Smart City Die Stadt der Zukunft spricht mit uns
10 | 1. MÄRZ 2013
DAS WÖCHENTLICHE WISSENSMAGAZIN
Findet den Dieb Künstliche DNA sichert unser Hab und Gut
Spielt mit mir Die lange Kindheit machte den Menschen kreativ
Löst das Rätsel
Ich Schwerpunkt Unsere Persönlichkeit ist nur eine Illusion
Warum das dennoch gut für uns ist
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Wie konnte unter einer kalten Sonne Leben entstehen?
Die Aufschneider OP-Roboter vor Gericht
15 | 5. APRIL 2013
DIE SPRACHE DES KÖRPERS Was wir sagen, ohne zu reden
Verrat in der Wolke Der Kampf um unsere Daten ist längst verloren
Im Reich des Todes Das Dasein nach dem Herzstillstand
Deutschland € 4,50 | Österreich: € 5,00 Schweiz: SFr 7,80 | Luxemburg: € 5,20
DAS WÖCHENTLICHE WISSENSMAGAZIN
Aufbruch nach Amerika Sibirien, Ostasien, Europa – woher kamen die Indianer?
Angelina Jolies Entscheidung Brauchen wir mehr Gentests?
21 | 17. MAI 2013
DAS WÖCHENTLICHE WISSENSMAGAZIN
Serie Mythos Protein
Neue Heimat
Der Star in dir Mit simplen Tests finden Sie verborgene Talente
Die Kraft der Unordnung
Was fehlt uns denn?
Eine alte Theorie erneuert die Physik
Das Smartphone soll den Arzt ersetzen
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Wie Fischzüchter das Meer nachbauen
DAS WÖCHENTLICHE WISSENSMAGAZIN
52 | 21. DEZEMBER 2012
WEIHNACHTS-SPEZIAL
Fröhliche Wissenschaft Essen mit allen Sinnen Flöhe in der Manege Glatteis im Labor Kampf mit der Kaffeetasse Trickfilme der Steinzeit Kriegsschiffe aus Eis Verbotene Liebe unter Tieren Das Doppelleben der Mistel Die Erfindung des Klopapiers Architektur der Schneeflocke Das schwierigste Rätsel der Welt
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ERWEITERTE DEUTSCHE AUSGABE
Alzheimer Die Pharmabranche muss radikal umdenken
14 | 28. MÄRZ 2013
Die Dummheit der Klugen Warum intelligente Menschen so viel Unheil anrichten
Reality-Show im All Fernsehgelder sollen die erste Marskolonie finanzieren
Wegen Durchfall geschlossen Die unheimliche Erfolgsgeschichte der gefährlichen Noroviren
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DAS WÖCHENTLICHE WISSENSMAGAZIN
Drohnen Die überschätzte Waffe
12 | 15. MÄRZ 2013
DAS WÖCHENTLICHE WISSENSMAGAZIN
SCHWERPUNKT
Abenteuer Körper
Deutschland € 4,50 Österreich: € 5,00 Schweiz: SFr 7,80 Luxemburg: € 5,20
Eine wundersame Reise durch uns selbst
Widerstand ist zwecklos Plasma macht Flugzeuge und Autos aerodynamischer
Befreit die Radikale Antioxidantien schützen nicht vor Krebs – im Gegenteil
SCHWERPUNKT
Bis zum Platzen Ein gesunder Magen kennt seine Grenzen. Zum Gl端ck. Er kann auch explodieren. Eine nicht ganz appetitliche Reise in unser Inneres.
38 | NewScientist | 12
SCHWERPUNKT
Abenteuer Körper Was an uns Menschen ist eigentlich so besonders? Unser Gehirn, heißt es oft und zu Recht: Ohne seine Klugheit hätten wir es nie so weit gebracht. Was aber ist mit unserem Körper? Er findet selten Erwähnung. Dabei ist unser Organismus im Vergleich mit dem anderer Tiere wahrhaft ungewöhnlich: fast unbehaart, aufrecht gehend und voller ungewöhnlicher Eigenschaften, die mit unserer Intelligenz zusammenhängen – etwa einem großen Kehlkopf und einem riesigen Schädel. Aber das ist längst nicht alles. Auf den folgenden 21 Seiten nehmen wir Sie mit auf eine Reise durch unseren Körper. Dabei werden Sie Dinge erfahren, die Sie nicht einmal geahnt haben.
Fotografie: alexandfelix aus der Serie „13 Queens“ Illustration: Malte Knaack für New Scientist 12 | NewScientist | 27
TITEL
Bittersüßes Vergessen
SIMON DANAHER
Demenz Wenn Zucker den Körper überflutet, macht er krank. Vielleicht sogar viel mehr als gedacht: Ist Alzheimer eine Form von Diabetes?
26 | NewScientist | 47
51 D
ie Ratten von Suzanne de la Monte waren völlig verwirrt. Die Tiere sollten durch ein Wasserlabyrinth schwimmen, das häufig für Gedächtnistests an Labornagern benutzt wird. Aber die Tiere wussten überhaupt nicht mehr, wo sie waren oder wie sie auf die verborgene Rettungsplattform kommen sollten. Stattdessen ruderten sie ziellos herum. „Sie waren dement. Sie konnten nichts lernen und sich an nichts erinnern“, sagt de la Monte, Neuropathologin an der Brown University in Providence, Rhode Island. Als die Forscherin schließlich die Gehirne der Ratten untersuchte, blickte sie auf ein Trümmerfeld: Die Hirnregionen, die für das Gedächtnis verantwortlich sind, waren übersät mit hellen, rosafarbenen Ablagerungen wie Griffe an einer Kletterwand. Viele Neuronen waren zum Bersten mit giftigen Proteinen gefüllt, kollabiert oder in Auflösung begriffen. Die Verbin-
dungen zwischen den Nervenzellen verschwanden: Veränderungen wie sie für eine Alzheimer-Erkrankung typisch sind. Hier traten die Schäden allerdings unter ungewöhnlichen Umständen auf. Denn die Ratten waren nicht alt. De la Monte hatte nur die Art und Weise gestört, wie das Gehirn der Tiere auf Insulin reagiert. Das Hormon Insulin dient vor allem dazu, den Blutzuckerspiegel zu kontrollieren. Es spielt aber zugleich eine entscheidende Rolle in der Signalübertragung im Gehirn. De la Monte hatte den Weg des Insulins zu den Gehirnzellen der Ratten unterbrochen. Das Resultat: Demenz. Eine geringe Empfindlichkeit gegenüber Insulin ist typisch für Diabetes vom Typ 2, auch Alterszucker genannt (zu den Diabetes-Varianten siehe unten). Vor allem Leber-, Fett- und Muskelzellen reagieren dann nicht mehr richtig auf das Hormon. Eine Reihe von Forschungsergebnissen, die denen von de la Monte ähneln, haben
Drei Varianten des Diabetes Typ 1: Rund fünf Prozent aller Menschen, die an der Zuckerkrankheit leiden, haben Typ-1Diabetes. Weil er meist bei Kindern oder Jugendlichen auftritt, spricht man auch vom jugendlichen Diabetes. Eine Autoimmunreaktion zerstört die insulinproduzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse, der Körper kann den Blutzuckerspiegel nicht regulieren. Seit Insulin biotechnisch hergestellt wird, führen die meisten Typ-1-Diabetiker ein normales Leben. Typ 2: Die häufigste Form von Diabetes entsteht entweder, weil eine altersschwache Bauchspeicheldrüse nicht mehr genug Insulin produziert. Oder weil die Zellen das Hormon ignorieren und keinen Zucker aus dem
Blut schöpfen. Insulinresistenz führt zu hohen Insulinkonzentrationen und einem hohen Blutzuckerspiegel – und erhöht das Risiko für Herzerkrankungen, Schlaganfälle, Erblindung, Nervenschäden und Amputationen. Übergewicht, vor allem Bauchfett, steigert das Risiko für Typ-2-Diabetes. Typ 3: Die Theorie eines dritten Typs stammt von der Medizinerin Suzanne de la Monte. Gemeinsam mit einer wachsenden Zahl anderer Wissenschaftler ist sie überzeugt, dass Alzheimer und Diabetes eng zusammenhängen. Ihrer Theorie zufolge entsteht die Demenz, wenn Gehirngewebe resistent gegenüber Insulin wird. Die Form entspricht einem Typ-2Diabetes, der vor allem das Gehirn betrifft.
Prozent
der Deutschen sind übergewichtig und haben ein erhöhtes Diabetesrisiko. Wissenschaftler inzwischen auf die Idee gebracht, dass Alzheimer eine andere Form von Diabetes sein könnte – eine, bei der statt der Leber oder der Muskeln eben das Gehirn nicht mehr auf Insulin reagiert. Manche Forscher nennen die Krankheit sogar schon Typ-3-Diabetes. Falls sie richtigliegen – und es sieht zunehmend danach aus –, wäre das besorgniserregend. Denn vor allem kalorienreiche Nahrungsmittel dämpfen die Reaktion des Körpers auf Insulin. Jeder Burger und jede Portion Pommes frites wären dann nicht nur Gift für das Körpergewebe, sondern auch für das menschliche Gehirn. Typ-2-Diabetiker, die ja bereits eine Insulinresistenz entwickelt haben, müssten besonders gefährdet sein. „Wenn sich die Epidemie des Typ-2-Diabetes mit dieser Geschwindigkeit weiterentwickelt, folgt ihr wahrscheinlich eine Epidemie an Demenzerkrankungen“, sagt Ewan McNay von der University at Albany in New York. „Das wäre eine gewaltige Herausforderung für die Gesundheits- und Sozialsysteme.“ Wer sein Risiko senken will, an Demenz zu erkranken, für den könnten eine vernünftige Ernährung und regelmäßige Bewegung künftig also noch wichtiger werden. Zugleich könnte es möglich sein, gewisse kognitive Beeinträchtigungen von Alzheimer-Kranken wieder rückgängig zu machen oder den geistigen Niedergang zumindest zu verzögern – indem die Forscher die zugrunde liegende Insulinresistenz ins Visier nehmen. So ließen sich möglicherweise neue Behandlungswege 47 | NewScientist | 27
TITEL
1,3
Millionen
Menschen in Deutschland sind bereits an Alzheimer erkrankt. für eine Krankheit beschreiten, die sich bis jetzt jeder Therapie entzieht. Ein neuer Erklärungsansatz für die Alzheimer-Krankheit kann gar nicht früh genug kommen: Rund 1,3 Millionen Erwachsene in Deutschland leiden an der Erkrankung; im Jahr 2050 werden es nach Schätzungen des Bundesfamilienministeriums doppelt so viele sein. Weltweit sind 36 Millionen Menschen erkrankt, und es werden allein schon deshalb immer mehr, weil die Gesamtbevölkerung wächst. „Wir suchen verzweifelt nach einer wirkungsvollen Therapie“, sagt John Morris, Neurologe an der Washington University School of Medicine in St. Louis, der sich auf die Alzheimer-Demenz spezialisiert hat.
Rätselhafte Ablagerungen Bislang gelten sonderbare Eiweißablagerungen als Hauptursache der Alzheimer-Erkrankung. Ihr Entdecker und Namensgeber Alois Alzheimer, ein deutscher Psychiater und Neuropathologe, beschrieb sie erstmals vor mehr als hundert Jahren. Er entdeckte im Gehirn verstorbener Patienten scheinbar normale Gehirnzellen, die mit seltsamen faserigen Strukturen gefüllt waren; diese Fibrillen hatten sich in Bereichen, in denen die Krankheit weit fortgeschritten war, miteinander verbunden und an die Oberfläche der Zelle bewegt, wo sie sich ineinander verknäulten. „Schließlich zerfallen Zellkern und Zelle, und nur ein Knäuel aus Fibrillen erinnert an die Stelle, die vorher von einer Ganglienzelle eingenommen worden war“, schrieb er. Forscher verstehen bis heute nicht genau, wie diese sogenannten 28 | NewScientist | 47
Beta-Amyloid-Ablagerungen entstehen. Beta-Amyloid ist Teil eines größeren Eiweißes, das für die Bildung von Zellmembranen im Gehirn und in anderen Körperregionen wichtig ist. Vermutlich besitzt es noch weitere Funktionen – es kann Mikroben bekämpfen, Cholesterin transportieren und die Aktivität bestimmter Gene regulieren. Warum sich das Protein zu den tödlichen Ablagerungen, Plaques genannt, zusammenklumpt, ist noch immer ein Rätsel. Falls die Diabetes-These stimmt, könnte eine Insulinresistenz der Auslöser sein. Der neue Fokus ergibt sich nicht zuletzt aus neuen Erkenntnissen über die Rolle des Insulins im Gehirn. Bis vor kurzem galt das Hormon vornehmlich als Blutzuckerregulator, der Muskel-, Leberund Fettzellen signalisiert, wann sie Zucker aus dem Blut ziehen müssen, um diesen entweder als Energie zu verwerten oder als Fett zu speichern. Inzwischen ist klar, dass Insulin auch im Kopf ein Spezialist für Multitasking ist: Es hilft Nervenzellen – vor allem in Hippocampus und frontalen Hirnlappen –, Energie in Form von Glukose aufzunehmen, und es reguliert Botenstoffe, die für Gedächtnis und Lernen essentiell sind. Darüber hinaus fördert es die Plastizität der Nervenzellen – so nennen Forscher die Fähigkeit von Neuronen, ihre Form zu verändern, neue Verbindungen zu knüpfen und Kontakte zu verstärken. Nicht zuletzt ist Insulin wichtig für Funktion und Wachstum der Blutgefäße. Eine verminderte Konzentration des Hormons im Gehirn kann die geistige Leistung sofort beeinträchtigen. Vor allem das räumliche Gedächtnis scheint zu leiden, wenn Forscher die Insulinaufnahme im Hippocampus unterbrechen; die Wirkung entspricht Psychiater McNay zufolge beinahe der von Morphium. Im umgekehrten Fall kann ein Anstieg der Insulin-
Wo war noch gleich die Butter?
konzentration die Funktionsfähigkeit des Gehirns verbessern. „Das ist evolutionär auch sinnvoll“, erläutert McNay. Wenn sich die Vorfahren des Menschen in der Savanne den Bauch mit Beeren vollschlugen, signalisierte der Anstieg von Glukose und Insulin im Blut: „Erinnere dich an diese Stelle, die ist wichtig.“ Heute wissen Ärzte längst: Prozesse, die sich einst als sinnvolle Überlebensstrategien entwickelt haben, kehren sich in der modernen Welt nun ins Negative. Fet-
PHILIPP WÜLFING
Futter fürs Gedächtnis
te und zuckerreiche Nahrungsmittel lassen den Insulinspiegel im Stakkato in die Höhe schnellen, so lange, bis er gar nicht mehr sinkt. Muskel-, Leber- und Fettzellen sind irgendwann derart überreizt, dass sie die Folgschaft verweigern und keine Glukose und kein Fett mehr aus dem Blut aufnehmen. Die Folge: Die Bauchspeicheldrüse leistet verzweifelt Überstunden, um mehr Insulin zu produzieren und den Blutzucker unter Kontrolle zu bekommen. Die Konzentration beider Substanzen
Manche Lebensmittel sind schlecht für unser Gehirn. Vor allem Nahrung, die viele gesättigte Fettsäuren und Zucker enthält oder einen hohen sogenannten glykämischen Index hat, erzeugt schnell einen sehr hohen Insulinspiegel – mit bösen Folgen. Eine Studie der University of California in Los Angeles hat gezeigt: Wenn sich Ratten von Fruktose ernähren, entwickeln sie schon nach sechs Wochen Lern- und Gedächtnisprobleme, ihr Gehirngewebe reagiert kaum noch auf Insulin. Der meist aus Mais gewonnene Sirup kommt vor allem in Softdrinks, Gewürzmitteln und vielen industriell stark verarbeiteten Nahrungsmitteln vor. Andere Nahrung könnte dagegen einen gewissen Schutz bieten. So hatten Ratten,
die zusätzlich zum zuckerhaltigen Wasser Leinsamenöl zu sich nahmen, keine kognitiven Probleme (Journal of Physiology, doi.org/jkt). Ähnliche Fettsäuren wie in dem Öl finden sich auch in fettem Fisch. Spekuliert wird noch darüber, ob bestimmte Pflanzenstoffe das Demenzrisiko senken, beispielsweise Flavonoide, die sich in Tee, Rotwein und dunkler Schokolade befinden. Sie könnten erklären, warum die Mittelmeerdiät zu weniger Demenz und AlzheimerErkrankungen führt. Sie besteht aus viel Fisch, pflanzlichem Öl, Gemüse und Früchten mit einem niedrigen glykämischen Index sowie moderaten Mengen Rotwein. Verarbeitete Lebensmittel spielen kaum eine Rolle (Current Alzheimer Research, Band 8, Seite 520).
steigt und steigt. „Das ist, als ob Sie an eine Tür klopfen, und die Person hinter der Tür reagiert nicht. Also klopfen Sie lauter und lauter“, sagt die Neuropathologin de la Monte. Die Bauchspeicheldrüse kann mit dem grenzenlosen Bedarf irgendwann nicht Schritt halten und stellt die Hormonproduktion ein. Menschen mit Typ-2Diabetes haben deshalb einen abnorm niedrigen Insulinspiegel.
