Problem. Die Naturschauspiele inspieren auch Forscher, denn die Schwärme, hier Makrelen, organisieren sich mit wenigen Regeln.
Im Gegensatz zum Menschen organisiert sich die Natur mit einfachen Regeln. Wissenschaftler schauen sich diese Erfolgsrezepte ab – für Busrouten, Medikamente und digitale Kinomonster.
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Als Forscher das Schwarmverhalten am Computer erstmals nachstellten, waren die Ergebnisse erstaunlich. Nur drei einfache Regeln sind für das komplexe Verhalten von unzähligen Tieren verantwortlich: ---1. Bleib immer im Mittelpunkt derer, die dich umgeben. 2. Bewege dich in dieselbe Richtung wie die, die dich umgeben. 3. Halte weiterhin Abstand, falls dir jemand zu nahe kommt. ---Die Regeln stammen aus einem Algorithmus vom Programmierer und Wissenschaftler Craig Reynolds, der Vogelschwärme beobachtete. Für die sind solche Regeln lebensnotwendig. Nähert sich ein Falke einem Schwarm von Staren, vollführen sie augenblicklich synchrone Flugmanöver. So kann sich der Falke auf kein einzelnes Beutetier konzentrieren und es jagen. Stattdessen kann sogar der Jäger zum Gejagten werden. Manche Arten bedrängen ihre Verfolger derart, dass sie nicht mehr
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Foto: Oc ta vi o Aburto
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s ist wohl die größte Choreographie der Welt, wenn Milliarden Heringe in ihren Formationen durch den Atlantik schwimmen. Bei den Fischen spielt es keine Rolle, ob es fünfzig, hundert oder eine Milliarde sind. Es klappt auf Anhieb. Sobald etwa fünf Prozent der Fische ihre Richtung ändern, folgt der ganze Schwarm ihnen nach. Mit feinen Sinneszellen im Ohr und einem kanalförmigen Sinnesorgan nehmen Fische jede leichte Druckveränderung und Strömung schnell und präzise wahr. Wenn jedoch viele Menschen zusammenkommen, wird es schwierig, sie zu kontrollieren. Meistens kommt es zu Komplikationen. Egal ob an Pilgerorten, auf Festivals oder auf Autobahnen, wenn bereits ein ausscherendes Fahrzeug genügt, um einen Stau zu verursachen. Die Natur zeigt, wie es stattdessen gehen könnte. Das Schwarmverhalten von Tieren fasziniert Wissenschaftler aller Disziplinen – und sie machen es sich zu Nutze. Die Idee für Taucheranzüge kommt von der Haihaut, wasserabweisende Oberflächen nutzen den Lotus-Effekt und Flugzeugrotoren ähneln den Flügeln von Eulen: In der Bionik nutzen Forscher und Ingenieure die Natur als Bauanleitung für die Technik.
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REPORT
Ameisenroute Ameisen auf Nahrungssuche strömen auf unterschiedlichen Wegen (rot, blau) aus. Je kürzer der Weg, desto stärker ist ihre Duftspur. Alle nachfolgenden Ameisen (grau) wählen wahrscheinlich den Weg mit dem stärkeren Duft, den kürzeren.
FUTTER
BAKTERIEN BELAUSCHEN
AMEISENLOGISTIK Ameisen haben das Zusammenleben perfektioniert. Ihre Völker bestehen aus hunderten bis mehreren Millionen Tieren. Jedes übernimmt eine Aufgabe wie Brutpflege, Nahrungssuche, Nestbau oder Erkundung. Gemeinsam meistern sie, was über das Können der Einzelnen hinausgeht – etwa wenn sich Feuerameisen zu einem organischen Floß zusam-
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NEST
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Auch für andere tödliche Gefahren hat die Schwarmforschung eine Antwort parat. Multiresistente Keime fordern jährlich viele Todesopfer. Viele Antibiotika töten zwar gefährliche Bakterien ab. Resistente Bakterien überleben das jedoch. Meist sind sie zufällig resistent geworden, durch Genmutationen oder sogar weil sie genetische Informationen untereinander getauscht haben. Die wenigen Bakterien, die den Antibiotika trotzen, sind dann allein auf weiter Flur und können ungestört wachsen. Das Antibiotikum macht sich so selbst entbehrlich. Gleichzeitig
DI AL E K TE G I BT ‘S A UC H BE I B AK TE RI E N . FO RS CH E R W O LLE N I H NE N I NS WO RT FA LLE N greifen die Medikamente allerdings auch solche Darmbakterien an, auf die der Mensch angewiesen ist. Die Schwarmforschung könnte in Zukunft dabei helfen, den schädlichen oder gar tödlichen Überlebenskünstlern zuvorzukommen. Man muss den Bakterien nur zuhören. Bakterien sind meist Einzeller, die sich teilen und so exponentiell vermehren. Für viele lohnt es sich erst ab einer gewissen Anzahl, bestimmte Stoffe wie Gifte zu produzieren. Kariesbakterien zum Beispiel geben ihren schädlichen Biofilm erst dann ab, wenn sie ausreichend viele sind. Quorum sensing heißt es, wenn Bakterienansammlungen ihre Zelldichte messen. Dazu nutzen Bakterien chemische Botenstoffe, die Zellmembranen passieren, an geeignete Rezeptoren andocken und dadurch gewünschte Reaktionen auslösen. Für zellulären Smalltalk bleibt
keine Zeit, denn es geht oft ums Überleben. Etwa dann, wenn andere Bakterien oder das menschliche Immunsystem dem Bakterium gefährlich werden. Verschiedene Rezeptoren oder Botenstoffe sind mit Dialekten vergleichbar. Nicht alle Bakterienarten können miteinander kommunizieren. Forscher aus München und Frankfurt haben die chemischen Gespräche am Bakterium Photorhabdus luminescens analysiert und mittlerweile den dritten Dialekt entdeckt. Die Forschung an dem Bakterium ist deshalb wichtig, weil viele andere dieselben oder ähnliche Kommunikationsmechanismen aufweisen. Darunter fallen beispielsweise Pest- oder EHEC-Erreger. Auch das Bakterium Pseudomonas aeruginosa nutzt Quorum sensing und zählt zu den häufigsten Keimen in Krankenhäusern. Es verursacht Lungenentzündung und widersetzt sich den meisten Antibiotika. Indem Wissenschaftler die Kommunikation der Zellen beeinflussen, hindern sie die Bakterien beispielsweise daran, Gifte zu produzieren. Das Besondere dabei: Die Zellen überleben zwar, sind aber ungefährlich. Wenn alles weiterhin mit Bakterien bevölkert bleibt, vermehren und verbreiten sich auch resistente Bakterien nur langsam. Grobe Schätzungen besagen, dass bisher lediglich ein Prozent aller Bakterien überhaupt identifiziert worden ist. Die Wissenschaft hat also auch in Zukunft noch lange nicht ausgeforscht. Dafür ist die Natur zu einfallsreich.
Das Meeresleuchten auf den Malediven entsteht durch Bakterien. Erst ab einer gewissen Anzahl produzieren sie die leuchtenden Substanzen. Das bedeutet: Sie kommunizieren miteinander.
Foto: Do ug Pe r ri ne ; I llust rati on: Math ia s Te rtilt
mit den Flügeln schlagen können und kurzzeitig flugunfähig werden. Früher oder später suchen sich die Raubvögel leichtere Beute. 1986 simulierte Reynolds anhand dieser Regeln zum ersten Mal künstliche Gruppen am Bildschirm, die sich so realistisch verhielten wie ihre natürlichen Vorbilder. Er ahnte nicht, auf welches Interesse er damit stoßen sollte. Nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch bei der Polizei, dem Militär und sogar in Hollywood. Mit Hilfe solcher Simulationen lassen sich unter anderem Massenpaniken prognostizieren. Heute konzipieren damit Fachleute große Gebäudekomplexe und deren Rettungswege. Das Militär nutzt die Technik für autonome Drohnen, die in Schwarmformation durch die Luft schweben. Und was auf dem Bildschirm begann, fand auch Anwendung auf der Leinwand. Reynolds Algorithmus berechnete nicht nur die digitalen Pinguine im Film Batmans Rückkehr. Er war auch die Grundlage für computergenerierte Schlachten zwischen Menschen, Orks und Elfen in der Herr der Ringe-Trilogie.
menschließen, um Gewässer zu überqueren. Der immense Organisationsaufwand im Ameisenalltag funktioniert nur, weil die Ameisen sich absprechen. Sie kommunizieren über Drüsen, die duftende Pheromone versprühen. Für die Nahrungssuche schwärmen viele Ameisen auf verschiedenen Wegen aus. Jede von ihnen hinterlässt eine Duft-spur. Die verdunstet jedoch mit der Zeit. Je länger die Ameisen unterwegs sind, desto geringer ist die Konzentration des Pheromons. Alle nachfolgenden Ameisen wählen den Weg mit der stärksten Konzentration – und damit den Kürzesten. Aus anfänglichem Chaos entsteht eine Ameisenstraße. Der Mensch nutzt diese Schwarmintelligenz, weil der effektivste Weg auch in der Wirtschaft Zeit und Kosten spart – egal ob bei Briefen, Kurieren oder in der Großlogistik. Der Italiener Marco Dorigo hat aus der Wegfindung von Ameisen den so genannten Ameisenalgorithmus programmiert. Dieser wird heutzutage in vielen Varianten eingesetzt, um die schnellste Verbindung von Buslinien zu berechnen, oder aber die Lieferrouten von Postboten und Kurieren. Der große Vorteil ist, dass sich der Algorithmus bei Veränderungen schnell anpasst. Frustrierend ist für Forscher vor allem, dass sie jedes einzelne Tier im Auge behalten müssen. Ein Forscherteam der europäischen Weltraumorganisation (ESA) hat deshalb einen ganz anderen Organismus studiert: Pflanzen. Für den Menschen vorerst unsichtbar schwärmen sie unter der Erde aus. Obwohl sich Tiere und Wurzeln weder auf den ersten noch den zweiten Blick ähneln, bleiben die Schwarmprinzipien dieselben. Die Wurzelspitzen nehmen ständig Informationen aus der Umgebung wahr, etwa die Konzentration an Mineralien und Nährstoffen. So wissen die Wurzeln, wohin sie wachsen sollen. Anhand ihrer Forschungsergebnisse konzipieren Wissenschaftler und Ingenieure Roboterschwärme. Diese sollen wie ihre natürlichen Vorbilder miteinander kommunizieren, mittels Sensoren Umwelteigenschaften wahrnehmen und sich effektiv verteilen. Das Roboternetzwerk könnte zum Beispiel Planeten und Asteroiden erkunden oder auf der Erde strahlenbelastete Regionen analysieren.
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WISSEN KOMPAKT
Fa r m er m it sechs Bei ne n Farm-Roboter könnten laut ihrem US-Entwickler in Zukunft ganze Felder selbstständig bewirtschaften. Der Schwarm koordiniert selbstständig seine Aufgaben: Löcher graben, bepflanzen und die Setzlinge nach ihrem einzelnen Bedarf gießen und düngen. Auf sechs Beinen sind die Roboter ohne Drehungen in jede Richtung beweglich und können Hindernissen ausweichen.
B oo t o h n e S teue r man n Unbemannte Boote sollen als Vorhut von Kriegsschiffen die Besatzung bewachen, bei Bedrohung ausschwärmen, das Ziel einkreisen und bekämpfen. Die US Navy und die israelische Armee wollen damit Kosten sparen und Menschenleben retten – zumindest auf der eigenen Seite.
R O BO TE R
K O N Z E P T: E V A S T E I N L E I N
Maschinen können sich längst selbstständig als Schwarm organisieren. Wozu das einmal gut sein könnte, zeigen Entwicklungen wie diese.
Musik im Oktett Ein Mini-Ensemble aus acht Robotern eines US-Forschungsinstituts kann Beethovens Klavierstück „Für Elise“ spielen. Die Roboter bestimmen selbstständig, wer welche Taste drückt.
W L A N a u s d er L uf t Mikroflugzeuge mit WLAN-Modulen können über Krisengebieten eine Internetverbindung aufbauen. Für eine stabile Verbindung ist ein Schwarm aus zehn bis dreißig Flugrobotern nötig. Über ein elektrisches Halsband könnten die Flugroboter laut ihren Schweizer Entwicklern Spürhunde bei der Vermisstensuche führen und den Rettungskräften Rückmeldung geben.
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Foto s: Off ic e of Nav al Re sea rc h; D orhou t R&D LLC; Y. Ko tsan s fo r I. S part al is S MARV NE T; G R I T S l a b G e o rg i a
W IR SIND D IE
INTERVIEW
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SCHWARM: Herr Mitgutsch, Sie zeichnen belebte Orte – den Jahrmarkt, das Freibad, den Hafen. Ziehen solche Plätze Sie an?
ALI MITGUTSCH: Ja, ich bin einfach neugierig. Ich gehe gern unter Menschen, da gibt es viel zu beobachten.
„ Mir geht es nicht um eine heile Welt, sondern um eine heilbare “
Fotos: Ra ve nsburge r
In den Bilderbüchern von ALI MITGUTSCH wimmelt es nur so von Geschichten und kleinen Dramen. Ein Gespräch über Menschen und Menschenmengen.
Die Riesenradperspektive: Als Kind war Ali Mitgutsch fasziniert vom Trubel auf der Münchner Auer Dult.
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INTERVIEW: JUDITH ISSIG
Brauchen Sie keinen Abstand, um klar zu sehen?
Nein, nein, ich bin gern mitten drin. Da habe ich einen guten Blick auf das Geschehen. Das bunte Leben ist inspirierend. Ich fühle mich wohl unter den Leuten. Sonst hätte ich auch nie so viele Ideen für meine Wimmelbilder gehabt. Warum überhaupt Wimmelbilder?
Ganz ehrlich: Das war gar nicht meine Idee. Sie kam vom damaligen Direktor des Münchner Stadtjugendamts. Der hat zu mir gesagt, er hätte gern Bilder, auf denen so viel drauf ist, wie nur irgend möglich. Was hatte er damit vor?
Er kümmerte sich um behinderte Kinder. Sie sollten nacherzählen, was sie auf den Bildern sehen, und so lernen, ihre Gedanken verbal auszudrücken. Es sollte ein Buch sein, in dem man jedes Mal etwas Neues entdeckt. Als ich damit angefangen habe, gab es noch gar keine Wimmelbilder. Ich habe diese Form von Bildern entwickelt. Wie?
Mit Geschichten, die sich selbst erzählend durch das ganze Buch schlängeln. Durch Bilder, die ohne Text sprechen. Ein Bild muss die ganze Geschichte aussagen können. Wie geben Sie dem Wimmelbild eine Aussage?
Dazu suche ich Figuren, die mein Bild beleben und sich so verhalten, dass das Bild eine Aussage bekommt. In einem Bild aus Ihrem Buch „Hier in den Bergen“ stehen zwei alte Menschen traurig neben einer Baustelle, auf der ein Staudamm gebaut wird. Was ist die Aussage dieser kleinen Szene?
Auf dem Bild müssen die Leute ihr Haus verlassen, damit der Staudamm gebaut werden kann. Der Staudamm zählt mehr als die Menschen. Das ist eine Geschichte
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INTERVIEW
darüber, dass der Profit manchmal zu wichtig ist. Dass keine Rücksicht auf das Glück der Menschen genommen wird. Ist das Ihre Art der Kritik an unserer Gesellschaft?
Sicher. So etwas schiebe ich gerne ein. Das ist mein kleiner Seitenhieb für die Erwachsenen.
der am besten passt. Und daran schließt dann eine neue Szene an.
Wie viel von der Kritik wollen Sie auch denen mitgeben?
Haben Sie die Geschichten, die Sie zeichnen, alle selbst erlebt?
Als ich die ersten Wimmelbilder herausbrachte, wurde mir immer vorgeworfen, dass ich nur die schöne, heile Welt darstelle.
Die Welten, in denen ich meine Figuren agieren lasse, setze ich immer aus meinen Erlebnissen und Erinnerungen zusammen. Ich habe alles schon einmal gesehen.
Das tun Sie aber nicht.
Das macht doch jeder. Es gibt welche, die haben ein besseres Gedächtnis, manche haben ein schlechteres.
Wie vermittelt man das?
Ich spreche Schwierigkeiten schon an. Ich möchte dem Bild aber auch die Botschaft mitgeben, dass es eine Lösung dafür gibt. Das muss nicht mit dem erhobenen Zeigefinger sein, aber andeutungsweise. Wenn zum Beispiel auf einem meiner Bilder jemand auf dem zugefrorenen See einbricht, ist immer schon Hilfe unterwegs.
Haben Sie ein gutes Gedächtnis?
Ich habe eigentlich ein ganz furchtbares Gedächtnis! Aber mei. Nicht für alles. Mein optisches Gedächtnis ist gut. Sie sind 1935 geboren, also in Nazideutschland und während der Nachkriegszeit groß geworden. Wie haben Sie in Ihrer Kindheit und Jugend große Gruppen von Menschen erlebt?
Eine hoffnungsfrohe Botschaft. Was empinden Kinder noch, wenn sie in Ihren Bildern auf Reisen gehen?
Spaß. Kurzweil. Auf meinen Bilder sieht man das Leben, das ich als Kind gesucht habe. Teilweise habe ich es auch gefunden.
Diesen Jahrmarkt haben Sie dann ja auch gezeichnet.
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Heute? Da beschütze ich meine Familie! Ich habe drei Kinder. Die sind jetzt erwachsen, bei uns ist immer was los gewesen, unser Haus war immer für alle offen. Ich glaube, wir sind gesellige Menschen. Sie haben sich Ihr ganzes Leben mit Kindern beschäftigt: Mögen Sie Kinder?
Als Kind habe ich erlebt, dass Kinder sehr böse sein können. Beobachten Sie mal eine Gruppe Kinder, die sich unbeobachtet fühlt. Wie böse die teilweise zueinander sind. Wenn einer das Gefühl hat, er ist stärker als der andere und er kann dem eine reinwürgen – dann würgt er dem eine rein.
Eine willenlose, gleichförmige Menge macht mir immer Angst. Über die Jahre bin ich ziemlich individualistisch geworden. Ich mag fremde Kulturen und Menschen mit unterschiedlichen Lebensformen. Aber braucht nicht jeder, auch Sie, zumindest ein paar Gruppen in seinem Leben?
Aber Sie mögen sie offensichtlich trotzdem.
