Solidarität 1/2010

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Das Magazin des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks SAH • Februar 1/2010

Schweiz Integration ist Interaktion Nicaragua Jugendliche gegen Gewalt


Editorial

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Medienschau

Liebe Leserin, lieber Leser Ihr Kind lernt in der Schule Englisch, das ist Standard. Aber was würden Sie sagen, wenn in der Schule Deutsch

Oder wenn Ihr Kind erzählen würde, der englische Bergsteiger Edward Whymper hätte das Matterhorn entdeckt? Sie müssten ihm wohl erklären, dass der Erstbesteiger von Zermatter Bergführern zum Gipfel gebracht wurde. – seine Muttersprache – gar nicht vorkäme?

Solches wird heute in Afrika richtig gestellt, und es ist höchste Zeit! – Vor 25 Jahren las ich in Schulbüchern Zimbabwes, David Livingstone habe die Victoriafälle entdeckt. Unterdessen wurde berichtigt, dass er als erster Europäer auf einer Expedition mit Einheimischen die Fälle erreichte. Und in Burkina Faso werden nun Kinder zuerst in ihrer Muttersprache unterrichtet und erst da­nach in der Zweitsprache Französisch.

20.11.2009 Fra Martino gibt Amt ab Der Kapuzinermönch Fra Martino Dotta kündigt auf Februar nächsten Jahres (2010, Anm. der Red.) seinen Posten als Direktor des Schweizer Arbeiterhilfswerks im Tessin. Für den Rücktritt gibt er «persönliche Gründe» an. (…)

17.11.2009 Fairer Stein für Neunkirch Anlässlich der letzten Einwohnerratssitzung überreichte Nationalrat Hans-Jürg Fehr dem Gemeindepräsidenten Franz Ebnöther die Auszeichnung des Schweizerischen Arbeiterhilfswerkes, das 2008 zusammen mit der SP Schweiz die Kampagne «Keine Ausbeutung mit unseren Steuergeldern» lancierte. (…) Die Exekutive erklärte sich bereit, als Gemeinde die Vorreiterrolle zu übernehmen und den ausbeuterischen Arbeitsbedingungen, der Armut und der Verschmutzung der Umwelt Einhalt zu gebieten, indem sie nur noch zertifizierte Produkte einkauft und Auftragsnehmer berücksichtigt, die dasselbe tun.

Das SAH in Burkina Faso hat unter der Leitung von Paul Taryam Ilboudo viel dazu beigetragen, dass die afrika­ nischen Sprachen Einzug fanden in das Schulsystem.

Seit Mitte der 1990er-Jahre wurde das Modell «éducation bilingue» entwickelt und ist heute staatlich anerkannt. Doch noch haben nicht alle Kinder diese Chance. Während die Solidarität in Druck geht, findet in Burkina Faso eine wichtige Konferenz zu diesem Thema statt:

24 afrikanische Staaten sind vertreten, eingeladen ist auch das SAH – eine Anerkennung unserer jahrelangen Arbeit für die mehrsprachige Bildung. Paul Ilboudo erwartet, dass die Konferenz der Integration afrikanischer Sprache und Kultur in die Erziehung definitiv zum Durchbruch verhelfen wird. Aktuelle Informationen zum Kongress finden Sie auf www.sah.ch Ruth Daellenbach, Geschäftsleiterin SAH

14.11.2009 Gemeinsames Zuhause Das Schweizerische Arbeiterhilfswerk ist mit seinen Angeboten neu prominent an der Dorfstrasse in Langnau zu Hause. (…) Das Etcetera sowie die Beratungs- und Vermittlungsstelle befinden sich neu im Gebäude neben dem Teeladen. St.Galler

10.11.2009 «Ida» verwüstet El Salvador SAN SALVADOR. Der Hurrikan Ida hat in El Salvador mindestens 125 Menschen getötet. Sie kamen in Schlammlawinen und in den Fluten angeschwollener Flüsse ums Leben. (…) Präsident Funes rief in der Nacht auf gestern den Notstand aus. (…) Mehr als 7000 Menschen haben kein Dach mehr über dem Kopf. Von den Überschwemmungen sind auch Gebiete betroffen, in denen sich das Schweizerische Arbeiterhilfswerk (SAH) mit Entwicklungsprojekten engagiert.


inhalt

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SCHWEIZ 100 Gemeinden in der Schweiz wollen fair beschaffen ASAFI: Beitrag zu einer echten Aufnahmepolitik für MigrantInnen STANDPUNKT Für Integration braucht es Bildungsangebote und Kontaktbereitschaft

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INTERNATIONAL Serbien: Mit Sozialdialog den Arbeitsschutz verbessern

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Nicaragua: Jugendliche engagieren sich gegen Gewalt und Diskriminierung

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Wiederaufbau in West Sumatra: die ersten Wochen nach dem Erdbeben

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SPENDEN Aus Trauer wird Hoffnung

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EINBLICK Martín Pérez ist der neue SAH-Koordinator in Bolivien

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SCHWEIZ Worb ist eine von 100 Gemeinden, welche die SAH-Kampagne «Keine Ausbeutung mit unseren Steuergeldern» umsetzen. Wir liessen zur Feier Ballone steigen. S. 4–5

SCHWEIZ Das SAH Genf unterstützt MigrantInnen dabei, Französisch zu lernen und ihren Alltag in der Schweiz zu meistern. S. 6–7

Umschlagbilder: Im Programm ASAFI des SAH Genf lernen MigrantInnen Französisch. Fotos: Robert Hofer

Impressum Herausgeber: Schweizerisches Arbeiterhilfswerk SAH, Quellenstrasse 31, Postfach 2228, 8031 Zürich, Tel. 044 444 19 19, E-Mail: info@sah.ch, www.sah.ch, Postkonto 80-188-1 Zürich Redaktion: Katja Schurter (verantwortliche Redaktorin), Rosanna Clarelli, Christian Engeli, Hans Fröhlich, Alexandre Mariéthoz, Cyrill Rogger

INTERNATIONAL In Mulukukú setzen sich Jugendliche mit Schuldebatten und Radioprogrammen gegen Gewalt und Diskriminierung ein. S. 12–13

Layout: Atelier Binkert, www.atelierbinkert.ch Übersetzungen: Irene Bisang, Marianne Enckell, Ursula Gaillard, Milena Hrdina, Peter Schrembs Korrektorat: Angelo Ciampi, Jeannine Horni, Frances Trezevant Druck und Versand: Unionsdruckerei/subito AG, Platz 8, 8201 Schaffhausen Erscheint vierteljährlich, Auflage: 37 000 Der Abonnementspreis ist im Mitgliederbeitrag inbegriffen (Einzelmitglieder mindestens Fr. 50.–, Organisationen mindestens Fr. 250.– pro Jahr). Gedruckt auf umweltfreundlichem Recycling-Papier.

INTERNATIONAL Nach dem Beben in West Sumatra engagiert sich das SAH in der Wiederaufbauhilfe. S. 14–15


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100 Gemeinden beschaffen nach fairen Kriterien Worb beschafft nachhaltig – und ist damit eine von 100 Ge­meinden, welche die Kampagne «Keine Ausbeutung mit unseren Steuergeldern» umsetzen. Eine Bilanz. Text: Marco Kistler, Fotos: Monika Flückiger (u.) und Viktor Fröhlich (r.)

Am 26. November liessen SAH und SP auf dem Bundesplatz 100 Ballone steigen, um die Erfolge der Kampagne «Keine Ausbeutung mit unseren Steuergeldern» zu feiern – einen für jede Gemeinde, in der entsprechende Vorstösse eingereicht wurden.


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Jonathan Gimmel (r.) übergibt dem Gemeindepräsidenten von Worb das Postulat für eine faire Beschaffung.

