Leseprobe Gefangen in Abadonien

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Leseprobe


Harry Voß, Jahrgang 1969, ist Referent für die Arbeit mit Kindern beim Bibellesebund. Bekannt wurde er durch die Buchreihe „Der Schlunz“, die 2010 und 2011 auch verfilmt wurde. Seine Kinder sind inzwischen aus dem Schlunz-Alter rausgewachsen. Für sie und alle anderen Teenager hat er sich mit »13 Wochen« auf neues Land gewagt, und nach dem erfreulichen Erfolg legt er jetzt mit »Gefangen in Abadonien« noch einmal nach. Eine Koproduktion des Bibellesebundes, Gummersbach, Mit seiner Familie lebt Harry Voß in Gummersbach. mit dem SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten ISBN 978-3-95568-133-3 (Bibellesebund) Bestell-Nr. 71131 ISBN 978-3-417-28699-1 (SCM-Verlag) Bestell-Nr. 228.699 © 2015 by Verlag Bibellesebund Marienheide SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten Umschlaggestaltung: Luba Siemens, Gummersbach Satz: Katrin Schäder, Velbert Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Gedruckt in Deutschland


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m Anfang ist das Wort. Mein Wort. Das Wort in mir. In meinen Gedanken. Meine Gedanken werden Wort. Und das Wort kommt durch meine Hand zu Papier. Sobald es aufgeschrieben ist, lebt es. Alle Dinge auf dem Papier sind durch mein Wort erschaffen. Ohne mein Wort gäbe es nichts von all dem, das erschaffen ist.« Akio ließ seinen Stift sinken und blinzelte in die Sonne. Ihm gefiel das Gefühl, Welten erschaffen zu können, Menschen zu erfinden, sie kämpfen und siegen zu lassen. Zwar nur auf einem Blatt Papier, aber immerhin. Über die Welt, die er auf seinem Papier erschaffen hatte, war er allein der Herr. Er entschied, wann und wie jemand siegte. Er konnte Helden gewinnen, Bösewichte verlieren lassen. Oder umgekehrt. Und niemand konnte ihn dafür zur Rechenschaft ziehen. Zumindest nicht die Helden und Bösewichte seiner Geschichte. Ein Grinsen machte sich auf Akios Gesicht breit. Wenigstens hier auf dem Papier konnte er beeinflussen und lenken, dass das Gute über das Böse siegte. Ganz anders als in der Welt, in der er und seine Familie lebten. Akio verbrachte den sonnigen Nachmittag auf einem großen, warmen Stein außerhalb des Dorfes, während Pollum, sein kleiner, geschuppter salamanderartiger Dracolepidus eifrig über den Stein und den Erdboden darunter hin und her kletterte, um nach Insekten und Blutwürmern zu suchen, die er verschlingen konnte. Die Arbeiten im Stall und in der Schmiede seines Vaters waren heute schnell erledigt gewesen. Die paar verbleibenden Stunden bis zum Sonnenuntergang wollte Akio hier draußen verbringen. Weg von den Menschen, die oft misstrauisch, launisch und eigensinnig waren. Außerdem hatte er hier in der Einsamkeit die seltene Gelegenheit, wenigstens für kurze Zeit seine drückende, enge Lederhaut auszuziehen. Die maßgeschneiderte zweite Haut, die seinen kompletten Oberkörper bis kurz vor die Handfläche und seine Beine vom Knöchel bis zum Oberschenkel 7