Prozess zur Alzheimer-Demenz. Das viele Fett und der viele Zucker in westlichem Essen überwältigen das Gehirn und versetzen es in Daueralarm – ein Zustand, der nicht ewig währen kann. Entweder parallel zum übrigen Körper oder unabhängig davon beginnt das Gehirn dann, seine Insulinsignalketten abzuschalten. Das beeinträchtigt zuerst die Fähigkeit zu denken und sich an einzelne Dinge zu erinnern. Später werden die Neuronen irreversibel geschädigt. „Ich glaube, es beginnt mit einer Insulinresistenz“, sagt de la Monte. Ihre Versuche mit dementen Ratten gehören zu den ersten Experimenten, die diese Verbindung herstellen konnten. Damals interessierte de la Monte sich für die Auswirkung von Alkohol auf das Gehirn. Alkohol verringert bekanntermaßen die Zahl der Insulinrezeptoren. Um die Konsequenzen zu erforschen, eliminierte sie mit einer Chemikalie alle Gehirnzellen mit Insulinrezepto-
Erbe der Vergangenheit Übergewicht verstärkt das Problem offenbar noch – 80 Prozent der Menschen mit Typ-2-Diabetes sind zu schwer oder fettleibig. Obwohl der Mechanismus noch unklar ist, scheint Fettleibigkeit aus Leberund Fettzellen Moleküle freizusetzen, die für Entzündungen und Stoffwechselstress typisch sind; dieser Prozess unterbricht den Signalweg für Insulin und fördert die Insulinresistenz. Wenn McNay und de la Monte richtigliegen, führt ein ähnlicher
47 | NewScientist | 29
TITEL
90000
Euro
kostet die Betreuung eines AlzheimerPatienten – pro Jahr. ren. Das Ergebnis ähnelte der AlzheimerErkrankung, einschließlich der tödlichen Beta-Amyloid-Plaques.
Auch Ratten ohne Orientierung Die Entdeckung von de la Monte ist nur eine von vielen, die den Zusammenhang zwischen einem unterbrochenen Insulinsignalweg und den Symptomen der Alzheimer-Erkrankung bestätigen. William Klein von der Northwestern University in Evanston, Illinois, hat etwa Folgendes herausgefunden: Löst man bei Kaninchen Diabetes aus, erzeugt man auch Alzheimer-ähnliche Veränderungen im Gehirn
Tickende Zeitbombe
7
Sollte Alzheimer durch einen ähnlichen Mechanismus entstehen wie Diabetes, wird die Häufigkeit dieser Erkrankung eine ähnliche Entwicklung nehmen.
6 5 4 3 2 1 0 1980
* (in Prozent der Gesamtbevölkerung) 1990
30 | NewScientist | 47
2000
2010
QUELLE: US CENTERS FOR DISEASE CONTROL AND PREVENTION
US-Bürger mit diagnostiziertem Diabetes *
Viel Zucker und viel Fett in der Ernährung führen zu einem steilen Anstieg der Typ-2-Diabetes-Fälle.
der Tiere – unter anderem einen deutlichen Anstieg der Konzentration von BetaAmyloid (The Journal of Alzheimer’s Disease, doi.org/jkr). McNay und die Verhaltensforscherin Suzanne Craft von der University of Washington in Seattle haben zwölf Monate lang Ratten mit fettreicher Nahrung gefüttert. Das viele Fett zerstörte die Fähigkeit der Tiere, ihren Insulinhaushalt zu regulieren. Die Folge: Diabetes. Wieder ließen sich parallel zu diesen Veränderungen hohe Beta-Amyloid-Konzentrationen im Gehirn nachweisen. Auch diese Ratten hatten Probleme, sich im Labyrinth zurechtzufinden, und erschienen „Alzheimer-Patienten sehr ähnlich“, erklärt McNay. Klar können Tierversuche nur zum Teil über eine menschliche Krankheit Auskunft geben. Wie aber ein fast frankensteinartiges Experiment gezeigt hat, ist das Gehirn von Alzheimer-Patienten tatsächlich unempfindlich für Insulin – sogar über den Tod hinaus. Der Psychiater Steven Arnold von der University of Pennsylvania hat Hirngewebeproben von verstorbenen Alzheimer-Kranken und Menschen ohne Demenz in Insulin getaucht. Das Gehirn der Verstorbenen ohne Erkrankung schien regelrecht wiederbelebt: Das Hormon löste hier eine Kaskade chemischer Reaktionen aus, alles Anzeichen für synaptische Aktivität. Im Gegensatz dazu reagierten die Neuronen der AlzheimerPatienten fast gar nicht (Journal of Clinical Investigations, doi.org/jkj). „Die Insulinsignalkette war lahmgelegt“, sagt Arnold. Die Wissenschaftler verstehen noch nicht genau, warum ein Abbruch in der
Habe ich eigentlich den Gasherd ausgestellt?
Insulinsignalkette zu Schäden führt, die mit Alzheimer in Verbindung stehen, die Bildung von Plaques etwa. Die aktuelle Forschung lässt aber viele, vielleicht miteinander verknüpfte Mechanismen vermuten (siehe Abbildung „Giftiger Kreislauf“, Seite 32). Eine wichtige Erkenntnis: Sowohl Insulin als auch Beta-Amyloid werden von dem gleichen Enzym abgebaut. Unter normalen Umständen kann es erfolgreich mit beiden fertig werden, aber wenn es zu viel Insulin zerlegen muss, bleibt immer mehr Beta-Amyloid übrig. Es häuft sich an und führt zu den Ablagerungen, die Gehirnzellen töten können (PNAS, doi.org/crvzht). Dieses Problem verschärft sich, denn das Beta-Amyloid hindert die Nervenzellen daran, auf das Insulin zu antworten. Als Neurobiologe Klein Schnitte von Rattenneuronen untersuchte, konnte er
8
Prozent
PHILIPP WÜLFING
der Deutschen sind an Diabetes erkrankt und haben ein erhöhtes Risiko für Alzheimer.
sehen: Das Protein vergiftet jene Bereiche an den Enden der Nervenzellen, die von Insulinrezeptoren bedeckt sind. Es verhindert auch die Neubildung von Rezeptoren (FASEB Journal, doi.org/d48hw6). Die Fähigkeit zu denken vermindert sich in dieser Situation sofort. Aber damit nicht genug: Die Insulinresistenz signalisiert den Zellen, noch mehr Beta-Amyloid zu produzieren, das dann noch mehr Gehirnzellen schädigt. „So entsteht ein Teufelskreis“, sagt Klein. Die Lage wird schlimmer, wenn der Bauchspeicheldrüse die Puste ausgeht und der Hormonspiegel im Gehirn wieder sinkt. Ein moderater Insulinspiegel schützt, weil er die Bindungsstellen für das Beta-Amyloid auf den Gehirnzellen blockiert. „Aber wenn Menschen altern oder Diabetes haben, wird der Insulinsignalweg im Gehirn schwächer und bie-
tet möglicherweise dem Beta-AmyloidToxin eine Chance, mit der Zerstörung der Neuronen zu beginnen“, so Klein. Diese Forschung steht noch ganz am Anfang, längst ist nicht jeder Aspekt des Rätsels geklärt. Klein zufolge könnte die Insulinresistenz im Gehirn nur einer von sehr vielen Auslösern für die Bildung des Beta-Amyloids sein; er sucht deshalb nach weiteren Verdächtigen. Verhaltensforscherin Craft, eine Vorreiterin der Forschung über Insulin und Alzheimer, glaubt ebenfalls, dass viele Wege zu dieser Erkrankung führen. Schließlich haben viele Leute mit Alzheimer keinen voll ausgeprägten Typ-2-Diabetes.
Immer mehr Alzheimer-Kranke? Dennoch ist eine Warnung angebracht: Der Konsum von Fast Food treibt die Zahl der Typ-2-Diabetes-Fälle hoch (siehe Gra-
fik links). Allein in Deutschland haben acht Prozent der Erwachsenen, also sechs Millionen Bürger, schon einmal Probleme mit dem Blutzucker gehabt, die Tendenz ist steigend. Wie viele Menschen schon erste Symptome einer Insulinresistenz haben (einen „Prädiabetes“), wird derzeit untersucht. Und wenn Alzheimer und Typ-2-Diabetes durch einen ähnlichen Mechanismus entstehen, wird die Zahl der Demenzkranken zunehmen, wenn diese Menschen altern – selbst wenn sie nicht voll an Diabetes erkranken. Außerdem könnte schon schlechte Ernährung zu degenerativen Veränderungen im Gehirn führen, zumindest lässt eine aktuelle Studie von Craft dies vermuten: Einen Monat lang aßen sich Freiwillige ohne Diabetes an Nahrungsmitteln satt, die reich an gesättigten Fetten und Zucker waren; die Kontrollgruppe ernähr47 | NewScientist | 31
Sie hat es geglaubt: Strom bringt das Sehvermögen zurück!
46 | NewScientist | 14
OVERBECK’S REJUVENATOR LTD., SYDNEY, 1936
REPORT
Für immer jung Elektromedizin In den zwanziger Jahren wurde eine bizarre Therapie gegen das Altern als Sensation gehandelt. Könnte sie bald ein Comeback feiern?
J
azz schallt aus allen Radios, eine neue Generation schockt die Mittelschicht mit einem wilden Leben aus Tanz und Cocktailpartys. Es sind die zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Eine goldene Ära – aber auch eine, in der sich immer mehr Menschen fragen, wie es weitergehen soll. Was wird aus dem ganzen jugendlichen Lebensgefühl, wenn es schwerer fällt, mit dem Schritt zu halten, was es dem Körper abfordert? Otto Overbeck behauptete, eine Lösung parat zu haben: Ein alternder Mensch brauche sich nur an seinen Rejuvenator anzuschließen, eine Batterie einzulegen, und schon durchsurre ihn ein elektrischer Strom, der ihm langsam, aber sicher seine jugendliche Lebenskraft zurückgeben würde. Overbeck zufolge konnte dieses Gerät wahre Wunder vollbringen. Es sollte sämtliche Wehwehchen und Abnutzungserscheinungen des Alters beseitigen; Glatzköpfen zu neuem Flaum auf dem Kopf verhelfen und die lästigen grauen Strähnen verschwinden lassen. Seinen Werbebroschüren zufolge linderte der Rejuvenator sogar ernsthafte gesundheitliche Beschwerden: Wer die Elektroden an die Augenlider anlegte, der gewann angeblich verlorenes Sehvermögen zurück, Stromstöße an Kopf oder Rücken sollten
chronische Schmerzen heilen. Bald flatterten Overbeck aus aller Welt Bestellungen für sein wundersames Gerät ins Haus. In Medizinerkreisen allerdings war die Begeisterung nicht ganz so groß. Genau genommen zog er seitens der Ärzteschaft nichts als Zorn auf sich. Tatsächlich klingt die Geschichte vom Rejuvenator ganz nach den Machenschaften eines skrupellosen Quacksalbers – ebenso wahr ist aber, dass Overbecks Erfindung aktuell eine Renaissance erlebt: Forscher arbeiten daran, erstaunlich ähnliche Geräte zur Heilung der verschiedensten Erkrankungen einzusetzen – zum Beispiel von Depressionen und Demenz.
Erfindernatur sucht Jungbrunnen Otto Overbeck kam 1860 in einer Familie gemischter europäischer Herkunft zur Welt, die kurz zuvor nach England gezogen war. Er studierte Chemie am University College in London und wurde dann Direktor für Wissenschaft bei einer Brauerei in Grimsby. Im Grunde seines Herzens scheint er aber doch eher Erfinder und Unternehmer gewesen zu sein: Immer wieder erhielt er Patente für innovative Erfindungen, zum Beispiel für Maschinen zum Bierbrauen, einen Nährextrakt auf Hefebasis – ähnlich der beliebten englischen
Hefe-Würzpaste Marmite – oder eine Methode zum Entalkoholisieren von Bier. Und ihn faszinierte eben das Geheimnis eines langen Lebens und das noch größere Geheimnis, ob es ein Elixier gibt, das das jugendliche Leben verlängern kann. Schon mit Ende zwanzig kleidete Overbeck diese uralte Sehnsucht der Menschheit in Reime: „Nur ein Tropfen noch – und was seh’ ich da: Jugendliche Gestalt! Ein vergess’ner Traum wird wahr: Wie Dunst und Wolken dem Raureif des Alters entsteigen, froh und gesund wie ein Kind sein – ein Sommerreigen. Lasst euch vom Rosenduft berauschen! Wir können das Alter gegen ew’ge Jugend eintauschen.“ Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Suche nach Methoden, Jugend und Vitalität wiederzugewinnen, zu einer Manie geworden. Damals warb der österreichische Physiologe Eugen Steinach für seine Steinach-Operation: eine einseitige Unterbindung der Samenleiter, durch die ältere Männer sich angeblich wieder verjüngen sollten. Mit dieser Methode wollte 14 | NewScientist | 47
REPORT
Steinach die Spermienproduktion verringern und gleichzeitig den Spiegel jenes Hormons in die Höhe treiben, das später den Namen Testosteron erhielt. Dadurch würden die Herren der Schöpfung seiner Meinung nach wieder mehr Energie gewinnen, langsamer altern und ihre Libido zu neuem Leben erwecken können. Der Dichter William Butler Yeats war einer, der sich dieser Operation unterzog; im Alter von 69 Jahren. „Das hat meine kreativen Kräfte neu belebt“, schrieb er daraufhin, „auch mein sexuelles Verlangen ist wieder erwacht. Und das wird mir aller Wahrscheinlichkeit nach so lange erhalten bleiben, wie ich lebe.“ Der russische Chirurg Serge Voronoff ging mit demselben Ziel einen anderen Weg: Er wurde dadurch berühmt, dass er alten Männern Gewebe aus Affenhoden implantierte, um ihre Vitalität und Manneskraft wiederherzustellen und ihnen ein Gefühl jugendlicher Spannkraft zu schenken. Und er wurde damit reich.
Mediziner unter Strom Otto Overbeck schlug Anfang der zwanziger Jahre eine andere Richtung ein. Er litt an einer chronischen Nierenerkrankung, die – wie James Stark, Medizinhistoriker an der University of Leeds, berichtet – auf konventionelle Behandlungsmethoden nicht ansprach. Overbeck kam auf die Idee, seinen Körper mit elektrischen Strömen zu behandeln. „Leider ist uns weder seine Korrespondenz noch sein Tagebuch erhalten; daher können wir im Nachhinein schwer feststellen, wie sein persönliches Interesse an dieser Elektrotherapie entstanden war“, meint Stark. Das Experiment schien tatsächlich etwas zu bewirken. „Ob es nun mit dem elektrischen Strom zusammenhing oder nicht – jedenfalls erfreute der Erfinder sich kurz darauf wieder besserer Gesundheit“, berichtet Stark, der im vergangenen Jahr bei einer Konferenz zum Thema Wissenschaftsgeschichte in Philadelphia, USBundesstaat Pennsylvania, einen Vortrag über Overbeck gehalten hat. Der offenkundige Erfolg dieser Therapie inspirierte Overbeck zur Entwicklung seines Rejuvenators für alle Menschen, 48 | NewScientist | 14
Löwenmähne, komm wieder!
die mit der konventionellen Medizin unzufrieden waren: Sie konnten das Gerät bequem bei sich zu Hause anwenden. Es bestand aus mehreren Elektroden, die wie lange Röhren, Kämme oder runde Platten geformt waren; den Strom lieferte eine primitive Batterie. Overbeck empfahl, die Kämme am Kopf anzusetzen, weil der Anwender sie mit ihren Zinken gut im Haar feststecken konnte; die Platten eigneten sich am besten für große Körperareale, beispielsweise an der Lendenwirbelsäule.