«Die Öffentlichkeit und die Behörden waren sich der Problematik gar nicht bewusst», meint der Worber SP-Gemeinderat Jonathan Gimmel. Er hat sich dafür eingesetzt, dass die Gemeinde Worb die Forderung der SAH-Kampagne erfüllt und ihre Verantwortung für eine sozial nachhaltige Beschaffungspolitik wahrnimmt. Beim Einkauf von Produkten aus Schwellen- und Entwicklungsländern will die Gemeinde sicherstellen, dass ihre LieferantInnen die Einhaltung von fairen Arbeitsbedingungen – sprich: der ILOKern­arbeitsnormen – überprüfen. Worb beschafft nachhaltig

In Worb stiess das Anliegen auf breite Zustimmung: In einer einzigen Sammelaktion kam mehr als das Doppelte der notwendigen Unterschriften für das Volkspostulat der SP Worb zusammen. Und auch im Gemeinderat gab eine klare Mehrheit grünes Licht. Was hat sich damit in der Gemeindeverwaltung verändert? «Auf dem Selbstdeklarationsformular müssen Anbieter im öffentlichen Beschaffungswesen die Einhaltung der Normen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) garantieren», erklärt Jonathan Gimmel. «Wer diesen Anspruch nicht erfüllt, kann nicht am Submissionsverfahren teilnehmen.» Mit diesem ersten Schritt ist es jedoch nicht getan. «Namentlich geht es darum, wie Selbstdeklarationen effektiv kontrolliert werden können», meint Gimmel. Sinnvoll wäre es, Überprüfungsmechanismen auf kantonaler und nationaler Ebene zu etablieren. Deshalb fordern Gemein-

den, die nach fairen Kriterien beschaffen wollen, ein koordiniertes Handeln. Erfolge der Kampagne

Auch der Bund hat einen ersten Schritt getan: Der Bundesrat hat an seiner Sitzung vom 18. November 2009 eine neue Verordnung erlassen, welche die Forderungen des SAH nach einer fairen Beschaffung aufnimmt. Generell zieht das SAH gut zwanzig Monate nach Lancierung seiner Kampagne eine erfreuliche Bilanz, denn Worb ist nicht allein: In 100 Gemeinden wurden Vorstösse eingereicht, und eine Million SchweizerInnen wohnen heute in Gemeinden, die nachhaltig beschaffen. Die Zusammenarbeit mit dem SAH habe sich für seine Sektion gelohnt, meint Jonathan Gimmel: «Das SAH hat uns mit Mustertexten, Infomaterialien und Aktionsideen beliefert, wir haben das Ganze lokal durchgeführt, und die Wirkung nach innen wie nach aussen war gut.» Am 26. November 2009 haben das SAH und die SP die Erfolge der gemeinsamen Kampagne mit einer Aktion auf dem Bundesplatz gefeiert. «Die Schweiz bewegt sich», stand auf den 100 weissen Riesenballonen, die Christian Levrat, Präsident der SP Schweiz, und Hans-Jürg Fehr, Präsident des SAH, fliegen liessen. Auf den Ballonen sind zudem die Namen der 100 Gemeinden mit weisser Weste aufgedruckt – von Arlesheim über Worb bis Zürich.

Der Erfolg der Kampagne hat für viele Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern konkrete Auswirkungen. Denn nur wenn wir KonsumentInnen in den Industrieländern konsequent auf faire Produkte setzen, werden sich ihre Arbeitsbedingungen verbessern. Uneinsichtige Kantone

Weniger positiv ist das Echo von Kantonsregierungen und -parlamenten: «Bisher haben uns nur die Kantone BaselLand, Basel-Stadt, Bern, Waadt und Uri zugesichert, dass sie in Zukunft fair beschaffen wollen. Sie haben entschieden, von all ihren Lieferanten die Einhaltung der ILO-Kernarbeitsnormen zu verlan-

Die Kampagne hat Aus­ wirkungen für Menschen in Entwicklungsländern. gen», stellt Hans-Jürg Fehr, Präsident des SAH fest. «Warum viele andere Kantone auf stur schalten, ist für mich schleierhaft. Sogar kleine Gemeinden setzten das Anliegen um.» Christian Levrat, Präsident der SAHTrägerorganisation SP Schweiz, bläst ins gleiche Horn: «Wir sind sehr erfreut über die Zusammenarbeit mit dem SAH. So können unsere Sektionen direkt vor Ort zu einer sozialen Ausgestaltung der Globalisierung beitragen. Nach dem positiven Entscheid des Bundes werden unsere Kantonalparteien nun die Kantone nochmals angehen.»


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Mary Ann Landicho (l.) lernt im Programm ASAFI Französisch und erhält Orientierungshilfe für das Leben in der Schweiz.

«Ich hatte Angst, dass mich jemand anspricht» Das Programm ASAFI des SAH Genf unterstützt MigrantInnen, Französisch zu lernen und ihren Alltag besser zu bewältigen. So möchte es zu einer echten Aufnahmepolitik beitragen. Text: Alexandre Mariéthoz, Fotos: Robert Hofer

«Letzthin musste ich zur Post. Die Person am Schalter sprach kein Englisch, aber ich konnte ihr auf Französisch erklären, was ich brauchte.» Mary Ann Landicho, die am Programm ASAFI (siehe Kasten) des SAH Genf teilnimmt, ist sichtlich stolz auf ihren Erfolg. Zum ersten Mal in den 13 Jahren, die sie in der Schweiz lebt, konnte sie sich auf Französisch verständlich machen. Französisch sprechen verboten

Mary Ann Landicho stammt von den Philippinen. Die 44-jährige Mutter dreier heute erwachsener Kinder kam im August

1996 in die Schweiz. In der ersten Zeit blieb sie zu Hause und kümmerte sich um ihre zwei Söhne und die Tochter. Vier Jahre später trat sie eine Stelle als Hausangestellte in einer Familie mit sechs Kindern an. Hier war sie für alles zuständig: Haushalt, Küche, Kinderbetreuung, Bügeln … «Manchmal musste ich auch Schnee schaufeln», erinnert sie sich. Mit den Kindern durfte sie nur Englisch sprechen, und ihre Arbeit erlaubte ihr kaum Kontakte mit der Aussenwelt. So blieb Französisch für sie eine Fremdsprache. Seit 2008 ist Mary Ann Landicho arbeitslos. «Ich wollte

diese Zeit nutzen, um Französisch zu lernen. Meine Beraterin hat mir das Programm ASAFI empfohlen.» Ohne Sprachkenntnisse kein Kontakt

«Es ist schwierig, ohne Französischkenntnisse in Genf zu leben. Ich hatte ständig Probleme. In der Migros getraute ich mich nicht, jemanden um Auskunft zu bitten. Ich hatte Angst, dass mich jemand auf Französisch anspricht – ich verstand ja nichts!» Das hat sich geändert, seit Mary Ann Landicho am Programm ASAFI teil-


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nimmt. Obwohl der Anfang schwer war: «Nach dem ersten Kurs brummte mir der Kopf: Ich hatte noch nie so viele französische Wörter gehört!» Nach nur vier Wochen konnte sie sich aber schon an einer Unterhaltung beteiligen, auch wenn sie hin und wieder ein paar Brocken Englisch zu Hilfe nehmen musste. Ihre schnellen Fortschritte haben ihre Kinder überrascht. «Sie müssen nun langsam aufpassen, was sie sagen», meint sie lachend. Das Programm ASAFI konzentriert sich aber nicht nur auf Französisch, sondern bietet auch Unterstützung bei der Bewältigung des Alltags. Hier lernen die