Klar, jeder Mensch braucht alle Facetten der Gemeinschaft: Familie, Freunde, Nachbarschaft, Politik. Daraus entsteht ein Gefühl von Verantwortung und Heimat, egal wo man ist. Als wir während des Kriegs im Allgäu gelebt haben, hatte ich oft schlimme Probleme mit den anderen Kindern. Meine Familie war wie ein Schutzraum für mich. Dahin konnte man sich immer zurückziehen, wenn es einem zuviel wurde.
Das sind ja auch nur Menschen. Das Zeichnen war immer eine Verbindung, mit dem ich das Gespür für die Welt der Kinder nicht ganz verloren habe. Vieles aus meiner Kindheit habe ich später noch behalten, meine Wünsche, meine Sehnsüchte. Sehnen Sie sich nach dieser Zeit zurück?
Wer wäre nicht gern noch einmal ein Kind – manchmal.
Ali Mitgutsch
Denken Sie an eine bestimmte Situation?
Auf der Auer Dult zum Beispiel. Die fand ich faszinierend.
Es entwickelt sich beim Zeichnen eine Szene, die ich an verschiedenen Stellen auf einen großen Bogen Transparentpapier zeichne. Ich treibe die Szenen sozusagen auf dem Papier herum. Bis ich den Platz gefunden habe,
Sie misstrauen Menschenmengen.
Ist das heute noch so?
All meine Kindheitserinnerungen sind auch Kriegserinnerungen. Da habe ich schlechte Erfahrungen gemacht mit Menschenmassen. Diese NS-Aufmärsche fand ich bedrohlich. Der Einzelne sollte sich klein und unbedeutend fühlen. Die Gruppe war mächtig.
Sie sind in München aufgewachsen. Wo gab es denn dieses vergnügliche Leben?
Wie entstehen Ihre Bilder?
„Kinder können sehr böse sein“
Sie sammeln also Erlebnisse.
Ja, mir geht es nicht um eine heile Welt, sondern um eine heilbare.
Ich wollte den Trubel rüberbringen. Ich habe alles gesammelt, was auf einem Jahrmarkt passieren könnte. Vom Riesenrad aus habe ich als Kind einen ganz neuen Blickwinkel entdeckt. Man konnte zum Beispiel von oben ins Kasperltheater reinschauen. Diese Perspektive hat mich so begeistert, die habe ich in meinen Bildern bewusst übernommen.
hat. Er hatte ein Fahrrad geklaut. Einer hatte das gesehen und gerufen: Der hat das Radl gestohlen! Ganz schnell sind immer mehr Menschen hinter dem Fahrraddieb hergelaufen. Sie haben den Mann einen Schuttberg hochgejagt und auf ihn eingeschlagen. Wie die auf seinen Kopf eingetreten haben – das hat sich angehört, als würde man auf eine Melone schlagen. Das war beängstigend.
„Das Zeichnen war meine Verbindung zur Welt der Kinder“ Klartext
Alfons „Ali“ Mitgutsch ist Autor zahlreicher Wimmelbilderbücher. Sein erstes, „Rundherum in meiner Stadt“, erschien 1968, ein Jahr später erhielt er dafür den Deutschen Jugendbuchpreis. Mitgutsch ist in München geboren. Den Spitznamen Ali bekam er, weil er laut seiner Mutter nach dem Spielen aussah „wie Ali Baba und die 40 Räuber“. Im Buch „Herzanzünder“ erzählt der heute 80-Jährige von seiner Kindheit im München der Kriegs- und Nachkriegsjahre.
Einmal ist der Hitler an unserem Haus in der Maxvorstadt vorbeigefahren. Abends im Sommer. Ich war schon im Bett, aber draußen war es noch hell. Alle Leute hatten damals Kissen auf ihren Fensterbänken, auf die haben sie sich gelehnt, um rauszuschauen. Auf einmal ist draußen der Hitler vorbeigefahren. Alle haben geschrien „Heil! Heil!“, wie Hampelmänner. Das kam aus allen Häusern. Hatten Sie Angst?
Damals hat mich das erschreckt und fasziniert zugleich. Gab es diese bedrohlichen Massen nur während des Krieges?
Nach dem Krieg habe ich einmal miterlebt, wie die Menge sich auf einen Mann gestürzt
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REPORT
Gemeinsam ohne Gott
TEXT & FOTO: PHILIPP NOWOTNY
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Die „Sunday Assembly“ feiert atheistische Messen und bedient sich dabei ganz ungeniert christlicher Rituale. Warum um Himmels Willen treffen sich urbane Nicht-Religiöse zu liturgischen Meetings?
onntagnachmittag, Hamburger Schanzenviertel. Wer sich für einen frommen Christen hält, hat um diese Tageszeit längst den Gottesdienst absolviert, den Weihrauch aus den Kleidern geklopft und verspeist gerade seinen Sonntagsbraten. Für diejenigen aber, die auf Gott nicht einmal mehr pfeifen, beginnt die Messe genau jetzt, um 14 Uhr. Im linken Kulturzentrum Centro Sociale sitzen sie in geraden Stuhlreihen. Einige Dutzend sind wieder gekommen, wie jeden Monat bei der „Sunday Assembly“. Sie sind Anfang 20 bis 60, den Organisatoren zufolge soll es ein Querschnitt durch alle Berufssparten sein, der sich hier versammelt, „Großstadtpublikum halt“. Was die Anwesenden eint: Mit Religion haben sie nicht viel am Hut. Und trotzdem tun sie sich das an, 60 Minuten Gottesdienst. Nur, dass Gott dabei keine Rolle spielt. Auf der Bühne vorne wird gepredigt, vorgelesen, sinniert. Eingeladene Wissenschaftler wie der Zukunftsforscher Matthias Horx erklären dem lauschenden Publikum, was die Welt auch in Jahrzehnten noch zusammenhält. Mitglieder der „Gemeinde“ lesen Gedichte vor, Romanfragmente, Zeitschriftenartikel. Zwischendurch müssen die Zuhörer selbst in die Pötte kommen: Der Beamer wirft Lyrics an die Wand, Gitarren stimmen ein, Popsongs aus der neueren Musikgeschichte werden intoniert. Sitzen, stehen, singen; gekniet wird nicht. Nach dem offiziellen Teil der Veranstaltung gibt‘s Kaffee und Kuchen. Fast wie im echten Pfarrheim, nur eben ohne Kruzifix im Herrgottswinkel. Die Idee der „Sunday Assemblies“ stammt aus England, 2013 entwickelt von den Stand-up-Comedians Pippa Evans und Sanderson Jones. Sie richten sich an Atheisten und Nicht-Religiöse, ihre Nährböden sind die urbanen Zentren der Freisinnigkeit. Das Konzept: Wir picken uns das Beste im Menü der Religionen heraus und verzichten auf alles, was uns nicht gefällt. Die Gourmetstücke in diesem Sinne sind die christlichen Rituale und Strukturen, aber auch gegenseitige Hilfe und Reflexionen über das Leben. Verboten sind dagegen Dogmen,
Brauchen wir das noch? Die Besucher der Sunday Assembly predigen, lesen und singen. Doch mit Göttern und ihren Symbolen können sie wenig anfangen.
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REPORT
starre Lehren und heilige Schriften, nichts darf vorgeschrieben sein, die Köpfe sollen offen bleiben. Doch vor allem wollen die hippen Ungläubigen eines: Gemeinschaft erleben. Im vorigen Jahr schwappte die Bewegung auch nach Deutschland. Seither trifft man sich in Hamburg, Berlin und Frankfurt zu regelmäßigen Veranstaltungen, auch in München und Hannover entstehen neue Gruppen, andere Städte folgen vielleicht. Viele dürften sich in den Leuten wiedererkennen, die in den „Sunday Assemblies“ ihre freien Sonntage verbringen: Studenten, Digital-Experten, Krankenschwestern, Selbstständige und Angestellte, die meisten gut gebildet, oft sozial engagiert und breit vernetzt, jung oder jung geblieben, auf jeden Fall mitten im Leben stehend. Sie interessieren sich nicht für Psalm-Rezitationen und Bibel-Exegese, denken nicht über Gott nach oder glauben nicht an
Rituale schleifen sich ab und blühen neu auf. Pyrotechnik ist der neue Weihrauch
freunde genießen heute die H-Moll-Messe von Johann Sebastian Bach, der damals an seinem Stück noch „Gott allein die Ehre“ zubilligen wollte, vor allem aus ästhetischen Gründen. Religiöse Rituale schleifen sich also ab, verlieren ihren Ursprung – und blühen in neuen Kontexten auf: Die Massenunterhaltungsware „Fußball“ zieht uns nicht zuletzt durch liturgische Elemente wie Gesang, Fahnen und ritualisierte Jubelszenen in den Bann. Pyrotechnik ist der neue Weihrauch. Die „Sunday Assembly“ unterscheidet sich davon nur insofern, dass sie diesen Transfer bewusst vollzieht und aus ihren Anleihen aus der christlichen Tradition keinen Hehl macht. Die geistlich inspirierte Struktur hat zudem praktische Gründe: 2000 Jahre habe die Kirche Zeit gehabt, um herauszufinden, wie Gottesdienste an Sonntagen funktionieren, was den Menschen in Gruppen gefällt, sagt Sax. Viele der Elemente seien selbst aus anderen Religionen übernommen worden. „Da dürfen wir uns schon bedienen.“ Noch ist die Bewegung allerdings kaum zwei Jahre alt. In Deutschland können die gottlosen Gottesdiener derzeit nur davon träumen, in ihrem Hamburger Seminarraum 300 Besucher zu empfangen, wie sie etwa in London üblich sind. „Wir betrachten das gerade als Experiment“, sagt Sax. „Wir haben weder einen Gott, noch sind wir ein Fußballverein. Alles was wir darstellen, sind Menschen mit menschlichen Erfahrungen, die das Leben feiern wollen.“ Bislang profitiert die „Sunday Assembly“ noch vom Reiz des Neuen. Zwei Szenarien sind denkbar: Das Projekt scheitert, weil es irgendwann nicht mehr schick ist. Oder es hat Bestand, weil auch der atheistische Mensch keine Insel ist.
ihn, zweifeln und hinterfragen. Sie wollen ihr Leben selbstbestimmt anpacken, von der Kirche kommen sowieso die falschen Antworten. Doch was suchen Menschen, denen Religion eigentlich so fern ist, wie mit dem Trinkhelm pauschal nach Mallorca zu reisen, in den ritualisierten Veranstaltungen der „Sunday Assembly“? Rainer Sax, der das Format in Hamburg mitbegründet hat, ist überzeugt, dass zeremonielle Zusammenkünfte nicht nur Gläubigen vorbehalten sein sollten. „Jeder braucht Gemeinschaft“, sagt er, „ob fürs Fußball spielen oder einfach um mit Freunden abzuhängen.“ Tatsächlich fehlt es heute wahrlich nicht an Möglichkeiten, Menschen mit gleichen Interessen zu treffen, gemeinsam Zeit zu verplempern oder engagierte Projekte auf die Beine zu stellen. Tausende Deutsche kicken, bolzen oder pöhlen am Wochenende „mit den Jungs“ und heizen anschließend den Grill an. Sie bouldern zusammen in den innerstädtischen Kletterhallen, treffen sich zum Chillen in Parks und Gärten und besuchen in eingeschworenen Cliquen ironisch-amüsiert die wöchentlichen Sneak Previews in den Kinosälen der Republik. Sie verabreden sich zu Stammtischen, planen Kulturabende, setzen sich für politische Visionen ein. Doch vielen reicht das nicht aus, meint Sax: „In den meisten gesellschaftlichen Gruppen und Zusammenschlüssen werden die existenziellen Fragen des Lebens schließlich überhaupt nicht thematisiert. Da gibt es jedoch ein großes Bedürfnis.“ Die Organisatoren der „Sunday Assemblies“ wollen ihren Besuchern deshalb einen geschützten Raum schaffen, in denen unterschiedliche Weltanschauungen und Perspektiven ausgetauscht werden können. Ein pluralistisches Angebot für Individualisten.
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Kirche ohne Gott, säkularisierte Zeremonien – das klingt mehr als 200 Jahre nach Kant & Co. doch recht naheliegend. Die sinnstiftenden Rituale, mit denen die christlichen Religionsväter uns armen Sündern ein festes Lebenskorsett schnüren wollten, verlieren ohnehin immer mehr an Bedeutung: Nicht Firmung oder Konfirmation bedeuten heute die Schwelle ins ernste, produktive Erwachsenenleben, sondern die Zeugnisse für Abitur, Mittlere Reife oder – auf die Spitze getrieben – die Übertrittempfehlung nach der Grundschule. Die kirchliche Hochzeit dient ehewilligen Paaren weniger als ein Akt göttlicher Verbindung denn als romantisch-nostalgisches Intro für die obligatorische Sieben-Gänge-Völlerei. Wenn sich immer mehr Menschen in Gospel-Chören euphorisch die Kehle aus dem Leib singen, dann aus reiner Freude an den schmissigen Melodien; der „Lord“ ist textlicher Beifang. Klassik-
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KURZ & GUT
7 D I N GE , DI E . ..
EI N A N R U F
... man lieber a ll ei n m ac h t
.. . gemei nsam bes se r s i nd
1. Schwarzfahren 2. Einrad fahren
1. Pferde stehlen 2. Tandem fahren
3 . Jojo-Tric ks üb e n
3. Fu ßb al l sch auen
4. Zum Urolo ge n g ehe n
4 . U rl a u b m a c h e n
5. Tiefkühlpizza kaufen
5. Italienisch kochen
6 . AU SNÜC HT ER N
6. SI CH B E T RIN K E N
7. Schnarchen
7. Sex haben
M ASS E N TAU G L I C H
bei m Z entr um f ür Pol it is c he Sc h önhei t
Seit 2008 setzt sich die Künstlergruppe „Zentrum für politische Schönheit“ mit Aktionskunst für Menschenrechte ein. Für ihr Projekt „Die Toten kommen“ brachten sie Leichen von im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlingen nach Berlin, um sie dort zu bestatten. André Leipold kümmert sich um die Stoffentwicklung und koordiniert die Künstler. Herr Leipold, wenn Menschen zusammen Kunst machen, heißt das heute „Schwarmkunst“. Passt diese Bezeichnung auch auf Ihre Organisation?
Mode tr ennt, M od e verb in d e t
PUNKS, NAZIS, HIPSTER: Gemeinsamkeiten scheinen diese Gruppierungen nicht zu haben. Falsch gedacht. Die britischen Arbeitsschuhe Doc Martens sind durch die Bank beliebt – seit den 1960ern.
Der Begriff ist ganz gut. Ich biete meine eigenen Fähigkeiten an und die gehen im Ganzen auf. Allerdings müsste man die Leute mit einrechnen, die plötzlich in einer Aktion zu Akteuren werden. Wer wäre das zum Beispiel?
Politiker. Diese machen dann, obwohl sie das eigentlich nicht wollten oder sich dessen nicht bewusst sind, eine Form von Kunst. Im besten Fall erzeugen wir als Gruppe den Schwarm gemeinsam. Wie erzeugen Sie den Schwarm?
PUNKS
NAZIS
M EN G E N L EH R E Skur rile Reko rd e
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malaysische Studenten quetschten sich 2006 in einen Mini. In das neue Modell passen übrigens 22 Menschen.
HIPSTER
66 Surfern war ihr typisches Surfbrett zu klein. Zusammen sind sie auf einem Riesenbrett an den kalifornischen Strand gesurft.
Schwarm
Wir stellen alle Menschen für ein paar Momente in einen Sinnzusammenhang, in eine moralische Druckkammer, wie wir es genannt haben. Wir führen sie in einen anderen Kontext. Dann sind für einen kurzen Moment alle Künstler.
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Frauen sollten sich entspannen – als sie in einem chinesischen Stadion gleichzeitig eine Gesichtsbehandlung bekamen.
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PROTOKOLL
ZWISCHEN LEBEN Ilhan saß eineinhalb Jahre im Jugendgefängnis: schwere Körperverletzung, Beleidigung, Betrug. Seit kurzem ist er draußen. Und hat seinem Freund, unserem Autor, erzählt, wie es drinnen ist. Fot o s : Ve i t Me tt e , I l h an D. fo t o g ra fi e rt v o n Mo r i t z A i s s l i ng er
Ilhan D., 23, im Innenhof der elterlichen Wohnung.
PROTOKOLL: MORITZ AISSLINGER
Die Mehrzahl der hier gezeigten Bilder stammen aus einer Ausstellung des Fotografen Veit Mette und zeigen den nüchternen Alltag im Jugendknast.
