Blick ins Alpenvereinsjahrbuch BERG 2021

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Inhalt

Vorwort  >> Axel Klemmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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BergWelten: Karnischer Kamm Auf dem Scheitel des Gebirges. Über den Karnischen Höhenweg  >> Axel Klemmer .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hochweißsteinhaus – Liebe und Leidenschaft einer Familie  >> Ingeborg Guggenberger .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzgänger. Was Menschen verbindet und wie man sie voneinander trennt  >> Werner Koroschitz....... Gehen oder bleiben? Leben und Improvisieren zwischen hohen Bergen  >> Lisa-Maria Homagk . . . . . . . . Abseits vom Rummel. Klettern am Karnischen Kamm in Osttirol  >> Reinhold Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . In einem Meer von Bergen. Die Karnischen Alpen aus Sicht der Geologie  >> Hans Peter Schönlaub . . . . Wie ich einen Gletscher erbte. Familienforschung im Eiskar  >> Gerhard Hohenwarter .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Energiebündel im Ehrenamt. Sepp Lederer im Porträt  >> Monika Melcher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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BergFokus: Wandern Wieso wandern? Betrachtung eines Booms  >> Barbara Schaefer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Zurück zu den Wurzeln. Gesundheitliche Aspekte des Wanderns  >> Franziska Horn .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Hartmut Rosa im Gespräch  >> Andi Dick und Georg Hohenester . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Die Alpenwanderung des Joseph Kyselak im Jahr 1825  >> Martin Scharfe .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Der lange Weg zum Abschied  >> Sybille Kalas, Nani Klappert, Elvira Kronbichler, Klaus Kalas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Warum ich lieber im Mittelgebirge wandere  >> Manuel Andrack .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Günter Mussnig im Gespräch  >> Axel Klemmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Wanderwege unter Strom. Fußgänger haben andere Interessen als Biker  >> Gerhard Fitzthum .. . . . . . . . . 116

BergSteigen Mont Blanc – eine Bestandsaufnahme  >> Ralf Gantzhorn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 All inclusive? Es gibt in den Bergen kein Recht auf vorbehaltlose Rettung  >> Stephanie Geiger . . . . . . . . . . 132 Alles, was zählt. Internationaler Alpinismus im Jahr 2019  >> Max Bolland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Wettkampf-Chronik 2019/20  >> Gudrun Regelein .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Selbstständigkeit ermöglichen. Bergerlebnisse für die ganze Familie  >> Stefan Steinegger . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Allein auf dem Weg. Wie junge Menschen in und an den Bergen wachsen  >> Dani Tollinger . . . . . . . . . . . . . 162

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Alpenvereinsjahrbuch

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BergMenschen Klettern, was sonst? Andrea Eisenhut – eine Pionierin des Sportkletterns  >> Gerhard Heidorn .. . . . . . . . . . . 168 Ein ganz Großer. Hermann Huber im Porträt  >> Tom Dauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Ein schmaler Grat. Wie können integrative Projekte am Berg gelingen?  >> Peter Brunnert . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Die Idee Donauland. Freie Bergsteiger in freien Bergen  >> Martin Achrainer .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188

BergWissen Ich habe Recht! Die unverfügbare Natur und ihre juristische Vertretung  >> Margarete Moulin .. . . . . . . . . . . 196 Am Kipp-Punkt. Bricht eine neue Epoche des Alpenschutzes an?  >> Georg Bayerle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Robert Renzler im Gespräch  >> Michael Ruhland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Juwelen des Himmels. Der faszinierende Formenzauber der Eiskristalle  >> Norbert Span .. . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 RAGNAR – Risiko Analyse Gravitativer Naturgefahren im Alpinen Raum.  >> Walter Würtl mit Christoph Höbenreich, Peter Kapelari, Klaus Pietersteiner, Dieter Stöhr und Günther Zimmermann .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

BergKultur Gerhard Heidorn im Gespräch  >> Christian Thiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Deutsche Sprachgemeinschaften in Friaul-Julisch Venetien  >> Georg Hohenester . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Von befremdlichen Weiten und ungeheuren Höhen. Der Berg-Erzähler Christoph Ransmayr >> Lukas Pallitsch .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Besser als ich, nicht besser als du. Leistung, Sport und wahre Werte  >> Andi Dick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Impressum .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256

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© A. Klemmer

BergWelten Hoch über der langen Furche des Lesachtals ragt der Karnische Hauptkamm empor: ein Grenzgebirge, das die Menschen auf beiden Seiten – in Tirol und Kärnten, in Südtirol, Venetien und im Friaul – eher verbindet als trennt. Mitten­ drin erhebt sich der breite Gipfel der Porze. Gestern wuchs er vor den Berg­ wanderern auf dem Karnischen Höhenweg immer mächtiger in den Himmel. Heute wird er hinter ihnen langsam kleiner.

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Auf dem Scheitel des Gebirges Ăœber den Hauptkamm der Karnischen Alpen – und durch das Lesachtal >> Axel Klemmer

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Eine knappe Woche dauert die Tour auf dem Karnischen Höhenweg. Doch man sollte sich für den Besuch dieser abgelegenen Bergregion mehr Zeit nehmen – um neben der fantastischen Weitwanderroute ein Tal aus dem alpinen Bilderbuch kennenzulernen.

Nachts rollt schwerer Donner heran. Lautes Prasseln vor den Fensterscheiben, Blitze zucken. Wie von Geschützfeuer. Nur ein böser Traum … Im Bett ist es trocken und warm; tiefer Frieden liegt über der Leckfeldalm und dem ganzen Karnischen Kamm, oberhalb von Sillian. Ein paar Stunden später ist der letzte Gefechtslärm verklungen, Sonnenstrahlen vertreiben die Wolkenheere. Nie sehen die Berge schöner aus als nach einem Gewitter. Leider machen die Piktogramme in der Wetter-App wenig Hoffnung auf stabiles Wetter: Wolken, Regentropfen und Blitze, die nächsten fünf Tage lang. Für die große Tour über den Karnischen Höhenweg wünschte man sich andere Aussichten. Hoch über dem Almgasthaus steht auf einem Bergsporn das Heimkehrerkreuz. Aufgestellt haben es ehemalige Soldaten aus dem Hochpustertal, die den Weltkrieg überlebt haben – den Zweiten Weltkrieg (zum Ersten kommen wir gleich). Gegenüber die grüne Kuppe des Helm. Er ist der erste hohe Gipfel des Karnischen Hauptkammes, der bei Obervierschach, zwischen Sillian in Osttirol und Innichen in Südtirol, beginnt und in mehr oder weniger gerader Linie nach Osten bis zum Beginn des Kanaltals bei Thörl-Maglern nahe Arnoldstein in Kärnten verläuft. Alpinistisch am interessantesten ist der erste, westliche Abschnitt bis zum Plöckenpass. Hier ist der Kammverlauf mit Gipfelhöhen zwischen 2400 und knapp 2800 Meter Höhe am eindrucksvollsten ausgeprägt – und der Höhenweg am spektakulärsten.

Folgen Sie der „403“! Das Gipfelhaus auf dem Helm, 1891 von der DuOeAV-Sektion Sillian eröffnet, wurde 1919 enteignet und ist heute nur aus der Ferne fotogen. Seit Jahrzehnten zur Ruine verfallen, soll es restauriert oder neugebaut und jedenfalls in die projektierte Skischaukel zwischen Sillian und Sexten eingebunden werden. Höchster Punkt dieser Ver-

Immer dem Kamm entlang. Hinter der Pfannspitze hält der Karnische Höhenweg auf die Große Kinigat (mit Gipfelkreuz) zu. © A. Klemmer

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Am Westende des Karnischen Hauptkammes zwischen dem Helm (links hinten) und der rund­ erneuerten Sillianer Hütte begegnen sich Wanderer und Mountainbiker.

© A. Klemmer

bindung wäre die neue Bergstation auf dem Gipfelplateau der Hochgruben (2535 m), direkt auf dem Kamm und nur etwa 250 Meter neben der etwas niedriger gelegenen Sillianer Hütte des Alpenvereins. Diese wurde nach ihrer umfassenden Modernisierung erst am 1. Juli 2019 wiedereröffnet, mit mehr Kapazität und einer großen, beeindruckend modernen Kücheneinrichtung.

Karnischer Höhenweg Gute Kondition, stellenweise Schwindelfreiheit und Trittsicherheit erforderlich. Vorsicht bei labiler Wetterlage (Gewitter!) und Altschneefeldern. Für die gesamte Strecke braucht man acht bis zehn Tage, für den hier beschriebenen Westabschnitt bis zur Plöckenpassstraße fünf bis sechs Tage. Vor allem in Juli und August sollte man unbedingt Schlafplätze in den Hütten reservieren. Etappen: Leckfeldalm – Sillianer Hütte – Obstanserseehütte (6 Std.) Obstanserseehütte – Filmoorhütte – Porzehütte (6 Std.) Porzehütte – Hochweißsteinhaus (8 Std.) Hochweißsteinhaus – Wolayerseehütte (6 Std.) Wolayerseehütte – Untere Valentinalm (2.30 Std.; weiterer Abstieg zur ­Plöckenpassstraße möglich; Bus/Taxi nach Kötschach-Mauthen) Untere Valentinalm – Zollnerseehütte (7.30 Std.) Zollnerseehütte – Nassfeld (9.30 Std.) Nassfeld – Gasthaus Starhand (8 Std.) Gasthaus Starhand – Thörl bei Arnoldstein (7 Std.) Karten und Wanderführer: Alpenvereinskarte 1:25.000 Nr. 57/1 Karnischer Hauptkamm West Wanderführer für den Karnischen Höhenweg in den Verlagen Rother (beschrieben in Richtung West–Ost) und Kompass (Ost–West)