Für eine echte Aufnahmepolitik

«Frau Landicho ist kein Einzelfall», erklärt Dominique Rey, Verantwortliche des Programms ASAFI. «Hausangestellte sprechen oft kein Wort Französisch, auch wenn sie schon zehn Jahre hier sind. Das Gleiche gilt für Männer, die auf dem Bau arbeiten.» Die fehlenden Sprachkenntnisse führen dazu, dass sie ihr neues Land kaum kennen, was die Integration erschwert. Das Programm ASAFI will dies ändern. Damit erfüllt es die neuen Anforderungen der Schweizer Migrationspolitik und insbesondere des neuen Ausländergesetzes, das grosses Gewicht auf die berufliche und soziokulturelle Integration und die Bewältigung des Alltags legt. «Programme wie das ASAFI unterstützen diese Ziele», meint Christian Lopez, Leiter des SAH Genf. «Die Schweiz muss jedoch eine echte Aufnahmepolitik einführen. Der Integrationsprozess würde stark vereinfacht, wenn MigrantInnen unmittelbar nach ihrer Ankunft von integrativen Massnahmen

«Ich habe endlich begriffen, wie das Abfall­trenn­system funktioniert» MigrantInnen Dinge, die für Einheimische selbstverständlich sind. «Jetzt habe ich endlich begriffen, wie das Abfalltrennsystem funktioniert», erklärt Mary Ann Landicho.

profitieren könnten.» Christian Lopez plädiert für eine neue Art der Bürgerschaft, die es MigrantInnen ermöglicht, am sozialen und politischen Leben teilzunehmen. «Damit sie zu vollwertigen BürgerInnen werden, die unsere Sprache beherrschen und ihren Alltag meistern, müssen die nötigen Instrumente zur Verfügung gestellt werden.»

Ein Ort der Integration Ziele des Programms ASAFI (Atelier de soutien à l’apprentissage du français et à l’intégration) sind zum einen die soziale und kulturelle Integration, zum anderen Kenntnisse über die Anforderungen des Arbeitsmarktes. ASAFI richtet sich an fremdsprachige Erwachsene, die sich aufgrund ihrer fehlenden Sprachkenntnisse nicht in den Arbeitsmarkt integrieren können. Im vergangenen Jahr haben 145 MigrantInnen am achtwöchigen Programm teilgenommen.


Notizen

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Arbeitsintegration von traumatisierten Flüchtlingen Die Integration traumatisierter Folterund Kriegsopfer ist oft von Schwierigkeiten begleitet. Ungenügen­de Sprachkenntnisse, die fehlende Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen sowie Defizite in der Konzentrations- und Lernfähigkeit erschweren ihnen den beruflichen Einstieg. Vor einem Jahr hat das SAH Zürich in Kooperation mit dem Ambulatorium für Folter- und Kriegs­ opfer des Universitätsspitals Zürich (afk) das Projekt Ponte gestartet. Mittels eines individuellen Coachings bereitet es Flüchtlinge auf den Einstieg ins Berufs­ leben vor. Ponte vermittelt Arbeitsplätze und begleitet die Teil­nehmerInnen während der Einsätze. Die zweijährige Pilotphase wird vom Bundesamt für Migration BFM finanziert. Das Angebot entspricht einem grossen Bedürfnis, denn viele afk-PatientInnen möchten selbständiger werden und finanziell auf eigenen Füssen stehen können. Das Ziel, sie in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren, lässt sich jedoch nur mittelfristig erreichen. Die limitierten Möglichkeiten zu erkennen und sich von beruflichen Wunschvorstellungen zu verabschieden, ist oft ein langer und schmerzlicher Prozess. Ponte be­gleitet solche Prozesse, die im positiven Fall zu einer befriedigenden Arbeits­stelle führen – wie im Beispiel des abgebildeten Teilnehmers, der im Herkunftsland Teppichhändler war und nun auch in der Schweiz eine Stelle im Teppichhandel gefunden hat.

Putzen will gelernt sein Das Projekt Co-Opera des SAH Zentralschweiz hat einen neuen Fachkurs konzipiert: «blitzblank» vermittelt Wissen im Reinigungsbereich und richtet sich vor allem an Flüchtlinge und vorläufig aufgenommene Personen. Die Arbeit in der Reinigungsbranche erlaubt ihnen, Erwerbs- und Familienarbeit zu kombinieren und mit mehreren Arbeitsstellen das gewünschte Pensum zu erreichen. Viele von ihnen arbeiten bereits in der Reinigung. Durch die Teilnahme am Fachkurs können sie ihre Qualifikation verbessern und damit zum Erhalt ihres Arbeitspensums und zur Verbesserung ihrer Chancen auf dem Arbeitsmarkt beitragen. «blitzblank» wird zweimal jährlich durchgeführt. In 20 Kurshalbtagen werden die Themen Ökologie, Unfallprophylaxe, Sozialversicherungen, Zeitmanagement, Arbeitssuche be­ handelt und Deutschkenntnisse vermittelt. Parallel dazu unterstützt das SAH-Zentralschweiz die Teilnehmenden bei der Stellensuche und vermittelt sie aktiv an Arbeitgebende.

Globalisierte Lohn­ arbeit im Privathaushalt Zahllose mobile Hausangestellte und Pflegerinnen füllen Dienstleistungs­ lücken in den reicheren Ländern dieser Welt. Eine von SAH und Denknetz im November 2009 durchgeführte Tagung befasste sich mit der Frage, wie ihre Position gestärkt werden könnte. «Warum ist es so viel einfacher, Frauen durch die halbe Welt zu fliegen, als Männer vor Ort an der Hausarbeit zu beteiligen?», fragte Professorin Maria Rerrich. Mit ihrer zeitlichen Fle­xi­bilität und hohen Anpassungsbereitschaft springen diese Dienstleisterinnen in eine Lücke, denn die hiesigen wohlfahrtsstaatlichen Konstrukte werden den modernen Lebensformen zunehmend weniger gerecht. Die Ausländergesetzgebung erhöht jedoch laufend die Hürden für die legale Zuwanderung. Deshalb müssen viele MigrantInnen in Schweizer Privathaushalten unter äusserst prekären Bedingungen arbeiten. Ihre Rechte können sie faktisch nicht durchsetzen, weil stets das Damoklesschwert der Ausschaffung über ihnen schwebt. Die Regularisierung von Papierlosen ist deshalb eine politische Grundforderung der Tagung. Wichtig sind ausserdem Mindestbe­dingungen auf nationaler wie interna­tionaler Ebene und eine Verkürzung der Arbeitszeit, damit Männer und Frauen Raum für Betreuungsarbeit finden. Unbezahlter Arbeit muss mehr Gewicht beigemessen werden, und es braucht ein stärkeres staatliches Engagement in der Pflege und Betreuung.