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Männer in Uniform. Sie nehmen mir meine Klamotten weg. Sie drücken mir die Sträflingskleidung in die Hand, ein rotes Shirt, einen schwarzen Pullover, eine Hose, Schuhe. Ein Wärter bringt mich für die erste Nacht in die Aufnahmezelle. Ich höre noch, wie er von außen den Schlüssel im Schloss dreht, dann Ruhe. Und mit der Ruhe kommen die Gedanken, und mit den Gedanken kommt der Schmerz. Ich denk an meine Freundin, Lisa, seit drei Jahren sind wir zusammen, seit drei Jahren zeigt sie mir, was Liebe ist. Ich vermisse sie unendlich, jetzt und solange ich hier bin. Ich denk auch an meinen Vater, der ist schon alt, und plötzlich ist da dieses Gefühl, diese Stimme in meinem Kopf. Die fragt: Was, wenn ich ihn in Freiheit nie mehr sehen werde? Er ist mein Vorbild, mein Held. Er hat‘s verstanden, wenn ich ihm erklärt hab, warum ich jemand geschlagen hab, und hat geschlagen, wenn ich geklaut hab, mit Händen und Hölzern.
as soll ich erzählen, Alter? Wie soll ich anfangen, um zu zeigen, wie es ist da drinnen? Vielleicht mit dem Bunker, in den wir eingesperrt wurden, wenn wir Scheiße gebaut hatten? Oder lieber mit dem Litauer, dem Härtesten von uns allen, der zwei Typen totgeschlagen hat und nun schon seit sechs Jahren sitzt? Oder soll ich erst mal von der toten Zeit erzählen, von der Langeweile, der Angst? Das erste, was mir in den Kopf kommt, wenn ich an den Knast denke, ist die Sehnsucht; die Sehnsucht nach den unendlichen Weiten unseres Heimatdorfes, Haci Ömer im Osten der Türkei, ein paar Häuser nur, staubige Straßen, darum die Berge, Felder, Freiheit. Dort bin ich geboren, 1. Mai 1992, dort habe ich die ersten vier Jahre meines Lebens verbracht. Woran ich mich erinnere? An meinen Vater, wie er uns verlässt, um nach Deutschland zu gehen, er muss fliehen, weil er Kurde ist. An meine älteren Brüder, die die Kühe auf die Wiese treiben. Überhaupt an meine Geschwister, neun sind wir, und an die anderen Kinder aus dem Dorf, mit denen ich nackt über die Felder renne, ohne Regeln, ohne Verbote. Am ersten Tag im Gefängnis bin ich auch nackt, aber es ist ein anderes Nacktsein, ein erniedrigendes Nacktsein. Vor wenigen Minuten noch hab ich mich von meinen Eltern verabschiedet, draußen vor dem Tor, es war kalt, knapp über null Grad. Mein Vater hat gesagt, bleib stark, und meine Mutter, Trauer in den Augen, hat nichts gesagt. Dann hab ich meinen Brief zum Haftantritt beim Pförtner abgegeben und bin hineingegangen in mein neues Leben, 20. November 2013, 14 Uhr, JVA Wiesbaden, Haftanstalt für männliche Jugendliche und Heranwachsende. Zuerst muss ich in die Kammer, körperliche Erstuntersuchung. Sie tasten mich ab nach Waffen, Drogen, Geld. Ich soll mich ausziehen, komplett, also stehe ich da, in diesem kahlen Raum, nackt, um mich herum
SCHON IN DER GRUNDSCHULE HAUTE ICH DRAUF
Deshalb hab ich viel geschlagen und wenig geklaut. Schon in der Grundschule habe ich Stress nicht mit Sprache geregelt, sondern mit Fäusten. Weil bei Worten haben die Anderen aus meiner Klasse mich ausgelacht, mein Deutsch war nicht perfekt. Und ich hab mich dann schon irgendwie verloren gefühlt, allein halt. Und dann kam diese Wut in mir auf, von der ich nicht wusste, wohin mit ihr, außer ins Gesicht der anderen. Auch im Knast spricht die Wut, es ist die Sprache, die hier alle verstehen, sie ist in Gesichter und auf Wände geschrieben. Wie beim Litauer. Den lern ich irgendwann in den ersten Tagen kennen. Seit sechs Jahren sitzt er, auch alle seine Brüder sitzen, die Eltern tot. Er hat vorher auf der Straße gelebt, war drauf auf allem
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korrekte Kollegen kennen, einen Afghanen, der hat irgendwie so Leute von Deutschland zu Al-Quaida gebracht. Jetzt macht er aber kein Terrorismus mehr. Dazu einen Türke und einen Deutschen. Wir reden zusammen viel über Religion, über Mohammed und Koran. Wir wissen, dass Gott auf uns guckt. Religion hält Leute hier drin zusammen. Auch der Fuck, den wir draußen gemacht haben. Es ist allerdings nicht mehr so wie früher. Da waren die Kurden unter sich, die Italiener, die Kartoffeln. Heute ist‘s mehr gemischt. Nur die Russen, die sind ‘ne eigene Gruppe. Als Türke oder so kommst du da nicht rein. Außer du spielst den Hund. Die bleiben für sich, die halten zusammen. Die haben eigene Regeln. Die tragen zum Beispiel nicht das rote Häftlingsshirt, nur den schwarzen Pullover. Die kooperieren nicht mit den Beamten, machen nichts, wovon sie denken, dass ist unter ihrer Würde: keine Hausarbeit, keinen Putzdienst. Einmal kommt ein Neuer, auch Russe, der trägt rot und putzt. Den boxen sie dann direkt zusammen. Geschlagen wird sich beim Umschluss. Da kommt man für eine Stunde zusammen in eine Zelle, kann reden und so. Ich muss mich nur einmal schlagen. Stress mit einem Typen. Ein Anderer hat ihn vollgemacht, angestachelt halt, weil ich gesagt habe, dass ich acht Geschwister habe und er keine. Und da sagt der Andere zu ihm, oha, Ilhan macht dich dumm an. Also gehen wir in seine Zelle und boxen uns. Bis die Beamten kommen. Die schleifen mich dann zurück in meine Zelle, Nummer 111, Wohngruppe zwei, Haus vier, und hauen die Tür zu. Nicht viel drin, Mann: Bett, Toilette, Schrank, Schreibtisch. Das Fenster ist doppelt vergittert, weil früher wurden über die Fenster Drogen und so weitergereicht. Ich höre wieder den Schlüssel im Schloss, und immer, wenn ich den Schlüssel höre, schießen die Gedanken hoch, dieser komische Schmerz. Knast ist halt nicht die echte Welt, du musst hier überleben – das hat aber nichts mit Leben zu tun. Was zählt, ist die Welt da draußen, da, wo du nicht bist. Also bei Lisa. In den ersten Wochen und Monaten vermisse ich sie so sehr. Ich glaube, mein Kopf geht kaputt, weil ich sie nicht in meinen Armen halten kann. Ich krame einen Brief von ihr raus, Zweifel nicht an meiner Liebe zu dir, du bist das Beste was mir passieren konnte… Niemals werde ich ohne dich leben können. Trotzdem hab ich Angst, dass Leute von draußen eine Gehirnwäsche mit ihr machen. Das ist wegen dieser Zeit. Weil mit der Scheißzeit kom-
Zeugs, und als er einmal Geld gebraucht hat, hat er ‘nen Mann überfallen. Er hat ihm gegeben und nicht gemerkt, wie dabei der Kehlkopf von dem Typ brach. Der Litauer fragt ihn nach seinem Geld, und der Mann versucht auch zu antworten. Aber er kriegt keine Worte mehr raus wegen dem gebrochenen Kehlkopf, was der Litauer aber ja nicht weiß. Er wird immer wütender, weil der Kerl nur würgt, nichts sagt. Deshalb rastet er irgendwann komplett aus und steigt ins Auto von dem Mann und fährt zwei Mal drüber. Also über den Mann. Neun Jahre hat er bekommen, Gnade sozusagen, weil er den anderen Typen, den er im Winter erschlagen hat, noch versucht hat zu retten. Hat ihn erst kaputt geschlagen, ihn dann aber in ein Auto gesetzt und die Heizung angemacht. Damit der Kerl halt nicht erfriert. Hat aber nichts geholfen. Vor dem Litauer hat hier jeder Respekt, und Respekt, das merkt man sofort, das ist das wichtigste in dem Laden. Wer keinen Respekt zeigt, wird gefickt. Bei meinem ersten Hofgang am nächsten Tag bin ich erst mal bisschen am Beobachten, halte mich zurück, denn im Knast heißt es am Anfang: ich gegen alle. Und wenn ein Neuer meint, er kann gleich mal einfach so in eine Gruppe rein und den Affen machen, wird er auch gefickt. WENN DU HIER DRIN OPFER BIST, WIRST DU HALT GEFICKT
Du kennst die anderen Jungs ja nicht, aber die kennen sich. Und sie schauen zu mir. Die begutachten mich richtig. Aber man lernt schnell, wie man sich verhalten muss. Zwei Typen kommen auf mich zu. Doch da darfst du nicht zurückscheuen, musst dich gerade machen, und also mache ich mich gerade. Angst habe ich keine, aber sie fragen nur, wer ich bin, warum ich sitze: gefährliche Körperverletzung, Diebstahl, Computerbetrug, Beleidigung. Eineinhalb Jahre. Guter Mann. Mehr Jahre heißt mehr Respekt. Du hast ein Jahr? Billig. Ich habe drei. Drei? Pfff, fünf, Totschlag. Denn im Knast bist du nicht du, also nicht dein Personalausweis. Sondern du bist erst mal die Scheiße, die du getan hast. Du bist der Schläger, der Mörder, der Dieb. Das sagt den anderen Jungs, ob du Opfer oder Babo bist. Wenn du dich durchsetzen kannst, kommst du ganz gut durch. Bist du Opfer, bist du halt gefickt. Wenn die merken, dass sie alles mit dir machen können, machen die auch alles mit dir. Normal also, dass Freunde wichtig sind. Entweder muss man brutal hart sein oder brutal dumm, um den Knast allein durchzustehen. Ich lerne auch paar
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men die Scheißzweifel. Und je mehr Scheißzeit du hast, desto mehr Scheißzweifel bekommst du. Aber Lisa, Junge? Nein, die macht keinen Scheiß, bestimmt nicht, nicht die. Die Zeit ist schon richtig brutal. Gerade am Anfang tickt noch die echte Uhr, die von draußen, die dir sagt, welcher Tag heute ist, welcher Monat. Irgendwann hast du zum Glück kein Gefühl mehr dafür. Es wird dir egal. Bei mir bessert es sich ab Frühling. Die Jungs wählen mich zum WG-Sprecher unserer Wohngruppe. Eine Ehre. Denn das heißt, die anderen vertrauen dir, die glauben an dich. Im April fängt auch Schule an, ich kann Realschule nachholen. Bis zur achten Klasse bin ich auf die Real gegangen, dann sitzengeblieben, dann geschwänzt, dann geflogen. Anschließend Hauptschule, Berufsschule, die Prüfungen verschlafen. Alter, ich war so dumm, Mann. Aber das Beste im Frühling: Lisa kommt zum ersten Mal. Wenn die dich in den Besuchsraum bringen, weißt du vorher nie, wer kommt. Immer Überraschung. Und plötzlich: Bumm, Alter! Steht sie da, ihre langen schwarzen Haare, ihre großen Augen. Mein Herz ballert brutal. Eine Stunde lang halten wir unsere Hände, lachen, reden. Ich schaue sie an, so richtig aber, damit sich die Erinnerung in meine Gedanken ein-
brennt; die Erinnerung an ihr Gesicht, an ihr Lächeln. Eine Stunde lang gucke ich sie so an, und eine Stunde lang bleibt die Scheißwelt stehen. Danach wieder Endlosschleife: Halb acht aufstehen, um acht Schule, Frühstück, Mittagessen, Hofgang, Abendessen, Umschluss, Einschluss, Augen zu. Das Einzige, auf das du dich schickst, ist das Training. Der Fitnessraum ist aber zu. Paar Jungs haben sich mit den Hanteln gegen Kopf geschlagen. Jetzt gibt’s nur noch Geräte auf dem Hof, Klimmzugstange, dies das. Da trainieren wir. 53 Kilo hab ich gewogen, als ich reingekommen bin. Als ich rauskomme, sind es 80. Ob man hier drin ein besserer Mensch wird? Keine Ahnung. Ein besserer Ochse auf jeden Fall. Im Mai habe ich Geburtstag, alle gratulieren mir, die Jungs, Beamte, Familie, Freunde. Nur Lisa meldet sich nicht. Ich rufe sie an, sie sagt: so viel zu tun. Nicht schlimm, Baby. Trotzdem kommen wieder die Zweifel, die Wut. Und wenn man im Knast richtig wütend wird, kommt man in den Bunker. Ich muss ein Mal rein, während Ramadan. Da dürfen wir Muslime ja eh nur nach Sonnenuntergang essen. Aber so ein Beamter, der mich nicht mag, gibt mir auch da nichts, weil ich nicht in irgendeiner Liste stehe. Da raste ich aus. Ich trete gegen die Zellentür, boxe, schreie, du Hurensohn.
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dreht. Du versuchst, die wichtigsten Menschen in deinem Leben festzuhalten, und bist machtlos, wenn sie loslassen. Und dann merkst du, obwohl du echt gute Jungs kennengelernt hast, wie verflucht allein du hier drin bist. An Silvester, um Mitternacht, hängt jeder von uns an seinem Gitterfenster, und wir schreien den ganzen Scheiß, der in uns ist, hinaus in die Dunkelheit. Wir schreien in den Himmel, in die Luft, schreien in diese scheißstumme Kälte da draußen, und hoffen, dass uns jemand hört. Aber im Knast hört dich niemand. Nicht Wärter, nicht Anstaltsleitung. Nur du allein kannst dich hören. Nur du allein kannst dir sagen, dass du dich ändern musst. Nur du allein kannst deinen Realschulabschluss machen, richtig guten sogar, mit 2,0, Bewerbungen schreiben, Schulden und Gerichtskosten abzahlen, ein richtig brutal guter Mensch sein. Und dann, nach eineinhalb Jahren, geht‘s wieder von vorne los. Und nur du allein kannst dann neu anfangen.
Im Bunker gibt’s nichts, was dich unterhält, kein Radio, kein Fernseher, kein Umgang mit Mitgefangenen. Nur du und die Zelle. Drei Nächte muss ich bleiben. Danach bekomme ich noch Anzeige wegen Beleidigung, und die sagen, ich darf nicht mehr WG-Sprecher sein. Aber was soll man machen, wenn man wütend wird? Drüber reden? Jeder hier vermisst irgendwen, jeder hier hat geschlagen, wurde geschlagen, jeder hier hat Scheiße erlebt. Würden wir wahr darüber sprechen, wär das ‘ne einzige Heulerei. DIE GRÖSSTE STRAFE: DRAUSSEN LEBEN SIE WEITER, OHNE DICH
Die Beamten denken trotzdem, die könnten uns ändern, mit so Antigewalttherapie, mit Coolnesstraining auch. Da diskutieren wir dann über das, was wir draußen gemacht haben, Schlägereien, Leute abgezogen, Drogen genommen, und auch über unsere Kindheit, die Familie, Freunde. Alle Therapien und Trainings helfen aber nicht, wenn sich Lisa nicht meldet. Ich rufe sie an, sie hebt nicht ab, ich geh in den Besucherraum, sie steht nicht da. Im Herbst hör ich, dass sie einen Anderen hat. Das ist die größte Strafe von Knast: dass das Leben draußen weitergeht, ohne dich. Du versuchst, die Welt anzuhalten, und bist machtlos, wenn sie sich weiter-
Eine Audioversion dieses Textes inden Sie unter www.klartext.de/53a/jugendknast
Allein unter vielen: Rund 4000 junge Menschen sitzen derzeit in deutschen Jugendgefängnissen.
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Jessica Kohnle, 26, arbeitet als medizinische Fachangestellte, ihre Leidenschaft für Tattoos muss sie in ihrem Arbeitsalltag verbergen.
IC H PRODUKTION & FOTOS: STEPHANIE PROBST
UND Manchmal ist der Schwarm blind. Besonders bei Menschen, denen er täglich begegnet. Deshalb lohnt sich oft ein zweiter Blick – ob bei der Arzthelferin, dem IT-Spezialisten oder dem Geistlichen.
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Simon Habereder, 24, muss als selbst채ndiger IT-Spezialist bei Kunden im Anzug auftauchen, doch privat kennt man ihn nur als leidenschaftlichen Metalfan mit Lederjacke und Bandshirt.
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Lady Angelina, seit Jahren 29, unter diesem Namen arbeitet die Standesbeamtin in ihrem eigenen Dominastudio in M체nchen.
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Shannen Panzer, 20, ist Soldatin bei der Bundeswehr, abends tauscht sie die schweren Stiefel gerne mal mit HighHeels und wird zum PinUp-Girl.
Rainer Fuchs, 42, aka Reverend Ray Fox ist evangelischer Diakon, auĂ&#x;erhalb der Kirche tummelt er sich in der Rockabilly-Szene und fährt Motorrad.
Shannen Panzer, 20 ist Soldatin bei der Bundeswehr, tauscht aber abends die schweren Stiefel gerne mal mit HighHeels und wird zum PinUp-Girl.
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PORTRAIT
Elfriede, halt‘s
MAUL!
erade erst ist Theresa von zu Hause aufgebrochen, da würde sie am liebsten wieder umkehren. Zumindest würde Elfriede dann leiser werden. Theresa, 31, langes dunkles Haar, blass und hager, blickt sehnsuchtsvoll zurück zu ihrer Haustür. Elfriede schreit in ihr: „Geh zurück!“ Theresa saugt hastig an der Zigarette, der Rauch dringt durch die geschlossenen Lippen, die dabei flattern. Vielleicht 20 Meter liegen zwischen ihr und ihrer Wohnung, ihrem Refugium. Elfriede ist seit Jahren ein Teil von Theresa. Ein Teil, den sie gerne aus ihrem Leben streichen würde. Ihre Angst, ihre innere Stimme, die ständige Begleiterin. Den Namen hat Theresa Elfriede vor einem Jahr selbst gegeben. Der schlimmste, der ihr eingefallen ist. Viele Psychotherapeuten raten dazu, der Angst einen Namen zu geben. Geholfen hat ihr das bisher kaum. Theresa hat eine Angststörung. Sie ist Agoraphobikerin. Theresas Kinder wuseln um sie herum. Stefan ist acht, Marie fünf Jahre alt. Nervös kratzt sich Theresa am Arm, am Hals, im Gesicht, mit der einen Hand an der anderen, streicht sich mit den Fingern über die Stirn, immer wieder. Auch noch lange, nachdem die widerspenstige Strähne fest hinter ihrem Ohr klemmt. Theresa zwingt sich, geht die menschenleere Straße entlang. Weg von zu Hause. Je weiter sie geht, umso lauter wird Elfriede; und umso kleiner werden Theresas Schritte; bis sie vollends stehenbleibt. Es ist Mai 2015. Seit ihrer ersten Panikattacke vor sechs Jahren war sie nicht mehr so weit gekommen. Irgendeine Straße, etwa 100 Meter weg von zu Hause. Eine bedrohliche Welt. Weiter geht es nicht. Hier draußen dröhnt Elfriede besonders laut. „Schaffst du das wirklich? Was ist, wenn nicht?“, hört Theresa sie sagen. Nur Theresa. Immer wieder. Polternd. Unerbittlich. „Halt’s Maul, Elfriede! Halt’s Maul!“ Theresas Umwelt bekommt nichts mit von diesem Zweikampf. Einer von hundert Deutschen erkrankt zumindest einmal in seinem Leben an einer Agoraphobie, doppelt so viele Frauen wie Männer. Die Betroffenen leiden an zusammenhängenden und sich häufig auch überschneidenden Ängsten. Sie haben Angst davor, das eigene Haus zu verlassen, Geschäfte zu betreten, sich in Menschenmengen oder auf öffentlichen Plätzen zu bewegen, zu verreisen, in einen Aufzug zu steigen, zum Arzt zu gehen, mit Menschen zu sprechen. Die Symptomatik äußert sich vielfältig. Eine Schlüsselangst aber eint alle Betroffenen: Die Angst, einer bestimmten Situation nicht entkommen zu können, keinen Fluchtweg zu haben. Von dort, wo sich Menschen sammeln, will Theresa weg. Dort ist sie machtlos, es ist unübersichtlich, für sie nicht kalkulierbar.