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Bald genießen also vielleicht auch Pistenskifahrer den umwerfenden Blick auf die Sextener Dolomiten mit den Drei Zinnen und über das Pustertal. Längst schon angekommen sind im Sommer die Mountainbiker. Seit 2010 liegt die Hütte am „Stoneman Trail“, und der hat es mit 120 Kilometern und 4560 Höhenmetern in sich. Nur wenige schaffen das Pensum an einem Tag. Dafür verzeichnet Hüttenwirtin Viktoria Maurer in der Saison zwischen 600 bis 800 Nächtigungen nur durch Biker. Der gemeinsame Hüttenaufenthalt mit Abendessen, Frühstück und guten Gesprächen scheint dem Frieden zwischen Radlern und Fußgängern zuträglich zu sein. Außerdem sind die weitaus meisten „Stoneman-Biker“ konditionell und technisch auf der Höhe und darum (bisher) unmotorisiert unterwegs. Bergwanderer und -radler folgen von der Sillianer Hütte zunächst derselben Zahl: 403. Sie steht auf Schildern, die im Gras stecken, oder aufgemalt auf nackten Stein, ungezählte Male entlang der 150 Kilometer langen Route. Über weite Strecken folgt der Höhenweg mehr oder weniger genau dem Grenzverlauf zwischen Österreich und Italien auf dem Scheitel des Karnischen Hauptkammes. Von 1915 bis 1917 verlief dort die Front des Gebirgskriegs. Auf beiden Seiten des Kammes lebten in den Tälern Menschen, die sich kannten, die miteinander zu tun hatten, die Handel (und Schmuggel) trieben und Verwandte besuchten. Die einfach Nachbarn waren und oft sogar dieselbe Sprache sprachen. Und die dann, weil man es ihnen


befahl, aufeinander schossen. Viele Jahre zogen danach ins Land, ein weiterer Weltkrieg fand für das Töten und Sterben woanders neue Frontlinien. 1973 gründete der Offizier, Bergsteiger und Historiker Walther Schaumann den Verein Dolomitenfreunde, der die alten, längst verfallenen Versorgungswege sicherte und zu einem „Friedensweg“ zusammensetzte. Steht man heute in den alten Stellungen, zwischen bröckelndem Mauerwerk, auf morschem Holz, dann sieht man dieselben Berge, die schon die hungernden, frierenden Soldaten sahen. Der Irrsinn ist einfach nicht zu begreifen.

Gipfel und Varianten Hornischeck, Hollbrucker Spitze, so heißen die ersten Gipfel am Weg. Hinter ihnen geht es hinab ins weite Hochgräntenjoch. Ein kleiner See liegt dort, er spiegelt den viel fotografierten Soldatenfriedhof. Die Stoneman-Biker biegen nun südwärts ab zur „Demut-Passage“, der exponierten Schlüsselstelle des Stoneman Trails. Und die Fußgänger sind wieder unter sich. Der Karnische Hauptkamm hat viele Gesichter. Mal ist er schmal und grau, über weite Strecken jedoch breit und grün, grasgrün – so wie auf dieser ersten Etappe. Die Bummelei in großer Höhe, zwischen 2500 und 2600 Meter, bietet kaum größere Schwierigkeiten als die, vor lauter Schauen nicht über die eigenen Füße zu stolpern. Die Namen der nächsten Gipfel – Demut, Schöntalhöhe, Eisenreich – sind schnell vergessen, weil sie auf so ei-

nem Weg immer unwichtiger werden. Man geht oben rüber oder außen rum, wie man möchte. Der Kessel um den fotogenen Obstansersee öffnet sich; unten, neben dem Ufer des Sees, steht die nach ihm benannte, von Höhenwegbegehern und Tagesgästen viel besuchte Hütte. Der Kamm wird nun schmaler und steiler, er kulminiert auf dem Gipfel der Pfannspitze, dessen Panorama, kaum zu glauben, alles bisher Gesehene noch einmal übertrifft. Vorne ragt das Kalkriff der Großen Kinigat auf, der erste wirkliche Kletter- und Klettersteigberg auf der Route. Man könnte die Kinigat auf einer unschwierigen Klettersteig-Variante überschreiten, doch der Himmel hat sich getreu der Wettervorhersage immer dichter und dunkler bezogen. Also geht es stattdessen unter dem Kalkriff entlang, wo plötzlich, ganz unerwartet, heller Kalkschutt unter den Profilsohlen knirscht. War man nicht vorher noch auf dunklem Silikatgestein unterwegs? Der Karnische Hauptkamm ist geologisch kapriziös. Die Schutthalde endet, die Felsen bleiben zurück, der Weg leitet auf die weite grüne Terrasse des Filmoors. Hier gibt es eine Rarität auf dem Hauptkamm zu bestaunen: Wasser. Schon im Ersten Weltkrieg wurde eine Quelle gefasst. Die kleine Hütte, die Walther Schaumanns Dolomitenfreunde zusammen mit Soldaten bauten, wurde aber erst im August 1977 eingeweiht. 2007 kam die benachbarte Schlafhütte dazu. Sie bietet nur 14 Schlafplätze. „Ich bin froh, dass die Hütte so klein ist“, sagt Johanna Köberl. Seit 2013 ist sie die

Überreste von alten Frontstellungen säumen den Weg zur kleinen Filmoorhütte. Auch sie wurde von Soldaten erbaut, wenngleich in friedlichen Zeiten. © A. Klemmer

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Wirtin auf dem Filmoor. Ihr Vater war hier schon Hüttenwirt, von 1979 bis 1983, zusammen mit einem guten Freund, der die Hütte danach weiter bewirtschaftete. Johanna hat Unterstützung: Ihre Cousine ist da, dazu Freunde aus Italien. Gekocht wird mitten im kuscheligen Gastraum, Show Cooking sozusagen; die Atmosphäre ist herzlich.

Auf dem Kamm oder über die Almen So schön der Standort und so einnehmend der WG-Charme ist, rein logistisch liegt das Mini-Hüttenensemble denkbar ungünstig. Die meisten Höhenwegbegeher nächtigen in der Obstanserseehütte und wandern dann vom Filmoor gleich weiter zur zweieinhalb bis drei Stunden entfernten Porzehütte. Das ist auch vernünftig, denn die nun folgende Etappe zum Hochweißsteinhaus beansprucht acht Stunden Gehzeit. Wer dagegen in der Filmoorhütte übernachtet, wird insgesamt also zehn bis elf Stunden unterwegs sein, was eine sehr gute Kondition voraussetzt. Und gutes Wetter sowieso. Blitz und Donner in der Nacht, der Wecker piepst um vier Uhr. Im Regen von der Schlafhütte hinüber in den Gastraum – auf dem Tisch steht das Frühstück, daneben die Thermosflasche mit dem Kaffee. Und neben dem Teller ein Zettel: „Mach‘s gut und viel Glück“. Dahinter ein Smiley. Beim Aufbruch regnet es schon nicht mehr. Der Weg ist im Licht der Stirnlampe nur schwer zu erkennen. Zwischen den dichten Grasbüscheln steht in vielen Löchern das Wasser. Dann färbt sich der Himmel erst lila, dann rot, und am kleinen Stuckensee ist es hell genug, um die Stirnlampe auszuschalten. Über den grünen Heretriegel und unter der Stromleitung hindurch, die zur Porzescharte hinaufzieht, leitet der Weg zur Porzehütte, wo die Wanderer noch beim Frühstück sitzen. Ein schöner alter Weg führt zum Grenzübergang auf dem Tilliacher Joch hinauf. Heute wird er auch viel von Mountainbikern befahren, die hinüber ins Cadore fahren und über Comelico und den Kreuzbergpass zurück nach Osttirol. Auch manche Wanderer steigen nach Süden ab, wo parallel zum Hauptkamm auf Almhöhe die sogenannte Traversata Carnica verläuft. Quartier nimmt man dort in Berghütten wie dem Rifugio Calvi unter dem Hochweißstein oder in Almen wie der Malga Antola. Mehr als nur eine technisch unschwierige

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Alternative für Sturm- und Regentage, ist diese Südvariante des Karnischen Höhenwegs ein Wanderziel mit einem ganz eigenen Charakter. Dennoch, bei schönem Wetter folgt man natürlich der „Königsetappe“: immer dem Kamm entlang, den einen oder anderen Gipfel mitnehmend oder auslassend, Stunde an Stunde, Schritt für Schritt. Bis zum Winklerjoch genießt man die ganz große Weite und das anhaltende 360-GradPanorama. Im Norden, noch vertraut, die Lienzer Dolomiten und die Hohen Tauern mit dem Großglockner. Im Süden die Friauler Dolomiten, eine Landschaftskulisse wie aus einem Fantasy-Film, ein Labyrinth aus Wald und spitzen Felsen, so gewaltig, so bizarr, so unbekannt. Dann quert der Höhenweg unter der Kammhöhe bis zur Hochspitzsenke und weiter durch die abschüssige grüne Flanke bis an den Fuß einer hohen, felsigen Steilstufe. Drahtseile führen hinauf, es ist eine der anspruchsvollsten Stellen auf dem Höhenweg; und bald erreicht der Weg wieder den Scheitel des Gebirges.