Pflichten statt Rechte für MigrantInnen Sprachkurse entsprechen einem grossen Bedürfnis der in die Schweiz migrierten Menschen. Es mangelt jedoch an passenden Angeboten und an der Kontaktbereitschaft der Einheimischen. Text: Anni Lanz

Anni Lanz Menschenrechtsaktivistin Solidarité sans frontières und Solinetz Basel

Im Spätherbst 2008 flüchteten sehr viele Menschen aus Eritrea und Somalia in die Schweiz. In den meisten Orten wurden sie in unterirdischen Anlagen untergebracht. Als wir die Unterirdischen in Basel besuchten, sassen sie hinter ihren Schulbüchern und büffelten eifrig Deutschvokabeln. Diejenigen in Baselland hingegen sassen gelangweilt im kahlen Aufenthaltsraum und flehten uns an, Deutsch lernen zu dürfen. Während in Basel-Stadt der dreimonatige Deutschkurs für Asyl­ suchende obligatorisch ist, wurde er in Baselland gestrichen. Wir vom Solinetz Basel sprangen in die Lücke und erteilten unentgeltlich Kurse. Sobald die SchülerInnen ein paar Brocken Deutsch beherrschten, schrieben sie Bittbriefe ans Parlament und an den Regierungsrat, ihnen doch Sprachkurse zu gewähren. Dass ihr Anliegen auf die lange Bank geschoben wurde, ist Teil des Staatkundeunterrichts, der ja zu den Einführungskursen gehört. Spracherwerb wird allgemein als prioritäre Integrationsmassnahme verstanden, doch einen rechtlichen Anspruch darauf gibt es nicht. Die gesetzlichen Integrationsbestimmungen enthalten viele Pflichten, aber keinerlei Rechte für MigrantInnen. Mangelndes Angebot

Einen Lichtblick bilden hier Initiativen wie das Programm ASAFI des SAH Genf (siehe Seite 6). Es legt Gewicht darauf, MigrantInnen unmittelbar nach ihrer Ankunft aufzunehmen. Wie das Beispiel Baselland zeigt, mangelt es weniger am Lernwillen der Einwandernden als an An­ geboten, die den unterschiedlichen Bil-

dungsvoraussetzungen der Migrations­ bevölkerung angepasst sind. Wenn mit Bildungsangeboten zugewartet wird, bis der Aufenthalt geregelt ist, bleibt der spontane Lernwille ungenutzt. Über Sprachkurse hinaus stellt sich jedoch die Frage, wie MigrantInnen sich mit InländerInnen verständigen sollen, wenn Letztere sich von den «Fremden» abschotten. Meinen SchülerInnen habe ich geraten, Menschen auf der Strasse, in den Läden, im Bus anzusprechen, um das Gelernte anzuwenden. Frustriert meldeten sie mir später, dass niemand auf ihre Kontaktversuche eingegangen sei. Integration ist gegenseitige Anerkennung

Sprache ist nicht nur ein Schulstoff. Wir alle können zur Kommunikation beitragen, indem wir auf andere Menschen zugehen und sie ansprechen. Für mich ist es viel leichter, neue Kontakte zu MigrantInnen als zu SchweizerInnen zu knüpfen. Es braucht oft erhebliche Anstrengungen, um Voreingenommenheit und Skepsis bei InländerInnen zu überwinden, hinter denen sich viel Unsicherheit verbirgt. Gefördert und gefordert werden sollen in erster Linie die Offenheit und die Bereitschaft, Anteil zu nehmen. Integration findet dort statt, wo gegenseitige Anerkennung erfahren wird und der Mut vorhanden ist, Unstimmigkeiten im direkten Gespräch auszutragen. Die Sprachkurse sind für viele neu Eingereiste einer der wenigen Orte, wo eine solche Interaktion stattfindet.

standpunkt

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PINGPONG

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Rätsel

Einladung

SAH-Sudoku

Generalversammlung des SAH 2010 5

Spielregeln Füllen Sie die leeren Felder mit den Zahlen von 1 bis 9. Dabei darf jede Zahl in jeder Zeile, jeder Spalte und in jedem der neun 3x3-Blöcke nur ein Mal vorkommen.

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Das Lösungswort ergibt sich aus den grauen Feldern waagrecht fortlaufend, nach folgendem Schlüssel: 1=N, 2=V, 3=O, 4=K, 5=M, 6=L, 7=E, 8=I, 9=W.

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Lösungswort:

Schicken Sie das Lösungswort ans SAH – mit dem beiliegenden vorfrankierten Antworttalon, einer Postkarte oder per E-Mail an: info@sah.ch, Betreff «Rätsel». Jede richtige Lösung nimmt an der Verlosung teil 1. Preis: Shopping-Tasche aus Segeltuch 2. Preis: Kerzenhalter aus Metall für vier Rechaudkerzen Die Preise werden freundlicherweise vom Werkladen des SAH Bern zur Verfügung gestellt. Einsendeschluss ist der 17. März 2010. Die Namen der GewinnerInnen werden in der Solidarität 2/2010 veröffentlicht. Über den Wettbewerb wird keine Korrespondenz geführt. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Von der Teilnahme ausgeschlossen sind Mitarbeitende des SAH und der SAH-Regionalvereine. Das Lösungswort des Rätsels in Solidarität 4/09 lautete «Kein Geschäft mit Krieg». Die GewinnerInnen waren: Eva Schlesinger aus Untersiggenthal, Ursula Mörgeli-Welz aus Bubikon und Magdalena Maspoli aus Zürich. Wir danken den MitspielerInnen für ihre Teilnahme und der gebana und dem Carrom für die gestifteten Preise.

Solidaritäts-Barometer Sollen Sprachkurse für neu in die Schweiz eingereiste MigrantInnen obligatorisch sein? Was würden Sie an der Schweizer Migrationspolitik ändern? Beantworten Sie die Fragen des Solidaritäts-Barometers auf dem beigelegten Antworttalon. Ihre Meinung interessiert uns.

Dienstag, 11. Mai 2010, 16.30 bis 21 Uhr Im Volkshaus Zürich, Blauer Saal, Stauffacherstrasse 60, Zürich Programm* 16.30 Uhr: Statutarische Geschäfte Eingeladen sind die Mitglieder des SAH. Nach der Statutenänderung vom letzten Jahr haben nun die Einzelmitglieder zum ersten Mal ein Stimmrecht. Bitte melden Sie sich mit dem beiliegenden Antworttalon, per E-Mail (info@sah.ch) oder Telefon (044 444 19 19) bis zum 6. April an. Anschliessend: Apéro 19 Uhr: Öffentliche Veranstaltung «WM 2010 – Eigentor im Kampf gegen Armut?» Im Juni 2010 findet in Südafrika die FussballWeltmeisterschaft statt. Alles wird auf Hochglanz poliert, die Fifa rechnet mit einem Milliardengewinn. Im gleichen Land lebt ein Drittel der Bevölkerung in Armut. Faire Arbeitsbedingungen und Existenz sichernde Löhne wären für diese Menschen der Schlüssel, um sich aus der Misere be­ freien zu können. Entsprechend gross waren die Hoffnungen und Erwartungen an die Milliardeninvestitionen für die WM. Auf dem Podium werden verschiedene Fragen kontrovers diskutiert: Was bringt eine Grossveranstaltung wie die WM für die Armen in Südafrika? Trägt sie zur Entwicklung bei – und für wen, kurzfristig wie langfristig? Welche soziale Verantwortung hat die Fifa, wie nimmt sie sie wahr? Wo liegen die Möglichkeiten und Grenzen der SAH-Projekte für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen? PodiumsteilnehmerInnen: VertreterIn der Fifa (angefragt); Crecentia Mofokeng, Gewerkschaft BHI Südafrika; Hans-Jürg Fehr, Präsident SAH.

* Programmänderungen vorbehalten. Aktuelles Programm unter www.sah.ch/agenda


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Der Arbeitsschutz in Serbien hat immer noch Mängel.