G
UM IHRER PANIK ZU ENTKOMMEN, ZIEHT SICH THERESA ZURÜCK
T E X T: J O S E F S A L L E R I L L U S T R AT I O N : L U I S E S C H R I C K E R
Theresa fürchtet sich, vor allem. Die Angst dominiert ihr Leben. Sogar einen Namen hat Theresa ihr gegeben. Die Schritte zurück in ein normales Leben sind klein und anstrengend. Und nicht immer gelingen sie. 44
Klartext
100 Meter von ihrem Haus entfernt. Theresa steht noch an der selben Stelle in der oberbayerischen Kleinstadt, in der sie seit zehn Jahren lebt. Eine kleine Straße, auf der einen Seite kleine Häuser, Geranienkästen an Fenstern und Balkonen, Gemüse in den Vorgärten, die Hecken sauber gestutzt. Auf der anderen ein Rinnsal, das Weizenfeld dahinter schlägt Wellen im Wind. „Gehen wir ins Schwimmbad, Mami?“, fragt ihr achtjähriger Sohn mit wehleidigem Blick und zerrt an ihrem Arm. „Nein! Jetzt nicht, habe ich gesagt!“ Theresa ist gereizt, ihr Sohn schnell
wieder ruhig. Theresa zündet sich die nächste Zigarette an, durchwühlt ihre Handtasche, kramt ihr Handy hervor und ruft zu Hause an. „Besetzt, wieso telefoniert der denn jetzt?“, murmelt sie unruhig vor sich hin. Wäre ihr Mann nicht gerade zu Hause, hätte sie sich zu dem Spaziergang gar nicht erst durchringen können. In der Vorwoche hat sie sich schon getraut, allein mit den Kindern zum Supermarkt zu gehen. Das erste Mal seit Jahren. Im Notfall ist da jemand, der sie abholen, der sie retten kann. Sie drückt auf Wahlwiederholung. In der Regel entwickelt sich eine Angststörung aus wiederholten Panikattacken. Um der Panik zu entkommen, fliehen viele Betroffene vor jenen Situationen, unter denen der Anfall aufgetreten war. Sie verlassen ihr Haus nur noch, wenn es sich nicht vermeiden lässt, ziehen sich zurück. Bei manchen gewinnt die Angst irgendwann die Kontrolle über ihr Leben. Theresa heißt eigentlich anders. Ihren Namen, den ihres Mannes und ihrer Kinder will sie nicht abgedruckt sehen. Aus Scham, und ihren Kindern zuliebe. Wenn Theresa über ihre Krankheit spricht, sagt sie: „Das ist meine Büchse der Pandora.“ DIE DUNKELHEIT, DER SCHWINDEL: SIE GEHEN NICHT WEG Es beginnt im Juni 2009. Theresa sitzt am Steuer ihres Wagens, als sie denkt, sie würde sterben. Auf einer Autobahn irgendwo im Münchener Umland. Ihr Mann neben ihr, ihr zweijähriger Sohn auf der Rückbank, die ungeborene Tochter in ihrem Bauch. Zwanzigste Schwangerschaftswoche. Vor ihren Augen wird es dunkel, manchmal blitzt es grell, ihr Puls rast. Theresa wird schwindelig, die Umgebung zerfließt. Sie hat das Gefühl, jeden Augenblick das Bewusstsein zu verlieren. Theresa biegt auf einen Rastplatz ab. Dort wird sie zur Ruhe kommen, ganz bestimt. Wie gerne würde sie jetzt eine Zigarette rauchen. Aber da ist ja das Kind in ihrem Bauch. Wieso hat sie nur aufgehört zu rauchen? Wieso nicht, wie bei der ersten Schwangerschaft, nur noch drei Zigaretten am Tag? Dann dürfte sie jetzt. Sie blickt ihrem Sohn in die Augen und erinnert sich an die eigene Kindheit. An die Scheidung ihrer Eltern, als sie zehn, an den Tod ihrer Mutter, als sie 15 war. An das Alleinsein. Die Panik schwillt. Was ist da gerade passiert? Was war das? Wie wird sie den übrigen Weg zu ihrer Tante überstehen? Und wie erst die Heimfahrt? Mehr als hundert Kilometer. Ihr Mann hat damals noch keinen Führerschein. Theresa fährt weiter. Sie dreht das Radio auf, um sich abzulenken. Die Dunkelheit, der Schwindel, der rasende Puls: Sie gehen nicht weg. Irgendwie schafft sie es trotzdem bis nach Hause. Die Panikattacken häufen sich – und sie werden schlimmer. Woher sie kommen, weiß Theresa nicht. Wenige Wochen nach der ersten Panikattacke fährt sie zu einer Familienfeier ihres Mannes nach Leipzig. Für die Fahrt braucht man normalerweise vier Stunden. Sie braucht 16. Jeder Rastplatz eine rettende Insel. Einige Monate später traut sie sich nicht mehr selbst zu fahren, kann nur mehr in einen Wagen steigen, wenn ihr Mann ihn steuert. Autobahnen und weite Strecken erträgt sie auch auf dem Beifahrersitz nicht mehr. Kein Zug, kein Bus, kein Flugzeug. Am Grab ihrer Mutter war sie seit Jahren nicht mehr. Das ist mehr als 100 Kilometer weg. Unerreichbar.
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Die Panikattacken fühlen sich für sie an, als würde sie am Abgrund einer Klippe stehen: Einen Schritt weiter und es endet in der Katastrophe. Dann immer wird ihr schwindelig, übel, sie bekommt kaum noch Luft. Mal schwächer, mal stärker. Manchmal mehrmals in der Woche, dann über Wochen gar nicht. Es gab eine Phase in Theresas Krankheit, in der ihr jede Form von körperlicher oder emotionaler Veränderung als Gefahr erschien. In der sie nicht mehr lachen konnte, Aufgeregtheit automatisch in Angst umschlug, alles Ungewohnte ihr die Luft abschnürte. In der sie froh war, wenn der Sex mit ihrem Ehemann endlich vorbei war. Sie hatte Angst vor offenen Fenstern, vor Messern, die sichtbar in der Küche herumlagen. Vor sich selbst, vor Elfriede. Kochen war für Theresa eine Qual, wegen des Wartens. Brauchten ihre Kinder beim Uno spielen einmal etwas länger mit dem Herauslegen, wurde sie ungehalten. Dabei spielt Theresa doch so gerne. Sie sammelt Brettspiele. An die 100 Stück hat sie sich im Laufe der Zeit von ihrem wenigen Geld gekauft. Früher hatte sie immer mit ihrer Mutter gespielt.
„Das ist meine Büchse der Pandora“
FÜR DIESE KRANKHEIT GIBT ES KEINE MEDIZIN Theresa wächst als Einzelkind auf. Als ihre Mutter an einer Gehirnblutung stirbt, weiß sie nicht, was sie tun soll. Sie ist hilflos, von der Mutter verhätschelt, vom Vater seit der Scheidung größtenteils ignoriert, von den Mitschülern gehänselt. Sie zieht zu ihrem Vater. Der durchwühlt ihre Post, spioniert ihr nach, schlägt sie. Sie zieht in eine eigene Wohnung, mit 16. Ihr Vater müsste ihr Unterhalt zahlen, tut es aber nicht. Theresa macht nichts. Sollte sie ihn verklagen? Er war doch ihr einziger Elternteil. Sie muss ihre Ausbildung bei einer Supermarktkette abbrechen, weil ihr das Geld ausgeht. Durch Halbwaisenrente und Lohn bekommt sie 500 Euro im Monat, 420 Euro kostet allein die Miete ihrer Wohnung. Mit 17 lernt Theresa Thomas kennen. Nach fünf Tagen sind sie ein Paar, nach vier Wochen ziehen sie zusammen. Sie wollen heiraten, kaufen sich Hochzeitsringe auf Raten. Keine zwei Monate nach dem ersten Treffen. Nur weil sie sich die Kosten für das Standesamt nicht leisten können, sagen sie die Hochzeit noch ab. 2006 kommt der gemeinsame Sohn, 2009 die Tochter. Thomas und Theresa verbringen jede freie Minute zusammen. Seit ihrer Erkrankung ist Theresa auf Thomas angewiesen, darauf, dass er einkaufen geht, dass er sie begleitet, dass er zu Hause ist. Thomas ist ihre Stütze. Sie hat niemanden außer ihm. Theresas beste Freundin wandte sich von ihr ab. Wegen ihrer Krankheit. Heute erzählt Theresa niemanden mehr davon. Aus Angst, in eine Schublade gesteckt, als Pflegefall abgestempelt zu werden. „Kreislaufschwä-
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che“, antwortet sie, wenn jemand fragt. Eine Woche nach ihrer erster Panikattacke geht Theresa zu einem Neurologen. Der schickt sie zu einem Psychologen. Der schickt sie wieder weg. Er könne gerade nichts für sie tun und wisse nicht, was ihr fehle. Sie solle in einigen Wochen wieder kommen. Theresa geht nie wieder zu ihm. Im März 2010 bekommt sie von einem anderen Psychologen eine Diagnose: Angststörung, Agoraphobie. Gegen die Panikattacken verschreibt er ihr Psychopharmaka. Nach dem Gespräch hat Theresa weiterhin keine Erklärung für ihre Panikattacken, immerhin weiß sie jetzt, was ihr fehlt. Mehr als ein halbes Jahr nach der Fahrt auf der Autobahn, als Theresa das erste Mal um ihr Leben fürchtete. Die Medikamente, die Theresa immer dann nehmen soll, wenn sie panisch wird, helfen ihr nicht. Bis sie wirken, ist die Panikattacke längst vorüber. Dann fühlt sie sich wie im Vollrausch. Sie setzt die Medikamente ab. Für diese Krankheit gibt es keine Medizin, das steht für Theresa fest. Seit ihrer ersten Panikattacke kommentiert Elfriede Theresas Leben, stellt alles in Frage, jede Handlung, jeden Schritt in ihrem Leben. Zuerst sehr leise, mit der Zeit immer lauter. Ein ständiger Kampf. „Soll ich oder soll ich nicht?“, „kann ich das?“, „was passiert, wenn etwas schief läuft?“. Wenn sie badet, wenn sie kocht, wenn sie abspült. Wenn sie müde ist, wenn sie Durst, wenn sie Hunger hat. Wenn ihr heiß, wenn ihr kalt wird. Wenn sie pupst, wenn sie lacht, wenn sie liebt. Wenn sie fühlt. Ändert sich etwas in ihr oder an ihrer Umgebung, spricht Elfriede zu ihr. Ein Monolog, der ihr Leben beschwert, ihr viele Dinge unmöglich macht. Seit Jahren schon würde Theresa gerne eine Therapie machen, über ihre Vergangenheit sprechen. Einen Platz hat sie bis heute nicht. Immer wieder wurde sie vertröstet.
der weiß, wie sie sich fühlt. Sie kämpft auch dafür, es der Gruppe zu beweisen: Dass man es schaffen kann. Theresas letzte Panikattacke ist sechs Wochen her. Da hatte sie mit ihrer Tante telefoniert: Theresa sei mit ihrer Krankheit eine Gefahr für die eigenen Kinder, hatte die ihr gesagt. Ihre Tante habe sich deshalb auch schon beim Jugendamt und einem Betreuungsgericht erkundigt. Wegen des Sorgerechts. Theresa brach zusammen. Wieder 100 Meter von ihrem Zuhause entfernt. Theresa geht weiter, aber nie weiter weg von der Wohnung als die 100 Meter – eine Ringstraße. Sie geht vorbei am Freibad, hinter dessen zugewuchertem Zaun sich Kindergeschrei mit dem Rauschen von Wasser mischt. Die Sonne brennt vom Himmel. Theresas Sohn blickt sie stumm an, fragend. Theresa kennt die Frage, ihr Sohn die Antwort. Zufrieden ist keiner der beiden. Noch
nie sind sie in dem Schwimmbad gewesen. So gerne würde sie doch einmal mit ihren Kindern einen Vergnügungspark besuchen, Spaß haben, mit einer Achterbahn fahren. Das tun, was andere tun. Dann parkt ein Wagen an der Straße. Am Steuer sitzt Thomas, er holt Theresa ab, muss sie abholen, weil sie nicht mehr weiter kann. Auch nicht zurück. Er ist da, um sie nach Hause zu bringen, in ihren sicheren Bereich. Leidend sinkt Theresa auf den Sitz: „Später werde ich wieder schreckliche Kopfschmerzen haben.“ 20 Minuten Spazieren, 100 Meter von zu Hause. Zum Vergnügungspark sind es 80 Kilometer, geöffnet hat er den ganzen Tag. Hintergründe zu diesem Text inden sie online unter: www.klartext-magazin.de/53A/agoraphobie
IHRE TANTE SAGT: „DU BIST EINE GEFAHR FÜR DEINE KINDER!“ Gerade erst hat sie mit einem Therapeuten telefoniert, er werde sich in ein paar Wochen melden. Theresa lächelt, beinahe hämisch. Sie glaubt nicht daran. Für einen Moment: Resignation. Dann aber spürt sie wieder Hoffnung. Sie denkt an die Zeit, in der es ihr viel schlimmer ging. So vieles hat sich doch seither zum Besseren verändert. 100 Meter weg von zu Hause, vor einigen Jahren undenkbar. Vor knapp zwei Jahren gründet sie eine Gruppe bei Facebook. Um mit anderen Betroffenen über die Krankheit sprechen zu können. Theresa gab ihr den Namen: „Die Angst wird nicht siegen!!!“ Elf Frauen, ein Mann, „meine Freunde“. Elfriede heißt bei anderen Gör. Oder Pumuckl. Oder Monster. Außerhalb der digitalen Welt hat Theresa noch keinen dieser Leute getroffen. Ohne die Gruppe, da ist sich Theresa sicher, wüsste sie aber auch von niemanden,
Klartext
So will ich nicht
LEBEN! Schwarm
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INFOGRAFIK
Die Verteilung der 30- bis 35-Jährigen und ihre Lieblingsstädte Es sind nur wenige Städte, in denen sich die jungen Berufsanfänger zusammenballen. In der Karte hervorgehoben sind die Top 15 dieser „Schwarmstädte“ mit dem Anteil der 30- bis 35-Jährigen an ihrer Bevölkerung. Auf der kleinen Karte ist der Vergleich zum Jahr 2000 zu sehen. Grund für den Unterschied: Es gibt bedeutend weniger junge Leute – und die drängen sich auch noch stärker zusammen.
HIPSTER HAUSEN
10 HAMBURG 8,41%
11 POTSDAM 8,39% 2013 2000
5 LEIPZIG 8,68%
15 DÜSSELDORF 8,26%
14 DRESDEN 8,27% 9 JENA 8,45%
8 KÖLN 8,49%
1 FRANKFURT AM MAIN 9,53%
6 MAINZ 8,64%
3 HEIDELBERG 9,28%
4 STUTTGART 9,03% 13 FREIBURG 8,28% 2 MÜNCHEN 9,46%
Anteil der 30- bis 35-Jährigen in Prozent
über 8
Die Generation 30 bis 35 ist in 13 Jahren um 1,6 Millionen Menschen geschrumpft. Das entspricht fast
Die Jungen werden weniger – und rücken zusammen
25%
unter 5,5
1995
48
397 8,53% 192
2000
2013
7,72% 19 5,89%
Alte bleiben auf dem Land In Pirmasens (Rheinland-Pfalz) sind Senioren über 75 die größte Altersgruppe. Heidelberg wird dagegen immer jünger.
Klartext
Die Anzahl der Kommunen mit über acht Prozent an 30- bis 35-Jährigen (blau) nimmt stetig ab, ebenso deren durchschnittlicher Anteil in den Kommunen (grau).
alt
jung Heidelberg Pirmasens
75+
30-35
Copyr igh t Karte: Op en Stre e tMa p c on tri butors , CartoD B ; G e oB asi s-D E , BKG 2 0 13 (G e o d at e n )
7 REGENSBURG 8,6%
Q u elle n: Stati stisc he s B u nd es amt ( Alte rs date n, Ei nw ohn er ); Te lef on buc h (Yoga s t u d i o s , B i o m ä rk t e ); Ye l p (Ve g e t a r i s c he Re s t auran t s ) ; I mm o b il i en s co ut 2 4 ( M ie te n)
12 BERLIN 8,29%
Harald Simons, Entdecker
des Phänomens „Schwarmstädte“, über Wanderungsbewegungen junger Menschen. Herr Simons, warum sammeln sich die 30- bis 35-Jährigen in so wenigen Städten?
In Regensburg gibt es für 140 000 Einwohner 13 Yogastudios. In Duisburg steht für fast 500 000 Menschen ein einziges. Ebenso wie Biomärkte werden sie dort gebaut, wo ihre Zielgruppe lebt – die jungen Berufsanfänger. Und die drängen sich in wenige Orte: die „Schwarmstädte“. K O N Z E P T & G R A F I K : B A S T I A N B E N R AT H
Yoga, Bio, hohe Mieten: Die fünf beliebtesten Städte Frankfurt
München Heidelberg Stuttgart
Leipzig
Was bedeutet das für unsere Gesellschaft?
EINWOHNER
701 000 1 408 000 152 000
604 000
532 000
7,1
5,3
4,8
5,3
4
2,6
3,5
78
55,7
62,5
57
€ 10,39
€ 13,01
YOGASTUDIOS pro 100 000 Einw.
3,7
BIOMÄRKTE
0,9
pro 100 000 Einw. VEGETARISCHE RESTAURANTS pro 100 000 Einw.
MIETSPIEGEL durchschnittliche Kaltmiete pro m2
Ich sehe darin vor allem eine Folge des sogenannten Pillenknicks. Durch den Wertewandel mit Einführung der Anti-Baby-Pille hat sich die Zahl der Geburten ungefähr halbiert. Deshalb sind die heute 30- bis 35Jährigen eine sehr kleine Generation – und gegenüber den Älteren in der Minderheit. In den Städten finden sie einfach mehr Leute in ihrem Alter. Meine Hypothese ist, dass es nicht so sehr um Kneipen oder Cafés geht. Sondern um die Zahl der möglichen Freunde.
+16,3% 2009 - 2014
+16,3% 2009 - 2014
€ 9,51
€ 10,01
+9,4%
+18%
2009 - 2014
1,5
29,5
€ 5,67
2009 - 2014
Schwarm
+13,1% 2009 - 2014
Die Bevölkerung entmischt sich. Auf dem Land und in den unbeliebten Städten bleiben die Älteren, in den hippen „Schwarmstädten“ sammeln sich die Jungen. Das verändert die Städte: Dort gibt es Innovationskraft, Gründungen, neue Ideen, neue Moden. Für die Provinz klingt das nach einer düsteren Prognose.