Wie stark der Strom war, wissen wir nicht – Overbeck bezeichnete ihn als leicht oder sanft –, aber er muss sehr schwach gewesen sein: In einem Bericht der British Medical Association (BMA) heißt es, dass das Kribbeln, wenn überhaupt, kaum spürbar gewesen sei. Um seiner Therapie medizinische Glaubwürdigkeit zu verleihen, veröffentlichte Overbeck ein Buch mit dem Titel A New Electronic Theory of Life, in dem er einen Zusammenhang zwischen Elektrizität und Gesundheit postulierte. Mit Elek-
OVERBECK’S REJUVENATOR LTD., SYDNEY, 1936
„Ich selbst habe den Rejuvenator an meinem kahlen Kopf angewendet. Nun wächst mir dort wieder ein kräftiger Haarschopf.“
trotherapie lasse sich jedes Leiden mit Ausnahme von Missbildungen und ansteckenden Krankheiten wirksam behandeln, schreibt er. Auch Zeichen des Alterungsprozesses wie dünnes oder ergrauendes Haar ließen sich so seiner Meinung nach wieder rückgängig machen. In Zeitungen warb Overbeck weltweit und lautstark für seinen Rejuvenator. Oft unterfütterte er seine Heilungsversprechen mit angeblichen oder tatsächlichen Aussagen zufriedener Kunden und Ärzte. Eine in Australien in Umlauf gebrachte
Broschüre zum Thema Gesundheit und Verjüngung enthielt Zitate gleich mehrerer Mediziner: „Der Rejuvenator hat einem Patienten mit Muskelschwund in den Beinen nach schwerer Krankheit geholfen. Ich selbst habe ihn an meinem kahlen Kopf angewendet, und nun wächst mir allmählich wieder ein kräftiger Haarschopf, worüber ich sehr erfreut und dankbar bin“, hieß es da zum Beispiel. Ein anderer Doktor behauptete: „Wie ich feststellen konnte, hat das Gerät bei asthmatischen Beschwerden eine äußerst heilsame Wirkung; ebenso bei Blutarmut, Verdauungsstörungen und allgemeinen Schwächezuständen.“ Doch in Wirklichkeit stand die medizinische Fachwelt Overbeck ablehnend gegenüber. „Die Ärzte betrachteten das Gerät mit großem Argwohn“, berichtet Stark. „Er hatte niemals eine medizinische Ausbildung genossen; für sie war er ein Quacksalber und Außenseiter.“ Die BMA befürchtete, das Gerät könne Verbrennungen verursachen, zumal Overbeck empfahl, die Haut vor dem Anlegen der Elektroden mit Seife – am besten mit seiner extra dafür hergestellten Rejuvenator-Seife – zu reinigen. Es gibt aber keinerlei Beweise dafür, dass das Gerät schädliche Nebenwirkungen verursachte.
Ob Overbeck an sein Projekt glaubte, weiß niemand, er hat weder Tagebücher noch Briefe hinterlassen, in denen Anhaltspunkte dafür zu finden wären. Doch zweifellos war er auf eine Goldgrube gestoßen. Raffiniert, wie er war, sorgte er dafür, dass die Kunden die Batterien für seinen Rejuvenator nur bei ihm bestellen konnten. So sicherte er sich ein ständiges Einkommen. Schon nach drei Jahren hatte er an seinem Gerät so viel verdient, dass er sich eine stattliche Villa in Devon leisten konnte, welche mittlerweile der National Trust verwaltet. Erst nach seinem Tod Ende der dreißiger Jahre ließ die Nachfrage nach; inzwischen ist der Rejuvenator nur noch ein vergessenes Relikt aus dem Jazz-Zeitalter.
Elektrische Antidepressiva Aber wer weiß – vielleicht ist Overbeck ja trotz seiner fehlenden medizinischen Kompetenz auf eine wirksame Behandlungsmethode gestoßen, wenn auch nur durch reinen Zufall? „Durchaus möglich“, meint Colleen Loo, Psychiaterin an der University of New South Wales im australischen Sydney. Ohne Kenntnis der verwendeten elektrischen Ströme oder zuverlässige Berichte über Therapieerfolge können wir nicht wissen, was für Wirkungen der Rejuvenator hatte. Trotzdem gibt es immer mehr Hinweise darauf, dass bestimmte Erkrankungen sich durch Schwachstrom behandeln lassen. Im Rahmen ihrer Arbeiten zu Behandlungsmöglichkeiten für Depressionen haben Loo und ihre Kollegen die bisher größte kontrollierte Studie zur transkraniellen Gleichstromstimulation (im Englischen abgekürzt tDCS) durchgeführt, bei der sie Elektroden an der Kopfhaut anbringen und elektrische Signale in den vorderen Gehirnbereich senden. Normalerweise beträgt die Stromstärke nur ein bis zwei Milliampere – gerade so viel, dass der Anwender ab und zu ein Kribbeln oder Jucken an der Kopfhaut spürt, aber viel schwächer als die Hunderte von Milliampere, mit denen die Elektrokrampftherapie arbeitet. An der Studie nahmen 64 Patienten teil, die auf eine Behandlung mit Antidepressiva nicht angesprochen 14 | NewScientist | 49
DOSSIER
„Meine Ideen waren der Zeit viel zu weit voraus“ Genie Nikola Tesla, einer der größten Erfinder der Welt, revolutionierte die Energietechnik. Trotzdem starb er arm und verwahrlost.
Herr Tesla, Sie halten über 700 Patente, gelten als ausgesprochener Visionär, als eigentlicher Erfinder der Glühbirne und des Radios – und haben den Wechselstrom erdacht. Und doch werden viele Ihrer Ideen anderen zugeschrieben.
NIKOLA TESLA: Ich habe sogar Hunderte Erfindungen darüber hinaus nicht patentieren können. Ich war einfach zu ungeschickt. Aber die Meinung der ganzen Welt hatte sowieso keinen Einfluss auf mich und meine Arbeit. Das Einzige, was für mich wirklich von Wert ist, ist das, was nach meinem Tod folgt. Und da war ich, glaube ich, ganz gut. Aber das konnten Sie zu Ihren Lebzeiten doch nicht wissen. Nun mal ehrlich, haben Sie da nicht doch mal gezweifelt?
Hätte ich je an meinem ultimativen Erfolg gezweifelt, hätte ich diese Gedanken einfach mit den Worten des großen Philosophen Lord Kelvin weggewischt. Er wohnte einigen meiner Experimente bei und sagte daraufhin mit Tränen in den Augen: „Ich bin sicher, dass du Erfolg haben wirst.“
suchte gefunden hat. Ich wurde trauriger Zeuge solcher Taten, wissend, dass ihm ein wenig Theorie und Berechnung 90 Prozent seiner Arbeit erspart hätten. Trotzdem wurde er reich und Sie nicht. Sie zogen die Probleme an. Erinnern Sie sich noch an das Schicksal Ihrer Todesstrahlen?
Was meine Todesstrahlen betrifft, da habe ich Redeverbot, bitte haben Sie Verständnis, das Patent hat die U. S. Army einkassiert. Wenn Ihre Zeitgenossen schon Ihre Leistungen verkannten, hatten Sie dann wenigstens privat etwas Glück?
Ich denke nicht, dass Sie in der Geschichte viele große Erfindungen finden, die von verheirateten Männern stammen. Reden Sie sich das jetzt nicht etwas schön?
Ach, Sie meinen, weil ich die Schritte beim Gehen zähle und den Rauminhalt von Suppentellern, Kaffeetassen und Lebensmitteln berechne? Wenn ich das nicht tue, schmeckt mir mein Essen nicht.
Etwas dick aufgetragen, finden Sie nicht? Sie sind mit 86 Jahren völlig verarmt in einem Hotel in New York gestorben.
Ich meine auch, dass alles, was Sie regelmäßiger taten, durch drei teilbar sein musste. Zwanghaft, oder?
Das war der Preis für mein Lebenswerk. Die Welt war einfach nicht reif dafür. Meine Ideen waren der Zeit viel zu weit voraus. Aber ich wusste auch: Genau diese Naturgesetze werden am Ende wieder die Oberhand haben und meine Ideen zu einem triumphalen Erfolg machen.
Die 3, die 6 und die 9 haben einfach etwas Magisches.
Thomas Alva Edison hat Sie lange bis aufs Messer bekämpft, um seine Gleichstromleitungen durchzusetzen.
Am Ende war ich pleite, habe aber gewonnen. Er war nicht schlau: Müsste Edison eine Nadel im Heuhaufen finden, würde er einer fleißigen Biene gleich Strohhalm um Strohhalm untersuchen, bis er das Ge16 | NewScientist | 23
Spätestens nach der Erfindung des Wechselstroms hätten Sie sich Ihrem Liebesleben widmen können.
Ja, ich habe diese Taube geliebt. Ich habe sie so geliebt, wie ein Mann eine Frau liebt – und sie hat mich geliebt. Äh, wie bitte?
Als diese Taube starb, ist ein Teil von mir mitgestorben. Bis zu jenem Tag wusste ich, dass ich alles schaffen kann, egal wie ambitioniert meine Vorhaben auch waren. Aber als die Taube starb, wusste
ich, dass mein Lebenswerk für eine neue Welt vollendet war. Unser Beileid. Und wie sollte diese neue Welt aussehen?
Diese neue Welt muss eine Welt sein, in der die Starken nicht die Schwachen ausbeuten, die Bösen nicht die Guten; eine Welt, in der die Gewalt der Reichen nicht die Armen demütigt, wo die Errungenschaften des Intellekts, der Wissenschaft und der Kunst der Gesellschaft fortlaufend helfen, sich zu verbessern, und das Leben insgesamt verschönern. Kennen Sie eigentlich Gene Roddenberry?
Nie gehört – wieso fragen Sie? Sie haben offenbar einen gewissen Einfluss auf ihn gehabt. Aber egal: Was würden Sie gern noch erforschen?
Wir sollten uns nicht damit zufriedengeben, Dampfprozesse und Verbrennungsmotoren zu verbessern oder neue Batterien zu entwickeln. Wir haben eine viel größere Aufgabe: Wir müssen Technik entwickeln, die Energie aus Quellen anzapft, die sich nie erschöpfen. Es geht darum, Methoden zu entwickeln, die keine vorhandenen Quellen verbrauchen, bis nichts mehr da ist, wie beim Öl. Hätten Sie uns das nicht früher sagen können? Nun gut. Haben Sie möglicherweise einen heißen Tipp für uns?
Die Wissenschaftler von heute denken lieber in die Tiefe, als ihre Gedanken glasklar zu formulieren. Um Letzteres zu können, muss man mental gesund sein. Tiefe Grübeleien bekommt man hingegen auch hin, wenn man ziemlich verrückt ist. Da muss ich erst drüber nachsinnen. Herr Tesla, ich bedanke mich für das Gespräch!
DIE ORIGINAL-ZITATE FÜR DIESES GESPRÄCH ARRANGIERTE DENIS DILBA.
KATRIN FUNCKE FÜR NEW SCIENTIST
Auch bei dem Visionär Nikola Tesla lagen Wahnsinn und Genie nah beieinander (1856 bis 1943). 23 | NewScientist | 17
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PERSPEKTIVE
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EXCLUSIVE PIX / ACTION PRESS
Mit allen Sinnen genießen Geschmackssache Wir schmecken nicht mit der Zunge allein. Erst der richtige Klang macht das Weihnachtsmenü perfekt. Und der Stoff, aus dem Besteck und Teller sind.
tellen Sie sich vor, Sie sitzen mit Freunden im Restaurant. Der Hauptgang wird serviert. Die Komposition auf dem Fischteller sieht wunderbar aus – aber schon nach ein paar Bissen haben Sie einen Kloß im Hals. Tränen steigen Ihnen in die Augen. Sie wissen nicht, wie Ihnen geschieht. Was Sie nicht ahnen: Die geheime Zutat, die Sie so sentimental stimmt, ist: Meeresrauschen. Reaktionen wie diese, die erst jüngst eine Studie dokumentiert hat, decken auf, was und wie wir wirklich schmecken. Eine Vielzahl von Faktoren, von der Wahl des Bestecks (siehe Kasten auf Seite 11) bis zur Tischmusik, beeinflussen unsere Geschmackswahrnehmung – und zwar weit stärker als bisher angenommen. Restaurantbetreiber nutzen diese Erkenntnis, um der Kunst ihrer Küchenchefs noch das iTüpfelchen aufzusetzen. Im Grunde kann aber jeder lernen, wie wir beim Weihnachtsmenü nicht nur die Geschmacksnerven unserer Gäste stimulieren, sondern ein meisterliches Gesamtwerk sinnlicher Verführung schaffen. Dass der Mensch nicht nur mit der Zunge schmeckt, ist lange bekannt. Der französische Gastronom Jean Anthelme Brillat-Savarin behauptete bereits 1820, dass „Geruchs- und Geschmackssinn eigentlich identisch“ seien: „Das Labor befindet sich im Mund und der Abzug in der Nase.“ Doch erst seit rund
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zehn Jahren kommen Wissenschaftler allmählich hinter das ganze Ausmaß, in dem verschiedene Sinne zuweilen äußerst überraschend zusammenwirken. „Manche Leute hören zum Beispiel besser, wenn sie ihre Brille aufsetzen“, erzählt der Psychologe Charles Spence von der Universität Oxford. Die Beobachtung solch seltsamer Phänomene war es, die ihn und andere animierte, auch den Geschmackssinn genauer zu hinterfragen.
Je roter, desto reifer Dabei haben sie sich unter anderem dem Zusammenspiel von Farben und Geschmackssinn gewidmet: Mit Rot assoziieren viele Menschen Süßes, mit Grün hingegen sauer. Das könnte eine evolutionäre Anpassung daran sein, dass Rot bei Früchten in der Regel deren Reife anzeigt. Das Phänomen beschränkt sich allerdings nicht auf die Speise selbst – es bezieht auch deren Accessoires ein. Als Spence ein und dieselbe Erdbeermousse auf schwarzen beziehungsweise weißen Tellern servierte, empfanden seine Probanden die Mousse auf den weißen Tellern um mehr als 10 Prozent süßer und um mehr als 15 Prozent intensiver im Geschmack als die auf schwarzen. Eine mögliche Erklärung sei, so Spence, dass ein weißer Teller den Farbkontrast zu der Erdbeermousse verstärke; sie sähe so roter aus und schmecke daher auch süßer. Nun untersucht Spence ge-
meinsam mit dem berühmten französischen Sternekoch Paul Bocuse die Wirkung der Tellerfarbe auf den Geschmack weiterer Desserts.