Arbeitsschutz dank Sozialdialog In Serbien engagiert sich das SAH für die Verbesserung des Arbeitsschutzes. Ein harter Brocken. Text: Claude Nicolet, Foto: Svetlana Dingarac

Er solle doch vorführen, wie er die Metallkanten abschleife, fordert der Direktor einen Arbeiter auf, der sich gerade eine Pause gönnt – aber er solle doch bitte die gesamte Ausrüstung anziehen, fügt er etwas leiser hinzu. Ich besuche einen Metallverarbeitungsbetrieb in der serbischen Stadt Mladenovac. Der Direktor und zwei Gewerkschafter demonstrieren mir stolz die neuen Massnahmen zur Vermeidung von Unfällen im Betrieb. Schon im Vorfeld ist mir klar gemacht worden, dass mich ein Vorzeigebetrieb erwarte. Pflichtbewusst stülpt sich der Arbeiter Handschuhe, Schurz und Schutzbrille über und beginnt mit der Schleifarbeit. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Gehörschutz fehlt – und aus sicherer Distanz wider­stehe ich knapp dem Reflex, mir die Ohren zuzuhalten. Die Funken sprühen links und rechts. Die Brille schützt den Arbeiter davor, Funken in die Augen zu kriegen – aber nicht davor, geblendet zu werden. Denn die «Schutzbrille» entspricht eher einer Taucherbrille: Die Gläser sind nicht abgedunkelt. Derweil werden nebenan mit einem grossen Kran Metallplatten quer über den Gang gehievt – einen Helm trägt niemand.

Noch viel zu tun

Das SAH unterstützt in Serbien seit 2008 die Metallarbeitergewerkschaft CATUS bei der praktischen Umsetzung von Arbeitsschutzmassnahmen. In der Aufklärung gibt es noch viel zu tun, schliesse ich aus meinem Projektbesuch. Vielleicht fehlt es nicht nur an Geld zum Kauf der entsprechenden Schutzausrüstung. Denn offensichtlich waren nach meinem Besuch

auch die einladenden Gewerkschafter durchaus zufrieden mit der Tour. «Was die sich wohl gewohnt sind von früher», geht es mir durch den Kopf. Immerhin: An der Fachtagung zur So­ zialpartnerschaft (siehe Kasten) erzählte mir der Präsident der Gewerkschaft CATUS stolz, die Arbeitsunfälle in ihren Betrieben seien im vergangen Jahr stark zurückgegangen.

Sozialer Ausgleich im Osten betrifft die Schweiz Sozialen Errungenschaften in der Schweiz und Europa muss Sorge getragen und eine Harmonisierung nach oben angestrebt werden – andernfalls drohe soziale und politische Instabilität. So lautete das Fazit der Tagung «Sozialpartnerschaft in der Schweiz, in Mittel- und Südosteuropa» von Ende November 2009, an der über hundert Fachpersonen aus der Schweiz und sechs mitteleuropäischen Ländern teilnahmen. Die Tagung wurde vom SAH organisiert, mit Unterstützung von Sozialpartnern aus der Baubranche und Metallindustrie und unter der Schirmherrschaft des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten EDA. «Eine nachhaltige Wirtschaft mit sozialem Ausgleich in den neuen EU-Ländern ist auch in unserem Interesse», betonte Bundesrätin Calmy-Rey. Sie trage dazu bei, die Arbeitsbedingungen und das System der sozialen Sicherheit bei uns zu schützen. Das Schweizer Modell der Sozialpartnerschaft könnte zum erfolgreichen Exportartikel avancieren: Im Rahmen des Erweiterungsbeitrags an die neuen EU-Ländern sind auch Projekte zur Förderung der Sozialpartnerschaft und zum Ausbau der Berufsbildung geplant. Das SAH steht hier mit Partnerorganisationen in den neuen EU-Ländern in Kontakt.


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Gewalt ist nicht normal Jugendliche setzen sich mit Schuldebatten und Radioprogrammen gegen Gewalt und Diskriminierung im nicaraguanischen Mulukukú ein. Text: Rebecca Allenspach, Foto: SAH

Jessenia Jarquín (1.v.l.), Aldo Rocha (2.v.l.) und ihre KollegInnen engagieren sich im Jugendradio von Mulukukú.


«Wir müssen auf den Gebrauch von Kondomen bestehen, um uns vor Ansteckung mit dem HIV-Virus zu schützen. Es reicht nicht, an den Schutz zu denken, wir müssen aktiv werden», meint die 15-jährige Rosa Obando Centeno auf die Frage, was ihr eine Diskussion zum Thema HIV/Aids gebracht habe. Der 19-jährige Aldo Rocha hat den Anlass in der Schule durchgeführt. Das Ansprechen des Themas Sexualität im Unterricht ist nach wie vor keine Selbstverständlichkeit. Deshalb möchte er gerne weitere Diskussionsrunden durchführen, denn «die SchülerInnen haben beim Thema Sexualität weniger Vertrauen in ihre LehrerInnen als in andere Jugendliche». Auch sexuelle Vielfalt ist ein Thema, dafür setzt sich Aldo Rocha, der wegen seiner Homosexualität mehrmals mit negativen Reaktionen konfrontiert war, ebenfalls ein: «Mein Coming-out war sehr schwierig wegen der machistischen Atmosphäre und der Religion in Mulukukú. Es gab auch schon Suizide von Lesben und Schwulen deswegen. Aber die Diskussionen und Radiosendungen zu den Menschenrechten haben geholfen, das Denken der Menschen zu öffnen.»

Frauengenossen­ schaft María Luisa Ortiz Das SAH arbeitet in Nicaragua seit 1991 mit der Frauengenossenschaft María Luisa Ortiz zusammen. Die Genossenschaft hat in dieser Zeit diverse Kleingewerbe auf die Beine gestellt, ein Alphabetisierungsprogramm initiiert, eine Klinik aufgebaut und Rechtsberatungsstellen für Frauen eingerichtet. Sie engagiert sich auch für Jugendliche: In der ersten Hälfte des Jahres 2009 haben an 80 Schulen 1200 SchülerInnen unter 14 Jahren und 2800 Jugendliche an Diskussionsrunden zu Themen wie Verhütung, Gewalt in der Familie und Kinderrechte teilgenommen.

Sensibilisierung für Gewalt

Die Jugendlichen sprechen in den Diskussionsrunden auch Themen wie Selbstwert, Kinderrechte, Gewalt in der Familie, Geschlechtergleichheit und Umweltschutz an. Sie werden in 42 Dörfern der Re­gion durchgeführt, in der 40 000 Menschen leben. Initiiert hat die Jugendarbeit die Frauengenossenschaft María Luisa Ortiz, um den gesellschaftlichen Prob­ lemen zu begegnen. Eines davon ist die Gewalt in Mulukukú, wo in den 1980er Jahren der Contrakrieg am heftigsten tobte. Sie richtet sich vor allem gegen Frauen, Kinder und Jugendliche: 350 Fälle von Gewalt in der Familie und 50 Fälle von sexueller Ausbeutung werden jährlich angezeigt. In den Diskussionsrunden wird darüber gesprochen, dass Gewalt nicht normal ist und nicht hingenommen werden muss. Kinder, die von Gewalt in ihrer Familie berichten, erhalten Unterstützung. Sei es durch Hausbesuche, Mediation oder psychologische Beratung – und in schweren Fällen wird die Polizei eingeschaltet. Auf Initiative der Genossenschaft wurde 1998 das erste Polizeikommissariat für Frauen und Kinder im ländlichen Raum Nicaraguas eröffnet.

Themen einzusetzen», beschreibt sie das Ziel der Radioarbeit. Dreimal in der Woche von zwei bis drei Uhr nachmittags sendet das Jugendradio, täglich geht das Programm «Die Stunde der Frau» über den Äther. Das Interesse ist gross: Während

«Mit unseren Programmen haben wir zur Senkung der Gewalt beigetragen.»