Ist es letztlich auch. Für die jungen Leute ist dieses Verhalten aber sehr sinnvoll, weil dadurch ihr Lebensglück steigt. Als 30-Jähriger würde ich mich diesem Zug auch anschließen. Düster ist die Prognose nur für unbeliebte Städte wie Wittlich, Bottrop oder Pirmasens.
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ORTSTERMIN
Warten auf den ersten Stich Bienen sind das neue Slacklinen: Jeder geht jetzt imkern. Warum? Meine Redaktion sagt: Ich soll es herausfinden. Na toll. T E X T: M A X I M I L I A N G E R L F O T O S : M A R V I N S T R AT H M A N N
Ich gegen Bienen. Gegen Tausende. Als Kind hatte ich drei Begegnungen mit Bienen, jede endete mit einem Stich. Seitdem weiß ich, dass ich nicht allergisch auf ihr Gift reagiere. Freunde sind die Bienen und ich dennoch nicht geworden. Lieber pflegen wir ein Verhältnis von gegenseitigem Desinteresse. Natur bedeutet für mich, einen Abstecher in den Park zu machen. Aber meine Redaktion hat mich, das Großstadtkind, zum Imkern verdonnert. Denn Imkern ist in. Weltweit finden immer mehr Leute Gefallen daran, sich Bienen in der Stadt zu halten. Obwohl die summen, anstatt zu schnurren, kein Stöckchen apportieren, nicht im Laufrad laufen. Dafür besitzen sie einen spitzen Stachel. Yeah. Um den Trend zu verstehen, begleite ich Kristin Mansmann bei ihrer Arbeit. Sie hält im Münchner Norden 30 Bienenvölker. „In einem richtig großen Volk sind 60 000 Insekten drin“, sagt sie, „manche kriegen da Panik.“ Sehr beruhigend. Kristin lebt vom Imkern. Sie verkauft den Honig, züchtet Bienen für andere Imker, gibt Imkerkurse. Manchmal kommen Unternehmen vorbei: Imkern als Teambuilding für die Mitarbeiter. Anscheinend schweißt es zusammen, wenn man sich gegenseitig die Bienenstiche einschmiert. Kristin hebt den Deckel vom ersten Bienenkasten. Ich erwarte, dass ein wütend summender Schwarm emporsteigt. Stattdessen: nichts. Die Bienen bleiben ruhig im Stock sitzen. Wir nehmen mehrere Paletten heraus, Riemchen, auf denen die Bienen ihre Waben bauen. Wir begutachten ein Jungvolk. Erst vor kurzem haben sie sich zu einem Staat zusammengefunden. Immer, wenn es den Bienen im Stock zu eng wird, ziehen sie sich eine neue Königin heran. Mit der alten verlässt dann ein Teil der Bienen den Stock und gründet ein neues Volk. „Der Schwarmtrieb ist der Sexualtrieb der Bienen“, sagt Kristin. Die Bienen diskutieren aus, wohin sie ziehen. Basisdemokratisch. Denn Bienen sprechen miteinander, indem sie tanzen. Da wackeln sie mit dem Hintern, laufen Achter, zeigen einstudierte Schrittfolgen. Aus all dem können die anderen Bienen lesen, wo es gute Nistplätze gibt – oder Blüten mit lecker Nektar, den es zu ernten lohnt. „Eine Drohne“, sagt Kristin und greift zu. Plötzlich zappelt eine männliche Honigbiene zwischen ihren Fingern. Kristin setzt sie auf meiner Hand ab, mit flauschigen Beinchen tapst sie auf mir herum. Ich warte auf den ersten Stich. Wieder: nichts.
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„Drohnen haben keinen Stachel“, erklärt Kristin. Glück gehabt. „Das Tolle ist, man wird immun gegen das Bienengift“, sagt Kristin. „Der Schmerz bleibt immer, aber es schwillt nicht mehr an.“ Eine angenehme Freizeitbeschäftigung stelle ich mir anders vor. Anderen geht es schnell an den Kragen. Sobald eine Hornisse in den Stock eindringt und die erste Biene fressen will, fallen alle anderen über sie her. Sie umhüllen die Hornisse komplett mit ihren Körpern. Der Hornisse wird es bald zu warm. Sie wird bei lebendigem Leib gegrillt. Apropos: Ich werde langsam mit den Bienen warm. Auf andere Weise. Ich halte sogar ein Riemchen voller Bienen hoch. „Nicht fallen lassen“, warnt Kristin. Das Riemchen wiegt ein paar Kilo, tausend Bienen plus Honig haben Gewicht. „Ich kenne Imker, die im Winter Fitnesstraining machen, damit sie keinen Wirbelsäulenschaden beim Hochheben kriegen“, sagt Kristin. Ich ertappe mich selbst dabei, wie mir das Imkern Laune macht. Für meinen Geschmack hat es als Hobby zu viel mit Stacheln zu tun. Aber es ist faszinierend, dem Gewimmel in den Stöcken zuzusehen. Von außen wirkt es chaotisch. Dabei läuft alles nach einem Plan ab. Jede Biene weiß, was sie wann zu tun hat. Sie bauen feine Waben, füttern Larven, lagern Honig ein. Für ein Glas davon müsste eine Biene etwa 40 000 Mal ausfliegen, rund 120 000 Kilometer zurücklegen. Ich habe manchmal schon keine Lust, über die Straße zum Bäcker zu gehen. Das Leben in einem Bienenstock ist ein kleines Naturwunder. Das ist also der Grund, warum die Menschen Imkern für sich entdecken. Am Ende der Visite ist Kristin zufrieden, ihre Honigbienen sind gesund. In Zeiten, in denen die Tiere unter tödlichen Milben und Pestiziden leiden, zählt das als Erfolg. Ich bin immer noch stichfrei: ebenfalls ein Erfolg. Vielleicht werde ich ja doch noch zum Naturburschen. Irgendwann.
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Bienenkönige...
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01 Ich präsentiere: ein Riemchen mit etwa tausend Bienen. 02 Imkerin Kristin Mansmann verkauft Bio-Honig, züchtet Bienen und gibt Imkerkurse.
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...und Arbeitsbienen 03 Auf diesem Riemchen bauen die Bienen erst seit kurzem ihre Waben. 04 In manche Waben legt die Königin Eier, in andere wird
Die Drohne und ich
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Honig als Vorrat eingelagert. 05 Vorsichtig setzt Kristin ein Riemchen ein. 06 Keine Milben in Sicht — gut für die Bienen.
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NOTIZEN
D e r S c hw arm ... . ..feier t
Beob ach t un gen von u nt er we gs u nd mit t en dr in
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Ein Flughafen, irgendwo in Deutschland. Gelangweilte Menschen lungern in der Abflughalle herum. Offiziell beginnt das Boarding in sieben Minuten. Ein Mann schaut nervös auf die Uhr. Noch sechs Minuten. Es gab noch immer keine Durchsage. Oder doch? Fünf Minuten. Er schaut seine Reisebegleitung an. Die beiden nicken, stehen auf und stellen sich demonstrativ vor den Schalter. Wie auf Kommando raffen alle anderen Wartenden jetzt ebenfalls ihr Hab und Gut zusammen und trotten hinterher. Junge Familien, Rucksacktouristen und Renterpaare. Innerhalb von Sekunden steht eine ansehnliche Schlange vor dem Gate. Da knackt der Lautsprecher und eine blecherne Stimme ruft die Reisenden der Business-Class zum Einsteigen nach vorn. Alles Anstehen umsonst.
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Text: Ju dith Issi g, Va le ri e S chön ia n, C laud ia Ste i nert & Mathi a s Terti lt Illustrati one n: Maximi li an Ger l
Alles sieht friedlich aus. Der erste laue Abend des Sommers und es sind Schulferien. Pubertierende Wesen sitzen in Grüppchen auf der großen Wiese. Sie trinken Prosecco und Wodka-O. Sie exen Bier. Die Mädchen kichern, die Typen proben Imponiergehabe. Plötzlich Pöbelei. Eine Flasche kullert über die Wiese. Handgemenge, Drohgebärden und Ankündigungen wüster Körperverletzungen. Natürlich wegen Emmi, soviel verrät das hysterische Geschrei. Die anderen Teenager wittern Action. Sie schwärmen heran. Aus den Ecken, von den Bänken, hinter den Büschen strömen sie hervor, zu zweit, zu viert, zu acht, sie scharen sich zusammen, geiern auf den großen Knall. Doch die Hysterie tröpfelt aus. Der Schwarm löst sich auf. Kleine Grüppchen trinken Wodka-O, hübsch ansehnlich über die Wiese verteilt. Alles sieht friedlich aus.
...s chläft Um mich herum sitzen hunderte Studenten, alles zukünftige Stipendiaten. Vorher müssen wir aber eine Mozart-Sonate hören, vielleicht weil wir im Prinzregententheater sitzen. Auf der Bühne schwingen die Pianistinnen ihre Körper und Köpfe, als wäre starker Seegang. Links und rechts von mir sinken erst die Augenlider, dann die Köpfe. Während immer mehr Synapsen den Feierabend einläuten, bin ich köstlich amüsiert. Die ekstatischen Pianistinnen gestikulieren, als beschwörten sie den toten Mozart selbst. Aber gegen das Wachkoma der Studenten kommen nicht einmal sie an. Die Gesichtsmuskeln der Musikerinnen verkrampfen und entspannen sich im Takt. Ich frage mich, ob auf den Seiten vor ihnen überhaupt Noten stehen, oder doch die Tanzchoreographie mit Mimik und Gestik. Die Köpfe im Halbschlaf wippen zu einem ganz anderen Rhythmus. Nach dem letzten Ton sind die Künstlerinnen erschöpft und meine Sitznachbarn ausgeschlafen.
Ganz schnell sollte es gehen, um ja kein Lied zu verpassen. Und wieder bis zum letzten Takt vor der Pause gewartet, in der Hoffnung, dass man als Einzige das Durchhaltevermögen hat. Und dann enttäuscht in der Toilettenschlange stehen, mindestens 153 Meter lang. Sagt jedenfalls die Blase. Warten mit totem Handy im Rucksack und drei Bier intus. Mädchen, die vordrängeln. Verschwitzte Frauen. Drei Toiletten für halb München, mindestens. Fast alle checken ihre Smartphones. In meiner Tasche nur die Retro-Version in Printformat. Eine Zeitung. Der Gedanke, sie aufzufalten. Die Befürchtung, dass das nicht Rock‘n‘Roll ist. Das erlösende Aufgehen der Tür, das Klopapier leer. Im Hintergrund setzt das Schlagzeug ein. Dann wohl kein viertes Bier.
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INTERVIEW
„Ich bin wie ein Chamäleon“ Der gebürtige Nigerianer JOSEF „SEPP“ DAVID lebt seit44 Jahren in Deutschland. Ein Gespräch über Milchwagen, Blasmusik und Integration.
INTERVIEW & FOTOS: STEPHANIE PROBST
Von der nigerianischen Metropole Ibadan nach Frankfurt nach Unterfranken in den Bayerischen Wald. Der 67-jährige ehemalige Maschinenbauingenieur Sepp David verbringt seit zweit Jahren seinen Ruhestand mit seiner Frau Veronika im niederbayerischen Rehberg. SCHWARM: Herr David, sind Sie Deutscher oder Nigerianer?
JOSEF DAVID: Ich bin Bayer, durch und durch! Ein bayerischer Bua eben. Wieso?
Mir gefällt die Ruhe am Bayerischen Wald. Das ist großartig. Hier fahren am Tag vielleicht fünf Autos vorbei. Und die Leute sind einwandfrei. Feid nix, sagt man ja! Kein Fremdeln mit den bayerischen Traditionen?
1982 hat Sepp sein erstes Baritonhorn gekauft und sich das Spielen selbst beigebracht. Noch heute nimmt er wöchentlich Übungsstunden.
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Ich finde es toll, dass die hier so hoch gehalten werden. Ich gehe gern auf Volksfeste in meiner Lederhose und trinke eine Maß. Ich fühle mich sauwohl hier. Und das Essen! Schweinshaxn mit Semmelknödel! Mit 24 haben Sie Nigeria verlassen. Warum?
Ich wollte Maschinenbau studieren. Zuerst habe ich aber in Frankfurt eine Lehre zum KFZ-Mechaniker gemacht, nach
der Fachoberschule konnte ich studieren und war 1980 Maschinenbauingenieur. Zwei Jahre nach dem Studium sind Sie nach Unterfranken gezogen – was trieb Sie in die bayerische Provinz?
Ich habe 1982 bei Opel in Rüsselsheim eine Stelle als Versuchsingenieur bekommen. Niedernberg war nur ein paar Kilometer davon entfernt und Unterfranken hat mir von Anfang an gefallen. Seit 1982 spielen Sie Horn. Wie kamen Sie zur Blasmusik?
Durch einen Kollegen in Unterfranken. Ich habe mir das erst mal angehört, es hat mir gefallen. Ich bin gleich nach Mainz gefahren und hab mir mein erstes Instrument gekauft – den Alexander. Alexander?
Mein erstes Baritonhorn. Das steht bis heute in meinem Keller.
Hat es mit dem bairischen Dialekt auch gleich so gut funktioniert?
Jessas Maria – nein! Ich habe zwölf Jahre in Frankfurt gelebt und dort babbelt man ja ganz anders. In Unterfranken war es auch schon schwierig, aber jetzt bin ich im Bayerischen Kongo gelandet, also am Gipfel des Dialekts (lacht). Wenn die Leute langsamer sprechen, geht es. Wenn sie durcheinander reden, muss ich spekulieren, was sie meinen. Aber ich mag das Bairische – es klingt wie Musik. Das erinnert mich an meine Muttersprache Yoruba. Es gibt so viele verschiedene Tonarten. War es schwierig, sich in Deutschland zu integrieren?
Ich habe mir von Anfang an gesagt: Sepp, wenn du in Deutschland bleiben willst, musst du die Sprache lernen, die Rituale und die Kultur beherrschen. Meine Strategie war: Höflichkeit, Humor und Anpassungsfähigkeit. Ich bin wie ein Chamäleon!
Und mit dem Spielen hat es gleich geklappt?
Was war dabei das Wichtigste?
Ich habe dann so lange geübt, bis es ging. Der Wille war da und deswegen habe ich das auch geschafft. Seit ich im Bayerischen Wald lebe, spiele ich auch fest bei der Graineter Blaskapelle mit. Ich nehme aber noch wöchentlich Übungsstunden, weil ich noch besser werden will.
Über sich selbst lachen zu können. In der Firma damals habe ich mir die Hände gewaschen, mein Chef stand hinter mir und ich sagte: „Ach Sepp, du wirst eh nicht sauber.“ Der hat sich totgelacht neben mir und gesagt „Herr David, behalten Sie ihre gute Einstellung!“
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INTERVIEW
Ich kann mich selbst auch mal auf den Arm nehmen, das macht alles einfacher!
Schiedsrichter bei einer Hobbyfußballmannschaft und wir hatten ein Turnier im Bayerischen Wald. Abends sind wir zu viert in eine Disko, da waren nur vier Frauen drin – Ha! Das hat perfekt gepasst. Wir haben getanzt und gelacht. Unsere eigentliche Idee war, dass uns die Frauen heimfahren. Das Hotel war sehr weit weg und ich bin ja schwarz. Und nachts ist das nicht so super, da werde ich ja überfahren (lacht).
Wie sehen Sie die Deutschen?
Sie sind fleißig – wie ein Bienenvolk. Wie ein Bienenvolk?
Sie wissen, was sie wollen und darauf arbeiten sie hin. Nichts ist unmöglich in Deutschland. Und ich fühle mich wie ein Deutscher. Ich habe hier die Werte gefunden, die Teil meiner Persönlichkeit sind und die ich in Nigeria nicht gefunden habe – Ehrlichkeit, Höflichkeit, Nächstenliebe und den Ehrgeiz, den die Deutschen an den Tag legen. Ich bin froh, ein Teil von diesem Volk zu sein. Und die deutschen Sitten? Mussten Sie vieles dazulernen?
Da gab es schon ein paar Sachen. In Afrika musst du dich nicht anmelden, wenn du jemanden besuchen willst. Aber auch wie die Deutschen miteinander sprechen. Mein KFZ-Meister wollte mich damals in Frankfurt rausschmeißen, weil ich ihm während des Gespräches nicht in die Augen geschaut habe. Das ist in Afrika so üblich – wenn ein Erwachsener spricht, hat der jüngere den Kopf zu senken und aufmerksam zuzuhören. Das ist ein Zeichen von Respekt, Blickkontakt bedeutet Arroganz. Das war damals ein großes Missverständnis, aber auch die erste Gepflogenheit, die ich hier gelernt habe. Immer, wenn ich zurück nach Nigeria komme, muss ich aufpassen, sonst wirke ich abgehoben. Was hat Sie überrascht?
Nach ein paar Monaten sagte ich zu einem Kollegen, dass der Milchwagen seine Ladung verloren hat – derweil war das Schnee! Ich hatte noch nie Schnee gesehen. Gab es auch unangenehme Erfahrungen?
Hass habe ich in Deutschland nie erlebt.
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Wann haben Sie sich wiedergesehen?
Zwei Tage später stand meine Frau beim Turnier am Sportplatz und hat mich besucht. Seitdem haben wir uns Briefe geschrieben. Damals wusste ich nicht, dass ihre Ehe auf der Kippe stand – wie meine erste Ehe, die wenig später geschieden wurde. Nach ihrer Scheidung zog sie zu mir nach UnterBei der Graineter Blaskapelle ist Sepp festes Mitglied franken. 1999 hat sie mir und unterstützt die Gruppe mit seinem Baritonhorn. noch einen Buam geschenkt. Zwei Kinder hat sie bereits mitgebracht, drei habe ich Vielleicht denken die Leute etwas aus meiner ersten Ehe und einen Buam Schlechtes über mich. Aber was man mir haben wir gemeinsam. Und alle sechs nicht sagt, belastet mich auch nicht. Ich Kinder hab ich groß gezogen. Mittlerhabe Glück gehabt in Deutschland. Vielweile bin ich dreifacher Opa. leicht bin ich eine Ausnahme. Aber ich Fehlt Ihnen Nigeria? habe mich von Anfang an wohl gefühlt. Nein. Ich akzeptiere, dass Deutschland Sie haben nie etwas Schlechtes anders ist. Ich sehe die Unterschiede der erlebt? beiden Länder, aber ich urteile nicht. Manchmal bekam ich Schimpfwörter ab. Meine Verwandtschaft vermisse ich. Aber dann gehe ich zu dem Menschen Hin und wieder koche ich gerne Gerichte aus meiner Heimat. Kochbananen mit hin und sage ganz ruhig, dass mich dieses Bohnen – da denke ich, ich bin in Nigeria! Wort verärgert. Dass er doch stattdessen „He, farbiger Mann!“ sagen soll – oder Wollten Sie jemals zurück? einfach Sepp. Mich hält hier zu viel, Deutschland ist Ich lasse vieles an mir abprallen, ich nehme das nicht persönlich. Es gibt Witze meine Heimat. über Schwarze, da lache ich mit. Wenn Was bedeutet Heimat für Sie? sie nicht böse gemeint sind. Der Ton macht die Musik! Lache mit den Leuten, Wenn ich in einem Land bin, das mich dann lachen sie mit dir. toleriert und akzeptiert, dann ist das meine Heimat. Ich bin hier in meinem Ihre Frau stammt aus dem Bayerischen Wald, ich mache meine Bayerischen Wald. Wo haben Sie Blasmusik – mich stört hier niemand. sich kennengelernt? Ich bin happy, wenn ich meine Musik In einer Disko. Ich war in Unterfranken machen kann.