Hauptprogramm und Zugaben Vorne gibt der Hochweißstein, auf Italienisch Monte Peralba (2694 m), die Richtung vor. Er ist einer der wenigen wirklich markanten Gipfel am Weg: eine Glocke aus hartem Kalk, dem Hauptkamm südlich vorgelagert, im richtigen Licht blendend weiß. Einfach unterwegs „mitnehmen“ kann man diesen Gipfel nicht, dazu ist er zu groß. Wer einen Tag und eine zusätzliche Nacht im Hochweißsteinhaus investiert, kann – und sollte – ihn aber überschreiten. Auf der mäßig schwierigen italienischen Ferrata geht es hinauf und über den gesicherten Normalweg nach Österreich hinab. Man bekommt dabei Reste von Unterständen und alte Stellungen zu Gesicht und am höchsten Punkt das vielleicht großartigste von allen großartigen Panoramen. Und man darf des verstorbenen Papstes Johannes Paul II. gedenken, der den Berg noch mit 68 Jahren, am 20. Juli 1988, bestiegen hatte. Keine Zugabe, sondern Hauptprogramm ist auf dem Höhenweg die Steinkarspitze. Auf ihrem Gipfel treffen sich die Länder Tirol und Kärnten mit der italienischen Provinz Belluno, von ihrem Gipfel führt die Route wunderbar aussichtsreich über den Luggauer Sattel und das Luggauer Törl hinab


ins obere Frohntal. Drüben steht das Hochweißsteinhaus, braunes Holz auf grüner Wiese, rundherum Fleckvieh und bunte Wandermenschen. Und mittendrin Ingeborg Guggenberger. 36 Jahre lang, bis 2019, ist sie die Hüttenwirtin gewesen. Davor, seit 1950, hatte ihr Vater die Hütte geleitet. Und 2020 hat Sohn Marian den Hüttenbetrieb übernommen. Was sich geändert hat über die Jahre? Viel moderne Technik hat Einzug gehalten, die Ansprüche sind gestiegen. „Wir haben die Gäste verwöhnt“, sagt sie. Ohne Anmeldung, so wie früher, kämen immer weniger. Für den Betrieb sei das schon gut, sagt sie, aber eigentlich finde sie es auch ein wenig schade. Und manchmal wünsche sie sich die Zeit zurück, als es noch kein Internet gab, aber dafür mehr – Zeit. Nun freut sie sich darauf, in Zukunft mit ihrem Enkel vor der Hütte zu spielen und die Natur zu erkunden, so wie sie selbst hier als Kind in jedem Sommer gespielt und die Natur erkundet hat. Die Hütte ist voll. Und oft liest man es: dass der Karnische Höhenweg „voll“ sei. Das mag vielleicht so erscheinen, weil die Hütten hier kleiner sind als etwa die am E5. Sie haben 60 oder 70 Schlafplätze,

und ebenso viele – oder wenige – Leute sind also auch zu Spitzenzeiten täglich auf den einzelnen Etappen unterwegs.

Bergwildnis im Süden Wieder regnet es nachts, dieses Mal ohne Blitz und Donner, und wieder haben sich die Wolken bei Sonnenaufgang verzogen. Die folgende, etwas kürzere Etappe hat einen ganz anderen Charakter: Wo die Berge gestern Kulissen am fernen Horizont waren, rücken sie heute ganz nah. Über die Kuhweiden geht es zunächst hinauf zum nahen Öfnerjoch. Wer weiter auf dem Kamm bleiben möchte, könnte nun über die Raudenspitze und einen ehemaligen Kriegssteig, den mittelschweren, aber alpinen und einsamen Steinwand-Klettersteig, zur Letterspitze steigen. Aber weiter käme man von dort nicht mehr – beziehungsweise nur noch zurück ins Lesachtal. Der Karnische Höhenweg wechselt dagegen auf die Südseite, nach Friaul, und führt hinab in den grünen Schlauch des Val Fleons. Ein verwildernder, begeisternd-schöner Bergwinkel: urwüchsiger Wald, aufgelassene Almen, Stille. Jen-

Auf der „Königsetappe“ vor dem Winklerjoch – nur einer von vielen fantastischen Wegab­ schnitten zwischen der Porzehütte und dem Hochweißsteinhaus. © A. Klemmer

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Hochweißsteinhaus – Liebe und Leidenschaft einer Familie Drei Generationen und ihre Antworten auf die zeitlosen Fragen des Hüttenbetriebs >> Ingeborg Guggenberger Ingeborg Guggenberger war 36 Jahre lang Hüttenwirtin. 1983 übernahm sie den Betrieb von ihrem Vater Pepi, 2019 reichte sie ihn an ihren Sohn Marian weiter. In diesem Beitrag gibt sie beiden eine Stimme – und sie denkt selbst an die Zeit im Hochweißsteinhaus zurück.

1961 1963 1966 1967

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Warum gerade HüttenwirtIn? Warum ein Leben lang auf der gleichen Hütte? Pepi »  Als ich Ende 1947 nach sieben Jahren Wehrdienst und Gefangenschaft in Russland wieder im Lesachtal ankam – äußerlich unversehrt –, besaß ich tatsächlich nur die Lumpen, die ich am Leib trug. Nun musste ich schnell lernen, mein Leben zu organisieren. Nach dem Ablegen der Tischlergesellenprüfung heuerte mich ein Meister zur Wiederherstellung des geplünderten und verwüsteten Hochweißsteinhauses an. Dieser Sommer 1949 in den Bergen bewirkte, dass ich mich für die nächste Saison als Pächter bewarb. Ich wurde nun Wirt und Herr des Hauses und es bedeutete ein ungeheures Glücksgefühl für mich. Wenn auch ein wirtschaftlicher Grund ausschlaggebend für die Pacht der Hütte war, so merkte ich bald, welche Leidenschaft und Begeisterung die Bewirtung der Gäste in mir entfachte. Langsam, aber stetig nahm das Gästeaufkommen zu und verbesserte die finanzielle Situation. Die Möglichkeit zu einer Ausbildung als AV-Führer und die damit erhaltene Berechtigung zur Begleitung von Bergsteigern auf die Gipfel der Umgebung war ein willkommenes Zubrot, es verstärkte aber auch die Bindung zum Alpenverein. Als mir Mitte der 1960er-Jahre eine andere Hütte angeboten wurde, war ich schon versucht, den Wechsel zu riskieren, doch der Familienrat beschloss, im Hochweißsteinhaus zu bleiben. Diese Entscheidung sollte das Leben der Familie bis in die fernere Zukunft lenken. Ingeborg »  Für uns Pächterkinder war die Umgebung des Hochweißsteinhauses ein unendlich großer Spielplatz, dessen Radius sich jedes Jahr altersgemäß erweiterte. Als Kleinkinder reichte uns der umzäunte Garten bei der Hütte, später zog es uns an unser geliebtes „Hintobachl“, das wir mit Stauseen und Wasserrädern zu regulieren versuchten. Das Hausschwein war stets mit von der Partie, und unserer Aufgabe, die Milchkühe zum abendlichen Melken von der Almweide zu holen, kamen wir meistens gerne nach. Als Schulkinder lockten uns die Felsblöcke unter den steilen Wänden des Hochalpls. Unser Vater führte uns auf alle umliegenden Gipfel, bis wir selber Courage und genügend Sicherheit hatten und er sein Einverständnis zu selbstständigen Exkur­ sio­nen erteilte. Das Klettern durch die Wände war

dann nur noch eine logische Folge. Trotzdem mussten wir schon als Schüler unsere Dienste in der Küche und beim Service pünktlich antreten. Es waren wahrscheinlich diese enorme Freiheit und das gespürte Glücklichsein, die mir keine andere Wahl ließen, als mich viel später für die Pacht dieser wunderschönen Hütte zu bewerben, sie als Heimat und Bestimmung zu sehen. Marian »  Ich habe mich für die Hüttenpacht aus wirtschaftlichem und emotionalem Grund entschlossen. In einen florierenden Betrieb einsteigen und diesen weiterentwickeln zu können, ist ein nicht zu verachtendes Startpotenzial. Dass wir aber jetzt, im Frühjahr 2020, mitten in der Corona-Krise stehen und ich eventuell auch mit einem Totalausfall in meiner ersten Saison rechnen muss, lässt die Hüttenbewirtschaftung in Zukunft natürlich aus einem ganz anderen Blickwinkel betrachten. Allerdings bleibt die emotionale Bindung zum Hochweißsteinhaus, denn dort bin ich aufgewachsen und dort habe ich wunderbare Jugendjahre verbracht. Ich möchte diese Entfaltungsmöglich­ keit auch meinen Kindern bieten können. Wünsche, Hoffnungen, Überraschungen …? Pepi »  In den 1950er-Jahren veränderte sich nicht viel. Langsam nahmen die Verunsicherungen an der italienischen Grenze etwas ab, die traditionellen Wallfahrten nach Maria Luggau begannen wieder. Die Menschen aus den Dörfern hinter der Grenze kehrten nun zunehmend bei uns ein und kauften Bier, Schokolade und vor allem Zigaretten. Heute ist das unglaublich, aber Alpenvereinshütten waren damals mit der Berechtigung einer Tabaktrafik ausgestattet, die erst Ende der 1980er abgeschafft wurde! 1959 kaufte ich ein Moped, mit dem konnte ich die Waren wesentlich leichter transportieren. Zehn Jahre lang hatte ich alles zu Fuß durch das kilometerlange Frohntal heraufgeschleppt. Als wir uns einige Jahre später einen Fiat Puch anschafften und zugleich einen Materialaufzug bauten, schien der wirtschaftliche Aufschwung nun auch die Pächter des Hochweißsteinhauses erreicht zu haben. Aber schon ein Jahr später, 1965, schlossen die Italiener auf Grund der Südtirolkrise die Grenze und brachten dadurch den Gastbetrieb fast zum Erliegen. Lediglich meine AV-Führertätigkeit, die

Eine Kindheit am Karnischen Hauptkamm: Mit ihren beiden Brüdern erlebte Ingeborg Guggenberger die Umgebung des Hochweißsteinhauses als einen „unendlich großen Spielplatz“. © Archiv Familie Guggenberger

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Gern gesehene Gäste auf dem Hochweißsteinhaus: Italienische Pilger auf der Wallfahrt von Sappada nach Maria Luggau. © Archiv Familie Guggenberger