bedeckte, sollte verhindern, dass ihm jemand in die Haut stach und sein wertvolles Blut stahl. Akios Blut war schon in seiner Kindheit vom Dorfpriester als außergewöhnlich hochwertig eingestuft worden. »Golden« nannten es die Priester, obwohl es natürlich nicht wirklich aus Gold bestand. Aber es war wertvoll genug und damit gewinnbringend für Bluträuber, die es in Abadonien in großer Zahl gab. Darum trug Akio diese zweite Haut wie einen Ganzkörperanzug unter seinem Hemd und unter der Hose, auch wenn sie furchtbar drückte. Hier draußen, weit weg von Dieben, Räubern und anderen Menschen, hatte er sein Hemd und seine Lederhaut ausgezogen und genoss mit geschlossenen Augen, wie die Sonne Brust und Rücken wärmte. Dabei konnte er in aller Ruhe nachdenken, träumen und Geschichten erfinden. Aus Gedanken Worte formulieren, aus Worten Welten erschaffen, aus seinen eigenen Welten Kraft und Hoffnung schöpfen. Hoffnung darauf, dass alles irgendwann auch in dieser Welt besser sein könnte. Ohne Neid, Missgunst, Angst oder Streit. Akio atmete einmal tief aus, öffnete die Augen und blinzelte in die Ferne. Die Landschaft in Abadonien bestand zum größten Teil aus trockenem Fels und Sand. Rotbraune Erde, wohin man schaute. Gras oder Blumen kannte Akio nur vom Dorfpriester. Der brachte manchmal bestimmte Blumen oder Pflanzen mit, wenn er von weiten Reisen in abgelegenen Bergen zurückkam. Um Berge zu erreichen, musste man sich allerdings von Akios Dorf aus auf einen mehrtägigen Weg machen. Wenn Akio von hier aus in die Ferne sah, konnte er viele Kilometer weit schauen, bis der sandige Boden zu einer verschwommenen Linie unter dem blauen Himmel wurde. Eine Staubwolke am Horizont erregte seine Aufmerksamkeit. Er sah Staub aus Sand, der durch eine Gruppe galoppierender Pferde aufgewirbelt wurde. Schwarze, gefährliche Hunde rannten laut bellend neben ihnen her. Akio kannte diese Erscheinung und ahnte, dass das nichts Gutes zu bedeuten hatte. Die schwarzen Pferde, die dunklen Reiter, die blutgierigen Hunde – alles klare Zeichen: Bluträuber waren im Anmarsch. Lautlos glitt Akio von seinem Stein herunter, griff nach der Lederhaut und ging in Deckung. Während er Haut und Hemd anzog, 8


beobachtete er die Horde der dunklen Reiter auf ihrem direkten Weg in sein Dorf: Eisendorf. »Pollum, komm her«, flüsterte er und streckte seinem Tier den Arm entgegen. Sofort sprang Pollum auf den Arm und verschwand unter dem weiten Ärmel seines Herrchens. Akio steckte Papier und Stift in seinen Gürtel. Was die Reiter vorhatten, war klar. Sie wollten plündern, morden und vor allem Menschen gefangen nehmen für den Moloch. Menschen mit wertvollem, goldenem Blut. Im selben Augenblick wurde ihm klar, dass nicht nur er, sondern erst recht seine kleine Schwester Adelia mal wieder in großer Gefahr war.

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lexander, hast du aufgepasst?« Herr Neumann, der Lateinlehrer, stand an der Tafel und sah streng in die letzte Reihe der Klasse. »Klar«, antwortete Alexander schnell. »Pronomen. Der Relativsatz wird mit einem Pronomen übersetzt.« »Nein, so kann man das nicht sagen.« Der Lehrer seufzte und begann, sein Thema über Relativpronomen noch einmal aufzurollen. Offensichtlich hatte er durch Alexanders Antwort immerhin den Eindruck bekommen, er hätte aufgepasst. Das war schon mal gut. Alexander schaute auf die Uhr. Noch zehn Minuten, dann war er von Latein erlöst. Danach Mathe. Auch nicht viel besser. Seine Mutter versuchte ihm fast täglich einzureden, er müsste sich mehr für die Schule interessieren, immerhin sei er schon 15 Jahre alt und er lernte ja fürs Leben und er brauchte nach der neunten Klasse ein gutes Abschlusszeugnis und so weiter. Aber diese Einstellung fand in seinem Kopf einfach keinen Platz. Konnte man sich denn zwingen, sich für etwas zu interessieren, das absolut überflüssig war? Wann um alles in der Welt brauchte er in seinem weiteren Leben Relativpronomen, binomische Formeln oder Zellbiologie? Alexander stützte den Kopf auf seine Hand und kritzelte in seinem aufgeschlagenen Block herum. Er musste an seine Schwester Hanna denken. Die würde sich niemals mit solchen Themen herumschlagen müssen. Sie war jetzt sechs Jahre alt, aber an Lesen und Schreiben war bei ihr nicht zu denken. Von ihrer Entwicklung her war sie auf dem Stand einer Dreijährigen, befanden die Ärzte. Für Buchstaben und Zahlen hatte sie jetzt zumindest noch keinen Sinn. Und mit Relativpronomen würde sie sich garantiert auch mit 15 Jahren niemals beschäftigen müssen. Und? War Hanna unglücklich? Nein, war sie nicht. Im Gegenteil. Alexander hatte in seinem Leben noch nie einen Menschen gesehen, der so viel Glück, Freude und Zufriedenheit 10