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MEINUNG
D i gi t al e Fr eun ds chaf ten Eva Steinlein, 23, indet: Im Netz folgen soziale Beziehungen einfach anderen Regeln.
Können im Internet echte Bindungen entstehen, auch wenn man sich nie persönlich trifft?
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Katharina Kutsche, 38, wundert sich über Leute, die „Internet & PC“ als Hobby angeben.
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einen besten digitalen Freund möchte ich nicht missen. Ich habe ihn nie lachen gehört, ihn nie in den Arm genommen. Aber seine Nachrichten haben mir zeitweise mehr Trost und Rat gegeben als meine Freunde im realen Leben. Um mich mit meinem digitalen Freund verbunden zu fühlen, muss ich ihn nicht treffen. Um ihn zu kennen, muss ich ihn nicht berühren. Ich pflege analoge und digitale Freundschaften. Beide sind echt. Lerne ich eine Person neu kennen, sehe ich nur das, was sie mir von sich zeigt, was sie von sich preisgibt – in der realen wie in der virtuellen Welt. Dass das Leben meines Netz-Freundes mehr Facetten hat als sein Instagram-Account, weiß ich. Aber auch in der analogen Welt bin ich mehr als meine Kleidung, meine Stimme, meine Augenfarbe. Dennoch werden viele nie mehr als das von mir erfahren. Ist mir eine Kontaktaufnahme im Internet unerwünscht, kann ich sie ignorieren oder mit wenigen Klicks aus meinem Leben blocken. Analog sind oft drastischere Maßnahmen nötig. Umgekehrt muss ich mich im Web nicht schämen, wenn eine Unterhaltung mal danebengeht. Die Freiheit des Internets, Kontakte jederzeit zu beenden, bringt auch die Gewissheit: Die andere Person antwortet nicht aus Höflichkeit, sondern aus echtem Interesse. Daraus folgt eine größere Aufrichtigkeit, als sie analog am Anfang einer Bekanntschaft angemessen wäre. Statt etwas zusammen zu unternehmen, erzählen sich digitale Freunde vor allem, was sie fühlen und denken: So kann maximale Offenheit entstehen, eine Offenheit wie ich sie sonst nur mit meiner besten Freundin teile – die ich übrigens gleich auf einen analogen Kaffee treffe.
er Duden nennt Zuneigung als wesentliches Kriterium für Freundschaft. Und Zuneigung kann man im Netz mit ein paar mitfühlend formulierten Sätzen generieren. Menschen, die ähnlich denken, ähnliche Erfahrungen und Probleme teilen, sind im Internet nur einen Mausklick entfernt. Aber im Internet präsentiert sich jeder so, wie er gern gesehen werden möchte. Da ist es schwer zu unterscheiden, ob jemand wirklich meine Ansichten oder Sorgen teilt oder dies nur vorgibt. Nichts benötigt eine Freundschaft also so sehr wie Vertrauen. Doch wie soll ich Vertrauen zu einem Menschen fassen, den ich noch nie getroffen habe? Das funktioniert nicht. Menschliche Interaktion – und durch sie entsteht Vertrauen – wird vor allem vom Lesen der Mimik des Gegenübers geprägt; geschriebene Sätze in einem Chat oder auf Facebook können schnell fehlinterpretiert werden. Sich einem anderen Menschen im Netz anzuvertrauen, hat viel mit Vermeidung zu tun: Man muss sich nicht der unmittelbaren Reaktion der Freunde stellen, sieht nicht ihr Stirnrunzeln, ihr Augenrollen oder ihre Skepsis. Eine wahre Freundschaft braucht den persönlichen Kontakt. Sie ist von gemeinsamen Unternehmungen und Erfahrungen geprägt und wird durch das Kennen und Akzeptieren der Macken des jeweils Anderen besonders. Vertrauen heißt, Familie und Freunde des Anderen zu kennen, seine Wohnung, seine Gesten, die ihn ausmachen. In dem Moment, in dem man erklären muss, dass man einen Freund noch nie getroffen hat, wird klar, warum ein Zusatzwort nötig ist. Brieffreund oder Onlinefreund ist eben nicht das Gleiche wie ein analoger Freund.
Schwarm
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REPORTAGE
Warst du gern da? Nein, das war komplett langweilig. Warum bist du dann hingegangen? Jeder musste hin.
„WAS IST DENN NORMAL, MEIN KIND? “ Meine Mutter und meine Oma lebten in der Deutschen Demokratischen Republik. Sie sagen, sie haben gut gelebt. Ich frage mich: Wie? T E X T & G E S TA LT U N G : V A L E R I E S C H Ö N I A N
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Klartext
V
on allen Dingen, die es hätten sein können, erinnert sie sich ausgerechnet an den Schmerz in den Beinen. Anke Schumacher steht vor dem Kulturhaus in Kalbe an der Milde, einer Kleinstadt im Norden Sachsen-Anhalts. Zwischen Menschen mit Schildern in der Hand und papiernen Nelken auf der Kleidung. Kinder tragen blaue oder rote Tücher um den Hals, die meisten Erwachsenen Abzeichen auf der Brust und Jugendliche wie Anke dunkelblaue Hemden. Sie alle sind schon stundenlang marschiert, haben Fahnen wehen lassen und die weiße Friedenstaube besungen. Jetzt stehen sie vor der Bühne, auf der einer steht, vom Sozialismus erzählt und „SOOOzialismus“ sagt. Auch auf seiner Brust das Abzeichen, die Aufschrift: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands. Es ist ein 1. Mai, in den 1980er Jahren. In der Deutschen Demokratischen Republik. Die Kalbenser feiern die Arbeiter, ihre Leistungen und den Frieden.
Und Anke erinnert sich daran, dass ihr vom Stehen die Beine weh tun. Weil sie es nicht mehr aushält, hockt sie sich hin. Zwischen die anderen in ihren Blauhemden. Sie verschwindet zwischen ihnen. ----
Programm für die Bildungs- und Erziehungsarbeit im Kindergarten, Berlin 1984, S. 221: Die Kinder sollen wissen, dass der 1. Mai der Internationale Kampfund Feiertag der Werktätigen ist. Sie sollen wissen, dass die Werktätigen diesen Tag zur Stärkung der DDR und zur Erhaltung des Friedens festlich begehen. Sie stellen fest, dass rote Fahnen und die Länderfahnen wehen und Freude herrscht. Es ist ihr Wunsch zu entwickeln, an den Festveranstaltungen teilzunehmen.
Schwarm
Das hat dich nicht gestört? Das ging doch nur ein paar Stunden. Und den Rest des Tages hatten wir schulfrei. Sonst hätte ich auch Ärger von meiner Mutter bekommen. ---Vor ein paar Wochen habe ich zu Hause meine Geburtsurkunde entdeckt. Geburtsort: Gardelegen, im heutigen Sachsen-Anhalt. Geburtstag: 25. September 1990. Ausgestellt von der Deutschen Demokratischen Republik, acht Tage vor der Wiedervereinigung. Ich bin in einem Staat geboren, der nicht mehr existiert. Anke ist in ihm aufgewachsen. Sie ist meine Mutter. Rede ich mit anderen über die DDR, geht es um die Stasi, die Mauer, die Mauertoten, den Bananenmangel. Mit meiner Mutter geht es um ihre ersten Zigaretten. Ihre Mutter, meine Oma, war in der Partei. Rede ich mit ihr über die DDR, geht es um ihre Arbeit in der Kaufhalle. Sie haben gut gelebt, sagen sie. Sie haben doch vieles nicht gewusst. Ankes Mutter, meine Oma, steht nicht vor der Bühne. Gabriele Schumacher wartet mit ihren Kolleginnen abseits der Menge. Mit hochgesteckten Haaren und in weißem Kittel, wie sie es jeden Tag in der Kaufhalle trägt. Sie verkaufen gleich Stulle und Bockwurst an die Leute. Vor Ende der Kundgebung damit anzufangen, ist verboten. ---Warum sollte deine Tochter denn zum 1. Mai gehen? Das war eben Pflicht. Habt ihr sonst mal über die DDR geredet? Eigentlich nicht. ----
Mitgliedsbuch der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands Name: Schumacher, Gabriele * 5. Februar 1945 Parteimitglied seit: 4. April 1966 Datum der Ausstellung: 6. Oktober 1970
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Das muss doch nerven. Du bist damit nicht aufgewachsen. Du wurdest offen erzogen und würdest damit nicht klar kommen. Wir sind da hörig so reingewachsen. ---Anke wird am 12. Februar 1968 in Kalbe geboren. Knapp 40 Kilometer von der Mauer entfernt. Ihre Kindheit verläuft so, wie es im Bildungsplan der DDR steht. Bis zur dritten Klasse ist sie Jungpionierin und trägt das blaue Halsband, dann als Thälmann-Pionierin das rote. Einmal in der Woche gibt es in der Schule einen Fahnenappell. Der Direktor begrüßt sie, tatsächlich, mit: „Seid bereit.“ Sie und ihre Klassenkameraden antworten: „Immer bereit.“ ---Wofür denn bereit sein? Da musst du Honecker fragen.
Wieso bist du denn in die SED eingetreten? Das ist doch selbstverständlich. Sonst kamst du ja gar nicht weiter irgendwie. Ja, aber wie kam`s dazu? Da war ich in der Kaufhalle hier. Sie haben mich hochgeholt in den Betrieb und haben gefragt, ob ich da nicht mal eintreten möchte. Da sagt man dann schon ja. Wieso? Das könnt Ihr euch jetzt gar nicht mehr vorstellen. Sonst kommst du ja nicht weiter. ---Gabriele ist angesehene Genossin, mehrfach ausgezeichnet als „Aktivist der sozialistischen Arbeit.“ An sechs Tagen in der Woche arbeitet sie in der Kaufhalle. Montags bis freitags steht sie um 5 Uhr auf, um davor noch Milch zu verkaufen. Nach acht Stunden macht sie sich ihre Haare, bindet sich eine neue Schürze um und geht zum Kellnern ins Kulturhaus, mehrmals in der Woche, am Wochenende fast immer. In der Zeitung nennen sie sie „willig und wissbegierig.“ Einmal bekommt sie für ihren Einsatz 350 Mark, ein anderes Mal eine achttägige Reise nach Moskau.
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Ich kann nichts Schlechtes sagen über die DDR. Hat dir nichts gefehlt? Wir hatten ja alles. Wenn es Bananen gab, konnte ich die als Verkäuferin mitnehmen. Hast du nichts vermisst? Was sollte ich denn vermissen? ----
Lebenslauf Anke Schumacher, vom 30. Januar 1986 In der 4. Klasse wurde ich in die Reihen der Thälmannpioniere aufgenommen. In der 8. Klasse trat ich in die DSF und in die FDJ ein und wurde Mitglied des DTSB. 1982 wurde ich in die GST und im DRK aufgenommen. Im 9. Schuljahr wurde ich Stellvertreter des FDJ-Sekretärs. Ich wurde Propagandist des FDJ-Studienjahres. ----
Wieso hast du denn da überall mitgemacht? Das war Pflicht. Und ich war eine gute Schülerin.
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Hast du dich das nie gefragt? Es war mir egal. Das hat man automatisch gesagt. Es gab ja nichts anderes. ---Mit 14 bekommt sie das blaue Hemd der FDJ-Mitglieder. Es ist das Alter, in dem sie ihren ersten Schnaps trinkt und ihre ersten Zigaretten raucht. Immer um 18 Uhr trifft sie sich an einer Bank aus Holz, gleich neben der Kaufhalle, in der ihre Mutter arbeitet. Zum Rumstehen und Reden. Alle sind da nach der Schule. ---Im Nachhinein war da bestimmt jemand von der Stasi dabei. Wie war das denn, mit der Stasi zu leben? Das war schon komisch. Aber man hat sich damit auch nicht beschäftigt. Das ist doch widersprüchlich. Ich habe kein Facebook und weiß auch, warum. Was ist mit dir? ---Einmal in der Woche geht sie zur FDJ-Versammlung. Einmal in der Woche kümmert sie sich um die Altwertstoffsammlung. Einmal in der Woche stellt sie sich an. Etwa zwei Stunden dauert das. Wofür, weiß sie nicht, wenn sie in die Schlange tritt. Mal ist es Bettwäsche, mal sind es Handtücher oder Herrentaschentücher.
Wir haben keinen Hunger gelitten oder so. Ich kann nichts Schlechtes sagen über die DDR. ----
Das hört sich alles so kritisch an und so bettelnd. Aber so war das nicht. Für mich war das normal. Aber hat dir was gefehlt? Ich wollte immer nur Westkaugummis haben. Im Westfernsehen haben sie gesagt, davon werden die Zähne weiß. ---Sie schauen Dallas und Denver. Über den Sozialismus sprechen sie zu Hause nie. Nicht über die Stasi. Nicht über die Mauer, nicht über die Toten an der Mauer. ----
Ausweis: Arbeiterkontrolle der Gewerkschaften, Inhaber: Schumacher, Gabriele Die Arbeiterkontrolleure sind in ihrem Betrieb gewählt und berechtigt, Kontrollen durchzuführen, die der Feststellung unterbelegten Wohnraumes, der richtigen Verteilung des Wohnraumes und der planmäßigen Durchführung der Reparatur- u. Werterhaltungsmaßnahmen an Wohnungen dienen. ----
Hättest du jemanden angeschwärzt, wenn er etwas gegen den Sozialismus, Honecker, die DDR gesagt hätte? Nee, nee, ganz bestimmt nicht. Hast du Witze über die DDR oder die Stasi gemacht? Man durfte laut nichts sagen gegen Honecker. Das wussten alle. Nur Gutes. Das hat dich nicht gestört? Nee, eigentlich nicht.
Lied für Kinder der Deutschen Demokratischen Republik Habt Ihr in kleiner Runde mal Witze über Honecker gemacht? Ich glaube nicht. Echt? Wir waren gut erzogen. ---Die wöchentlichen Parteiversammlungen finden in der Kaufhalle statt, in der Gabriele arbeitet. Vorne steht der Parteisekretär. Der, der sie auch in die Partei geholt hat. Er erzählt, dass sie in der BRD 13,99 auf die Schilder schreiben. Damit es sich billiger anhört. Und von der Arbeitslosigkeit in der BRD. Gabriele hört nicht richtig zu. Aber klar hat sie Angst vor der Arbeitslosigkeit. ---Hast du alles geglaubt, was in der DDR behauptet wurde, Oma? Wir kannten ja nur das. Als die Mauer gebaut wurde, warst du doch schon 16. Ja, aber das hat uns gar nicht so viel ausgemacht. Dass da eine Mauer hochgezogen wird? Ich kam doch aus Kalbe gar nicht raus. Wolltest du nicht? Wie sollte ich denn auch. Auto. Da musstest du erstmal rankommen. Da hatten wir kein Geld für. Wir hatten so viel, dass wir ordentlich leben konnten.
Schwarm
Wenn ich groß bin, gehe ich zur Volksarmee. Ich fahre einen Panzer, ratata ratata. Ich werd ein flinker Funker, dadidit dadidit. Ich lade die Kanone, rumbummbumm rumbummbumm. Wenn ich groß bin, gehe ich zur Volksarmee. ---Anke will Kindergärtnerin werden. Sie ist 14. Ihre Lehrerin sagt, dafür müsse sie mit der Christenlehre aufhören. Anke ist gern in die Kirche gegangen. Als sie ihrem Pfarrer sagt, dass sie nicht mehr kommt, muss sie fast weinen. ----
Findest du das normal? Was ist denn normal, mein Kind? ---1984 beginnt Anke ihre dreijährige Ausbildung in Magdeburg. Sie lebt in einer Einzimmerwohnung im Zentrum. Am Wochenende fährt sie in die Altmark zurück, jeden Samstag ist Disko. Sie tanzen zu Boy George und Jimmy Somerville. Während des Studiums verliebt sie sich das erste Mal so richtig. In Josef aus Ungarn. Er ist für ein Motocross-Rennen in der Altmark. Nach drei Tagen ist er wieder weg. Ihm hinterherzureisen: daran denkt sie nie. Mit 19 ist Anke ausgebildete Kindergärtnerin, sie arbeitet in Magdeburg. Ob sie in die SED will, fragt sie niemand. Also ist sie nicht in der SED.
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Aber du bist ja mitgelaufen. Ja, aber das wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht. Ich wusste nicht, dass es falsch ist. .Programm für die Bildungs- und
Erziehungsarbeit im Kindergarten, Berlin 1984, S. 216: Die Erzieherin hat die Aufgabe, die von den Kindern bereits erworbenen Kenntnisse über die DDR zu festigen und zu erweitern und die Liebe zu ihrem sozialistischen Vaterland weiter auszuprägen. Die Kinder sind zur Verachtung der Feinde der Völker zu erziehen, die schuld daran sind, dass noch immer Menschen unterdrückt und ausgebeutet werden. ----
Würdest du mich als Mitläuferin bezeichnen? Ja, schon, Mama. Aber Mitläufer sind doch scheiße. Immer wieder passieren schlimme Dinge, weil Menschen einfach ihre Schnauze halten.
Anke Schumacher, heute Schönian, lebt seit 1984 in Magdeburg.