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ich nun in die Lienzer Dolomiten verlegte, und die Aufträge der Sektion Austria zum Herrichten einiger Gipfelwege ließen die Familie diese fünf Jahre finanziell überstehen. Durch den Aufzug konnten nun auch Materialien heraufgebracht werden, und die Hütte erfuhr manche Neuerung. Wasser, das es bis dahin nur am Brunnen gab, sprudelte nun in der Küche aus den Wasserhähnen, in beiden Stockwerken in die Waschrinnen und es spülte die modernen Toiletten. Wir verlegten Gasleitungen und freuten uns über gutes Licht in Küche und Gastzimmer. Die größte Errungenschaft war wohl eine dreiflammige Gasplatte. Was für ein Luxus! Zwei Ereignisse waren wirtschaftlich sehr einschneidend, aber sie erschütterten mich auch tief. 1972 wurde das Hochweißsteinhaus von zwei Jugendlichen dermaßen verwüstet, dass es vieler Hände bedurfte, um es bis zum Beginn der Saison halbwegs bewohnbar zu machen. Alles was sie fanden, hatten sie kurz und klein geschlagen und das Haus als Scherbenhaufen hinterlassen. Mit Entsetzen besichtigte ich das Tohuwabohu, dann begann ich mit der Familie und Freunden die Aufräumarbeiten. Aber die Enttäuschung konnte mir niemand mehr nehmen, denn einer der Buben war der Sohn eines Freundes und Stammgastes. Weder eine Entschuldigung noch eine angemessene Wiedergutmachung des Schadens erfolgten. Drei Jahre später donnerte eine Lawine in die Hütte. Obwohl nicht mein Eigentum, tat es unheimlich weh, das Haus so zerstört zu sehen. Ich versuchte wieder mit vielen helfenden Händen

die Hütte mit den noch brauchbaren Materialien so weit herzustellen, dass die Gäste wieder Schutz vor Wind und Wetter fanden. Noch vor Einbruch des Winters waren die Wände neu aufgemauert und die Hütte war wieder dicht. Mein erlerntes Handwerk kam mir einmal mehr sehr gelegen, schon im Mai des nächsten Jahres begann ich mit dem Innenausbau. Mehr Gäste brachte erst der Karnische Höhen­ weg, er weckte die Hütte aus dem jahrelangen Dornröschenschlaf. Denn der Gast der späten 1970er-Jahre war kein Teewasser trinkender Selbstversorger mehr, sondern ein Urlauber, der auch auf der Hütte gewisse Ansprüche stellte. Ingeborg »  Ich erlebte gerade noch als Kind diese einfache Art der Hüttenbewirtschaftung. Allerdings reichen meine Erinnerungen nicht an die Jahre vor dem Materialaufzug zurück. In meine Zeit fällt die Umstellung von Petroleum- auf Gaslampen, von diesen auf Glühbirnen und mittlerweile auf stromsparende LEDs. Als ich das Hochweißsteinhaus übernahm, war die Technik noch leicht über­schaubar. Sie bestand aus einem Benzinmotor zum Betreiben des Aufzuges, einem Lärchenholztrog mit einem Sieb als Trink- und Brauchwasserfassung, zwei Durchlauferhitzern zur Heißwasserbereitung und einem Gasherd mit Backrohr. Der Karnische Höhenweg war wenige Jahre alt und brachte immer mehr Gäste auf die Hütten. Mit diesem einfachsten Equipment war die Arbeit bald nicht mehr zu schaffen. Was mein Vater durch sein handwerkliches Geschick an Verbesserungen geschafft hatte, versuchte ich nun durch Eigeninvestitionen zu erreichen. Ich kaufte moderne Geräte für die Küche, stattete die Zimmer der Mitarbeiter mit neuen Möbeln aus und versuchte durch Paravents, den Gästen beim Waschen an den Waschbecken am Gang ein wenig Privatsphäre zu ermöglichen. Endlich, Mitte der 1990er-Jahre, kümmerte sich der neue Hüttenreferent sehr um die süd­ lichsten Alpenvereinshütten. Er beschaffte uns ein Dieselaggregat, und wir brauchten nun nicht mehr das Geschirr von Hand waschen. Jetzt ging es Schlag auf Schlag – jedes Jahr stand eine Neuerung oder Teilrenovierung an. Sechzig Jahre lang war kaum etwas in die Hütte investiert worden, nun zeigten sich die Altlasten: Dach, Fenster, Wasserversorgung, Seilbahn und alle Schlafräume wa-


ren zu erneuern. 2009/2010 erfolgte die lang­ ersehnte Generalsanierung mit dem Anbau für die Sanitäranlage, für Kläranlage und Technik. Inzwischen sind Registrierkasse, Schankanlage und Kombidämpfer und natürlich auch das Internet selbstverständlich geworden. Große Photo­ vol­taikflächen versorgen Hütte und biologische Kläranlage mit elektrischem Strom, bei B ­edarf starten wir das Rapsöl-Blockheizkraftwerk. Für diese technischen Anstrengungen zum Schutz der Umwelt, aber auch für unser Engagement im regionalen und naturbewussten Einkauf haben wir das Umweltgütesiegel erhalten. Die meisten dieser Investitionen erleichtern uns Pächtern die Arbeit. Den Gästen bringen sie mehr Komfort – und Genuss: Sie können zum Beispiel im Hochweißsteinhaus mit eigenen Sinnen erleben: „So schmecken die Berge“ – dieser Initiative des Alpenvereins haben sich auch viele andere Hütten angeschlossen. Marian »  Anfang des Jahres hätte meine Antwort noch ganz anders ausgesehen. Nun aber stecken wir mitten in der Corona-Krise. Ich hoffe erst einmal, dass wir alles gut überstehen und im Lauf des Sommers zur Normalität zurückkehren können. Über Veränderungen kann und will ich mir keine Gedanken machen. Haben wir diese Krise hinter uns gelassen, müssen wir froh sein, wenn wir dort weitermachen können, wo wir vorher aufgehört haben. Aber ich bin mir schon jetzt sicher: Corona wird sicher eines der prägendsten Ereignisse meiner Pacht bleiben! Die Gretchenfrage: Nun sag, wie hast du’s mit der Umwelt? Pepi »  Natur und Umwelt schützen wird erst dann zum Thema, wenn sie verschmutzt sind und man den Unterschied sieht. In den Jahren nach dem Krieg gab es für uns noch keine Möglichkeit zum Verschmutzen. Ich trug die Ware am Rücken auf die Hütte und die Pfandflaschen wieder ins Tal. Mehl, Salz und Zucker gab es nur in großen Papiersäcken oder -schachteln. Die Kartons brauchten wir dringend zum Verpacken von Wäsche und dergleichen, die Papiersäcke zum Lagern vom selbstgebackenen Brot. Milch, Butter, Topfen und Rahm kamen von den beiden Kühen, die wir von Bauern ausgeliehen hatten. Manchmal gab es Fleisch, wenn sich ein Rindvieh auf der Alm verletzte und

der Almhirte es schlachten musste. Wenn wir Glück hatten, existierte noch ein Schneefeld, manchmal hunderte Meter von der Hütte entfernt, in das wir eine Holzkiste eingraben konnten, um darin das Fleisch zu konservieren. So fielen in einer Saison nicht mehr als ein paar leere Dosen an, die dringend als Wassereimer oder zum Mischen des Futters für unsere Tiere gebraucht wurden. Das änderte sich in den nächsten Jahrzehnten rasant. Vor allem in den 1970er-Jahren hielt Plastik Einzug: ein leichtes, dichtes, unentbehrliches Material für den Transport. Aber vermehrt wurden auch Waren in Glas und Metall verpackt. Eine Müllabfuhr gab es damals im Tal noch nicht, deshalb wanderten die Abfälle in einen tiefen Schützengraben aus dem Ersten Weltkrieg. Wir haben bestimmt viel zur heutigen Klimakrise beigetragen, indem wir nicht verrottende Abfälle vergraben und Plastik im Küchenherd verheizt haben. Oft kam es deshalb zum Streit mit meinen Kindern und den Mitarbeitern, die es damals schon besser wussten und kritischer sahen. Aber für meine Generation stand der Fortschritt und die Arbeitserleichterung an erster Stelle. Umweltschutz kannten wir nicht. Er existierte aber auch in den Medien noch nicht. Ingeborg »  Als blutjunge Wirtin, mit meinem Vater an der Seite, war es unglaublich schwierig für mich, einen neuen Weg der Bewirtschaftung zu gehen. Vati, mein wichtigster und bester Mitarbeiter, erlaubte mir kaum einen Ausreißer. Sein Verständnis für eine umweltgerechtere Bewirtschaftung hielt sich in Grenzen und Streit war vorprogrammiert.

Herzliche Gastgeber unter dem Hochweißstein: Ingeborg und Marian Guggenberger im Sommer 2019. © A. Klemmer

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Zurück zu den Wurzeln Gesundheitliche Aspekte des Wanderns >> Franziska Horn Wandern wirkt – auf Körper, Geist und Seele. Das wissen wir Menschen seit langem. Draußen sein, in Bewegung sein, das gehört zu unserer DNA. Die Natur ist jener Ort, von dem wir stammen. Und an den wir zurückkehren, um uns wohl zu fühlen. Am besten zu Fuß. In den letzten Jahrzehnten wurde dieses Wissen wissenschaftlich untermauert. Hier einige Meilensteine der Forschung.