ausstrahlte. Sobald Alexander ins Zimmer kam und sich neben sie setzte, ging ein Leuchten von ihr aus, das heller war als jede Lampe. Immer wenn sie ihn mit ihrer stürmischen Art umarmte, floss spürbare Wärme von ihrem Körper in seinen. Gemeine Gedanken, Neid, Misstrauen – dafür war in ihrem Herzen kein Platz. Ihr Inneres war bis zum Rand gefüllt mit Liebe, Wärme und Lebensfreude. Jeder, der schlechte Laune hatte, musste sich nur fünf Minuten lang mit ihr beschäftigen und die schlechte Laune war wie weggeblasen. Und das ganz ohne Latein und all den Blödsinn, den einem die Lehrer als so lebenswichtig verkaufen wollten. »Hast du es jetzt verstanden, Alexander?«, schloss Herr Neumann seinen kleinen Vortrag ab. »Klar«, antwortete Alexander wie vorhin. »Relativpronomen sind sehr wichtig fürs Leben.« »Da hast du allerdings recht«, gab der Lehrer zurück und war mit dieser Antwort zufrieden. Alexander grinste und schaute wieder auf die Kritzeleien in seinem Collegeblock. »Achtung, Alex!«, hörte er plötzlich eine laute Stimme vom anderen Ende der Klasse. »Fang auf! Hier kommt ein Feuer-Pronomen!« Und noch bevor Alex überhaupt reagieren konnte, hatte Marcel ein dickes Stück Kreide mit voller Wucht in seine Richtung geworfen. Das Kreidestück zischte direkt auf Alex’ Gesicht zu. Alex war wie gelähmt. Mehr als die Augen aufzureißen, gelang ihm in dieser Schrecksekunde nicht. Doch plötzlich änderte sich etwas. Das Kreidestück bremste kurz vor Alex’ Gesicht ab, flog im Zeitlupentempo einen Bogen um seinen Kopf herum, zischte hinter ihm in der vorherigen Geschwindigkeit weiter und knallte in irgendeiner Ecke auf den Boden. Nicht jeder in der Klasse hatte das mitbekommen. Und auch Alex hätte nachträglich geglaubt, er hätte sich das nur eingebildet, wenn nicht Marcel in der anderen Ecke des Raumes mit weit aufgerissenem Mund dagestanden hätte. Auch die wenigen anderen, die den Flug der Kreide zuerst amüsiert verfolgt hatten, hatten jetzt vor Erstaunen die Kinnlade nach unten geklappt. 11


Alex schaute kurz zu dem Kreidestück, das reglos auf dem Boden lag. Dann zurück zu Marcel, der regungslos vor seinem Stuhl stand. »Wie hast du das gemacht?«, hauchte Marcel mit belegter Stimme. Alex hatte keine Ahnung. Er hatte nichts gemacht.

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kio sprang hinter seinem Felsen hervor und rannte Richtung Dorfeingang. Immer versteckt hinter einzelnen Häusern, Holzfässern oder Pferdewagen. Hatte er recht mit seinem Verdacht? Das ließe sich ja schnell herausfinden. Wenn die Männer nicht nur Essensvorräte, Schmuck oder Gold an sich rissen, dann wusste er, was ihr Ziel war. Sie waren darauf aus, Menschen mit hochwertigem, goldenem Blut zu verschleppen. Und falls es gut ausgebildete Bluträuber waren, dann schnappten sie sich nicht einfach blind die erstbesten Bürger. In diesem Fall hatten sie schon Tage oder Wochen vorher Blutspäher vorausgeschickt. Die nämlich waren in der Lage, Menschen mit besonders goldenem Blut ausfindig zu machen und diese dann mit einem bestimmten Duft zu bestäuben, der für Menschen kaum wahrnehmbar war, für die Hunde der Bluthäscher jedoch umso leichter aufzuspüren. So konnten die Hunde die Räuber gezielt zu den Häusern führen, die von »Goldblütern« bewohnt waren. Goldblüter – so nannten sie Menschen mit gewinnbringend hochwertigem Blut. Sollte das alles genau so zutreffen, dann mussten die Männer wissen, dass es in Eisendorf inzwischen nur noch genau drei Personen gab, deren Blut so golden war, dass man damit das Blut von vier bis fünf anderen Menschen aufwiegen konnte: Akio selbst, seine sechsjährige Schwester Adelia und ein kleiner Junge ein paar Häuser weiter. Alle anderen waren bei früheren Überfällen schon verschleppt worden. Weil die verbliebenen drei wussten, dass sie in ständiger Gefahr gegenüber Bluträubern lebten, hielten sie sich meistens versteckt und trugen obendrein Lederhäute, damit kein Späher ihnen heimlich Blut abnehmen und es auf seinen Goldgehalt untersuchen konnte. Akio hatte in den letzten Tagen keinen dieser Späher entdeckt. Aber das musste nichts heißen. Diese Kerle waren inzwischen so geschickt und gerissen, dass man manchmal erst merkte, dass man beobachtet wurde, wenn die Bluträuber schon hinter einem standen und einen mitrissen. 13