Limo besser in Blau Wer seine Abendgäste beeindrucken will, sollte sich den Trick mit dem weißen Teller merken – und eventuell dazu auch noch ein paar Gläser in ganz bestimmten Farben besorgen. Im Jahr 2003 fand der Psychologe Nicolas Guéguen an der Universität Bretagne-Sud in Frankreich im Rahmen einer Studie heraus, dass die Versuchsteilnehmer die gleiche Limonade als erfrischender wahrnahmen, wenn sie diese aus einem Glas in kühlem Blau tranken. In einem gelben Glas hingegen löschte das Getränk den Durst nicht so gut. Sogar Formen scheinen zu beeinflussen, was und wie wir schmecken. Der Marketing-Experte David Gal von der Northwestern University in Evanston im US-Bundesstaat Illinois stellte fest, dass Testkandidaten Käsegeschmack als strenger empfanden, wenn er ihnen zuvor eine Reihe spitzwinkeliger Gegenstände präsentiert hatte. Speisen von sternförmigen Tellern wiederum empfanden die Studienteilnehmer als bitterer als die von runden. Eine Erklärung, was genau diese Empfindungen auslöst, hat der Psychologe Spence allerdings bisher nicht. Offenbar übertragen Menschen die physischen Eigenschaften 52 | NewScientist | 9
Laut Kauen schmeckt frisch Besonders überraschte die Forscher, welch großen Einfluss Klänge auf die geschmackliche Note haben. Seit 2004 dokumentiert Spence, wie sich Geschmack und Gehörsinn gegenseitig beeinflussen. So mussten die Probanden in einem seiner Versuche je 200 Kartoffelchips essen; für jeden einzelnen Chip sollten sie angeben, wie knackig und wie frisch er ist. Während sie futterten, spielte ihnen der Wissenschaftler über Kopfhörer ihr eigenes Kau-
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der Gegenstände, von denen sie essen und trinken, auf deren Inhalt. Spence’ Kollegin, die Psychologin Betina Piqueras-Fiszman, entdeckte, dass Personen Joghurt in einer Schüssel umso dickflüssiger, teurer und intensiver vorkommt, je massiver das Gefäß ist. Eine weitere, ähnliche Erkenntnis: Essen aus Schüsseln mit einer dicken Wand sättigt schneller. Und Versuchsteilnehmer geben an, dass Wasser billig schmeckt, wenn sie es aus einem Plastikbecher trinken.
Austern schmecken besser zu Wellenklang als zu Stallgeräuschen.
geräusch vor; Lautstärke und Geschwindigkeit des Knusperns änderte er per Zufallsgenerator. Das Ergebnis: Die Teilnehmer stuften die Chips immer dann als besonders knusprig und frisch ein, wenn Lautstärke und Geschwindigkeit hoch waren (Journal of Sensory Studies, Band 19, Seite 347). Nach diesen Erkenntnissen tat sich Spence mit dem berühmten Koch Heston Blumenthal zusammen, der das Restaurant The Fat Duck im britischen Ort Bray führt. Gemeinsam machten sie ein kleines Experiment, bei dem Probanden zwei Austern essen sollten – die eine, während sie im Hintergrund Meeresrauschen hörten, die andere zu Geräuschen vom Bauernhof. Allen Testern schmeckte die Auster zum Klang der Wellen deutlich besser als die mit Kuhgemuhe im Hintergrund. Als Nächstes kreierte Blumenthal sein in Großbritannien zu Berühmtheit gelangtes Menü Meeresrauschen: Während die Gäste maritime Spezialitäten genießen, lauschen sie
Mahlzeit!
Bitter
Süß
Sauer
Salzig
Der Geschmack von Essen lässt sich vielfach beeinflussen; durch Musik, bekannte Geräusche, Farben und Formen.
Bassinstrumente
Piano
Keine Instrumente
Bassinstrumente
Sanft klingende Musik ohne Pausen
Sanfte, langsame und harmonische Musik
Schnell, unstimmige Musik
Tiefe Noten
Hohe Noten
Hohe Noten
Stakkato gepaart mit ausladenden musikalischen Intervallen
Grün
Rot
Gelb
Weiß
Kantige Formen
Runde Formen
Kantige Formen
Keine Form zugeordnet
QUELLE: EIGENE RECHERCHE
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Melodien machen das Menü Beim privaten Weihnachtsmenü sind Kopfhörer der Unterhaltung nicht gerade förderlich. Doch wer die wissenschaftlichen Erkenntnisse bei der Auswahl der Hintergrundmusik berücksichtigt, kann dem Gericht mit Hilfe von Klang durchaus auch zu Hause zusätzliche Würze verleihen: Unabhängig von ihrer kulturellen Herkunft assoziieren Menschen größere Gegenstände mit tiefen Tönen; dasselbe scheint für den Geschmack zu gelten. Im Rahmen eines Experiments komponierten Musiker Melodien zu den Hauptgeschmacksrichtungen – und setzten unabhängig voneinander die gleichen Klänge ein. Hohe und dissonante Töne für sauer, weichere
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Brandung und Möwengeschrei – über die Kopfhörer eines in einer Muschel liegenden iPods. Tränen gehörten zu den eher außergewöhnlichen Reaktionen, aber nach Aussage der Gäste schmeckte das Essen mit der Geräuschkulisse intensiver und einfach „mehr nach Meer“.
Wenige wissen, welchen Einfluss das Ambiente hat.
Besser von goldenen Löffelchen essen Wer seinem Gericht noch eine besondere Note verleihen möchte, der würze mit Besteck. Zoe Laughlin, Materialwissenschaftlerin am University College London, konnte nachweisen, dass sich Löffel aus verschiedenen Metallen unterschiedlich auf den Geschmack auswirken. Kupfer- und Zinnlöffel geben einen intensiveren, metallischeren und bittereren Geschmack als Gold- und Edelstahllöffel, von denen das Essen angenehmer schmeckt. Je reaktionsfreudiger das Metall ist, umso stärker gibt es seinen Ge-
schmack an die Speise ab. Doch Laughlins Versuchsreihen führten zu noch weit verblüffenderen Ergebnissen: Die Versuchsteilnehmer aßen von verschiedenen Löffeln Sahne – gesalzene, gesüßte, saure, bittere und ungewürzte. Sie gaben an, dass die Zinn- und Kupferlöffel die Geschmacksrichtungen stärker akzentuiert hätten. „Ein Löffel kann den Geschmack durchaus verbessern“, sagt Laughlin. Zurzeit arbeitet sie an der Entwicklung eines Löffelsets mit Gebrauchsanweisungen zu diesem Zweck.
für süß, Bässe für bitter und Stakkato-Rhythmen für salzig (siehe Grafik links). In einer anderen Studie brachten die Probanden bitteren Geschmack vorwiegend mit Blechblasinstrumenten in Verbindung, Süße mit dem Klavier. Entsprechende Tischmusik hat offenbar einen Einfluss auf den Geschmack, wie Spence 2011 bei einem Versuch im Restaurant The Fat Duck zeigen konnte. Dabei servierte die Bedienung den Gästen Cinder Toffee, ein britisches Konfekt mit Rübensirup, das sowohl eine süße als auch eine bittere Geschmackskomponente hat. Spence bot entweder eine „süße“ Geigenmusik oder „bittere“ Posaunenklänge. Tatsächlich versüßten die Streichinstrumente den Gästen das Konfekt; hörten sie hingegen die Posaunen, hatten sie einen bittereren Geschmack auf der Zunge. Wer also seine Abendgäste auf diese Weise sinnlich verzaubern möchte, dem wird das vermutlich gelingen. Denn die wenigsten Menschen haben eine Ahnung davon, welchen Einfluss das Ambiente auf den Geschmack hat. „Ich glaube, wir sind uns dessen überhaupt nicht bewusst“, sagt Spence. „Wir glauben immer, wir würden nur das Essen an sich schmecken oder wirklich den Wein selbst beurteilen können.“ Wenn also der Tisch gedeckt ist und die Musik spielt, dann müssen Sie nur noch eines beachten, bevor die ersten, nichtsahnenden Gäste an der Tür klingeln: Stellen Sie sicher, dass diese Zeitschrift außer Reichweite ist. CATHERINE DE LANGE
Die Autorin ist Schriftstellerin und lebt in London. 52 | NewScientist | 11
DEBATTE
leitet die Abteilung Reanimationsforschung am Stony Brook Medical Center im US-Bundesstaat New York. Besonders interessieren den Kardiologen Nahtoderfahrungen von Herzpatienten. In seinem neuen Buch The Lazarus Effect (Rider-Verlag) beschreibt er, was mit Gehirn und Bewusstsein während eines Herzstillstands passiert.
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MARTIN ADOLFSSON FĂœR NEW SCIENTIST
Sam Parnia
„Fürchtet euch nicht“ Reanimation Der Kardiologe Sam Parnia untersucht, was beim Sterben mit dem Bewusstsein geschieht. Und er glaubt: Weit mehr Menschen könnten ins Leben zurückgeholt werden – seelisch bereichert durch ihre Nahtoderfahrungen.
Herr Parnia, sind Menschen, die Sie nach einem Herzstillstand reanimieren, wirklich tot gewesen? Ist der Tod nicht eigentlich etwas Unumkehrbares?
SAM PARNIA: Nein, Herzstillstand ist tatsächlich gleichbedeutend mit Tod. Es ist nur eine Frage der Formulierung. Wenn zum Beispiel jemand durch eine Schussverletzung zu viel Blut verliert, hört sein Herz ja auch auf zu schlagen, und er stirbt. Die Gesellschaft nimmt den Tod zwar als Punkt wahr, von dem es kein Zurück mehr gibt. Medizinisch gesehen ist das aber ein biologischer Prozess. Seit Jahrtausenden betrachten wir Ärzte jemanden als tot, wenn sein Herz aufgehört hat zu schlagen. Die Begriffe Herzstillstand und Herzinfarkt werden oft verwechselt. Dabei sind sie ganz verschieden.
Bei einem Herzinfarkt verstopft ein Blutgerinnsel ein Blutgefäß, das zum Herzen führt. Der Teil des Herzmuskels, den diese Arterie mit Blut und Sauerstoff versorgt hat, stirbt dann ab. Aus diesem Grund sterben die meisten Patienten mit Herzinfarkt nicht. Wenn Sie einen Menschen wiederbeleben, was ist das Schwierigste?
Ihn zurückzuholen, bevor zu viele Zellen geschädigt sind. Menschen sterben unter den unterschiedlichsten Umständen und unter Beobachtung der verschiedensten medizinischen Spezialisten. Aber es gibt keine Fachrichtung, deren Aufgabe es ist, die neuesten Erkenntnisse und technischen Möglichkeiten auf dem Gebiet der Reanimation in die klinische Praxis zu bringen.
Wie lange nach Eintritt des Todes können Sie jemanden ins Leben zurückholen?
Menschen werden heute wiederbelebt, nachdem sie schon vier bis fünf Stunden tot waren – und im Grunde dagelegen haben wie eine Leiche. Nachdem wir gestorben sind, beginnt im Körper der Prozess, in dessen Verlauf die Zellen absterben. Nach acht Stunden ist es unmöglich, die Gehirnzellen wiederherzustellen. Welche ist die beste Methode, einen Menschen zu reanimieren?
Das ideale System wird vor allem in Südostasien, Japan und Südkorea angewandt. Dabei pumpen Ärzte das Blut durch eine Maschine, die Kohlendioxid gegen Sauerstoff tauscht, den Membranoxygenator. Anschließend fließt das Blut wieder in den Körper zurück. Mit Hilfe dieses ECMOVerfahrens können Patienten noch fünf bis sieben Stunden nach ihrem Tod wiederbelebt werden. In den USA und Großbritannien steht ECMO leider fast nirgends zur Verfügung. Wenn also mein Herz stillsteht, was sollten die Ärzte idealerweise unternehmen?
Zunächst schließen wir den Patienten an einen Apparat an, der für Herzdruckmassage und Beatmung sorgt. Dann verbinden wir ihn mit einem Gerät, das uns zeigt, wie gut das Gehirn mit Sauerstoff versorgt ist. Wenn die Werte sich trotz Herzdruckmassage, Beatmung und Medikation nicht normalisieren, greifen wir zu ECMO. Damit können wir sowohl die Sauerstoffwerte im Gehirn als auch die Sauerstoffzufuhr zu allen Organen normalisieren. Gleichzeitig kühlen wir den
Patienten. Dadurch verlangsamt sich der Stoffwechsel der Gehirnzellen, und das Absterben der Zellen wird aufgehalten. Wie kühlen Sie den Körper?
Früher wurden Eisbeutel verwendet. Heute widmet sich eine ganze Branche diesem Thema. Es gibt zwei Methoden: Eine besteht darin, große Gel-Pads auf Oberkörper und Beine zu legen. Die Pads sind an einen Apparat angeschlossen, der die Temperatur reguliert. Hat der Körper die richtige Temperatur erreicht, hält der Apparat sie 24 Stunden lang konstant. Bei der anderen Variante führen die Ärzte im Leisten- oder Nackenbereich einen Katheter ein, der das vorbeifließende Blut kühlt. Bei neueren Methoden werden die Patienten durch die Nase gekühlt, weil diese sich näher am Gehirn befindet. Dabei wird über Schläuche kalter Dampf eingeleitet, um so gezielt das Gehirn zuerst herunterzukühlen. Wenn ich heute als Herzstillstandspatient ins Krankenhaus eingeliefert werden würde: Wie groß wären meine Chancen, all das zu bekommen?
Nahezu null. Warum gehört so etwas nicht zur Routine?
Herzstillstand ist der einzige medizinische Zustand, der jeden von uns irgendwann einmal ereilen wird. Es ist deshalb schon beängstigend: Die Art, wie wir behandelt werden, hängt davon ab, wo wir uns befinden und wer beteiligt ist. Selbst in ein und demselben Krankenhaus schwankt das Versorgungsniveau von einer Schicht zur nächsten. Es gibt keine 15 | NewScientist | 55
Auch die verlängerten Öffnungszeiten haben das Geschäft nicht signifikant belebt.
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HOLDE SCHNEIDER / VISUM
REPORT
Ist da noch wer? Landleben Der demografische Wandel ist auch eine Chance, lautet die frohe Botschaft des Wissenschaftsjahrs 2013. In den entvölkerten Regionen des Ostens ist sie noch nicht angekommen.
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a, hinter dem alten Gutshof, wo die Grenze zwischen Vorpommern und Mecklenburg verläuft“, sagt Wolfgang Weiß. „Das ist so was wie das Ende der Welt.“ Er steuert seinen dunkelgrünen Toyota Corolla durch eine schmale Allee. Und wie um seine Worte zu bestätigen, öffnet der Himmel plötzlich donnernd seine Schleusen und kübelt Wasser über Wiesen, Felder und Bäume. Wolfgang Weiß lacht. „Versuchen Sie gar nicht erst zu telefonieren. Hier überlagern sich sogar die Funklöcher.“ Der Wissenschaftler ist im deutschen Nordosten zu Hause – und mittendrin in seinem Fachgebiet: Regionaldemografie und Bevölkerungsentwicklung ländlicher Räume gehören zu den Forschungsschwerpunkten des Geografen von der Universität Greifswald.