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Bereits in der Antike wurde Gesundheit als ein Zustand des äußeren und inneren Gleichgewichts angesehen, der durch eine bestimmte Lebensführung zu beeinflussen und auszubalancieren ist. Das Wissen um das Zusammenspiel von Körper und Geist fand im viel zitierten (und oft missbrauchten) Leitsatz „Mens sana in corpore sano“ seinen Ausdruck. Zu Körper und Geist kommt als drittes Element die Seele hinzu – der Bereich jenseits des Verstandes. Dabei sind die Emotionen, anders als physiologische Parameter, das am wenigsten erfassbare Element. Damit haben wir also drei Wirkungsfelder, auf die wir einen Blick werfen. Zur Emotion: Alexander von Humboldt schrieb 1845 in seinem großen Werk „Kosmos“: „Um die Natur in ihrer ganzen erhabenen Größe zu schildern, darf man nicht bei den äußeren Erscheinungen allein verweilen; die Natur muß auch dargestellt werden, wie sie sich im Innern der Menschen abspiegelt, wie sie durch diesen Reflex bald das Nebelland physischer Mythen mit anmutigen Gestalten füllt, bald den edlen Keim darstellender Kunstthätigkeit entfaltet.“ Etwas moderner drückt das beispielsweise der Biologe Dr. Norbert Jung aus Berlin aus. In seinem Vortrag von 2014 „Der Dialog mit der Natur“ an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde (HNE) sagte er: „Natur ,spiegelt‘ sich quasi automatisch im Innern des Menschen ab, erzeugt eine Resonanz, ist korresponsiv, erzeugt also eine psychische Veränderung und ist damit ,kein bloßes Produkt unserer Stimmungen‘, sondern ruft sie hervor.“ Jung beschreibt Humboldts Erkenntnis als „etwas Unangenehmes für manchen Naturwissenschaftler: Die von außen beschreibende, messende und interpretierende N ­ aturwissenschaft kann nicht die ganze Wirklichkeit erkennen (…) und ist also nur die Hälfte der Wahrheit.“

Biophilie: Die Liebe zum Leben In Folge zitiert Jung seinen berühmten Namensvetter, den Psychoanalytiker Carl Gustav Jung: „Der Untergrund der Seele ist Natur, und Natur ist schöpferisches Leben … Die Produkte des Unbewußten sind reine Natur.“ Norbert Jung erläutert: „Als evolutionäre Schöpfung tragen wir eine unbewusste, tiefe Affinität zur Natur in uns, das hat als Erster der Tiefenpsychologe Erich Fromm 1973 aus seiner therapeutischen Erfahrung heraus mit

dem Begriff ,Biophilie‘ belegt. Wie zuvor Fromm argumentierte später der Evolutionsbiologe E. O. Wilson 1984 in seinem Werk ,Biophilia‘: Weil wir, aus der Natur kommend über Jahrmillionen hinweg mit unserem Erkennen, Fühlen und Verhalten an bestimmte Lebensräume angepaßt waren und sind, haben wir ein biologisches Gedächtnis über die Natur in uns.“ Norbert Jung sagt: „Neuere pflanzenphysiologische Untersuchungen zeigen, wie gerade auch Pflanzen und ganze Wälder genauso intensiv kommunizieren wie Tiere. Es wird sogar geschlussfolgert, dass unser Immunsystem Botschaften der Bäume unbewusst ,versteht‘, indem es auf deren Abwehrsignale hin mit Aktivierung reagiert.“ Sein Fazit: „Wald ist daher gesund“. Das bedeutet: Wir Menschen des heutigen digitalen Zeitalters, in der Blüte der Informationsgesellschaft, sind kopflastig bis extrem verkopft – aber immer noch ein Stück Natur. Es gilt, hieran anzuknüpfen. Vielleicht mit sogenannten Trends wie „Waldbaden“, die auf eben jenem alten, intuitiv-bewussten Wissen beruhen. Wissenschaftlich erforscht und belegt ist der „Greenness-Faktor“: Grünflächen in Städten führen nicht nur zu positiven Klimaeffekten, sondern beeinflussen auch das physiologische und psychologische Wohlbefinden der dort lebenden Menschen. Die Natur wirkt – weil Grün auf allen Ebenen wirkt. Der Natursoziologe und Wanderforscher Rainer Brämer brachte 2007 in dem von ihm begründeten Deutschen Wanderinstitut e. V. eine vielbeachtete „Gesundheitsstudie Wandern“ heraus. Dort verweist er unter anderem auf ein in Verbindung mit Joggen durchgeführtes Experiment, über das die Zeitschrift „Psychologie Today“ 1995 berichtete: Im Rahmen eines Vergleichstests ging eine Gruppe von Läufern ihrem Hobby in freier Natur nach, während zwei weitere Gruppen dieselbe Strecke auf dem Laufband absolvierten – die eine mit und die andere ohne eingespieltes Vogelgezwitscher. Am Ende zeigten alle drei Gruppen dieselben Kreislaufreaktionen. Doch die Naturläufer fühlten sich „fitter, gestärkter, erfrischter und zufriedener“ als vor dem Lauf, die reinen Laufbandläufer dagegen müder und erschöpfter, während die vogelbeschallten Läufer keine Änderungen ihrer Stimmung zu Protokoll gaben. Grün wirkt also. Ebenso wie Höhe, Licht, Wärme, Luft, Landschaft, Berge, Seen und Wasser – die Natur ist ein „Psychotop“, sagt Norbert Jung. Sie ist

Wandern auf Krankenschein? Warum eigentlich nicht. Schließlich wird die positive Auswirkung auf Physis und Psyche durch evidenzbasierte wissenschaftliche Ergebnisse bewiesen. © A. Klemmer

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ein Wohlfühlraum, ein Seelenort. Der seit Menschengedenken Widerhall in Kunst, Malerei, Literatur und Musik findet. Die Natur – ein Resonanzraum, wie ihn beispielsweise der Soziologe Hartmut Rosa beschreibt (siehe Interview Seite 84)? Dazu schickte der Verhaltensbiologe seine Studenten gruppenweise in den Wald, um sie „ …die Naturbeziehung emotional eindrücklich und reflektiert erleben lassen.“ In der naturbelassenen Landschaft sollte sich jeder einen Lieblingsplatz suchen, am Bach, im Moor, unter Bäumen. Und ergebnisoffen beschreiben, was passiert. Heraus kam Erstaunliches: Die Probanden fanden poetische Worte, schrieben Gedichte, malten abstrakte Naturstudien von Pfützen und Blättern, zeichneten Äste – und „es waren, wohlgemerkt, Studenten des Studiengangs Landschaftsforschung und Naturschutz, keine Kunst- oder Literaturstudenten …“ Und wie sieht es mit den physiologischen Erkenntnissen aus? Zu den ältesten und grundlegendsten Untersuchungen zählt hier die sogenannte „Postbotenstudie“ von 1963 aus den USA, auf die Brämer ebenfalls verweist: In ihr wurden die Biografien von 2240 Männern untersucht, die in der Zeit von 1906 bis 1940 entweder als Postboten oder als Postschalterbeamte gearbeitet hatten. Laut dieser Studie „hatten Schalterbeamte der Post im Vergleich zu Postboten bei zu Berufsbeginn gleichem Gesundheitszustand in ihrem Leben dreimal so viele tödliche Herzinfarkte. Postboten, die zum Schalterbeamten aufstiegen, verloren ihren Infarktschutz in wenigen Jahren.“ Spätestens seit den 1970er Jahren untersuchten Wissenschaftler die Wirkung von Bergsport nach modernen wissenschaftlichen Maßstäben, wie die sogenannte Hochgebirgsstudie von Egon Humpeler zeigt: Dieser publizierte 1971 erstmals zu den positiven gesundheitlichen Effekten des Bergwanderns. „Die Folgen von Bewegungs­ mangel, Übergewicht, Problemen bei Stoffwechsel- und Herz-Kreislauf-System, aber auch Ängste, seelische Nöte, Motivations- und Sinnkrisen bis hin zum Burn-out-Syndrom sind in der mittleren Höhe leichter zu bewältigen. Da werden automatisch ganzheitliche Kräfte geweckt.“ Humpeler, bei dem die rein physiologischen Aspekte noch klar im Vordergrund standen, setzte seine Forschung später in einem Pilotprojekt in Lech am Arlberg und in einer zweiten Phase in der „Austri-

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an Moderate Altitude Study“ (AMAS) im salzburgischen Obertauern auf 1700 Metern Seehöhe und im burgenländischen Bad Tatzmannsdorf (200 Meter Seehöhe) fort. Dazu wurden die Studienteilnehmer – Frauen und Männer mit einem Durchschnittsalter von 53 Jahren, die unter dem metabolischen Syndrom mit Übergewicht, Störungen im Blutzucker- und Blutfettstoffwechsel und erhöhtem Blutdruck litten – auf einen dreiwöchigen Wanderurlaub geschickt. Zu den beobachteten physiologischen Verbesserungen zählten das Absinken von Herzfrequenz und Blutdruck, ein Rückgang der erhöhten Blutfette, Gewichtsreduktion, die Verbesserung des Blutzucker-Stoffwechsels, darüber hinaus der Rückgang des Stresslevels, dadurch bessere Schlafqualität und eine insgesamt positivere Lebenseinstellung.

Wandern als Therapie? Wesentliche Belege für die positiven Auswirkungen von Wandern und Outdoorsport auf Körper und Psyche lieferte das „Fachsymposium Bergsport & Gesundheit“ im November 2016, auf dem der Österreichische Alpenverein die Ergebnisse seines dreijährigen Arbeitsschwerpunktes präsentierte. In seinem Vortrag „Bergwandern und psychische Erkrankung: ein Therapieansatz?“ verwies Reinhold Fartacek, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie und Leiter der Suizidprävention Salzburg, auf die Volkskrankheit Depression. Der Druck der Leistungsgesellschaft mit hohen Ansprüchen an sich selbst und das Umfeld liefere den Nährboden für eine psychische Überlastung, was die Gefahr erhöhe, an Depressionen oder am Burnout-Syndrom zu erkranken. Um die Wirkung von Outdoorsport zu überprüfen, schickte Fartacek im Rahmen seiner Tätigkeit als Ärztlicher Direktor des Universitätsklinikums Salzburg eine Gruppe suizidgefährdeter Patienten zum Wandern. Im Rahmen einer klinischen Studie unternahmen diese während einer neunwöchigen Interventionsphase wöchentlich drei Wanderungen von je zwei Stunden Dauer mit 300 bis 500 Höhenmetern – ein Ausdauertraining bei einfacher Aktivität und mit gut steuerbarer Intensität plus Naturerfahrung als Mehrwert. Das Resultat: Das Wandern steigerte Selbstwertgefühl und erlebte Freude, es senkte dagegen Ängstlichkeit und Schweregrad der Depressi-


onen. Zu den neurobiologischen Effekten zählten die Verbesserung von Hirndurchblutung und Glukosestoffwechsel und eine vermehrte Ausschüttung von Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin. Das Fazit? Bergsport wirkt als Antidepressivum.