Empfindest du dein Leben in der DDR im Nachhinein als schlimm? Eigentlich war‘s das ja nicht, ich hatte eine glückliche Kindheit. Wir haben aus der Not eine Tugend gemacht. Aber eigentlich hatten wir ja auch keine Not. ----
Witz, irgendwo aus der Deutschen Demokratischen Republik Ein Ami, ein Russe und ein Deutscher kriegen von Petrus ein drittes Auge geschenkt. Sagt der Ami, ich will das hier auf dem Kopf haben, damit ich das All überblicken kann. Sagt der Russe, ich will meines am Hacken haben, damit ich alles sehe, was hinter mir ist. Und der gute DDR-Bürger sagt: Ich will mein Auge auf dem Zeigefinger haben. Damit ich sehen kann, was hinterm Ladentisch versteckt liegt. ---Wenn es Bananen oder Orangen gibt, nimmt Gabriele sie mit. Der Vorteil der Verkäuferinnen. Sie bezahlt natürlich. Manchmal gibt es aber selbst für die Verkäuferinnen nichts. Einmal fehlt der Ketchup, einmal die Butter, einmal das Klopapier. Wenn sie Schuhe kaufen will, geht sie mit Orangen ins Schuhgeschäft. ----
Hast du denn daran geglaubt, an die DDR und die SED, an den Sozialismus? Man ist, wie man so schön sagt, Mitläufer gewesen. Man hat alles gemacht, was die das so gesagt haben. Das hast du nie hinterfragt? Mir ging‘s ja auch gut, in der SED. Ich war FDJ-Sekretärin, ich hatte alle Leute unter mir. Muss man dafür nicht an den Sozialismus glauben? Da kann ich dir gar keine richtige Antwort geben. Wir haben nichts anderes gekannt.
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Es ist der 1. Oktober 1988 als Anke Torsten kennenlernt. Eine Woche später sind sie zusammen. Er hat keine besonderen Abzeichen. Seine Eltern sind nicht in der Partei, er geht nie zum 1. Mai und wenn seine Lehrer sagen: „Seid bereit!“, murmeln er und seine Kumpels: „Keine Zeit.“ Über Politik reden Anke und Torsten nie. Sie werden zusammen bleiben. Heiraten, in ein Reihenhaus in Magdeburg ziehen und zwei Kinder bekommen. Mich und meinen Bruder. ----
Torsten war informierter als ich. Er hat viel mehr mitbekommen. Vielleicht war ich zur falschen Zeit am falschen Ort. Sonst wäre ich auch interessierter gewesen. Wäre das gut gewesen? Ich weiß es nicht. Aber das geht ja auch nicht, was da passiert ist. Ich war naiv. Ich war unwissend. Aber Unwissenheit schützt ja vor Strafe nicht. Es ist nicht toll, was ich gemacht habe. Du hast ja nichts gemacht. Das ist ja das Schlimme. Ist die DDR für dich ein Unrechtsstaat? Im Nachhinein ja, damals nicht. ---Der 9. November 1989 ist ein Donnerstag. In der Nacht zu Freitag fällt in Berlin die Mauer. Bilder von Menschenmassen die auf den grauen Betonblöcken tanzen, gehen um die Welt. Anke schaut sie im Fernseher ihrer Einzimmerwohnung in Magdeburg. ---Hast du darüber nachgedacht hinzufahren? Nein, ich musste ja am nächsten Tag arbeiten. Aber das war doch ein historischer Moment. Aber ich wusste, am nächsten Tag stehen die Kinder um 6 Uhr vor der Tür. Hattest du Angst? Nein, das waren doch unsere Leute. Ich habe mich gefreut für sie. Und ich
Gabriele Schumacher lebt heute noch immer in Kalbe an der Milde. Anke Schumacher, 2. Reihe, 4. v. l., ging trat mit 14 in die FDJ ein - wie alle.
In ihrem Ausweis waren die Thälmann-Pioniere mit Passfoto abgebildet.
dachte, jetzt bekomme ich meine Westkaugummis. Wolltest du gleich rüber fahren? Ich hätte auch noch eine Woche warten können. ---Anke geht am 10. November wie immer in den Kindergarten. Am nächsten Morgen, einem Samstag, fährt sie mit Torsten Richtung Westen. Vor der Grenzstation Bergen/Dumme-Salzwedel stehen sie 12 oder 13 Stunden im Stau. Weil jeder, der drüben ankommt, einzeln begrüßt wird. Anke und Torsten fahren weiter nach Uelzen. Es ist dunkel, als sie ankommen. Als erstes fällt ihnen die weiße Straßenbemalung auf. Sie reflektiert das Scheinwerferlicht. Gabriele steht am 10. November in der Kaufhalle. Mit hochgesteckten Haaren und weißem Kittel. Es sind keine Kunden da. Sie wird einige Wochen später einmal rüber fahren, um ihr versprochenes Begrüßungsgeld zu holen. Und dann nie wieder . Den 1. Mai haben meine Oma und meine Mutter seit der Wende nicht mehr gefeiert. Was soll man denn da feiern, sagen sie. In diesem Jahr hat meine Mutter, Anke Schönian, am 1. Mai gepackt. Um Mitternacht ging ihr Flieger nach Side. In die Türkei.
Gabriele Schumacher arbeitete jahrelang als Verkäuferin im Supermarkt.
Sie wollen noch mehr Fotos sehen? Hier geht‘s zur Multimedia-Reportage: www.klartext-magazin.de/53A/ddr
Anke Schumacher, 2. v. l., erhielt 1983 ihre Jugendweihe in Kalbe an der Milde.
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REPORT
VERWANDELN UND VERNICHTEN Heuschrecken sind Einzelgänger. Doch warum verwüsten dann Milliarden von ihnen gemeinsam ganze Landstriche? T E X T & I L L U S T R AT I O N : C L A U D I A S T E I N E R T
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itten in England, in der Stadt Leicester, wird es auch im Sommer selten heiß. Nur im Labor von Swidbert Ott an der Universität Leicester herrschen das ganze Jahr über schwül-warme 36 Grad. In dem Labor stapeln sich rund 300 Boxen. Jede etwa doppelt so groß wie ein Milchkarton, die Deckel und Seitenwände aus Metall, nur ein kleines Fenster lässt Licht herein. In jeder Box lebt eine einzelne Wüstenheuschrecke, blass-braun gefärbt, langsamer Gang. Wären es Menschen, würde man sie als schüchtern und introvertiert beschreiben. Keines der Insekten kann seine Artgenossen sehen. Die Tiere können einander auch nicht riechen, denn die Klimaanlage saugt die mit Duftstoffen geschwängerte Luft ab. Der Aufwand, ein solches Labor zu betreiben, ist enorm. Aber unvermeidbar. „Wenn die Tiere bemerken, dass sie nicht alleine sind, werden sie sich sofort verwandeln“, sagt Swidbert Ott am Telefon. Wüstenheuschrecken sind unglaublich wandelbare Tiere. Die scheuen, unauffälligen Einzelgänger können innerhalb von kürzester Zeit zu grell gefärbten Schwarmtieren werden. Die Veränderung ist so allumfassend, dass Biologen bis vor knapp 100 Jahren dachten, dass es sich um unterschiedliche Arten handele. Doch das stimmt nicht. Es sind die gleichen Tiere. Ott will herausfinden, was genau bei dieser Verwandlung in den Zellen passiert. Denn: Fände Ott die Lösung, könnte man auch die verheerenden Schwärme effektiver bekämpfen.
Nationen ausgerechnet. Ganze Ernten können dadurch vernichtet werden. Von der Wüstenheuschrecke bedroht sind vor allem Nordafrika, der Nahe Osten und Zentralasien. Zuletzt traf es Madagaskar. 2012 fielen riesige Heuschreckenschwärme auf der afrikanischen Insel ein. Die Bevölkerung dort kämpft noch immer dagegen an, meist mit extrem giftigen Organophosphaten, die von Hubschraubern versprüht werden. Das Problem dabei: Das Gift tötet nicht nur die Heuschrecken, sondern auch viele andere Insekten, die wichtig für das biologische Gleichgewicht sind. Besser wäre es, ein Insektizid zu entwickeln, das ganz spezifisch nur Heuschrecken tötet. Oder gleich einen Stoff zu finden, der die Tiere daran hindert, sich zu einem Schwarm zusammenzurotten. „Ich fürchte jedoch“, sagt Ott, „dass so eine Wunderwaffe derzeit nicht in Aussicht ist.“
Möchte Swidbert Ott in seinem Labor die Entstehung eines Schwarms erforschen, braucht er nichts anders zu tun, als viele Heuschrecken gemeinsam in einen Käfig zu setzen. Dann sehen und riechen die Tiere ihre Artgenossen. Außerdem stoßen sie immer wieder mit ihren Sprungbeinen aneinander. Mehr braucht es nicht. Innerhalb weniger Stunden verwandeln sich die Einzelgänger zu Schwarmtieren. Sie laufen aufrechter und schneller. Sie fliegen tagsüber, anstatt im Schutz der Dunkelheit. Und, am wichtigsten: Sie scheuen ihre Artgenossen nicht mehr, sondern fühlen sich zu ihnen hingezogen. Verantwortlich für diese drastische Verhaltensänderung ist der Neutrotransmitter Serotonin. Der Botenstoff ist dafür bekannt, das Sozialverhalten unter Artgenossen zu verändern. Außerdem kann er Umbauprozesse im Gehirn anstoßen. Während sich die Heuschrecken vom Einzelgänger zum Gruppentier verwandeln, steigt die Konzentration von Serotonin in Teilen des Nervensystems bis auf das Dreifache an. Dann sinkt sie jedoch schnell wieder auf Normalniveau ab. Serotonin hält den Verwandlungsprozess also nicht am Laufen, sondern stößt ihn nur an. Das Hormon ändert die Aktivität bestimmter Gene, schaltet diese gewissermaßen an und ab. Diesen Vorgang nennt man Epigenetik. Auch bei der Entwicklung des Menschen ist Epigenetik wichtig. Jede Zelle unseres Körpers besitzt identisches Erbgut. Weil aber Gene verschieden reguliert werden, bilden sich so unterschiedliche Gewebe wie Muskelfasern, Nervenzellen oder Blutgefäße. Welche Gene bei
den Heuschrecken angeknipst oder abgeschaltet werden, damit Einzelgänger zu Schwarmtieren werden, wird noch erforscht. Formieren sich Heuschrecken zum Schwarm, verändert sich zunächst ihre Farbe von blass-braun zu grell-gelb. Dieser Prozess vollzieht sich während einer Heuschreckengeneration, also innerhalb von drei bis fünf Monaten. In den folgenden zwei bis drei Generationen werden die Veränderungen noch drastischer. Die Flügel und Hinterbeine schrumpfen, das Gehirn hingegen wächst. Umwelteinflüsse bestimmen, ob sich die Tiere zu blassen Einzelgängern oder grellen Schwärmern entwickeln. Biologen nennen dieses Phänomen Polyphänismus. MIT GPS DEM SCHWARM AUF DER SPUR Das Schwarmverhalten ist nichts weiter als „eine extreme Form der Anpassung an extreme Umweltbedingungen“, sagt Ott. Die Wüstenheuschrecke lebt bei Trockenheit als Einzelgänger. Regnet es viel, dann blüht die Wüste auf und bietet vielen Heuschrecken Nahrung. Die Tiere vermehren sich, bleiben aber weiterhin Einzelgänger. Platz gibt es genug. Wenn während der nächsten Dürre das Nahrungsangebot schrumpft, treffen sich die Heuschrecken auf den letzten grünen Inseln in der kargen Wüstenlandschaft. Notgedrungen kommen sie sich näher, als ihnen zunächst lieb ist. Sie sehen einander, sie riechen einander, sie berühren sich an den Hinterbeinen. Der Schwarm entsteht. Und zieht los. In welche Richtung er wandert, lässt sich bisher nicht vorhersagen. Das könnte sich bald ändern. Am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell analysiert Martin Wikelski mit Hilfe von GPS-Sendern die Wanderungen von Tieren. Schaut er sich die Bewegungen von Störchen in ihrem Winterquartier in Afrika an, dann weiß er auch, wo sich gerade viele Heuschrecken aufhalten. Denn die Insekten sind für Störche eine beliebte Nahrungsquelle. Irgendwann will Wikelski GPS-Sender entwickeln, die klein genug sind, um sie Heuschrecken auf den Rücken zu schnallen. Damit könnte man die Wanderungsbewegung beobachten und womöglich herausfinden, nach welchem Muster sich die Schwärme formieren und fortbewegen. Das stoppt den Schwarm zwar nicht. Man wüsste aber, wohin er gerade wandert und könnte die Bevölkerung warnen. Wikelski sagt: „Gegen einen Tornado kann man auch nichts machen, aber trotzdem will man wissen, wann er kommt.“
KÖRPER SCHRUMPFEN, GEHIRNE WACHSEN Heuschreckenschwärme sind eine Plage, die bereits in der Bibel Erwähnung fand. Große Schwärme bestehen aus Milliarden von Tieren und erstrecken sich über mehrere 100 Quadratkilometer. Wenn sie übers Land ziehen, hinterlassen sie eine Spur der Verwüstung, denn die Tiere sind gefräßig. Ein Schwarm, so groß wie die Fläche von Paris, verschlingt an einem Tag so viel Nahrung wie die halbe Bevölkerung Frankreichs. Das hat die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten
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Heuschrecken fressen täglich etwa ihr eigenes Körpergewicht. Ein Schwarm verschlingt also mehrere Tonnen Nahrung.
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FENSTER ZUR WELT
„Wenn wir eine stabile Gemeinschaft aufbauen wollen, muss jeder Einzelne sich beteiligen“
( Ol af ur E l i a sson)
Fo tos: Ti mothy S ch e nc k, The c olle c tiv i ty proje c t © 20 0 5 O laf ur E l ias so n
Zum zehnjährigen Jubiläum der Installation machten erstmals Architekten den Anfang. Sie entwarfen Gebäude, die später Teil der von den Bürgern erbauten Stadt wurden.
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Am Anfang stehen zwei Tonnen weiße LEGO-Steine. Am Ende eine ganze Stadt. Seit 2005 ist der dänisch-isländische Künstler Olafur Eliasson mit seiner Installation „The Collectivity Project“ weltweit unterwegs. Dabei lädt er haufenweise LEGO-Steine an einem Ort ab. Aus diesen können die Bürger die Stadt ihrer Wünsche bauen. Nach Stationen in Tirana , Oslo und Kopenhagen gastiert das Projekt zurzeit in New York.
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WISSEN KOMPAKT
GENERAL AL AR M!
ßern Kritik an der Besatzung der Costa Concordia, an ihrem Verhalten während der Evakuierung: überfordert, unkoordiniert, unprofessionell sei sie gewesen. Der Zusammenschnitt zeigt verstörte Passagiere und eine verunsicherte Crew. 1600 Kilometer nördlich von Giglio, an der deutschen Ostseeküste, fragt man sich, wie genau so etwas verhindert werden kann. Im Institut für Schiffssicherheit in Rostock forschen Experten unter anderem über die Handlungszuverlässigkeit des Menschen. Die Wissenschaftler um Dirk Sedlacek, geschäftsführender Ins-
M eh r als j ed er Zweite ig noriert einen Alarm erst ei n mal . Ein fat al e r Fehler, denn s c hnelles R ea gi eren kann Leben ret ten.
Die Reedereien sind verplichtet, innerhalb von 24 Stunden nach dem Auslaufen eine Evakuierungsübung mit den Passagieren durchzuführen.
W I E Z U V E R L Ä S S I G H A N D E LT D E R M E N S C H ? titutsvorstand, entwickelten Notfallszenarien, erprobt von Schülern der Seefahrtschule Wismar. So gewannen sie Erkenntnisse über das menschliche Verhalten im Seenotfall. Sedlacek erklärt, dass in einem Notfall lediglich fünf Prozent der Menschen panische Reaktionen zeigen, zum Beispiel durch einen Fluchtreflex. Ein weiteres Zehntel verfällt in Schockstarre. Die große Masse, nämlich 60 Prozent, reagiert initiativ – sie benötigt genaue Anweisungen und folgt ihnen. Das übrige Viertel bleibt ruhig und handelt rational. Die Schlussfolgerung der Forscher: „Die rechtzeitige Information der Passagiere ist das A und O“. Aus der UN-Konvention SOLAS (International Convention for the Safety of Life at Sea) ergibt sich, dass Schiffe eine Rettungsmittelkapazität von 125 Prozent vorweisen müssen, für 1000 Menschen an Bord müssen also 1250 Plätze in Rettungsbooten vorhanden sein. SOLAS wurde 1914 als Reaktion auf den Untergang der Titanic beschlossen und setzte einen Mindeststandard für die Sicherheit auf Handelsschiffen. Die Titanic war am 15. April 1912 nach dem Zusammenstoß mit einem Eisberg gesunken. 1514 Menschen kamen ums Leben, weil nur für die Hälfte der 2224 Personen an Bord Plätze in den Rettungsbooten zur Verfügung standen. Dabei entsprach die Berechnung der Schiffsarchitekten für Rettungsplätze dem damals geltenden Gesetz. Es legte die Schiffsgröße in Bruttoregistertonnen für die Berechnung fest, nicht die Anzahl der Passagiere und Besatzungsmitglieder. „Ein Schiff gilt immer dann als sicher, wenn es den gesetzlichen Bestimmungen entspricht“, sagt Sedlacek.
A U S D E M R U DE R G EL A U F E N
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Foto: H orac i o Are va lo
Passagiere haben Szenen der Rettung gefilmt. Ein Zusammenschnitt mehrerer Aufnahmen ist auf Youtube abrufbar. Die Filmer und weitere Überlebende äu-
Für die Passagiere heißt das: Schwimmweste anlegen und an Deck zum nächsten Sammelpunkt gehen.
Hat ein Schiff Schlagseite, tendieren die Menschen dazu, auf die höher liegende Seite zu gehen, also von der Gefahr weg.
Aber: Beträgt die Schlagseite mehr als 20 Grad, können die Rettungsboote nicht mehr heruntergelassen werden.
Von den vorgeschriebenen 125 Prozent Rettungsmitteln steht dann nur noch die Hälfte zur Verfügung. Ins Wasser springen sollte trotzdem niemand: Bei einer Wassertemperatur von fünf Grad liegen die Überlebenschancen im Wasser bei maximal 2,3 Stunden.
FLUCHTREFLEXE
G
egen 21.45 Uhr, die meisten Passagiere sitzen beim Abendessen in den Restaurants, kollidiert das Kreuzfahrtschiff Costa Concordia vor der Insel Giglio an der italienischen Mittelmeer-Küste mit einem Felsen. Der Rumpf reißt, 70 Meter. Menschen finden keinen Platz in den Rettungsbooten, es läuft schief, was schief laufen kann. Am Ende sind 32 Menschen tot, etliche verletzt oder traumatisiert.