Ein Land stirbt aus Wer das Thema des Wissenschaftsjahrs 2013 leibhaftig spüren will, sollte nach Mecklenburg-Vorpommern fahren. In dessen ländlichen Räumen kündigt sich der demografische Wandel überdeutlich an; 2030 wird hier jeder Dritte über 65 Jahre alt sein – damit ist die Bevölkerung dem Bundesdurchschnitt 30 Jahre voraus. Die Jugend verlässt die verfallenden Dörfer und
trägt dazu bei, dass die Bevölkerung bis 2030 um zehn Prozent auf 1,47 Millionen schrumpfen wird. Einen Quadratkilometer teilen sich dann 63,4 Einwohner, im Bundesdurchschnitt sind es 216. „Außerhalb der größeren Zentren finden Sie hier in der Regel schon jetzt weniger als 20 Menschen pro Quadratkilometer“, sagt Weiß. Warum noch kämpfen um die vereinsamenden Landschaften, warum kein radikaler Neuanfang? Einfach die paar Leute, die noch da sind, umsiedeln und aus Mecklenburg-Vorpommern einen Naturpark machen, wo sich Fuchs und Hase freundlich gute Nacht sagen. Oder einen Großflughafen bauen in das Zentrum der menschenleeren Region, mit pfeilschnellen Transrapid-Verbindungen in alle Metropolen. Ein fabelhaftes Comeback für ein gescheitertes Verkehrsmittel. Zur Eröffnung könnte Bayerns Ex-Ministerpräsident Edmund Stoiber eine Neuauflage seiner legendären Stammelrede halten. Oder eine hyperintensive Agrarkultur starten: Einige wenige satellitengesteuerte Landmaschinen ziehen einsam auf riesigen Feldern ihre Kreise. Die wirkliche Zukunft wirkt fast noch trostloser als diese Vision. Wo es keine stabile wirtschaftliche Basis gibt, steigt die Arbeitslosigkeit. Junge, gutausgebildete
Menschen gehen, zurück bleiben die gering Qualifizierten und die Alten. Die Bevölkerung schrumpft, Immobilienpreise verfallen, die Infrastruktur bröckelt: Buslinien fallen weg, Schulen machen zu, Ärzte finden keinen Nachfolger. „Besonders hart trifft diese Entwicklung ehemals industrialisierte ländliche Regionen in den neuen Bundesländern“, sagt Bernhard Müller, Direktor des Leibniz-Instituts für ökologische Raumentwicklung in Dresden. „Etwa frühere Kohleabbaugebiete oder Kleinstädte, in die der Staat bewusst Industrie gebracht hatte. Die ist in den neunziger Jahren nicht mehr wettbewerbsfähig gewesen und weggebrochen.“
Der Verfall hat viele Gesichter Wobei ländlicher Raum nicht gleich ländlicher Raum ist. Gut geht es weiterhin den starken Agrargebieten im Nordwesten wie der Region um Vechta und Cloppenburg. „Dort gibt es nach wie vor Wachstum, demografisch und wirtschaftlich.“ Dann sind da ländliche Regionen wie in BadenWürttemberg, mit gesunden mittelständischen Betrieben, manche davon Weltmarktführer. Nur liegen sie fernab von allem. „Das Zukunftsproblem hier heißt Fachkräftemangel“, sagt Müller. „Die Leute, die Sie brauchen, kriegen Sie nicht.“ 23 | NewScientist | 47
Briefe aus dem Himmel Kristallforschung Jede Schneeflocke ist einzigartig. Jetzt wollen Wissenschaftler ihr Wachstum berechnen, um neue Materialien zu schaffen und Lawinen vorherzusagen.
as war die richtige Sache für einen Mathematiker, der nichts hat und nichts erhält, etwas zu überreichen, das vom Himmel fällt und wie ein Stern aussieht“, schrieb der verarmte Johannes Kepler zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Lange Zeit hatte der Mathematiker und Astronom mit sich gerungen, was das beste Geschenk für einen engen Freund sei – und sich schließlich für Schneeflocken entschieden. Genau genommen für eine mathematische Abhandlung über die feingliedrigen Konstrukte. Kepler war aufgefallen, dass die Flocken eine sechseckige Grundform haben. „Sollte es durch Zufall erfolgen, warum fallen sie dann nicht mit fünf oder sieben Ecken?“, fragte er sich. In dem kurzen Werk schrieb Kepler seine Beobachtungen nieder und spekulierte über die Ursachen. Einen Beweis für seine Theorien lieferte er aber nicht. Tatsächlich unterliegt die filigrane Schönheit der Eiskristalle mathema-
HEINRICH HEIDERSBERGER, 1955-1965, INSTITUT HEIDERSBERGER, WWW.HEIDERSBERGER.DE
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tischen und physikalischen Gesetzen, doch ihre komplexe Beschaffenheit gibt Wissenschaftlern noch immer Rätsel auf. Wie verändern sich die Kristalle mit der Zeit, und welche Auswirkungen hat das auf die Struktur von Schnee? Mit Formeln und Computermodellen rücken die Forscher ihnen deshalb zu Leibe.
Rätselhafte Beschaffenheit Die Geschichte einer Schneeflocke beginnt in den Wolken, wenn ein winziger Tropfen Wasser zum ersten Mal zu einem Eispartikel gefriert, auch Keimbildung genannt. Kondensiert anschließend Wasserdampf auf der Oberfläche, wächst dieser Keim zu einem sechseckigen Prisma heran. Wird er größer, wachsen aus den sechs Ecken erste Zweige, weitere folgen. Wie sie geformt sind, hängt von der Umgebung ab, und da jede Flocke einen ganz eigenen Weg nach unten nimmt, sieht jede ein wenig anders aus. „Das macht sie
zu Briefen aus dem Himmel, in deren Form die eigene Entstehungsgeschichte geschrieben steht“, sagt der Mathematiker Harald Garcke von der Universität Regensburg. Mal sehen sie aus wie Nadeln, mal wie Säulen oder Plättchen; die Übergänge sind fließend. Wollen Wissenschaftler die Entstehungsprozesse verstehen und die natürlichen Kunstwerke nachbauen, stoßen sie an Grenzen – zu chaotisch sind die Wachstumsprozesse. Um sie endlich genauer zu beschreiben, hat Garcke mit seinen Kollegen drei kompakte Gleichungen analysiert (Physical Review E, Link: doi.org/jzw). „Die Formeln sehen auf den ersten Blick einfach aus, da steckt jedoch einiges dahinter“, sagt Garcke. Schließlich müssten sie die sechsfache Symmetrie der Eiskristalle berücksichtigen. Die Gleichungen sind der Schlüssel zum Geheimnis der bezaubernden Vielfalt. Denn dank der darauf basierenden Computersimulationen 52 | NewScientist | 53
Ein ordnender Kernphysiker Besonders umtriebig war beispielsweise der Farmer Wilson Bentley aus Vermont. Schon Ende des 19. Jahrhunderts fotografierte er eine Flocke unter einem Mikroskop – Tausende sollten folgen (siehe Kasten). Ordnung in die vielfältige Welt der Schneekristalle brachte aber erstmals der Kernphysiker Ukichiro Nakaya. Von den dreißiger Jahren an züchtete er die fragilen Strukturen im Labor und klassifizierte sie anschließend. Nakayas Arbeit dient vielen Schneeforschern noch heute als Grundlage. Sie zeigt, dass vor allem Temperatur und Luftfeuchtigkeit die Form der Flocken bestimmen. „Warum sich die Formen mit der Temperatur verändern, ist seit 75 Jahren ein Rätsel“, sagt der Physiker Kenneth Libbrecht vom California Institute of Technology. Er ist einer der führenden Schneekristallforscher. Erst kürzlich hat Libbrecht ein umfassendes physikalisches Flockenmodell vorgestellt. Er hat herausgefunden, dass die temperaturabhängigen Veränderungen der Molekülbindungen stark die Dyna54 | NewScientist | 52
Der Schneeflocken-Mann „Unter dem Mikroskop sah ich, dass Schneeflocken wunderschön sind“, schwärmte der US-amerikanische Farmer Wilson Bentley. Er setzte alles daran, sie zu fotografieren. Bis zu seinem Tod machte er über 5000 Aufnahmen. „Damit hat er den Grundstein zur experimentellen Schnee-Kristallforschung gelegt“, sagt der Mathematiker Harald Garcke von der Universität Regensburg.
WILSON BENTLEY / NOAA / NWS COLLECTION
lassen sich auf Garckes Bildschirm unzählige Schneekristalle direkt während des Sprießens beobachten. Damit die Berechnungen auch zu möglichst natürlichen Flocken führen, ist er auf große Datenmengen angewiesen. „Je mehr wir über die Kristalle aus der Natur wissen, desto mehr Infos können wir in unsere Modelle geben“, erklärt er. „Es ist äußerst hilfreich, dass andere bereits die Schneeflocken gesammelt und klassifiziert haben.“
mik der Keimbildung beeinflussen (Materials Science, Link: arxiv.org/abs/1211.5555). Die Studie sei nicht der Weisheit letzter Schluss, sagt der Physiker. „Aber es ist ein Fortschritt.“ Doch wozu all der Aufwand? Zum einen hilft das Studium der Schneekristalle, Schnee selbst besser zu verstehen, zum anderen trägt das Wissen über Schneeflocken dazu bei, neue Werkstoffe zu entwickeln.
Gefährliche Schichten Jeder in den Wolken gewachsene Eiskristall weist eine einzigartige Form auf. Werden die Kristalle während des Schneefalls unregelmäßig auf dem Boden angehäuft, entsteht daher ein komplexes Material. Der Schneephysiker Henning Löwe vom WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung im schweizerischen Davos untersucht dessen Mikrostruktur. „Wir analysieren, wie die Kristalle mit ihren Nachbarn in den einzelnen Schichten wechselwirken“, sagt Löwe. Schnee ist porös, ständig in Bewegung und neigt
dazu, sich an manchen Stellen aufzulösen und neu zu formieren (The Cryosphere, Link: doi.org/j2k). „Wir versuchen, unter anderem diese Stellen vorherzusagen und so die Wahrscheinlichkeit einer Lawine zu berechnen,“ erklärt der Physiker. Das Kristallwachstum spielt auch in vielen Bereichen der Materialforschung eine Rolle – etwa für die Halbleiter in der Informationstechnikbranche und in der Solarindustrie, aber auch für die Erstarrung von klassischen Werkstoffen wie Eisenlegierungen aus Schmelzen. „Lernen wir etwas über das Wachstum von Eiskristallen“, sagt der Regensburger Mathematiker Garcke, „dann lernen wir etwas über die Physik von Kristallen allgemein.“ Schneeflocken zu untersuchen sei aber noch aus einem weiteren Grund reizvoll: „Es ist jeden Tag aufs Neue eine Freude, die regelmäßige Schönheit der Natur zu betrachten“, sagt Garcke. Es sei kein Wunder, dass Keplers Geschenk damals gut angekommen ist. ALINA SCHADWINKEL
ROB HOWARD / CORBIS
Da kommt einer ins Grübeln: Ist das hier nun piegnartoq oder doch eher utuqaq?
igentlich wollte Franz Boas nur die Lebensweise der Inuit in Nordkanada studieren. Doch die Ergebnisse seiner Reise von 1883 bis 1884 durch die Eiswüsten von Baffin Island lösten einen Streit aus, der ein ganzes Jahrhundert dauern sollte. Denn den deutsch-amerikanischen Anthropologen faszinierte die Sprache der Ureinwohner, vor allem ihre variantenreiche Beschreibung von gefrorenem Niederschlag: „aqilokoq“ etwa steht für „sanft fallender Schnee“, „piegnartoq“ für „Schnee, der sich gut zum Schlittenfahren eignet“. Boas schilderte seine Beobachtungen im Vorwort des 1911 erschienenen Handbuchs der Indianersprachen. Seine Behauptung, die Inuit hätten Dutzende, vielleicht Hunderte Wörter für Schnee, hielten die meisten Linguisten bislang für einen Mythos. Neue Forschungen deuten darauf hin, dass er doch recht hatte. Boas untersuchte Inuit, neben Yupik eine der beiden Hauptsprachen der Völker im nördlichen Polargebiet. Aus beiden Sprachen sind viele Dialekte hervorgegangen, die eines gemeinsam haben: einen polysynthetischen Sprachbau. Mit Hilfe dieser grammatikalischen Besonderheit kann ein Sprecher viele Informationen in ein einziges Wort packen: Er hängt einfach verschiedene Silben an den Wortstamm. So
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Ein feines Gespür für Schnee Linguistik Kein Mythos – die Völker der Arktis kennen Dutzende Wörter für gefrorenes Wasser.
entspricht ein einziger Begriff bisweilen einem ganzen Satz: Zum Beispiel wird der Stamm „angyagh“ (Boot) im sibirischen Yupik zu „angyaghllangyugtuqlu“ erweitert – was „außerdem will er ein größeres Boot“ bedeutet. Der Anthropologe Igor Krupnik vom Smithsonian Center für arktische Studien in Washington, D. C. hat Boas Studien fortgeführt und den Wortschatz von rund zehn verschiedenen Inuit- und Yupik-Dialekten dokumentiert. Sein Fazit: Die Sprachen verfügen tatsächlich über eine enorme Anzahl von Bezeichnungen für Schnee (SIKU: Knowing Our Ice, Seite 377). Das mittelsibirische Yupik kennt 40 Namen, der in Nunavik im kanadischen Québec gesprochene Inuit-Dialekt sogar mindestens 53 – etwa „pukak“ („Pulverschnee, der wie Salz aussieht“). Für das zugefrorene Meer besitzen einige Dialekte einen noch reicheren Wortschatz. Krupnik hat im Inu-
piaq-Dialekt aus Wales in Alaska ungefähr 70 verschiedene Namen ausgemacht, beispielsweise „utuqaq“ („Eis, das jahrelang nicht schmilzt“) oder „auniq“ („verrottetes Eis, das Löcher hat wie ein Schweizer Käse“). Nicht nur Inuit und Yupik beschreiben ihre frostige Umgebung so blumig. Ole Henrik Magga, Linguist an der Samischen Hochschule in Kautokeino in Norwegen, hat herausgefunden, dass auch die Samen im Norden von Skandinavien und Russland mindestens 180 Wörter für Schnee und Eis benutzen (International Social Science Journal, Band 58, Seite 25). Anders als die Inuit-Dialekte sind die samischen Sprachen aber nicht polysynthetisch, die Wörter lassen sich leichter voneinander unterscheiden. Die Samen kennen übrigens noch mehr Ausdrücke, wenn es um Rentiere geht – 1000 unterschiedliche Wörter bezeichnen alle möglichen Merkmale der Tiere, angefangen von ihrer körperlichen Fitness („leamši“ bedeutet „gedrungene, dicke Rentierkuh“) über ihren Charakter („njirru“ nennen sie eine „widerspenstige Rentierkuh“) bis hin zur Form ihres Geweihs („snarri“ ist ein „Rentier mit kurzem, verzweigtem Gehörn“). Es gibt sogar ein samisches Wort für einen Bullen, der nur einen einzigen, dafür aber überaus großen Hoden besitzt: „busat“. DAVID ROBSON 52 | NewScientist | 55
LAURENT CHEHERE AUS DER SERIE „FLYING HOUSES“
TITEL
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Verdammte Schwerkraft Theorie von Allem Physiker möchten endlich Gravitationstheorie und Quantenmechanik vereinen. Doch Einsteins These zur trägen und schweren Masse steht im Weg.
G
ott würfelt nicht“, hat Albert Einstein gesagt, um sein Unbehagen gegenüber dem absoluten Zufall in der Quantenmechanik Ausdruck zu verleihen. Dass sich ein quantenmechanisches Objekt bei seiner Messung rein zufällig für einen von mehreren möglichen Zuständen entscheiden soll, wollte er nicht akzeptieren. Die von ihm entwickelte Relativitätstheorie gründet sich selbst aber auf einen ganz anderen, fast unglaublichen Zufall. Er hängt nicht etwa mit einem abstrakten wissenschaftlichen Problem zusammen, sondern prägt unseren Alltag wie sonst nur wenige Phänomene der Natur. Genau das macht ihn für uns praktisch unsichtbar. Galileo Galilei und Isaac Newton haben mit diesem Zufall gerungen, um ihn am Ende eher hinzunehmen als wirklich zu verstehen. Einstein selbst hat es auf die Spitze getrieben, indem er ihn einfach zu einem ehernen Prinzip der Natur erklärte. Doch einige Wissenschaftler misstrauen dem Ganzen und denken sich immer neue Experimente aus, um das Phänomen zu überprüfen. Auch deshalb, weil die Physiker die so heiß von ihnen ersehnte Theorie von Allem möglicherweise nur dann finden werden, wenn dieses Prinzip ungültig ist. Um zu erklären, um was es geht, müssen wir allerdings eine ungewöhnliche Situation bemühen. Stellen Sie sich einmal vor: Sie sehen eine fensterlose Rakete. Diese befindet sich auf dem Erdboden und ist noch nicht gestartet. In der Rakete steht ein Raumfahrer. Warum tut er das überhaupt? Natürlich weil ihn die Anzie-
hung der Erde mit den Füßen auf den Boden zieht. Nun denken Sie sich die Rakete schwerelos im All. Die Triebwerke zünden und beschleunigen die Rakete genau mit dem Wert der Erdbeschleunigung. Der Astronaut wird wieder an den Boden der Rakete gedrückt. Da er kein Fenster hat, um hin-
Einige Forscher bleiben misstrauisch und denken sich immer neue Experimente aus, um Einstein zu widerlegen. auszuschauen, fühlt sich die Situation genauso an, als stünde die Rakete noch auf dem Erdboden. Sie könnten einwenden: Das ist doch logisch, denn beide Male wirkt ja eine Beschleunigung von der Größe der Erdbeschleunigung. Doch was der Raumfahrer tatsächlich spürt, ist eine Kraft. Und diese Kraft ergibt sich aus dem Produkt von Masse und Beschleunigung. Die Kräfte auf den Raumfahrer sind also nur dann gleich, wenn sowohl die Beschleunigung als auch die Masse des Raumfahrers in beiden Fäl-
len gleich sind (siehe Grafik Seite 29). Das aber ist keineswegs trivial. Wir haben es hier mit zwei vollkommen unterschiedlichen Effekten zu tun. Da ist einmal die Gravitation. Sie beschreibt die Tatsache, dass sich Massen gegenseitig anziehen. Die Stärke der Anziehung hängt dabei von den – wie es Physiker ausdrücken – schweren Massen der beiden Körper ab. Das ist zunächst einfach eine Definition: Die schwere Masse eines Körpers gibt an, wie stark er mit einem Gravitationsfeld wechselwirkt. Ihre eigene schwere Masse können Sie einfach mit einer Badezimmerwaage bestimmen. Ein ganz anderes Phänomen ist die Trägheit. Hier spielen Anziehungskräfte oder Felder auf den ersten Blick keine Rolle. Es geht vielmehr um die Faulheit der Materie: Offenbar wehrt sich ein ruhender Körper, wenn er in Bewegung gebracht werden soll. Genauso wehrt er sich, wenn er von einer Bewegung abgebracht werden soll. Hier ist die träge Masse am Werk. Sie gibt an, wie stark sich ein Körper der Beschleunigung widersetzt – in unserem Fall der Rakete.