Weitere Studien Zu für den Laien ähnlich klingenden Aussagen kam das vom ÖAV initiierte Forschungsprojekt „Effekte des Bergsports auf Lebensqualität und Gesundheit“, das in Kooperation mit den Universitäten Salzburg und Innsbruck durchgeführt wurde. Das Team um Dr. Arnulf Hartl (Paracelsus Medizinische Privatuniversität Salzburg), Dr. Martin Kopp und Martin Niedermeier (beide Universität Innsbruck) und dem Sozialpädagogen Jürgen Einwanger (Österreichischer Alpenverein) untersuchte in einer Feldstudie mit 47 Probanden in drei unterschiedlichen Szenarien (beim Bergwandern, auf dem Laufband, bei einer sitzenden Tätigkeit) sowie anhand von 1500 Fragebögen den Zusammenhang zwischen psychischem Wohlbefinden und körperlicher Aktivität. Die Auswertung lieferte kaum überraschende Botschaften – dies allerdings auf der Basis valider Daten mit signifikanten Ergebnissen: Schon eine einzelne Bergwanderung von etwa drei Stunden bringt positive Ver­ änderungen der psychischen Gesundheit mit sich. Nach der Aktivität wurde ein deutlicher Anstieg der Stimmung und der Gelassenheit registriert. Negative Gefühle wie Energielosigkeit und Angst sanken markant. Ein weitere „Take Home Message“ der Wissenschaftler: „Prospektive Longitudinalstudien werden benötigt, um die langfristigen Auswirkungen von Bergsport auf Lebensqualität und Gesundheit fundiert zu untersuchen.“ Daran knüpft 2019 der DAV mit seinem einjährigen Forschungsprojekt „Stressreduktion durch Bergwandern“ an. Es widmete sich folgenden Fragen: Bergwandern kann zu einer kurzfristigen Stressreduktion führen, aber wirkt es auch langfristig? Bergwandern kann physisch positive Folgen für die Gesundheit haben, aber gilt dies in ähnlicher Weise auch psychisch? Zusammen mit der Deutschen Hochschule für Gesundheit und Sport (DHGS) und unter Förderung des Bayerischen Kuratoriums für alpine Sicherheit sollte die Längsschnittstudie – die erste dieser Art – vor allem die nachhaltig andauernden positiven Effekte

des Bergwanderns untersuchen. „Dass Wandern gesund ist – das gehört zum Narrativ unseres Vereins“, sagt Stefan Winter, Ressortleiter Sportentwicklung des DAV. Nun gelte es, mit einem eigenen Beitrag zur Forschung die internationalen Studien zu ergänzen und weiterzuführen. „Statt die Betonung auf physiologische Aspekte zu legen, wollten wir psychologische und sozialwissenschaftliche Ergebnisse untersuchen.“ Für diese Studie suchten Dr. Sven Sohr, der als Professor für „Life Coaching“ an der DHGS in Berlin lehrt, und Bachelorand Toni Abbattista 24 „gestresste“ Probandinnen und Probanden aus 1000 Bewerbungen aus. Über den Verlauf eines Jahres nahmen diese an Bergwanderungen teil, je eine pro Jahreszeit, mit bis zu 840 Höhenmetern in mittleren Gebirgshöhen. Vor, während und nach den Touren wurden psychologische als auch physiologische Werte erhoben, per Messung von Blutdruck und Herzfrequenz, per Auswertung von Speichelproben und – als Kernstück der Arbeit – per Fragebogen und Interviews. Für einen Fragenkatalog wählte Sohr die Kriterien der Positiven Psychologie als Methodik, die auf den US-amerikanischen Psychologen Abram Maslow zurückgeht. Sohr kommt zum Schluss: „Alles in allem offenbaren die zehn untersuchten Dimensionen des Feldes der Positiven Psychologie auf faszinierende Art und Weise, dass Effekte des Bergwanderns nicht nur auf der körperlichen Ebene bemerkbar sind.“ Mittel- und langfristig möchte der DAV evidenzbasierte Erkenntnisse wie diese noch stärker berücksichtigen – etwa im Ausbildungswesen oder mit speziellen Veranstaltungsangeboten. „Unser Mitgliederprofil bildet in etwa den Querschnitt unserer Gesellschaft ab“, sagt Stefan Winter. Volkskrankheiten wie Depression, Stress oder Burnout sind daher auch im Verein ein Thema. Denn wer im Alltag üblicherweise wie im Hamsterrad vor sich hinrennt, agiert in seiner Freizeit fast automatisch im selben „modus operandi“ weiter. Dem könne man proaktiv entgegenwirken. Beispielsweise mit Wandern, und zwar ohne Leistungsdruck.

Links zum Weiterlesen https://www.alpenverein.at/bk/tagungsband_2016/ index.php https://www.wanderforschung.de/WF/gesundwandern/wandern-und-gesundheit.html

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„Warum ich lieber im Mittelgebirge wandere“ Einwand aus der deutschen Komfortzone >> Manuel Andrack Ach ja, der Watzmann. Schon schön. Muss aber nicht sein. Zum Wandern braucht es keine gewaltige Bergkulisse, meint der Autor und Moderator Manuel Andrack. Im Gegenteil: Eine unaufgeregte Umgebung fördert die Erholung.

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Es mag für viele Alpinisten ein Schock sein, dass ich lieber im Mittelgebirge als in den Alpen wandere. Mittel … was?, fragt sich da so mancher. Mittel-ge-bir-ge. Machen wir es einfach wie im Kultfilm „Die Feuerzangenbowle“: Stelle mer uns mal janz dumm. Wat ist dat denn, so ein Mitteljebirje? Als Mittelgebirge bezeichnet man alle Landschaften, deren Berge die Höhe von 1500 Metern nicht überschreiten. Für Deutschland stellt sich das so dar: Zwischen Waterkant und Watzmann besteht Deutschland geografisch zu zwei Dritteln aus Mittelgebirgslandschaften. Im oberen Drittel Deutschlands beherrscht die flache Niederdeutsche Tiefebene das Landschaftsbild – noch kein Mittelgebirge, aber auch dort lässt es sich trefflich wandern. Dazu werde ich später noch etwas erzählen. Wenn wir weiter südlich blicken, wird es welliger. Zunächst erhebt sich der Harz mit dem mächtigen Gipfel des Brocken, das nördlichste Mittelgebirge Deutschlands. In der Mitte Deutschlands finden wir (von Westen nach Osten) das Rothaargebirge, die Rhön und den Thüringer Wald. Südlich wird im Schwarzwald und im Bayerischen Wald die Luft schon dünner, die höchsten Erhebungen sind der Feldberg und der Große Arber, die mit 1493 beziehungsweise 1455 Metern knapp an der Mittelgebirgs-Schallmauer kratzen. Und an den südlichen Rändern von Deutschland wird es dann alpin, das Hochgebirge beginnt. Der Begriff der Mitte ist sehr unterschiedlich besetzt. Politisch gilt die Mitte als wünschenswert, dorthin streben die meisten Parteien. Richtig links und richtig rechts möchten sie aber auch nicht mehr sein, die Extreme und Extremen sind (zu Recht) nicht mehrheitsfähig. Andererseits gibt es das Mittelmaß, das als nicht erstrebenswert gilt. Wer oder was möchte schon gerne mittelmäßig genannt werden? Das Mittelmäßige, das Mediokre, gilt doch eher als Synonym für das Langweilige, das Spießige. Und fade mag den Alpinisten auch das Mittelgebirge erscheinen: kein Thrill, keine beeindruckenden Bergmassive, keine spektakulären Ausblicke, Aufstiege, Schluchten. Wer so denkt, der irrt. Ich halte es da eher mit Marcel Reich-Ranicki, der hat mal zum Thema „Aussichten im Hochgebirge“ gesagt: „Wieso Aussichten, da stehen doch immer Berge davor.“ Ich habe Alpen ausprobiert, ich habe es versucht, ehrlich. Eigentlich war es ganz

einfach, zehn Stunden lang bin ich die WatzmannOstwand hochspaziert. Auf dem Gipfel habe ich eine fatale SMS in die Heimat geschrieben: „Geschafft!“ Von wegen, mein Bergführer hatte mich gewarnt: „Der Abstieg vom Watzmann ist der blödste Abstieg der Alpen“. Das kann man wohl sagen. Fünf Stunden Dauer, Nervenzusammenbruch, Tränen. Fazit: ganz amüsante Tour – aber nie wieder.

Warum ich im Mittelgebirge besser als in den Alpen wandern kann. Oder, anders formuliert: die sechs Mittel­ gebirgstugenden 1. Das Gute liegt so nah Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah? Alter Spruch, ich weiß, angelehnt an ein Bonmot des Altmeisters Goethe. Aber trotz des Alters der Redewendung ist der Satz sehr richtig. Und hochaktuell. Denn wir wollen doch nachhaltig leben, wir wollen möglichst wenig durch Reisen emittieren, wir wollen heimische Regionen unterstützen. Warum sollten wir also ins Hochgebirge fahren, um die Natur zu genießen? Klar, wenn ich im Münchener Raum wohne, ist der Alpenraum gewissermaßen um die Ecke. Aber die meisten Bewohner Deutschlands nehmen oft absurd lange (und teure) Reisen in Kauf, um in Südtirol, in Slowenien oder in Tibet alpin zu wandern. Besser ist es, wohnortnah zu wandern, um die Natur im Hochgebirge zu schützen und unnötig weite Reisen zu vermeiden. Dabei ist meiner Meinung nach das deutsche Mittelgebirge nicht nur Surrogat des Hochgebirges, nein, es gibt da ganz fantastische Landschaften, direkt vor der Haustür. Ich kann meine Mitmenschen nicht verstehen, die aus dem Effeff sämtliche Gipfel Österreichs aufzählen können, aber noch nie – beispielsweise – in der Eifel gewandert sind. Vorausgesetzt natürlich, man wohnt – beispielsweise – in der Nähe der Eifel. Man sollte sich einfach mal darauf einlassen, die Schönheiten der unmittelbaren Umgebung zu entdecken. Und damit meine ich nicht nur Flora und Fauna, sondern auch die regionalen Spezialitäten. Wo ich das gerade schreibe. Ich glaube, ich muss gerade schnell mal zwei Stunden raus, durch den Saarbrücker Urwald wandern und danach ein Belohnungsbier trinken.