Kreuzfahrtschiffe sind schwimmende Kleinstädte mit bis zu 7500 Menschen an Bord. Fluchtmöglichkeiten gibt es auf dem offenem Meer nicht. Schlechte Voraussetzungen im Notfall.
Dazu wird Generalalarm ausgelöst: sieben kurze Töne, ein langer.
In Ausnahmesituationen ist es also wichtig, so vielen Menschen wie möglich zu zeigen, wo es wortwörtlich lang geht. Wenn, wie Sedlacek sagt, fünf von hundert Menschen in Panik verfallen, mag dies zunächst wenig erscheinen. Aber die derzeit größten Kreuzfahrtschiffe der Welt, die Oasis of the Seas und die Allure of the Seas, können mehr als 5400 Passagiere und 2165 Besatzungsmitglieder aufnehmen. Fünf Prozent sind demnach mehr als 370 Menschen, die eine Massenpanik auslösen könnten.
Der Fall der Costa Concordia zeigt: Die Verantwortung des Schiffspersonals ist groß. Nicht nur die Passagiere wollen beruhigt und angeleitet werden, auch die eigene Angst muss kontrollierbar bleiben.
Was wissen Sie über das richtige Verhalten im Seenotfall? Testen Sie sich unter www.klartext-magazin.de/53A/schiffssicherheit
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COMIC
Für Anleger ist ein Börseninvestment riskant: Die Kurse schwanken stark, undurchschaubar sind die Finanzprozesse. Social Trading könnte ihnen helfen — solange nicht alle blind Trends folgen.
Es ist ein Facebook für Anleger: Auf Plattformen wie Ayondo, eToro oder Wikifolio legen sie sich ein Proil zu, liken und folgen einander, sehen, was die anderen machen. Doch anstelle ihrer Urlaubsfotos teilen die User ihre Anlagestrategie.
Jeder legt offen, wann er wie viel mit welchen Wertpapieren verdient — und wie.
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Weil jeder alles sieht, ist es möglich, Börsentrends frühzeitig zu erkennen. Dadurch erwirtschaften Social Trader mehr Geld als im Alleingang. Das zeigte eine Studie der Uni Bochum.
Das Prinzip an der Börse ist einfach: Jeder investiert sein Geld in die Wertpapiere, die den größten Gewinn versprechen.
Das Problem: Was sich am meisten lohnt, ist oft schwer zu erkennen.
Social Trading ist in den letzten Jahren entstanden, die Idee geht aber zurück auf eine Beobachtung Anfang des vorigen Jahrhunderts. Auf einer Viehmesse 1906 ließ der Naturforscher Francis Galton Experten und Besucher das Gewicht von Ochsenleisch schätzen. Die Besucher lagen in der Summe deutlich näher am richtigen Ergebnis als einzelne Experten.
Und was heute noch als gute Anlage erscheint, kann morgen zu Verlusten führen.
Die Kurse schwanken ständig. Unternehmen sind mal mehr, mal weniger, mal nichts wert.
Das Risiko beim Social Trading: Sobald Anleger blind einem Trend folgen, wird es für sie gefährlich. Dann können Blasen entstehen, weil Menschen die Papiere zu überteuerten Preisen kaufen und verkaufen.
In diesem Chaos haben vor allem unerfahrene Privatanleger ihre Probleme. Entweder kaufen sie die falschen Papiere — oder sie verpassen den richtigen Zeitpunkt, um sie wieder zu verkaufen. Statt Geld einzunehmen, verlieren sie es.
Sobald sie keinen Käufer mehr für die überteuerten Papiere inden, platzt die Blase. Menschen verlieren Geld.
Ein Schwarm kann eben intelligent sein. Oder er schwimmt blind in die falsche Richtung.
Social Trading vermindert das Risiko, indem es Privatanlegern ermöglicht, ihr Wissen zusammenzubringen.
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WISSEN KOMPAKT
INTERVIEW
WIKIPEDIA ANNO 1800
Keine Panik!
Schon vor dem Internet wurden die Massen um Hilfe gebeten. Ein Rückblick auf die ersten Projekte und das Crowd-Lexikon des 19. Jahrhunderts.
Es drängt, es drückt, es fehlt Platz. Was tun? Psychologin Gesine Hofinger über den Umgang mit Menschenmengen. INTERVIEW: GUILLAUME HORST
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1714 Der Longitude Prize Anfang des 18. Jahrhunderts war es unmöglich, die exakte Position auf See zu bestimmen. Nach einem schweren Schiffsunglück fragte das britische Parlament die Crowd und schrieb einen Preis aus, um das Problem zu lösen.
1783 Das Alkali-Problem Der französische Könik Ludwig XVI. suchte nach einer günstigen Methode, um Alkali herzustellen. Nicolas LeBlanc, ein ausgebildeter Chirurg, meldete sich und erfand ein Verfahren, das aus Meersalz Alkali gewinnt.
1879 Das Oxford English Dictionary Die London Philological Society entwickelte ab 1857 ein neues Lexikon. Das Vorhaben wurde sehr umfangreich und überforderte die Editoren. Ab 1879 legten viele Buchhändler einen Aufruf bei: Die Leser sollten Belegstellen für Wörter sammeln und einschicken.
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Etwa 800 freiwillige Helfer schickten damals Millionen Belege ein, die das Editoren-Team der Oxford University Press sichten musste. Manche Leser wurden regelrecht süchtig nach der Arbeit. So schickte der Bauingenieur Alexander Beazeley insgesamt 30 000 Zitate an die Philological Society. Später beriet er die Editoren bei Architektur-Einträgen. Auch William Chester Minor, Militärarzt während des amerikanischen Bürgerkriegs, war ein großer Fan des neuen Lexikons und wurde einer der effektivsten Freiwilligen. Er spezialisierte sich auf die Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts und schickte tausende Belege an die London Philological Society. Die Editoren besuchten Minor sogar einige Jahre später – in einer englischen Psychiatrie. Minor hatte 1872 einen Mann in London erschossen, den er für einen Einbrecher hielt. Ein Gericht erklärte den Militärarzt für wahnsinnig und ließ ihn in eine Klinik für Geistesgestörte einliefern. Dort trieb Minor bis zu seinem Tod im Jahr 1902 die Entwicklung des englischen Lexikons voran. Selbst „Der Herr der Ringe“-Autor J. R. R. Tolkien wirkte am Oxford English Dictionary mit. Als Angestellter bei der Philological Society war der berühmte Schriftsteller von 1919 bis 1920 für die Bereiche waggle (wackeln) bis warlock (Zauberer) zuständig. Tolkiens Anwendungsbeispiel für Walross schaffte es allerdings nicht in die finale Ausgabe. 1928, fast 50 Jahre nach dem Aufruf an die Crowd, wurde der letzte Band des Mammutwerkes veröffentlicht. A New English Dictionary on Historical Principles listete damals über 400 000 Wörter und Phrasen sowie ihre Geschichte auf. Dieses lexikalische Crowd-Prinzip hat sich bis heute bewährt – Wikipedia sei Dank.
SCHWARM: Frau Hoinger, wie entsteht eine Massenpanik?
GESINE HOFINGER: Der Begriff Massenpanik ist meist nicht angebracht. Er impliziert, dass Menschen, die in einer Menge umkamen, irrational oder kopflos gehandelt haben. Das ist nicht der Fall?
Meistens sind äußere Umstände für ein Unglück verantwortlich: Es kann ein physikalisch zu hoher Druck entstehen. Das bedeutet, dass sich zu viele Menschen an einer Stelle befinden. Oder es gibt tatsächliche Gefahren, wie einen Einsturz oder Brand. Nur sehr selten kommt es zu einer wirklichen „Stampede“, bei der Menschen ohne Grund in Panik geraten. Sie raten also von der Verwendung dieses Begriffs ab?
Gra f ik ba si e rt a uf d e m B uc h „Ge tt ing Re su lts From Crow ds “ v on Ross D aw s on
J
eff Howe, Redakteur für das Technologie-Magazin Wired, schrieb im Juni 2006 über ein vermeintlich neues Phänomen. Amateure schlossen sich in Gruppen zusammen und erledigten die Arbeit von Experten sehr viel günstiger. Als Beispiel nannte Howe die Webseite iStockphoto, auf der Amateurfotografen Symbolbilder hochladen und verkaufen können – schon ab einem Euro. Ausgebildete Fotografen hatten bis dahin einen drei- oder gar vierstelligen Betrag pro Bild verlangt. Für Howe war iStockphoto Outsourcing von Aufgaben an freiwillige Nutzer: die Crowd. So entwickelte er den Begriff Crowdsourcing. Crowdsourcing ist seitdem untrennbar mit dem Internet verbunden. Dabei gab es schon früher Projekte, die nach Art des Crowdsourcing zustande kamen. Wohl am spektakulärsten ist die Entstehung des Oxford English Dictionaries. Die London Philological Society entwickelte ab 1857 ein neues Lexikon, das alle damals bekannten Wörter umfassen sollte. Doch das Vorhaben war zu umfangreich und überforderte die Editoren. Die Arbeit wurde daher an die Crowd ausgelagert. Ab 1879 legten viele Buchhändler ihren Büchern einen Aufruf bei: Englischsprachige Leser sollten so viele Belegstellen wie möglich sammeln, um verschiedene Wörter und ihren Gebrauch festzuhalten. Dafür wurden spezielle, vorgedruckte Zettel in die Bücher gelegt, auf denen bibliografische Angaben mehrerer Werke aufgedruckt waren. Aber die Leser beließen es nicht bei den vorgegebenen Werken. Stattdessen sandten sie beliebige Textstellen an die Editoren, egal, ob die Wörter in der Literatur zu finden waren, in Zeitungen, Liedern, Kochrezepten oder in wissenschaftlichen Magazinen.
Ja, denn er hat einen schlechten Beigeschmack. Er suggeriert eine irrationale Menschenmasse und beinhaltet somit eine Schuldzuweisung – nämlich, dass die Masse selbst für das Unglück verantwortlich sei. Dabei sind oft bauliche oder organisatorische Mängel die Ursache. Verantwortlich sind dann die Veranstalter. Aber noch mal: Wie bricht eine Panik unter einer größeren Menge aus?
Wenn eine kleine Gruppe Angst bekommt, kann das eine Kettenreaktion auslösen. Meistens liegt es daran, dass zu viele Menschen an einen Ort streben. Ein Beispiel dafür wäre ein Konzert: Alle wollen so nah wie möglich an die Bühne. Wenn es dann keine Ausweichmöglichkeiten und keine koordinierte Kommunikation gibt, kann eine Panik ausbrechen. Welche Maßnahmen können Veranstalter ergreifen, um das zu verhindern?
Organisatoren brauchen realistische Annahmen
über die zu erwartende Menschenmenge. Es muss viel Raum geben, die Möglichkeit, auf die Seiten auszuweichen, und gut auffindbare Fluchtwege. Vor allem aber brauchen die Menschen Informationen. In unbekannten, unsicheren Situationen orientieren wir uns an Anderen. Wenn niemand gut informiert ist, wird es gefährlich. Lässt sich prognostizieren, wie Menschen in einer solchen Situation reagieren werden?
Das Verhalten einer Gruppe ist gut vorhersehbar. Das Verhalten einzelner Personen nicht. Unerwartete Komplikationen sind also immer möglich. Doch wenn Menschen einen Ausweg haben und nicht gegen einen entgegen kommenden Besucherstrom ankämpfen müssen sollte nichts Schlimmes passieren. Das war leider 2010 bei der Loveparade nicht der Fall. Haben Veranstalter von Großereignissen bei der Planung inzwischen Fortschritte gemacht?
Das Interesse und die Forschung zur Besuchersicherheit nehmen zu. Ich sehe aber immer noch Unterschiede zwischen verschiedenen Veranstaltern. Nur bei Großereignissen sind die Fortschritte wirklich ersichtlich, denn die Organisatoren können sich allein aus Imagegründen keine Fehler leisten. Hat Ihre eigene Forschung zu Sicherheit und Krisenmanagement Ihren Blick auf das Thema verändert?
Man landet sehr schnell beim Menschenbild, nämlich bei der Frage: Sind Menschen eher egoistisch oder altruistisch? Oft sind sie unerwartet selbstlos. Natürlich haben einzelne Personen in solchen Situationen Angst. Trotzdem sind sie willens, ihren Mitmenschen in einem überraschenden Ausmaß zu helfen.
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AC H TUNG , ST EINSC HLAG! T E X T: C L A U D I A S T E I N E R T
Irgendwo zwischen Mars und Jupiter saust ein Schwarm Asteroiden durchs Weltall. Wie die Planeten kreisen tausende Gesteinsbrocken um die Sonne. Friedlich und vor allem: weit weg von der Erde. Doch hin und wieder büxt einer von ihnen aus dem Asteroidengürtel aus und nimmt unbewusst Kurs auf unseren Planeten. Schlägt er ein, kann das verheerend sein. Ein kleiner Asteroid misst bis zu 50 Metern im Durchmesser. Trifft der auf die Erde, dann merken das nur die Menschen in der unmit-
telbaren Umgebung. Bei ihnen splittern Fenster oder Dächer stürzen ein, wie zuletzt im Jahr 2013 bei Tscheljabinsk in Russland. Ist der Asteroid jedoch mehrere Kilometer groß, könnte damit ein Massensterben wie bei den Dinosauriern ausgelöst werden. Damit uns nicht das gleiche Schicksal ereilt, forschen Wissenschaftler auf der ganzen Welt daran, die gefährlichen Querschläger unschädlich zu machen. Die drei bisher aussichtsreichsten Ideen stellen wir hier vor.
W EG S C HIEBEN Die einfachste Möglichkeit wäre, den Asteroiden aus der Bahn zu schubsen. Dazu rammt eine Raumsonde den Asteroiden mit voller Wucht. Wenn sein Gestein hart und felsig ist, ändert der Asteroid durch den Aufprall seine Umlaufbahn. Schlecht wäre ein Asteroid aus porösem Material. Dann würde die Raumsonde einfach im sandigen Boden versinken.
SP R ENGEN Erinnert sich noch jemand an den Film „Armageddon“, in dem Bruce Willis einen Asteroiden in die Luft sprengt und die Erde so vor der Zerstörung rettet? Gar nicht so realitätsfern. Tatsächlich könnte eine nukleare Explosion bei besonders großen Asteroiden unsere letzte Rettung sein. Bisher ist unklar, was mit den dabei entstehenden Bruchstücken passieren würde. Getestet wird diese Option bisher nur in Computersimulationen. Illu strati on e n: © E S A-P.Ca rr il
AB S C H L E PP EN
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Bei dieser Methode soll der Asteroid abgeschleppt und auf eine neue Umlaufbahn gezogen werden. Dazu fliegt ein Raumschiff in die Nähe des Asteroiden und wird von dessen Schwerkraft festgehalten. Dann wirft es seine Triebwerke an und zieht den Asteroiden auf eine neue Umlaufbahn. Dieser Vorgang könnte Jahre oder Jahrzehnte dauern. Die Methode funktioniert also nur, wenn der Asteroid früh entdeckt wird.
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DAS LETZTE WORT
G E N E R AT I O N
HÄ?
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Und, in welche Schublade gehören Sie? Y, Praktikum, Konichiwa? Oder sind Sie gar ein Günther Schneider?
S
ie gehören zu einer bestimmten Generation. Widerstand zwecklos. Sie könnten zu der „Generation Y“ gehören, den verweichlichten Arbeitsverweigerern mit Bachelor of Arts und dem Rückgrat einer Qualle. Oder noch schlimmer, zur „Generation X“, deren Mitglieder in ihren Reihenhäusern mit Burnout vor der Tagesschau sitzen. Währenddessen steht bereits die nächste Gruppe bereit. Die „Generation Z“ soll per WhatsApp vom Sofa aus unser Leben verbessern. Endlich haben wir ein Wort für die Versager von Morgen. Und zum Glück endet das Deutsche Alphabet nicht beim 26. Buchstaben. Es folgt die „Generation Ä“, die Feuerwehrmann, Polizistin oder Tierarzt werden will und gerne ein Mittagsschläfchen hält. So lauten jedenfalls momentan verfügbare Prognosen über die heutigen Achtjährigen. Bei jeder neuen Generation konferieren Wissenschaftler, debattieren Politiker und schreiben Journalisten darüber, wie man am besten über die neue Schublade schimpfen kann – am besten in drei Schlagworten. Die fünf Wirtschaftsweisen beschäftigen sich momentan noch mit den Auswirkungen des Verhaltens der „Generation Ä“ auf die deutsche Industrie (Es sieht natürlich nicht gut aus). Es müssen aber nicht immer Buchstaben sein und Soziologen sollten ja auch mal etwas Geld verdienen. So hat Opel den Begriff „Generation #UmdenkenimKopf“ gesponsert, während sich Nintendo die „Generation Luigi“ schnappte. Aber auch kreative Namen sind möglich, etwa die „Null-Bock-Generation“ oder die „Generation Prakti-
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kum“. Die sind eigentlich wie die „Generation Y“, hören sich aber cooler an. Wenn Sie jetzt noch das Wort „digital natives“ in den Mund nehmen, ist Ihnen die Anerkennung und der Neid der anderen Generationen sicher. Sobald Sie ein Merkmal mit anderen Menschen teilen, etwa das Geburtsjahr oder ein bestimmtes Verhalten, werden Sie in eine dunkle Schublade voller Leidensgenossen gesteckt. Und das geht schnell. Mal wieder im Urlaub mit Tennissocken und Sandalen gewesen? „Generation Spießer“. Im Supermarkt grünen Tee gekauft? „Generation Konichiwa“. In einem Gespräch das Wort „Webseite“ verwendet? „Generation Neeeerd“. Heute ohne Sonnencreme unterwegs? „Generation Der Hautkrebs wird uns alle umbringen“. Bei Starbucks für zwölf Euro einen Grande Iced Sugar-Free Vanilla Latte mit Soja-Milch bestellt? „Generation Volltrottel“. Doch manchen Menschen reicht das nicht, sie benötigen eine noch genauere Definition. So gibt es seit letztem Dienstag die „Generation Günther Schneider“. Dazu gehören alle Menschen, die Günther Schneider heißen, am 18. Juli 1987 in Remscheid geboren und allergisch gegen Blattspinat sind. Außerdem ist diese Generation mega im Bett, meint Günther Schneider aus Remscheid. In der „Generation Günther Schneider“ hat der 28-Jährige seine individuelle Uniformität gefunden. Er verdammt bereits die nachfolgende Generation: „Wer nach dem 18. Juli geboren wurde, hört einfach nur schreckliche Musik, hat schlimme Manieren und trägt grässliche Kleidung.“
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