Ein grandioser Zufall — oder ein Prinzip der Natur? Offensichtlich haben beide Effekte nichts miteinander zu tun. Dass wir trotzdem im Alltag mit nur einer Vorstellung von Masse auskommen, wirkt also näher betrachtet wie ein ziemlich unglaublicher Zufall. Die von Einstein formulierte Tatsache, schwere Masse und träge Masse seien identisch, nennen Physiker das Äquivalenzprinzip. Was passieren würde, wenn 4 | NewScientist | 27
LAURENT CHEHERE AUS DER SERIE „FLYING HOUSES“
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es nicht gälte, können Sie sich leicht vorstellen: Nehmen wir an, der Wert der trägen Masse wäre viel kleiner als der der schweren, so könnte etwa ein Kind einen Güterzug anschieben – blankpolierte Schienen ohne Reibungswiderstand vorausgesetzt. Bei einer wesentlich größeren trägen Masse würde das Autofahren schnell unbequem: Schon eine sanfte Beschleunigung auf Tempo 30 würde uns in den Sitz pressen wie der Raketenstart einen Astronauten.
Experimente mit Hammer und Feder auf dem Mond Das Äquivalenzprinzip begegnet uns im Alltag noch an anderer Stelle: Bei der Beobachtung, dass unterschiedlich schwere Dinge gleich schnell fallen. Zumindest wenn der Luftwiderstand gleich ist – oder das Experiment im Vakuum stattfindet, 28 | NewScientist | 4
wie der Apollo-15-Astronaut David Scott 1971 auf dem Mond mit einem Hammer und einer Feder demonstrierte. Beide können nur dann gleich schnell fallen, wenn die träge gleich der schweren Masse ist. Beim freien Fall wirkt nicht nur die Gravitationskraft, die den Gegenstand mit gleichmäßiger Beschleunigung nach unten zieht. Aufgrund der konstanten Beschleunigung ist auch die Trägheitskraft aktiv, die sich der Beschleunigung entgegensetzt. Nur wenn die träge gleich der schweren Masse ist, sind die beiden Kräfte gleich. Jeder Körper fällt dann unabhängig von seiner Masse schwerelos zu Boden. Man muss also nicht in den Weltraum hinaus, um Schwerelosigkeit zu spüren. Ein Umstand, den Wissenschaftler in Falltürmen nutzen, um für kurze Zeit Experimente in Schwerelosigkeit machen zu können. So etwa im einzigen Fallturm
Europas, im Zentrum für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation (Zarm) in Bremen. In ihm sind bei einer Höhe von 146 Metern neun Sekunden freier Fall möglich (siehe Kasten Seite 31). Obwohl sich also das Äquivalenzprinzip aus unserer Alltagserfahrung ergibt, ist sein Auftreten doch durch nichts begründet. Ein Zufall der Natur, den wir hinnehmen und nicht weiter hinterfragen sollten? Keineswegs, sagt der Leiter des Bremer Zarm, der Physiker Claus Lämmerzahl. „Das Äquivalenzprinzip hat eine zentrale Bedeutung in Albert Einsteins Relativitätstheorie, schon allein deshalb lohnt es sich, es ganz genau zu überprüfen.“ In der Tat lassen sich viele zentrale Aussagen der Relativitätstheorie aus der Äquivalenz von träger und schwerer Masse herleiten. Und das ganz ohne mathematische Vorkenntnisse. Stellen wir uns wie-
LAURENT CHEHERE AUS DER SERIE „FLYING HOUSES“
ger und schwerer Masse noch einmal mit einer um den Faktor 100 größeren Genauigkeit als bisher überprüfen sollen. Zum einen testen die Bremer Forscher die Beschleunigungssensoren des französischen Satelliten Microscope. Dabei kommen zwei ineinandergeschachtelte Metallzylinder aus Platin und Iridium zum Einsatz, die im Satelliten so die Erde umkreisen, dass sie in deren Schwerefeld quasi dauerhaft fallen. Sollte einer der Zylinder sich stärker der Erde annähern als der andere, würde dies einer der empfindlichen Sensoren detektieren. Für eine andere Methode nutzen die Bremer Materiewellen von Atomen. So wie Licht sich sowohl wie eine Welle als auch wie ein Teilchen verhalten kann, kann sich auch ein Stück Materie wie eine Welle verhalten. Für den Test des Äquivalenzprinzips verwenden die Physiker zwei
ultrakalte Wolken von Rubidium- und Kaliumatomen, deren Schwerpunkte sich exakt überlappen. Mit Hilfe von Laserstrahlen kicken sie dann Atome aus ihren Wolken in zwei Interferometer genannte Messgeräte. Dort werden die Atomstrahlen auf jeweils zwei Wege aufgeteilt, wobei jedes Atom nach den Regeln der Quantenmechanik beide Wege gleichzeitig durchläuft. Beide Interferometer sind durch ein Gitter aus Laserstrahlen miteinander gekoppelt. Nun lassen die Forscher die gesamte Apparatur im Fallturm abstürzen. Fällt eine Atomsorte schneller als die andere, kommt es durch Wechselwirkung mit dem Lichtgitter zu einer Verschiebung der Atomwellen. Am Ende des Interferometers werden die Wellenzüge überlagert – und somit wird sehr fein visualisiert, ob sich etwas beim Fallen ändert. „Dieser Ver-
such soll später in der Erdumlaufbahn wiederholt werden. Das hat den großen Vorteil, dass das Interferometer zusammen mit dem Atomstrahl die ganze Zeit fällt“, sagt Lämmerzahl. „Die Atome wandern deshalb viel langsamer durch das Interferometer, was die Messung wesentlich genauer macht.“ Im Jahr 2016 soll der Satellit Microscope starten, das Interferometer nach den Vorversuchen im Fallturm dann 2021 mit dem Esa-Satelliten STE-Quest. Zusätzlich ist auch ein Interferometer auf der Raumstation ISS geplant. „Eine Abweichung vom Äquivalenzprinzip wäre eine wirklich revolutionäre Entdeckung“, sagt Claus Lämmerzahl. Falls aber auch diese Versuche das Prinzip nicht widerlegten, „dann würde das einige Quantentheorien der Gravitation durchaus einer harten Prüfung unterziehen.“
STUART CLARK, WOLFGANG RICHTER 4 | NewScientist | 33
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Ein besonderes Buch Die Erinnerungen der Anne Frank haben die niederl채ndische Kreativagentur Souverein zu dieser Darstellung des Themas Autobiografie inspiriert. Das Portr채t erschien im vergangenen Jahr anl채sslich der Dutch Book Week. 30 | NewScientist | 45
Psychologie Jeder von uns ist eine Sammlung von Erinnerungen. Sie bestimmen, wie wir denken, handeln und entscheiden, ja sie definieren sogar unsere Identität. Aber wie erzeugt das Gehirn Erinnerungen und speichert sie? Warum behalten wir manches im Gedächtnis und anderes nicht? Woran erinnern sich Tiere? Und wie können wir unser Gedächtnis verbessern? Diese und viele weitere Fragen beantworten wir auf den folgenden Seiten – und im zweiten Teil dieses Schwerpunkts in der kommenden Ausgabe.
Zurück in die Zukunft VANWANTENETCETERA / SOUVEREIN; HANDSCHRIFT: ANNE FRANK HAUS / GETTY IMAGES
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iele von uns stellen sich das Gedächtnis als eine mentale Autobiografie vor – gewissermaßen als ein persönliches Buch über das eigene Ich. Wer zum Beispiel das Herzklopfen am ersten Schultag wieder spüren möchte, muss nur den Staub vom Buchdeckel wischen und die entsprechenden Seiten aufschlagen. Es gibt dabei allerdings ein Problem: Unser Buch ist ziemlich unzuverlässig. Wir neigen nicht nur dazu, entscheidende Details zu vergessen, wir erinnern uns auch an Ereignisse, die in Wirklichkeit nie stattgefunden haben – es ist dann, als hätte sich ein Kapitel aus einem anderen Buch in unsere Autobiografie eingeschli-
chen. Sollte der Zweck des Gedächtnisses tatsächlich sein, die Vergangenheit festzuhalten, ist so eine Schwäche rätselhaft; sie ergibt nur dann Sinn, wenn Erinnerungen in Wirklichkeit eine ganz andere Aufgabe erfüllen. Welche das ist, finden Wissenschaftler gerade heraus. Nach ihren Erkenntnissen hat sich das Gedächtnis der Menschen in der Evolution nicht entwickelt, damit wir uns an Geschehenes erinnern. Sondern damit wir uns ausmalen können, was geschehen wird. Diese Idee geht auf die Arbeiten von Endel Tulving zurück, der heute am Rotman Research Institute im kanadischen Toronto arbeitet. Der Psycho-
loge begegnete einem Mann mit Gedächtnisstörungen, der sich zwar an Fakten erinnerte, nicht aber an Episoden aus seinem früheren Leben. Das Entscheidende: Als Tulving den Mann nach seinen Plänen für den Abend oder den Sommer fragte, stieß er auf völlige Leere. Schließlich kam Tulving der Verdacht, dass die Fähigkeit zum vorausschauenden Denken untrennbar mit dem episodischen Gedächtnis verknüpft sein muss. Gehirnscans stützten seine Idee. Sie legten nahe, dass wir jedes Mal, wenn wir über die Zukunft nachdenken, die Seiten unserer Autobiografie zerreißen und die Fetzen zu einer Collage, zu einem neuen 45 | NewScientist | 31
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Szenario zusammensetzen. Dieser Prozess ist unverzichtbar für vorausschauendes Denken und Kreativität – aber wir bezahlen dafür einen Preis in Form von Genauigkeit: Unser Gedächtnis franst aus und wird durcheinandergewirbelt. „Dass wir Erinnerungen und Phantasien verwechseln, ist nicht verwunderlich, beide Vorgänge haben vieles gemeinsam“, sagt der Psychologe Daniel Schacter von der Harvard University. Wie wir auf den folgenden Seiten erfahren werden, hat diese Theorie mittlerweile zu umwälzenden neuen Erkenntnissen über das Gedächtnis geführt. Da die Fähigkeit, sich eine Zukunft auszumalen, viele Überlebensvorteile mit sich bringt, ist es keine Überraschung, dass auch andere Lebewesen diese Fähigkeiten besitzen (siehe rechts). Wir verstehen heute zudem immer besser, wie unser Ich-Empfinden entsteht und warum wir so wählerisch mit den Ereignissen sind, die wir in unsere Lebensgeschichte einfließen lassen – auch hier zeigen sich Parallelen zu der Art und Weise, wie wir uns die Zukunft ausmalen (siehe Seite 35). In der kommenden Woche erfahren Sie im zweiten Teil unseres Schwerpunkts, welchen Zusammenhang es möglicherweise zwischen einer gestörten Erinnerung und seelischen Leiden wie Depressionen oder posttraumatischen Belastungsstörungen gibt. Das könnte wiederum neue Wege in der Therapie eröffnen. Tulvings Idee könnte sogar zu einem neuen Denken über Ernährung führen. Und schließlich beschreiben wir, wie Sie Ihr Erinnerungsvermögen verbessern können. Die Erforschung des Gedächtnisses steht noch am Anfang, aber eines ist für Tulving klar: „Schon jetzt haben wir gelernt, dass das Gedächtnis ungeheuer viel komplizierter ist, als wir es uns noch vor zehn oder zwanzig Jahren vorstellen konnten.“ DAVID ROBSON 32 | NewScientist | 45
Ein Affe auf Zeitreise Evolution In seiner einfachsten Form ist das Erinnerungsvermögen so alt wie das Leben selbst. Aber was genau geht in den Köpfen von Tieren vor?
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eden Morgen geht der Mann im Park spazieren und bringt den Tauben ein wenig Brot mit. Im Laufe der Zeit erkennt er einzelne Vögel wieder. Er erinnert sich an sie und gibt ihnen sogar Namen. Aber welche Erinnerungen haben die Tauben an ihn? Denken sie gut über den Mann, können sie sein Gesicht von den Gesichtern der anderen Menschen im Park unterscheiden? Es hört sich vielleicht befremdlich an, aber wenn wir das innere Wesen anderer Arten besser verstehen wollen, müssen wir wissen, woran sie sich erinnern. Denn wie sich herausgestellt hat, ist das Spektrum der Gedächtnisleistungen von Tieren fast so überraschend und vielfältig wie das Leben als Ganzes. Falls wir mit Gedächtnis die Fähigkeit meinen, vergangene Ereignisse zu speichern und auf sie zu reagieren, besitzen sogar schon einfachste Lebewesen eines. Häufchen von einzelligen Schleimpilzen etwa, die langsam über eine Oberfläche kriechen, merken sich den zeitlichen Rhythmus ihres Umgebungsklimas und verlangsamen ihre Bewegung, wenn die nächste Trockenperiode bevorsteht – selbst wenn es gar nicht trocken wird. Nachdem vor rund einer halben Milliarde Jahren die ersten Nervenzellen in größeren Organismen entstanden waren,
wurden Erinnerungen komplexer: Die Informationen ließen sich jetzt als elektrische Muster im Nervensystem speichern (siehe Kasten Seite 34 ). Diese Form des Lernens dürfte auch das Fundament für die kambrische Explosion geschaffen haben – für die plötzliche, rasante Entwicklung höherer Arten vor rund 530 Millionen Jahren. Wie die Evolutionsforsche-
MAT JACOB / TENDANCE FLOUE
dieselbe Stelle zurück. Ganz unterschiedliche Tiere, beispielsweise Eidechsen, Bienen und Tintenfische, können lernen, aus einem Labyrinth zu entkommen, und Tauben verfügen über ein ausgezeichnetes visuelles Erkennungsvermögen: Sie sind in der Lage, mehr als tausend verschiedene Bilder zu erkennen. Sie identifizieren sogar einzelne Menschen und lassen sich dabei nicht einmal durch einen Wechsel der Garderobe hinters Licht führen.