Immer mit leichtem Schuhwerk unterwegs: Manuel Andrack im deutschen Mittelgebirge. Alle Fotos: M. Andrack

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Wanderst du noch, oder waldbadest du schon? Zwei Varianten der Erholung im Mittel­ gebirge: Plaudern und nachdenken unter dem blauen Himmel der Rhön, schweigen und nicht den­ ken unter grünen Blätterdächern.

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2. Lasst die Gedanken frei Ah, das tat gut. Ich bin wieder zurück am Schreibtisch. Und der Schreibtisch steht in der Edelweiß­ hütte. Kein Scherz, auch im Saarland gibt es Edelweißhütten. Meinen Laptop habe ich dabei, und bei meiner kurzen Wanderung hatte ich ein paar hübsche Ideen. Ich kann nie verstehen, warum die meisten Nichtwanderer glauben, man würde wandern, um den Kopf »frei« zu bekommen. Ja, schon, aber nur »frei« in dem Sinne, dass man Alltagssorgen abwirft und damit im Kopf Platz schafft für frische Inspirationen. Der Philosoph Montaigne sagte: „Meine Gedanken schlafen ein, wenn ich sitze“. Und Rousseau gestand: „Ich kann nur beim Gehen denken“. Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard hat es auf den Punkt gebracht: „Ich habe mir meine besten Gedanken angelaufen. Und ich kenne keinen Gedanken, der so schwer wäre, dass man ihn nicht beim Gehen los würde.“ Aber man muss kein Philosoph sein, um auf brillante Gedanken zu kommen. Wenn man Streit mit dem Kollegen hat, Schwierigkeiten mit dem Ehepartner, wenn man ein Problem wälzt, dass man nicht lösen kann. Dann sollte man wandern. Ich garantiere, dass einem beim Wandern Gedanken zufliegen, die zumindest zur Teillösung des Problems beitragen. Als letzten Zeugen rufe ich den Autor Robert Walser auf: „Ohne Spazieren wäre ich tot. Auf einem schönen und weitschweifigen Spaziergang fallen mir tausend brauchbare

nützliche Gedanken ein. Spazieren ist für mich nicht nur gesund und schön, sondern auch dienlich und nützlich. Ein Spaziergang fördert mich beruflich und macht mir zugleich auch noch persönlich Spaß und Freude.“ Robert Walser spricht von Spaziergängen, aber ist das denn Wandern? Walser hat ausgiebige Spaziergänge gemeint, der Deutsche Wanderverband nennt jeden Spaziergang, der über eine Stunde dauert, Wanderung. Das kann also jeder so nennen wie er will. Übrigens: Auch wenn man zu zweit oder mit einer Gruppe wandert, ist das gut fürs Oberstübchen, denn die Gespräche sind viel besser, wenn man zu Fuß geht. Vergleicht mal die Gespräche beim Wandern mit den Unterhaltungen am familiären Abendbrottisch oder den Theken-Talks mit Freunden. Substantiell, tiefschürfend sind nur die Wandergespräche. Und warum, fragen Sie, soll das alles im Hochgebirge nicht gehen? Weil es dort oft viel zu gefährlich ist, seinen Gedanken nachzuhängen. Ein Fehltritt und – auf Wiedersehen! 3. Lasst Fehler zu Wenn man sich mit seinen Gedanken auf Wanderschaft begibt, leidet beim Wandern zuweilen die Konzentration. Ich erlebe es immer wieder, dass bei größeren Wander-Events, wenn richtig viele Leute unterwegs und in aufregenden Gesprächen versunken sind, keiner mehr auf irgendetwas achtet – nicht auf Markierungen, nicht auf Flora und


Fauna am Wegesrand, nicht auf das unheilvolle Grollen eines heranziehenden Gewitters. In alpinen Gegenden ist es zumeist nicht sinnvoll, Fehler zu machen. Sich zu verlaufen, vom Weg abzukommen, Abkürzungen auszutesten. Das kann schlimme Unfälle zur Folge haben. Im schlechtesten Fall, auch wenn man nicht den Teufel an die Wand malen möchte, mit Todesfolge. Wenn ich mich hingegen im Mittelgebirge verlaufe, dann ist das im Maximalfall ärgerlich – oder, im Nachhinein, schon wieder amüsant. Ich bin mal mit einem Journalisten des Bayerischen Rundfunks im Saarland gewandert. Lustiges Projekt: Der BR-Journalist erobert mit ortskundigen Locals die höchsten Gipfel der 16 Bundesländer. Den Berg im Bremer Friedehorstpark (32,5 m) hatte er schon mit dem früheren Bremer Bürgermeister Henning Scherf bestiegen, wir wollten nun den Dollberg (695 m) im Norden des Saarlands bezwingen. Das haben wir auch tatsächlich geschafft, bei strömendem Regen, ohne Kletterseile und Sauerstoffflasche. Der Regen hat mich schon vor dem Gipfelsturm komplett durchnässt – klarer Anfängerfehler, mangelhafte Ausrüstung. Nun würde ich zwar jederzeit widersprechen, wenn jemand behauptet, es gäbe kein schlechtes Wanderwetter, sondern nur schlechte Kleidung. Bei Sonnenschein macht jede Tour mehr Spaß als bei Dauerregen. Aber sich mit einem Regenschirm bewaffnet (der sich wegen Sturmböen schnell selbst zerlegte)

und einer dünnen Sommer-Outdoorhose bekleidet in den März-Regen zu begeben, war schon ziemlich dämlich. Allerdings können Ausrüstungsmängel in alpinen Gegenden größere Konsequenzen haben. Im saarländischen Mittelgebirge war ich eben einfach nur nass. Und extrem schlecht gelaunt. Daher hatte ich nach unserem Gipfelsturm auch keine Lust, der Ursache des plötzlich auftretenden Mangels an unserer Rundweg-Markierung nachzugehen. Ungefähr müsste die Richtung stimmen, glaubte ich. Nur schnell noch um den Stausee rum, dann wären wir wieder am Auto. Leider entpuppte sich dieser Stausee als vielarmiges Monstrum mit fjordähnlichen Seitenarmen. Was für ein Fehler, nicht zur letzten Markierung zurückgegangen zu sein. Ich bin mit dem armen BR-Journalisten (der immerhin besser ausgerüstet war) elf zusätzliche Kilometer am Ufer des Nonnweiler Stausees auf einem todlangweiligen, geschotterten Weg marschiert. Nun ja, Fehler können passieren. Im Mittelgebirge sind sie einfach nur ärgerlich, im Hochgebirge mitunter gefährlich.

Weil Kinder die Lange­ weile noch nicht richtig genießen können, sollte man ihnen hin und wieder eine Leiter an die Felsen stellen (wie in der Sächsischen Schweiz) oder einen Tunnel hineinbohren (wie in der Westpfalz).

4. Habt die Gelassenheit, das rechte Maß zu finden „Lass uns doch noch eine kurze Runde drehen.“ „Sollen wir nicht ein wenig spazieren gehen?“ „Ich dreh mich noch mal im Bett um und bleibe zu Hause.“ Solche Sätze hört man im Hochgebirge eher selten. Wozu sollte man in der Höhe nur drei,

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Wanderwege unter Strom Wenn auf alpinen Wegen die Interessen von Bikern und Wanderern aufeinandertreffen, drohen die Wanderer den Kürzeren zu ziehen >> Gerhard Fitzthum Als ob die Konflikte zwischen Fußgängern und Mountainbikern nicht schon groß genug wären, rollt seit neuestem auch noch die Welle der Pedelecs auf die Alpen zu – und immer höher hinauf. Erweist sich spätestens jetzt die Idee der gleichberechtigten Raumansprüche von Wanderern und Bikern als Illusion?

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Ende Juni 2018: Der Weg vom Ofenpass zum Lago di Fraele gehört zu den Traumpfaden eines Alpenwanderers. Nach einem kurzen Steilstück geht es fast zwei Stunden lang nur noch leicht aufsteigend durch eine blumenreiche Almlandschaft, immer mit überwältigenden Panoramen und herrlich einsam. Wo sich der Blick ins völlig unverbaute Val Mora öffnet, setze ich mich in die Wiese, mache Brotzeit und strecke mich dann aus. Kurz vor dem Wegdämmern dringt plötzlich ein seltsames Stöhnen an mein Ohr. Ich schaue auf und traue meinen Augen nicht: Ein halbes Dutzend Mountainbiker kommt den steilen Bergweg herauf, grellbunt gekleidet, schwer atmend, die Räder geschultert. Eine Begegnung der dritten Art, die mehr Verwunderung erzeugt als Ärger. Den gibt es aber eine Stunde später, nach dem Abstieg in die Talsohle, wo der Wanderweg dem Wildbach zu folgen beginnt. Von hinten tauchen nämlich die nächsten Radler auf, wieder im Kollektiv, diesmal aber, weil es abwärts geht, nicht langsam und keuchend, sondern raumgreifend und ziemlich schnell. Kurz darauf kündigt sich eine weitere Gruppe durch rauschenden Splitt und Bremsenquietschen an. An den Rand des Weges zu treten ist keine Option, dafür ist er einfach zu schmal. Man muss in den Geröllhang ausweichen und warten, bis der Letzte vorbei ist. Bei der dritten Gruppe ist einem der Spaß dann vollends vergangen. Der einstmals stille Bergweg ist jetzt ein „Singletrail“, auf dem sich der Fußgänger wie ein Überbleibsel aus den Kindertagen des Alpentourismus vorkommt – ein Fossil, das den modernen Outdoorbetrieb behindert. Natürlich weiß ich, dass ich nicht alleine auf der Welt bin, sondern die enger werdenden Freizeiträume mit anderen teilen muss. Und natürlich kenne ich das ehrenwerte Patentrezept, das einem in solchen Situationen gern empfohlen wird: die Scheuklappen einfach mal ablegen, sich in Toleranz üben, die anderen verstehen und respektieren lernen. Dann würden sich die Probleme geradezu von selbst lösen. Darüber hinaus habe ich die frohe Botschaft vernommen, dass dem Wanderer auf Bergwegen stets Vorrang einzuräumen ist. So jedenfalls lautet die allgemeine Verhaltensregel, die selbst in Mountainbike-Magazinen zu finden ist – im Editorial zumindest.