Radioprogramme für eine gewaltfreie Kultur

In Mulukukú engagieren sich über tausend Jugendliche in diversen Jugendgruppen: Sie malen, tanzen, treiben Sport – das Frauenfussballteam hat Aussicht auf den regionalen Championtitel – oder machen Radio. Eine von acht ausgebildeten ModeratorInnen ist die 23-jährige Jessenia Jarquín. Sie wurde dieses Jahr als beste Radiomoderatorin der Region Atlántico Norte ausgezeichnet. «Wir wollen die Jugendlichen motivieren, Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen und sich für ihre

einer Sendung rufen mindestens 15 Leute an, und im Vorfeld treffen jeweils etwa 20 Briefe ein. «Mit unseren Programmen zur Gewaltprävention und Gleichheit der Geschlechter haben wir zur Senkung der Gewalt in der Region beigetragen», ist Jessenia Jarquín überzeugt. So wurden im vergangenen Jahr nur halb so viele Fälle von Gewalt registriert wie noch vor fünf Jahren. Vor allem in den Dörfern gab es weniger Klagen. «Langfristig ist die Arbeit mit Jugendlichen eine grosse Chance für die Förderung einer gewaltfreien Kultur», meint Carmen Ayón, Koordinatorin des SAH in Nicaragua. «Indem sich Jugendliche kritisch mit dem Machismo ihrer Väter auseinandersetzen, sich ihrer Rechte bewusst werden und Mädchen und junge Frauen ihr Selbstbewusstsein stärken, initiieren sie einen Wandel der Gesellschaft.» Dies ist auch ein Grund, warum Jessenia Jarquín sich engagiert: «Es gefällt mir, mit anderen Jugendlichen zusammen zur Kreation von neuen Werten beizutragen.»

Ihre Spende wirkt Mit einer Spende von 60 Franken können acht Diskussionsrunden an Schulen stattfinden. Ihre Spende von 100 Franken ermöglicht die Durchführung des Radioprogramms der Jugendlichen während zwei Monaten.

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Die Mehrheit der Privathäuser in West Sumatra wurde vom Erdbeben zerstört.

Vier Fünftel der Häuser sind zerstört Das SAH leistet nach dem Erdbeben in West Sumatra Wiederaufbauhilfe. Unsere Koordinatorin für humanitäre Hilfe war unmittelbar nach dem Beben vor Ort. Text und Fotos: Debora Neumann

Bei meiner Ankunft zehn Tage nach dem Erdbeben bot die Innenstadt von Padang einen Anblick der Zerstörung. Vor allem Hotels und Banken lagen in Ruinen, da schlecht gebaute Betonhäuser am stärksten beschädigt worden waren. Schon am nächsten Tag fuhr ich in die umliegenden Dörfer, um die Lage zu sondieren.

Danke Dank Ihres grosszügigen Beitrags konnte das SAH den Betroffenen des Erdbebens in West Sumatra schnell und wirkungsvoll helfen: Über 230 000 Franken sind für die Unterstützung der Opfer des Erdbebens zusammengekommen. Wir danken Ihnen ganz herzlich dafür. Dazu kommen 800 000 Franken von der Sammlung der Glückskette.

In Pauah traf ich Sara Permana, die mir erzählte, wie sie das Erdbeben Ende September erlebt hatte. Wie der Boden unter ihren Füssen zu wackeln begann, so dass sie sich nicht auf den Beinen halten konnte. Wie sie hörte, dass die Häuser rundherum zu knacken anfingen. Pauah ist fast vollständig zerstört worden. Zum Glück wurde niemand aus der Familie von Sara Permana verletzt. Trotzdem schliefen alle mehrere Nächte draussen – aus Angst vor Nachbeben, die immer wieder die Erde erschütterten. Schliesslich fanden sie Unterschlupf in der Dorfmoschee. Das Erdbeben zerstörte hauptsächlich Privathäuser, Schulen und Moscheen. Da die Erde um 17 Uhr bebte, gab es glücklicherweise nur wenige Tote in den Dörfern: Die Kinder hatten die Schule bereits verlassen, die einstöckigen Privathäuser aus Beton haben meist ein leichtes Wellblechdach, sodass die Menschen mit leichten

Verletzungen davonkamen. Dennoch verloren viele Leute ihr gesamtes Hab und Gut. Ich war beeindruckt, wie schnell sie sich wieder aufrappelten. Bei meinem Eintreffen hatte die Schule bereits wieder begonnen, wenn auch unter freiem Himmel. Was braucht es am dringendsten?

Meine Abklärungen zeigten, dass es im Bereich der medizinischen Versorgung genügend Hilfsprogramme gab. Ein Riesenbedarf bestand jedoch bei Unterkünften und Schulhäusern. Denn die Leute lebten nach dem Beben bei Verwandten und NachbarInnen oder in Verschlägen aus Brettern und Wellblech. Wenige Tage nach meinem Eintreffen begann der Monsun, was die Situation noch verschärfte. Das Projektgebiet des SAH suchte ich nach dem Grad seiner Zerstörung aus: Ich berücksichtigte, was ich sah, sowie die Empfehlungen von Gemeinderegierungen


Kolumne

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Hans-Jürg Fehr SAH-Präsident und SP-Nationalrat

Fairer statt freier Handel

und Erfahrungen anderer NGOs. In den vier Dörfern, in denen das SAH nun aktiv ist – darunter auch Pauah –, sind 86 Prozent aller Privathäuser zerstört worden. Da es in West Sumatra zu heiss ist, um in Zelten zu leben, baut das SAH 600 temporäre Unterkünfte für Alte, Behinderte sowie Ein-Eltern-Familien und solche, die unter der Armutsgrenze leben. Wer ist am bedürftigsten?

Der nächste Schritt war eine Tür-zuTür-Erhebung der Zerstörung. Sie wurde ergänzt mit einer Liste der Ärmsten, die von der lokalen Gesundheitsorganisation kostenlose Behandlung erhalten. Die daraus resultierende Aufstellung der Begünstigten schaute ich mit den Vorstehenden des jeweiligen Dorfs und der religiösen Gemeinschaft an. Wichtig ist, dass jede Person in der Gemeinde weiss, wer auf der Liste steht und wie diese zustande gekommen ist, sodass dagegen Einspruch erhoben werden kann. Ende November haben lokale Handwerker mit dem Bau der temporären Unterkünfte begonnen: nach traditioneller Bauart und mit einheimischem Bau­material. Parallel dazu werden die Handwerker im erdbebensicheren Bauen ausgebildet. Dies können sie bei der Errichtung der permanenten Häuser nutzen, die beginnt, sobald

die Regierung die Beiträge für die zerstörten Häuser auszahlt. So lassen wir Wissen im Land, das den Menschen hilft, sich auf künftige Katastrophen vorzubereiten. Wer kann am besten unterstützen?

Das SAH hat Erfahrung im Wiederaufbau nach Naturkatastrophen, unter anderem aus Sri Lanka, das kulturelle und ökologische Ähnlichkeiten mit West Sumatra aufweist. Deshalb haben wir uns entschlossen, mindestens ein Jahr auf Sumatra tätig zu sein. Wir haben ein Büro eröffnet und Personal angestellt. Nach den temporären Unterkünften plant das SAH den Wiederaufbau von Schulen. Denn es wird immer noch unter Planen unterrichtet, und doppelt belegte Klassen sind die Norm. Ziel ist, dass das Schulsystem bis im Sommer, wenn die nationalen Prüfungen stattfinden, wieder gut funktioniert. Über die Nothilfe hinaus möchten wir eine längerfristige Wirkung unserer Arbeit erreichen. So fördern wir die Etablierung von Wiederaufbau-Komitees, damit die Menschen zukünftigen Katastrophen besser begegnen können. Nach sechs Wochen Aufenthalt in und um Padang kam ich mit dem Gefühl zurück, dass dank der Projekte des SAH die betroffene Bevölkerung in eine bessere Zukunft schauen kann.