Wisst ihr noch? Der Mann mit dem Brot …
rinnen Eva Jablonka von der Universität Tel Aviv und Simona Ginsburg von der israelischen Open University erklären, ermöglichte das Gedächtnis den Tieren, neue ökologische Nischen zu besetzen. Im Laufe der nächsten Hunderte Millionen Jahre entwickelten sich auf diese Weise immer ausgefeiltere Fähigkeiten, wobei die mentale Evolution der einzelnen Tiere
von unterschiedlichen Kräften vorangetrieben wurde. Das Ergebnis ist ein überraschend breites Spektrum von Gedächtnisleistungen im Tierreich. Wandernde Kardinalbarsche erinnern sich beispielsweise daran, wo sie in der Paarungssaison ihre Eier abgelegt haben. Nachdem sie im tiefen Wasser überwintert haben, kehren sie bis auf einen halben Meter genau an
Essentielle Episoden Solche Fähigkeiten reichen dennoch nicht an das episodische Gedächtnis heran, mit dem wir Menschen uns in bestimmte Ereignisse noch einmal hineinversetzen können. Eine Taube lernt vielleicht, unser Gesicht mit Futter in Verbindung zu bringen. Sie erinnert sich aber vermutlich nicht auf die gleiche Weise an die letzte Begegnung mit uns wie wir, die wir einen Ausflug in den Park in vielen Einzelheiten wiedergeben können. Das ist ein wichtiger Unterschied, denn nach heutiger Kenntnis ist das episodische Gedächtnis essentiell, um sich etwas vorzustellen und für die Zukunft planen zu können. Lange glaubten Wissenschaftler, die Fähigkeit zu solchen mentalen Zeitreisen sei den Menschen vorbehalten. Heute spricht allerdings einiges dafür, dass auch eine Handvoll anderer Arten in der Lage sein könnte, der Gegenwart zu entfliehen. Besonders überzeugende Hinweise darauf haben die Verhaltensforscher Nicola Clayton und Sergio Correia von der britischen Universität Cambridge gefunden: Ihren Untersuchungen zufolge können die zu den Rabenvögeln zählenden Kalifornienhäher (Aphelocoma californica) das Verhalten anderer Vögel vorhersehen. Wenn ein Häher zum Beispiel weiß, dass ein Artgenosse beobachtet, wo er sein Futter vergräbt, verlegt er den Vorrat später 45 | NewScientist | 33
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Die Überlagerung von ich und ihr
Dichtung und Wahrheit Selbstbild Jeder Mensch hat die Geschichte seines Lebens im Kopf, die aber oft mit der Realität nicht viel zu tun hat. Warum erfinden wir unsere Biografien – und wie?
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as Examen. Das erste Auto. Der erste Kuss. In unserem Gedächtnis haben solche Erinnerungen eine völlig andere Bedeutung als andere Dinge, die wir uns merken – die Milch auf dem Einkaufszettel oder die Hauptstadt von Tuvalu. Autobiografische Erinnerungen definieren uns. Sie sind, was wir sind.
Aber sie sind keineswegs vollständig: Manche Phasen unseres Lebens haben wir bis ins kleinste Detail vor Augen, über andere wissen wir nur noch bruchstückhaft Bescheid. Was veranlasst uns, ein Ereignis im Gedächtnis zu behalten und ein anderes sofort wieder zu vergessen? Lange standen Wissenschaftler vor einem Rätsel.
Mittlerweile aber verstehen sie immer besser, wie unser Gehirn unsere Lebensgeschichte schreibt. Sicher ist, dass es ziemlich früh im Leben losgeht: Einfache Zusammenhänge merken wir uns schon, bevor wir geboren werden. In einer kleinen Studie stellte sich zum Beispiel heraus, dass Neugeborene 45 | NewScientist | 35
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Mein Ich im Spiegel Dass das so ist, hat vor allem drei Gründe: Erstens sind die Nervenbahnen zwischen dem Hippocampus – dem Bereich, in dem das Gehirn Erinnerungen konsolidiert – und dem Rest unseres Denkorgans bis zum Schulalter noch nicht weit genug ausgereift; Erfahrungen aus dieser Lebensphase verfestigen sich deshalb selten. Wie der Psychologe Martin Conway von der City University London erklärt, spielt auch die Fähigkeit zu sprechen eine entscheidende Rolle: Wörter bilden ein Gerüst, an dem sich Erinnerungen festmachen und später wieder abrufen lassen. Mit seinen Experimenten konnte Conway zeigen, dass Kinder sich in der Regel erst dann an bestimmte Ereignisse erinnern, wenn sie auch die Wörter beherrschen, mit denen sie diese beschreiben können. Zum Zweiten scheint ein Gefühl für die eigene Identität entscheidend zu sein. Mark Howe, ein Kognitionsforscher an der Universität im britischen Lancaster, zeigte Kleinkindern einen Spielzeuglöwen, den er in eine Schublade legte. Kinder, die sich selbst im Spiegel erkannten – ein Zeichen, dass sie bereits ein Ich-Gefühl entwickelt hatten –, waren eine Woche später in der Lage zu sagen, wohin Howe das Stofftier gelegt hatte. Kinder, die sich selbst im Spiegeltest noch nicht erkannten, konnten das nicht. Drittens entwickeln sich unsere Identität und unsere Erinnerungen in einem en36 | NewScientist | 45
MILLENNIUM / PLAINPICTURE
fast immer aufhören zu weinen, wenn Musik ertönt, die ihre Mutter während der Schwangerschaft häufig gehört hat. Vielleicht erinnern die Klänge sie an die Geborgenheit im Mutterleib. Bewusst können wir einzelne Ereignisse aber erst ab dem zweiten oder dritten Lebensjahr abrufen, wenn die Entwicklung des autobiografischen Gedächtnisses beginnt. Insgesamt bleibt aus der Zeit vor unserem sechsten Geburtstag sehr wenig haften.
Der gewisse Verlust an Schärfe
gen Wechselspiel. Die Ereignisse in unserem Leben formen unsere Meinung über uns selbst, gleichzeitig bestimmt unsere Persönlichkeit darüber, woran wir uns erinnern. Wer sich selbst für mutig hält, behält eine Situation, in der er sich ängstlich oder feige verhalten hat, eher nicht in Erinnerung. „Das Gespür dafür, wer ich bin und wie ich meine Persönlichkeit entfalte, ist eng mit dem autobiografischen Gedächtnis verbunden“, sagt die
Psychologin Robyn Fivush von der Emory University im US-amerikanischen Atlanta. Die Führungsrolle übernehmen die Eltern: Sie prägen die Identität ihres Kindes und festigen mit den Geschichten, die sie über das Erlebte erzählen, auch dessen Erinnerungen. Wenn in Familien ausführlich über alles gesprochen wird, erzählen Kinder im Einschulungsalter detaillierter als Kinder, deren Eltern weniger komplexe Geschichten vermitteln.
KARRIERE
IKONE: Sheryl
Sandberg, Facebook-COO und Mutter
Rolle rückwärts FRAUEN Immer mehr junge Managerinnen
FOTO: ANNIE LEIBOVITZ / CONTACT PRESS IMAGES / AGENTUR FOCUS ORIGINALLY PHOTOGRAPHED FOR VANITY FAIR
entscheiden sich neuerdings wieder für Kinder und gegen eine Karriere. Die Quote könnte diese Gegenbewegung sogar noch beschleunigen.
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s war eine dieser typischen Veranstaltungen zum Thema Frauen in Führungspositionen, Ende November im holzgetäfelten großen Saal des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB). 90 Prozent Frauen im Publikum, 10 Prozent Männer; auf dem Podium Personalmanager von Allianz, Daimler, K+S, Deutscher Telekom und ThyssenKrupp, gerahmt von Expertinnen zur Frauenfrage. Wie immer ging der Diskussion ein peinlicher Befund voraus: Weibliche Manager sind in deutschen Unternehmen unterrepräsentiert. Was ist in den vergangenen Jahren nicht alles unternommen worden, um mehr Frauen in die Topetagen der Wirtschaft zu schleusen! Aktionärinnen schlagen auf Initiative des Deutschen Juristinnenbundes (DJB) seit 2009 regelmäßig Alarm auf Hauptversammlungen. Anfangs wurden sie ausgebuht, heute ergreifen die Vorstände bestens vorbereitet das Mikrofon und manager magazin 1 / 2014 125
MANAGER PRIVAT PORTRÄT
Lapo der Große PORTRÄT Lapo Elkann, das Enfant terrible der
Fiat-Dynastie, will erwachsen werden. Und auch ein bisschen Italien retten.
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talien schläft noch, Lapo Elkann ist schon unterwegs, von Mailand nach Paris. Man kann ihn nicht übersehen. Schuhe aus Schlangenleder, dicke schwarze Nerdbrille, Kaschmirsakko aus großen bunten Rechtecken – er sieht ein bisschen aus wie eine edel verpackte Leuchtrakete. „Lapo“, wie man ihn in Italien – und mittlerweile auch im Rest der Welt – nennt, ist auf patriotischer Mission. In der französischen Hauptstadt erwartet ihn schon morgens um neun Italiens Ministerpräsident Enrico Letta. Höchstpersönlich hat der ihn um Beistand gebeten: Er will das zehnjährige Bestehen von Europa Nova feiern; dem von ihm mitgegründeten Thinktank. „Imagine the future, make it happen“, die Zukunft, darum geht’s. Die Botschaft dahinter: Italien spielt noch mit. Da will Letta nicht allein im Pariser Regen stehen. Während der Regierungschef die Geladenen mit einer kurzen intellektuellen Verbaldusche besprenkelt und wieder von dannen zieht, ringt Lapo Elkann in den historischen Gemäuern der Sorbonne das ganze Wochenende mit namhaften Mitgliedern der Kultur- und Wissenschaftselite aller Herren Länder um ein besseres Europa, gibt Interviews in der VIP-Ecke. Der staatstragende Auftritt ist typisch für den neuen Lapo Elkann. Auch hier ist die Bot-
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schaft klar: Das Enfant terrible der Fiat-Dynastie will erwachsen werden. Er ist 36, er will selbst jemand sein, mehr als der Enkel des legendären Giovanni Agnelli, mehr als der Milliardenerbe, in jedem Fall mehr als der Junge mit dem Drogenskandal. Als erfolgreicher Entrepreneur, eine Art ästhetische Institution, kosmopolitisch und doch italienisch auf ganz eigene Weise, will er mitwirken, Italien wieder groß zu machen. Sein Land, das begreift man schnell, soll stolz auf ihn sein. Lapo Elkann, der große Sohn Italiens. Der Name ist Programm: Italia Independent. I-I taufte er 2007 sein Unternehmen, Independent Ideas die wenig später dazugekommene Werbe- und Marketingagentur. Während Elkann über seine Expansionspläne redet, schiebt er in der Hitze des Gesprächs, und Hitze ist seine Lebenstemperatur, die Hemdsärmel hoch; hervor sticht das „Independent“-Tattoo, es zieht sich über den ganzen Unterarm. Die Sache lässt sich gut an: Wohl ist I-I noch eine kleine Firma, aber der Unabhängigkeit erste Hürde wurde im Juni mit der Erstnotierung an der Mailänder Börse schon genommen. Dreimal musste der Handel gestoppt werden, die Nachfrage der institutionellen Investoren nach I-I-Aktien war einfach zu groß. Als der Schlussgong kam, wusste sich der
FOTO: PHILIPPE QUAISSE / PASCOANDCO
VON GISELA MARIA FREISINGER
EIN BILD VON EINEM MACHER: Elkann
schaffte in Italien den erfolgreichsten Bรถrsengang 2013
mm SPEZIAL IT UND TECHNOLOGIE
NEUE DEUTSCHE WELLE START-UPS Deutschland ist in der Netzgemeinschaft als
Zone der Klone verschrien. Doch jetzt will eine neue Generation von German Geeks mit eigenen Ideen die Welt erobern.
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manager magazin 7/2012
mm SPEZIAL IT UND TECHNOLOGIE
GARAGE 3.0: Carpooling-Gründer Matthias Siedler, Michael Reinicke, Stefan Weber und CEO Markus Barnikel (v. l.) vermitteln Mitfahrgelegenheiten an die Generation Facebook
FOTO: DIRK BRUNIECKI FÜR MANAGER MAGAZIN
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usgerechnet Amerika. Es soll der große Sprung nach vorn werden für Stefan Weber (39) und sein Team. Auf dem größten Markt der Welt wollen die Jungunternehmer mit ihrer Firma Carpooling.com punkten. Und dann das: Als sie den Markt unter die Lupe nahmen, stellten sie fest, dass ein Konkurrent ihr Geschäftsmodell bereits kopiert hatte. Zimride.com heißt der kalifornische Rivale. Der ist zwar kleiner, arbeitet aber nach dem gleichen Prinzip: Beide Start-ups vermitteln Mitfahrgelegenheiten an die Generation Facebook.