Aber wie soll das gehen, wenn die Wege so schmal sind, dass man nicht ungestört aneinander vorbeikommt? Würde man die Parole vom Vortritt des Wanderers wirklich ernst nehmen, so müsste der Biker ständig absteigen, das Rad vom Weg hieven und warten, bis der Fußgänger vorbei ist. Oder er müsste so lange hinter ihm herschieben, bis der Weg mal wieder breit genug ist, um vorbeizufahren. Kaum ein Wanderer wäre kaltschnäuzig genug, das dem Pedalsportler zumuten zu wollen – es ist ja offensichtlich, dass die höhere Geschwindigkeit in der Natur seiner Sache liegt. Warum sollte man dem Biker den Spaß verderben, zumal man ja auch selber froh ist, wenn er wieder weg ist? Die Rede vom Vorrecht des Fußgängers ist folglich eine hübsche Leerformel, die niemandem hilft. Vortritt hat stets der Radler – kraft der Tatsache, dass er als Nutzer eines Fahrzeugs einfach schneller ist. Und mehr Platz braucht. Zurückstecken und zur Seite treten müssen diejenigen, für die die Wege einst angelegt wurden.

Was auf dem Spiel steht Freilich tun sie das nicht nur aus Nächstenliebe, sondern auch aus Gründen des Selbstschutzes – zwischen den beiden Gruppen besteht nun mal ein unaufhebbares Machtgefälle: Während der Fußgänger gleichsam nackt dasteht, weder Helm noch Schutzkleidung trägt, ist der sicherheitstechnisch aufgerüstete und durch Helm und Brille anonymisierte Mountainbiker auf einem HightechGerät unterwegs, auf dem er weit größere physikalische Energie entwickelt und seiner Umwelt auf diese Weise regelrecht gefährlich werden kann. Auf gemeinsam genutzten Wegen kann sich der Fußgänger aber auch deshalb als Verlierer fühlen, weil ihm weit mehr droht als gelegentliche Unterbrechungen: Auf dem Spiel steht nämlich das spezifische In-der-Welt-Sein des Wanderers, das sich von dem des Bergradlers deutlich unterscheidet. Was damit gemeint ist? Auch wenn mich ein einzelner Mountainbiker nicht im Geringsten stört, habe ich folgende unschöne Erfahrung gemacht: Schrecken mich in kürzerer Zeit zwei oder drei Mal schnell von hinten kommende Radler auf, so finde ich kaum noch zu meinem Zustand der Entspannung zurück, den ich zuvor hatte. Immer wieder ertappe ich mich nun dabei, dass ich mich beim kleinsten nicht eindeutig lokalisierbaren Ge-

Einer der ältesten und schönsten Fußwege im Südbündner Val di Campo. Heute begegnen einem hier vor allem Mountain­ biker – mit und ohne Motor. © G. Fitzthum

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Val Mora, ein Weg, zwei Geschwindigkeiten. Weg ist sie, die Aura der Entschleunigung! Was dagegen bleibt, sind Fahrrillen, wie auf dem Alpweg von Bormio (rechts). © G. Fitzthum

räusch nervös umdrehe. Statt mit allen Sinnen da und offen zu sein, verbrauche ich einen Teil meiner sensorischen Energie dafür, mich auf die nächste böse Überraschung vorzubereiten, die sich von hinten nähert. Der Tag ist dann gelaufen, die innere Windstille dahin, der Genuss des Loslassens verpufft. Auf dem Spiel steht also genau das, worum es dem Wanderer eigentlich geht: in einen Modus der Fortbewegung zu kommen, bei dem man für ein paar Stunden einer Welt entkommt, in welcher der Fußgänger – als schwächstes Glied in der Mobilitätskette – überall aufpassen muss, um nicht unter die Räder zu kommen.

Was Wanderer wollen Aber ist dies überhaupt das Hauptmotiv des Wanderers? Den Wanderer gibt es ja so wenig wie den Mountainbiker. Das weite Feld spannt sich vom durchtrainierten, leistungsorientierten Berggeher bis zum spazierengehenden Halbschuhtouristen. Der Erholungs-, Genuss- und Naturerlebnisaspekt spielt jedoch eine zunehmend größere Rolle, wie aktuelle Studien bestätigen. Auf welchem Leistungsniveau auch immer: Die meisten Wanderer und Berggeher wollen Paul Virilios „Land der Geschwindigkeit“ verlassen, mit offenen Sinnen in die Natur eintauchen, jenes entschleunigte Inder-Welt-Sein erleben, das aus den öffentlichen Räumen des 21. Jahrhunderts weitestgehend verschwunden ist.

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Damit es zu diesem entspannenden Effekt kommen kann, braucht es natürlich bestimmte Rahmenbedingungen – jene Rahmenbedingungen, die der Gebirgsraum im Unterschied zum Flachland eben noch zu erfüllen schien, weil er abgesehen von einigen Tummelplätzen nicht von Lärm und Hektik und vom Beschleunigungsdruck der modernen Welt beherrscht wird. Die unzugängliche Topografie hat die Alpen ja schon früh zum Fluchtort vor den Zumutungen der technischen Zivilisation werden lassen, zu einer Gegenwelt, die dem Menschen eine unmittelbare Beziehung zur Natur und damit zu sich selbst ermöglicht. Kurz: Auch wenn er im Gebirge und damit auf anspruchsvolleren Wegen unterwegs ist, geht es dem Wanderer um einen Ausstieg aus der Welt der Auseinandersetzung und der Anspannung. Während für den Mountainbiker Adrenalin das Lebens- und Überlebenselixir ist (und sein muss, weil er sonst folgenschwere Stürze riskiert), braucht der alpine Fußgänger nichts weniger als dieses oder ein anderes Stresshormon. Mit dem Radverkehr wird ihm genau die innere Unruhe aufgedrängt, vor der er in die Berge floh. Solche Erfahrungstatsachen zeigen, dass sich im diskutierten Konfliktfall keine gleichberechtigten Freizeitgruppen gegenüberstehen, deren grundverschiedene Erlebnisansprüche sich mit Akten der gegenseitigen Rücksichtnahme ausgleichen ließen. Verzichtet man darauf, Wanderwege und Trails säuberlich voneinander zu tren-


nen, so ist die logische Folge ein Verdrängungsmechanismus, den man überall beobachten kann, wo eine größere Anzahl von Mountainbikern in eine Wanderregion drängt. In der Val Mora zum Beispiel. Durch die führt nämlich eine mehrtägige MTB-Alpentransversale, deren Routendaten man sich im Internet herunterladen und die man bei Veranstaltern buchen kann. Obwohl das zum Naturpark Val Müstair gehörende Tal eine höchst attraktive Wandergegend ist, tauchen hier in den letzten Jahren immer weniger Fußgänger auf. Das gilt auch für die anderen Fremdenverkehrsregionen Graubündens, die sich (nach den drastischen Einbrüchen im Wintersportgeschäft) als BikeMekka positionieren, den Rad-Bergauftransport per Seilbahn anbieten und die Radler explizit auf Singletrails einladen.

Wohin ausweichen? Mit der seit Jahren zu beobachtenden Fokussierung auf die Zielgruppe der Radsportler passiert in den Alpentälern genau das, was zuvor an den deutschen Flussläufen passiert ist, wo die einstmals kleinen Wege und Treidelpfade zu asphaltierten Rollbahnen aufgeweitet wurden, auf denen nun Radlerkarawanen unterwegs sind. In beiden Fällen hat die Vertreibung der Fußgänger ihre Ursache nicht darin, dass Radler per se ignorant und rücksichtslos sind, sondern dass sie eben Radler sind und damit eine Mobilitätsform pflegen, die mit der des Wanderers unverträglich ist.

Die aktuelle Diskussion ist also auf dem Holzweg, wenn sie zu harmonisieren versucht, was nicht zu harmonisieren ist. Sie beruhigt sich mit der aufklärerischen Egalitätsfiktion, die nicht wahrhaben will, dass einseitige technische Zurüstungen das Gleichheitsideal unterlaufen. Im Alpenraum allen Nutzergruppen die gleichen Rechte zugestehen zu wollen, führt nicht zu einem Interessenausgleich, sondern zementiert eine Schieflage – den Vorrang des raumgreifenden gerätegestützten Sports vor der stillen Erholung. Die Idee von „Shared Trails“ mag gut gemeint sein, aber sie endet mit der Vertreibung der Schwächeren. Für den Wanderer hat die Ausschilderung solcher Trassen des Mischverkehrs nur genau einen Vorteil: Er weiß jetzt, wo er nicht mehr hingehen muss. Warum diese Entwicklung nicht hingenommen werden darf? Nun, sehr einfach: Wohin sollte der Fußgänger heute noch ausweichen? Ein Wesen, das in 99,9 Prozent seiner Geschichte einen Schritt vor den anderen setzend in Wald und Flur unterwegs war, ist nun ausgerechnet dort, wo man noch von Natur sprechen kann, in eine Verkehrswelt geraten. Die Forderung, Räume für die freizuhalten, für die das alpine Wegenetz einmal angelegt wurde, ist sonach kein Luxusanspruch einer Elite, die nicht zu teilen bereit ist, sondern der Versuch, die allerletzten Reservate für eine Bewegungsform zu verteidigen, die uns Menschen gemein ist: den aufrechten Gang.

An Wegen, die für Fahrzeuge konzipiert wurden, hat kaum ein Mountainbiker Interesse. Am reizvollsten sind schmale Bergwege. Das sorgt bei Wanderern für Begegnungen der dritten Art, die im Idealfall friedlich abgehen. © G .Fitzthum, DAV/ Foto: Ch. Pfanzelt

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