Wir sind für Handel zwischen der Schweiz und den Ländern der Dritten Welt. Aber wir sind nicht für freien Handel, sondern für fairen. Leider ist es uns bisher nicht gelungen, aus Freihandels-Abkommen FairhandelsAbkommen zu machen. Der Bundesrat, die Handelsdip­lomatie, die Wirtschaftsverbände und die bürgerlichen Parteien haben im Parlament jeden Versuch der SP abgelehnt, die Handelsbeziehungen ethisch zu unterlegen. Sie beharren auf der künstlichen Trennung zwischen Menschenrechtspolitik und Handelspolitik. Das eine soll mit dem anderen nichts zu tun haben, was im Endeffekt darauf hinaus läuft, dass sich schweizerische ImporteurInnen nicht um die Produktionsbedingungen zu kümmern brauchen, unter denen ihre Ware hergestellt wird. Dieses Konzept des freien Handels ist mit extremer Unfreiheit der Arbeitskräfte in den Entwicklungsländern verbunden. Es verewigt Armut, statt sie zu bekämpfen, weil es jene ProduzentInnen bevorzugt, die grundlegende Menschenrechte (wie die ILO-Kern­ arbeitsnormen) missachten. Es toleriert die systematische Missachtung der Menschenrechte, statt ihre Einhaltung einzufordern. Dabei müsste gelten: Ein Freihandelsab­ kommen mit Kolumbien ist nicht akzeptabel, solange dort systematisch Gewerkschafts­ mitglieder ermordet werden. Ein Frei­handels­ ­ab­kommen mit Saudi-Arabien ist nicht akzeptabel, solange dort der Staat gegen zahlreiche Menschenrechte verstösst. Wir lehnen Freihandelsabkommen ab und fordern Fairhandelsabkommen mit Mindeststandards bezüglich Menschenrechten, Arbeitsnormen und Umweltauflagen.


notizen

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Steuergerechtigkeit statt Steuerflucht Über 100 Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Wissenschaft sowie etliche Organisationen – darunter das SAH – fordern mit der Unterzeichnung des Manifests Steuerwende ein gerechtes Steuersystem, das Steuerhinterziehung im In- und Ausland auf Kosten der ehr­lichen Steuerpflichtigen verun­ möglicht. Das Manifest Steuerwende fordert einen automatischen Informationsaus­tausch und will den Unterschied zwischen Steuerbetrug und einfacher Steuerhinterziehung aufheben. Gerade Entwicklungsländer sind Opfer von massiver Steuerflucht. Ihnen entgehen Milliarden an Steuereinnahmen, die dann für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung fehlen. Unterzeichnen auch Sie das Manifest: www.steuerwende.ch

Wenn ich nicht mehr bin ... … unterstütze ich die Landarbei­ terInnen in Bolivien, damit sie faire Löhne und angemessene Unter­ künfte erhalten. Ich habe in meinem Testament das SAH berücksichtigt, denn ich weiss, dass es in meinem Sinne etwas bewirken wird. Mehr Infos finden Sie unter www.sah.ch oder in unseren Merkblättern: christof.hotz@sah.ch Telefon 044 444 19 45, SAH Legatebetreuung, Postfach 2228, 8031 Zürich

Wettbewerb für Jugendorganisationen in Ex-Jugoslawien Am 5. Dezember 2009 fand in Pristina die Prämierung des SAH-Wettbewerbs «Jugend und Arbeit» statt. Preise er­hielten je zwei Projektideen von Jugendorganisationen aus den Regionen Bosnien und Herzegowina, Serbien und Kosovo. Aus 30 eingereichten Projektideen waren fünf pro Region ausgewählt worden. Die beteiligten Organisationen wurden bei der Ausarbeitung ihres Projektvorschlags fachlich beraten. Die 15 Jugendorganisationen präsentierten in Pristina ihren Projektvorschlag und diskutierten ihn mit den anderen BewerberInnen. Nach vorgegebenen Kriterien ernannten die TeilnehmerInnen selbst die zwei GewinnerInnen pro Region. Die sechs ausgewählten Projekte werden nun vom SAH finanziell und fachlich unterstützt. Sie haben zum Ziel, junge potentielle ArbeitnehmerInnen, wie etwa StudienabgängerInnen, besser in die Arbeitswelt zu integrieren. Dies ist bitter nötig, liegt doch die Jugendarbeitslosigkeit in den beteiligten Ländern vielerorts über 50 Prozent. Die Jugendorganisationen nutzten das Treffen in Pristina auch für den fachlichen und freundschaftlichen Austausch. Im Gegensatz zu den Re­gierungen, zwischen denen unüberbrückbare Gräben bestehen, hatten die jungen WettbewerbsteilnehmerInnen keinerlei Berührungsängste.

Ernährungssouveräni­ tät in El Salvador Am vierten nationalen Treffen der KleinbäuerInnen in El Salvador im Dezember 2009 war zum ersten Mal auch die Regierung anwesend. Der Vize-Landwirtschaftsminister Hugo Flores präsentierte die Politik seines Ministeriums, die auf Ernährungssicherheit fokussiert, und suchte den direkten Dialog. Damit hat die FMLN-Regierung, die seit dem 1. Juni im Amt ist, eine Kehrtwende gemacht gegenüber der früheren Regierungspolitik, welche die multinationalen Unternehmen stärkte und Gentech-Saatgut förderte. Anschliessend erarbeiteten die BäuerInnen einen Forderungskatalog für die erfolgreiche Etablierung der Ernährungssouveränität in El Salvador. Hauptpunkte waren der Zugang zu Landtiteln für jene, die das Land bebauen, sowie technische und finanzielle Unterstützung für KleinbäuerInnen und einen ökolo­gischen Anbau. Wesentlich ist auch, dass lokales Saatgut verbreitet und der Konsum einheimischer Nahrungsmittel gefördert wird – begleitet von sozialen Programmen, die Zugang zu Wohnraum, Wasser, Gesundheitsversorgung und Bildung garantieren. Diese Forderungen wurden Hugo Flores übergeben, verbunden mit dem Aufruf zu einem landesweiten Dialog. Das SAH unterstützt diese partizipative Form der Politik. Seine Koordinatorin Yolanda Martínez hat am Treffen teilgenommen.


Spenden

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Aus Trauer wird Hoffnung Ob Frauenförderung in Nicaragua oder sozialer Dialog im Kosovo – nur dank der vielfältigen Unterstützung von Menschen wie Ihnen können die Projekte des SAH umgesetzt werden. Eine Möglichkeit sind Trauerspenden. Text: Christof Hotz, Foto: SAH also, die auf Wunsch von Verstorbenen oder deren Angehörigen gemacht werden, anstelle einer Ehrung mit Blumen. So können Sie vorgehen

Wenn Sie eine Trauerspende statt Blumen wünschen, setzen Sie den Vermerk «Anstelle von Blumen denke man an das Schweizerische Arbeiterhilfswerk SAH, 8031 Zürich, PK 80-188-1» (wichtig sind korrekte Kontoangaben) auf die Todesanzeige oder das Leidzirkular. Oder veranlassen Sie, dass während der Abdankung auf das SAH hingewiesen oder diesem eine Kollekte gewidmet wird. Nicaraguanische Jugendliche setzen sich mit Gewalt auseinander.

Unterstützung, wo sie am nötigsten ist

Weitere Unter­­stüt­zungsformen Regelmässige Spenden Mit einem Lastschrift-Auftrag bei der Post oder Ihrer Bank können Sie das SAH regelmässig unterstützen, ohne dass für Sie und uns Kosten entstehen. Anlass-Spenden Sei es bei einer Geburt, einer Jubi­ läumsfeier, einem runden Geburtstag, einer Hochzeit oder der Pensionierung: Be­rücksichtigen Sie das SAH an Ihrem Fest. SAH-Patenschaft Übernehmen Sie eine SAH-Patenschaft und engagieren Sie sich gezielt für gerechte Arbeitsbedingungen weltweit. Bestellen Sie die Unterlagen mit dem beiliegenden Antworttalon.