Akio näherte sich seinem Haus. Schwarze Hengste standen unruhig auf der Straße und schnaubten. Bluthunde trabten gefährlich bellend zwischen ihnen auf und ab und warteten auf neue Befehle. Wie bei den letzten Malen, als Bluträuber im Dorf waren, um ihn und Adelia mitzunehmen. Bisher war es immer so gelaufen, dass Akio sich mit Adelia im hinteren Bereich der Schmiede in einem extra dafür gebauten Versteck eingesperrt hatte, während der Vater mit Schwert, Axt und roher Gewalt auf die Räuber einschlug. Die Kämpfe dauerten unterschiedlich lang und der Vater trug nach jedem Kampf einige gefährliche Wunden und Hundebisse mehr an seinem Körper. Aber bisher hatten sich die Räuber anschließend immer ohne ihre Beute davongemacht. Heute schien es anders abgelaufen zu sein. Auf der Straße war kein kämpfender Schmied zu sehen. Die Männer kamen aus verschiedenen Richtungen zusammengelaufen und sprangen auf die Pferde. Erst als sie ihre Reittiere mit festen Tritten zum Aufbruch antrieben, bemerkte Akio auf einem der Pferde ein in Decken gehülltes Bündel Mensch. Ein Schrecken durchfuhr seine Glieder: Das musste Adelia sein. Oder war es der Junge aus der Nachbarschaft? Am liebsten hätte Akio laut aufgeschrien, die Räuberbande wütend von ihren Pferden gezogen, sie verprügelt und seine Schwester zurück ins Haus getragen. Aber das tat er nicht. Er blieb im Schatten eines der Nachbarhäuser stehen und schaute ängstlich auf das, was da vor seiner eigenen Haustüre vor sich ging. Akio trug keine Waffe bei sich. Die Männer auf den Pferden hingegen waren mit Dolchen, Säbeln und Schwertern bis an die Zähne bewaffnet. Akio war allein, die Männer waren mehr als zehn. Außerdem hatte Akio nie gelernt zu kämpfen. Er besaß zwar ein Schwert, aber das stand irgendwo in der Schmiede herum und war nie wirklich benutzt worden. Dazu war er längst nicht so stark wie sein Vater. Und schließlich: Akio durfte sich auf keinen Fall so offen zeigen. Denn wenn die Räuber Adelia gefunden hatten, waren sie selbstverständlich auch auf der Suche nach Akio. Sie würden ihn ohne Mühe überwältigen und ebenso mitnehmen. Akio fühlte sich hilflos und elend. 14


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Harry Voß

13 Wochen Simon erlebt seit einem furchtbaren Gewitter merkwürdige Dinge. Gegenstände verschwinden. Eine Freundin kennt Geheimnisse, die er niemandem verraten hat. Und hier und da entdeckt er eine mysteriöse Person, die ihn beobachtet – und die aussieht wie er selbst. Ist das eine Falle? Ein Traum, eine Vision? Als sich das Rätsel löst, geht der Ärger erst richtig los! 13 Wochen lang sieht Simon die Welt mit anderen Augen, die ihn einiges erkennen lassen. Gebunden, 13,5 x 20,5 cm, 288 S. Nr. 228.657, €D 12,95 €A 13,40/CHF 19.50* ISBN: 978-3-417-28657-1


ab 13 Jahre

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Eine Reise durch die Zeit. Ein rätselhaftes Land. Ein blutiges Geheimnis. Der neue Jugendroman vom Bestseller-Autor („13 Wochen“). Für seine jüngere Schwester Hanna ist Alexander der große Held: Doch plötzlich verschwindet Hanna. In einer völlig anderen Welt, Abadonien, macht sich Akio zusammen mit seiner Nachbarin Silva auf den Weg, um seine von Räubern entführte Schwester zu befreien. Und plötzlich begegnen sich Alexander und Silva! Harry Voß Gefangen in Abadonien Gebunden, 14 x 21,5 cm, 288 S. Nr. 228.699, €D 14,95 €A 15,40/CHF 22.50* ISBN: 978-3-417-28699-1


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