Online-Plattformen, über die Nutzer etwa Fotos oder Übernachtungsmöglichkeiten mit Fremden austauschen, werden im Silicon Valley derzeit als der große Wurf der Internetwirtschaft gehandelt. Insofern war die Existenz eines US-Klons keine echte Überraschung. Und doch wirkt der Fall wie aus einer verkehrten Welt: Das Original kommt aus München. Und die Kopie aus San Francisco. Bislang sind die Rollen anders verteilt. Bislang ist Deutschlands Online-Wirtschaft als Zone der Klone verschrien. USInternetfirmen abkupfern, um sie später
möglichst an das Original zu verkaufen, wenn dieses global expandieren will – niemand hat diesen Ansatz so weit perfektioniert wie die deutschen Brüder Oliver, Marc und Alexander Samwer. Das kopierfreudige Trio hat sich inzwischen durchs Alphabet gearbeitet: Bei Alando haben sie 1999 angefangen (ihr erstes Unternehmen, verkauft an Ebay), nun sind sie bei Zalando (ein Abklatsch des US-Schuhversands Zappos) angelangt. Man kann auf diese Weise reich werden – und gefürchtet. Dafür stehen die Samwers. Die Netzgemeinschaft begeismanager magazin 7/2012
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WAS GLOTZT DU? Tweek.tv führt Empfehlungen zu einer digitalen Programmzeitschrift zusammen. Im Team (v. l.): Nadia Boegli, Klaus Hartl, Netta Rutenberg, Sven Körbitz, Marcel Düe
tern, den Globus erobern gelingt so nicht. Dafür steht Mark Zuckerberg. „Deutschland hat als Start-up-Standort wegen seines Kopierimages fast noch schlimmeren Schaden davongetragen als China durch seinen Ruf, ein Hort für Produktpiraterie zu sein“, mahnt der Investor und Gründer des Geschäftsnetzwerkes Xing, Lars Hinrichs. Carpooling indes steht für einen neuen Gründergeist, der inzwischen durch Deutschland weht. Die German Geeks der Post-Samwer-Generation gehen lieber selbst ins Risiko, statt einer bewährten Idee nachzueifern. Sie buhlen um Förderer, Geld, Aufmerksamkeit. Sie wollen das Original sein, nicht die Fälschung. Carpooling & Co. wollen selbst Weltmarktführer werden. Optisch zumindest passt der Gründer von Carpooling in das Klischee des coolen Start-ups: Weber sitzt da in Jeans und Freizeithemd, mit großer Nerd-Brille. Der neue CEO Markus Barnikel (40) trägt einen feinen grauen Anzug. Inzwischen sehen sie bei Carpooling in ihrer Zentrale in der Nymphenburger Straße in München die Sache mit dem US-Rivalen ge84
manager magazin 7/2012
lassener. „Konkurrenz zeigt, dass der Markt reif für uns ist“, resümiert Weber. Am Ende würden es ohnehin die Deutschen sein, die die „weltweit größte Plattform für Mobilität“ aufbauten. Im Herbst steht der US-Start an, danach soll es nach Asien gehen. ist kein Einzelfall, ganz Tech-Europa scheint im Aufbruch. Die Erfinder des erfolgreichsten Handyspiels aller Zeiten, „Angry Birds“, kommen aus Finnland. Der Musikstreamingdienst Spotify, der gerade dabei ist, Apples iTunes zu entthronen, wurde in Schweden ersonnen. Auch die Chancen, dass Deutschland bald in der Online-Wirtschaft vorn mitspielt, stehen gut (siehe Grafik Seite 86). Und womit könnten die teutonischen Tüftler besser punkten als mit jenen Stärken, für die ihr Land in der Welt berühmt ist – mit Autos und mit Umweltschutz? Vom deutschen Image will der Carpooling-CEO nun profitieren. Früher hieß das Unternehmen Mitfahrgelegenheit.de. Heute kann man über Website oder Smartphone auch Bahn- und FlugCARPOOLING
FOTO: [M] ALEX TREBUS FÜR MANAGER MAGAZIN
mm SPEZIAL IT UND TECHNOLOGIE
tickets buchen. Firmen wie Eon lassen sich passende Mitfahrangebote für ihre Angestellten erstellen. Carpooling verdient nicht nur an Werbung, sondern auch an den Vermittlungsgebühren. Die deutschen Start-ups ziehen inzwischen gestandene Talente an: Barnikel, den die Gründer Ende 2011 anheuerten, war zuvor zehn Jahre lang bei Yahoo. Er kokettiert damit, dass er schon mal bei Facebooks Topmanagerin Sheryl Sandberg im Büro saß und auch noch in Palo Alto mit Zuckerberg einen Wrap aß. Sie wollten ihn als Vertriebschef für Asien einstellen. Doch Barnikel entschied sich für München: „Es war die beste Entscheidung meines Lebens. Hier gibt es noch so viel Wachstumspotenzial.“ Schon klopften die ersten US-Investoren an: „Früher musste man im Silicon Valley um einen Termin betteln. Jetzt kommen die Wagnisfonds von allein hierher.“ In der Tat, die Risikogeldgeber von der berühmten Sand Hill Road in Menlo Park haben Deutschland entdeckt. Vor allem die boomende Szene in Berlin profitiert. Google-Finanzierer Kleiner Perkins Caufield & Byers und andere Investoren
schossen Anfang 2012 dem Start-up Soundcloud, eine Art Netzwerk für Musik- und Tonkünstler, 50 Millionen Dollar zu. Normalerweise steigen Kleiner & Co. erst dann ein, wenn die jungen Firmen für die globale Expansion reif sind; die Zahl solcher Anschlussfinanzierungen aus den USA ist im vergangenen Jahr in Europa um 130 Prozent gestiegen. Ein großer Teil davon floss nach Deutschland. „Das zeigt, dass echte Innovationen Geld anziehen“, konstatiert Hendrik Brandis, Partner bei Earlybird. Der Münchener Wagnisfonds hat sich jetzt selbst Unterstützung aus dem Silicon Valley geholt, damit die Firmen aus dem eigenen Portfolio – Carpooling gehört dazu – schneller auf dem Weltmarkt reüssieren. Der Risikokapitalgeber engagierte im Mai Konstantin Guericke als Partner. Der LinkedIn-Mitgründer ist einer der am besten vernetzten Deutschen im Silicon Valley. Sein Rat: „Es gibt keinen einzigen Grund, warum nicht auch deutsche Start-ups gleich den weltweiten Markt ins Auge fassen sollten.“ Gerade Gründer in Berlin seien fürs Globalisieren prädestiniert – wegen der Multikulturalität der Hauptstadt und dem sich stetig ausbreitenden Netzwerk aus Gründern, Förderern und Investoren. ist manchen aus der Szene bereits zu viel. In der Schönhauser Allee, dem Epizentrum der Berliner Gründerszene, ist Tweek.tv zu Hause. Ein knurriger Gruß an der Tür muss reichen, dann geht Gründer Sven Körbitz (34) zurück an seinen Rechner. Ein wichtiger Produktstart steht an. Kompagnon Marcel Düe (32) hat etwas mehr Zeit, „der ganze Berlin-Hype ist uns zu einseitig“, sagt er und setzt sich. Die Tweek-Gründer kennen sich noch aus der Zeit, als sie alle bei Berliner Startups arbeiteten, die sich Nokia später einverleibte. Klaus Hartl (39) ist Mitentwickler eines weltweit verbreiteten Programmiergerüsts für Entwickler, JQuery – eine harte Währung im erbitterten Kampf um Talente: „Wir haben keine Probleme, qualifizierte Entwickler zu finden“, so Düe. Die Tweek-Macher wollen eine Plattform aufbauen, über die „die Menschen zu ihrem persönlichen TV-Programm finden“ – eine Art Fernsehzeitschrift fürs digitale Zeitalter. Tweek.tv, als iPad-App erhältlich, fasst dabei die persönlichen Tipps der OnlineDER BERLINER TECH-RUMMEL
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mm SPEZIAL IT UND TECHNOLOGIE
BITSY BOYS: Wahwah.fm hat Potenzial, das Twitter für Musikfans zu werden. An dem mobilen Musiknetzwerk arbeiten (v. l.) Ari Stein, Mathias Wingert, Philipp Eibach
Freunde zusammen. Das kann der „Tatort“ sein, der gerade im Fernsehen läuft, oder US-Serien, die nur im iTunes-Store oder beim Online-Filmdienst Netflix erhältlich sind. Klickt der Kunde, bekommt Tweek.tv eine Provision. Um ihre Idee zu verwirklichen, mussten die Gründer von Anfang an groß denken: „Wir wollten explizit nicht nur in Deutschland starten, denn unser Heimatmarkt hinkt im internationalen Vergleich hinterher“, sagt Düe. Netflix ist hierzulande noch gar nicht zugänglich. Also startete das Trio gleich in Großbritannien, einem der „weltweit fortschrittlichsten TV-Märkte“ (Düe). Schlägt das Modell dort ein, wollen die Gründer ihren Dienst im übrigen Europa ausrollen, eine Smartphone-Version starten, vielleicht ein eigenes Tweek-Netzwerk starten, um sich von Facebook zu emanzipieren. Die Tüftler haben solvente Investoren an Bord, medienaffine Startup-Förderer wie etwa Catagonia Capital und BMP Media Investors. „Die Geldgeber müssen passen. Sie müssen Marktverständnis mitbringen und die Vision teilen“, sagt Düe.
Nicht alle können es sich leisten, derart selbstbewusst beim Geldeinsammeln aufzutreten. Gerade, wenn sie echte Innovationen feilbieten, müssen Start-upEntrepreneure oft genug noch mühsame Überzeugungsarbeit leisten. Die „New York Times“ lobte Wahwah.fm, den Smartphone-Musikdienst von CEO Philipp Eibach (31), schon, bevor der Dienst in den USA überhaupt erhältlich war. Im letzten Jahr gewann Wahwah.fm den Innovationspreis der digitalen Radiowirtschaft. Auch beim Großinvestor Hasso Plattner Ventures (HPV), der Risikokapitalfirma des SAPMitgründers, ist man vom Potenzial überzeugt: „Die Software ist raffiniert“, lobt Jens Schmidt-Ehmcke von HPV. Und fügt hinzu: „Wir investieren nur in technologische Innovationen.“ Das Prinzip hinter der Wahwah-Software: Jeder kann dank der App sein eigener Radiosender sein. Playlists aus Berlin-Mitte können mit Hörern in der New Yorker Bronx geteilt werden. Das funktioniert, weil Wahwah eine Art Mischform zwischen Streaming- und Radiofunktion ist. Geld will das Team manager magazin 7/2012
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DER DIGITALE CHEF MANAGEMENT Ohne Wissen übers Web
kann niemand mehr ein Unternehmen in die Zukunft führen. Aber wie verschafft man sich die nötigen Kenntnisse?
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martphone, Tablet, Laptop, die vernetzte Armbanduhr von Samsung und die intelligente Brille Google Glass. „Fünf bis sechs verschiedene Geräte habe ich immer dabei“, deutet Achim Berg (49) auf das Digitalarsenal vor sich. Anfassen kann man die Technikspielzeuge leider nicht, denn das Treffen mit dem Arvato-Chef findet über den Internetvideoservice Skype statt. Der Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann-Servicetochter sucht regelmäßig das virtuelle Gespräch: „Das macht etwa 70 Prozent meiner Kommunikation aus.“ Berg chattet über den Webdienst Lync. Er bloggt regelmäßig für sein Team, postet privat bei Facebook und pflegt sein Netz68
manager magazin 2 / 2014
werk über Linkedin. Nur twittern mag der gesprächige Rheinländer nicht: „140 Zeichen sind mir einfach zu wenig.“ Ist das der CEO von morgen? Permanent online, dauernd im sozialen Netz aktiv, total digital eben? Der Bertelsmann-Aufsichtsrat scheint davon überzeugt. Matriarchin Liz Mohn und ihre Getreuen beriefen den ehemaligen Microsoft-Topmanager Anfang April 2013 auf den Chefposten von Arvato. Die Mission: aus Callcenteragenten, Lageristen und Marketingmenschen eine Truppe für die vernetzte Zukunft zu formen. Seither trimmt der IT-Experte das 65 000-Mitarbeiter-Unternehmen zum Enterprise 2.0. Im September schaltete er
eine neue Kommunikationsplattform namens Arvato Postbox weltweit live, um die internen Abläufe zu beschleunigen. Anfang Januar kaufte er den E-Commerce-Anbieter Netrada, der die Onlineshops von Esprit, C&A, Boss und Hilfiger betreibt. So soll Arvato am Boom des Internethandels partizipieren. Berg hat einen Plan, der dem aus einer Großdruckerei entstandenen Dienstleister das Überleben im Webzeitalter garantieren soll. Und so eine Strategie braucht heute jedes Unternehmen. Ob soziale Netzwerke, das Internet der Dinge, Big Data oder die Sharing Economy – keine globale Entwicklung ist derzeit wichtiger für die Zukunft der Wirtschaft als der digitale Wandel. Im Cyberspace findet die nächste industrielle Revolution statt. Internetinnovationen krempeln die Geschäftsmodelle in allen Branchen um. Und sehr häufig bedrohen sie die Existenz traditioneller Firmen. Jeder Unternehmenslenker muss die Tragweite dieser Veränderungen für sein eigenes Haus erkennen. Daraus einen Wettbewerbsvorteil zu entwickeln zählt zu seinen wichtigsten Aufgaben. „Die digitale Strategie ist absolute CEO-Sache“, proklamiert Herbert Henzler. Der ehemalige McKinsey-Deutschland-Chef ist bestens in den Topetagen verdrahtet. Deshalb weiß er, dass sich hierzulande viel zu wenige Spitzenmanager ernsthaft für die Ideen aus dem Silicon Valley interessieren. Ein Kardinalfehler: „Dadurch gefährden sie die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft“ (siehe Interview Seite 73). Wie also können die Konzernchefs zu „digitalen CEOs“ werden? Woher beziehen sie das notwendige Wissen für die Transformation ihrer Unternehmen? manager magazin hat bei den raren heimischen Trendsettern recherchiert. Bei Alf Henryk Wulf (51) zum Beispiel. Der Vorstandsvorsitzende von Alstom in Deutschland will den Bahn- und Energietechnikkonzern in die Ära der intelligenten Netze führen. Dafür muss er das Innovationstempo deutlich erhöhen. Und was macht Wulf – er twittert: Egal ob Bilder einer gigantischen Plattform für die Hochspannungstechnik eines
FOTO [M]: INGO RAPPERS FÜR MANAGER MAGAZIN, 3D-ILLUSTRATION: DIRK SCHLEEF
UNTERNEHMEN MANAGEMENT
„DIGITALE KOMMUNIKATION VERÄNDERT UNTERNEHMEN – MEHR FLEXIBILITÄT UND ZUSAMMENARBEIT SIND DIE VORTEILE.“ Arvato-Vorstandschef Achim Berg
TRENDS ENERGIE
POTZ BLITZ! ENERGIE Kraftwerke werden abgewickelt, die etablierten
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ie Glocken der evangelischen Kirche durchdringen ohne große Kraftanstrengung die vormittägliche Ruhe. Hier, in einer kleinen Seitenstraße, produzieren die Elektrizitätswerke Rieger nun schon seit 1905 Strom für die württembergische Gemeinde Lichtenstein, im Tal der Echaz gelegen, am Fuße der Schwäbischen Alb. Ein einsamer Verteilmast, den die Fachleute Netzknotenpunkt nennen, steht neben einem unscheinbaren Flachbau aus den 60er Jahren. Zu ebener Erde das riegersche Elektrofachhandelsgeschäft, im Rückraum die Büros, in der ersten Etage ein Besprechungsraum, der mit Erinnerungsstücken (Messgeräte, Rechenmaschinen, Glühlampen) aus den Anfängen des Betriebs bestückt ist. Ein Plakat im Schaufenster wirbt für den örtlichen Musikverein („Blasmusik zum Genießen“), das nahe gelegene Märchenschloss zieht
Großeltern-Kind-Gruppen auf die Albhöhe. Altdeutsche Stromromantik, möchte man meinen. Doch der Eindruck täuscht. Hinter dem Idyll tönt der Schlachtenlärm des neuen Energiezeitalters. „So etwas habe ich noch nicht erlebt“, sagt RiegerGeschäftsführer Alexander-Florian Bürkle (42), ein aufgeweckter Jungmanager, der seine Laugenbrezeln gern selbst bebuttert. Die Elektrizitätswerke, mehrheitlich im Besitz des baden-württembergischen Energieversorgers EnBW (ein Viertele hält noch die Rieger-Sippe), schienen pleite. Vermeintlich kein einziges Watt sollte mehr die Turbinenhalle verlassen – Stecker raus. Mit dieser Mär zog jedenfalls ein mit Klemmbrettern bewaffnetes Drückerteam durch den Ort. Die in schwarzes Tuch gekleideten Direktvertriebler wollten die Lichtensteiner an der Haustür für den Strom-
FOTO: RAMESH AMRUTH / PLAINPICTURE
Konzerne schrumpfen. Neue Anbieter drängen ins Stromgeschäft. Wer ist am besten gewappnet für die E-Moderne?
TRENDS ENERGIE
manager magazin 12 / 2013 111
SCHWERPUNKT GLÜCK | FÜHRUNG
DIE MITARBEITER GLÜCKLICH MACHEN 24
HARVARD BUSINESS MANAGER APRIL 2012
Majoretten & Showtanzgruppe „The Starlights“: Fotografie von Ursula Sprecher
und Andi Cortellini, 2007
Wer seinen Mitarbeitern hilft zu lernen und sich persönlich zu entwickeln, erntet als Dank mehr Leistung, größeres Engagement und eine bessere Stimmung. Eine Anleitung für Führungskräfte. VON GRETCHEN SPREITZER UND CHRISTINE PORATH
APRIL 2012 HARVARD BUSINESS MANAGER
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SCHWERPUNKT GLÜCK | SELBSTMANAGEMENT
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HARVARD BUSINESS MANAGER APRIL 2012
Tauchclub Dintefisch: Fotografie von Ursula Sprecher und Andi Cortellini, 2008
POSITIV DENKEN Zufriedenheit und Glück lassen sich trainieren. Drei Wege, wie Angestellte ihr eigenes Gespür für Wohlbefinden entwickeln und die Weichen für ihren Erfolg stellen können. VON SHAWN ACHOR
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m Juli 2010 erfuhr die Kosmetikfirma Burt’s Bees durch ihre Expansion in 19 Länder enorme Veränderungen. In einer solchen durch hohen Druck gekennzeichneten Situation plagen viele Führungskräfte ihre Mitarbeiter mit unzähligen Besprechungen oder überhäufen sie mit dringend zu erledigenden Aufgaben. Die so entstehende enorme Anspannung aktiviert den Teil des Gehirns, der für die Verarbeitung von Bedrohungen zuständig ist – die Amygdala. Im Zuge dieses Prozesses werden wertvolle Ressourcen von dem für effiziente Problemlösungen zuständigen präfrontalen Cortex abgezogen. John Replogle, der damalige CEO von Burt’s Bees, wählte einen anderen Ansatz. Jeden Tag verschickte er eine E-Mail, in der er die Arbeit eines Teammitglieds in Bezug auf die weltweite Expansion lobte. Er unterbrach seine eigenen Präsentationen zur Expansion, um seine Führungskräfte daran zu erinnern, mit ihren Teams über die Unternehmenswerte zu sprechen. Mitten in den Expansionsbemühungen bat er mich, ein dreistündiges Training zum Thema Glück zu moderieren. Ein Mitglied des Führungsteams berichtete mir ein Jahr später, dass Replogles betonte Förderung positiver Führung das Engagement und den Zusammenhalt seiner Manager während des erfolgreichen Wandels zu einem globalen Unternehmen sichergestellt hat. APRIL 2012 HARVARD BUSINESS MANAGER
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