Anfang 2009 erhielt das SAH wegen eines Todesfalls Trauerspenden von insgesamt rund 4500 Franken. Das Geld floss in ein Projekt im Dschungel Nicaraguas, weit ab von der nächsten grösseren Stadt. Dort, wo sich einst Contras und SandinistInnen blutig bekämpft haben, herrscht heute bittere Armut und ein Klima permanenter Gewalt: Eine Gewalt, die sich vor allem gegen Frauen, Jugendliche und Kinder richtet. In Waslala und Mulukukú arbeitet das SAH seit über zehn Jahren mit Frauenorganisationen zusammen. Unsere Partnerinnen sensibilisieren für Gewalt und bieten gleichzeitig Opfern von Übergriffen konkrete (medizinische, psychologische und juristische) Hilfe an. So können Frauen und Jugendliche Hoffnung schöpfen und ihre Position stärken (siehe auch Seite 12). Das ist nur ein aktuelles Beispiel dafür, was Trauerspenden bewirken können. Spenden

Dieses Geld setzt das SAH dort ein, wo es am nötigsten ist. Auf besonderen Wunsch können aber auch konkrete Arbeitsfelder (z.B. Arbeitsrechte, Frauenförderung etc.) oder Länder aus unserem Tätigkeitsbereich (z.B. Moçambique, El Salvador oder eben Nicaragua) ausgewählt werden. Im vergangenen Jahr sind auf diese Art rund 40 000 Franken in unsere Arbeit geflossen. Für alle Fragen rund um einen Todesfall hat das SAH ein Merkblatt mit Checklisten vorbereitet, das Ihnen helfen soll, sich umfassend vorzubereiten und an alles Wichtige zu denken. Es enthält auch viel Wissenswertes für Angehörige. Wir senden es Ihnen gerne zu (Bestellung auf beiliegendem vorfrankiertem Antwort-Talon). Oder nehmen Sie mit mir Kontakt auf: Christof Hotz, Telefon 044 444 19 45, christof.hotz@sah.ch, SAH Legatebetreuung, Postfach 2228, 8031 Zürich.


einblick

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Öffentliche Debatten für Bolivien Martín Pérez leitet seit November 2009 das SAH-Koordinations­ büro in La Paz. Wer ist unser neuer Mann in Bolivien und was motiviert ihn zu seiner Arbeit? Text: Katja Schurter, Fotos: SAH Martín Pérez stammt aus Cochabamba, der schönsten Stadt Boliviens, wie er meint. Bereits als Kind kam er viel herum, da sein Vater bei der staatlichen Erdöl­gesellschaft YPFB angestellt war und immer wieder den Arbeitsort wechseln musste. «Das hat mir geholfen, zu verstehen, dass es verschiedene Perspektiven gibt», meint Pérez. Weil sich seine Mutter gegen den Vater durchsetzte, konnte Pérez seinen Wunsch verwirklichen, in La Paz Ökonomie zu studieren. Seine Laufbahn begann der heute 38-Jährige 1994 im Ministerium für Planung und Entwicklung, im gleichen Jahr, als in Bolivien ein Gesetz zur Dezentralisierung in Kraft trat.* Auch für die Arbeit des SAH war das Gesetz ein Meilenstein. Es bildete die Basis für die Entwicklung der SAH-Programme zur Partizipation der Bevölkerung auf lokaler Ebene. Engagement für Demokratisierung

Martín Pérez setzte sein Engagement für die Verbindung von Entwicklung und Demokratie acht Jahre bei der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammen­ arbeit (GTZ) ein, bis er 2004 ans Ministerium für Dezentralisierung wechselte. 2007 bewarb er sich erfolgreich für die Leitung des Programms zur Förderung der Demokratie auf kommunaler Ebene (Padem), das vom SAH im Auftrag der Deza durchgeführt wird. «Was das SAH für die Stärkung von Basisorganisationen getan hat, die kreative Art und Weise, wie es die

Beteiligung der Bevölkerung fördert, gefiel mir», begründet Pérez seinen Stellenwechsel. Als er gefragt wurde, ob er die Nachfolge von Renata Hofmann übernehmen wolle, die das SAH-Koordinationsbüro in Bolivien während 23 Jahre geleitet hat (siehe Solidarität 3/08), freute er sich über die neue Herausforderung: «Das SAH ist sehr bekannt und angesehen in Bolivien. Ich möchte das bisher Erreichte weiterentwickeln.» Herausforderung Arbeitsrechte

Bei den Wahlen Anfang Dezember 2009 wurde Evo Morales – der erste indigene Präsident seit der Unabhängigkeit vor 200 Jahren – mit 64 Prozent der Stimmen für weitere fünf Jahre im Amt bestätigt. Die Wahlbeteiligung betrug 90 Prozent, und die Regierungspartei MAS erreichte auch in Senat und Abgeordnetenhaus eine Zweidrittelmehrheit. Also freie Hand für Evo Morales? Martín Pérez gibt zu bedenken: «Die Zivilgesellschaft sollte sich nicht nur über Wahlen beteiligen können. Es braucht Transparenz und soziale Kontrolle.» So bedauert er, dass es im Vorfeld der Wahlen kaum öffentliche Debatten gab: «Die Bevölkerung wusste nicht wirklich, wofür die Kandidaten stehen. Damit die Leute die Politik verfolgen können, müssen unbedingt der Zugang zu Informationen verbessert und Plattformen für Debatten geschaffen werden.» Als weiteren wichtigen Schwerpunkt sieht er das Thema menschenwürdige Arbeit: «Ich möchte den sozialen Dialog und öffentliche Debatten über die Beschäftigung im Land fördern. Denn nur wenige Menschen haben in Bolivien eine formelle Anstellung.» Der Einbruch der Gas­ein­

nahmen und der Rückgang der Überweisungen von MigrantInnen in den USA und Europa im Zuge der Krise haben die Situation in Bolivien verschärft. «Grosse Herausforderungen sind die Schaffung neuer Arbeitsplätze und die Umsetzung der Verfassung, die weitgehende Arbeitsrechte garantiert. Dafür möchte ich mich einsetzen.» * Das Gesetz zur Dezentralisierung verlieh den Kommunalverwaltungen mehr Kompetenzen (Aufgaben im Bereich Infrastruktur und eigene Budgets) und der Bevölkerung die Möglichkeit zur Partizipation an der Politik.

Situation in Bolivien Unter der Präsidentschaft von Evo Morales hat Bolivien eine neue Ver­ fassung verabschiedet. Die Rechte der indigenen Bevölkerung wurden erweitert und Umverteilungsmassnahmen zugunsten der ärmeren Bevölkerung eingeleitet. Doch der Kurs der Regierung Morales bleibt nicht unwidersprochen. KritikerInnen werfen der Regierung Autoritarismus und die Missachtung grundlegender Menschenrechte vor. Die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen sind von ethnischen Ressentiments geprägt. Die Eliten in den wirtschaftlich besser gestellten Departementen des Tieflands verteidigten ihre Privilegien und verlangen Autonomie. Bolivien steht vor der grossen Herausforderung, einen neuen Sozialvertrag für eine demokratische, pluriethnische Gesellschaft zu verwirklichen und gleichzeitig die Lebensbedingungen der marginalisierten Bevölkerungsschichten zu verbessern.


einblick

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Martín Pérez in einer indigenen Gemeinschaft, nachdem sie gemeinsam Projektvorschläge für das Gemeindebudget erarbeitet haben.


«Es ist schwierig, ohne Französischkenntnisse in Genf zu leben.» Das Programm ASAFI bietet MigrantInnen Sprachkurse und Orientierungshilfe.

www.sah.ch


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