urban spacemag #2: Gaffa Urbanismus

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SPACEMAG #2

GAFFA URBANISMUS



EDITORIAL DIE ZWEITE AUSGABE DES SPACEMAGS BESCHÄFTIGT SICH MIT EINER NEUEN PROKLAMIERTEN STRATEGIE – EIN MULTIURBANES PHÄNOMEN ALLGEGENWÄRTIGER STADTPRODUKTION: GAFFA URBANISMUS.

Mit der zweiten Ausgabe des Magazins ist der große Schritt zur Magazinreihe vollzogen – nach einem erfolgreichen Start mit dem spacemag #1 Rhythmus des Konsums, welches sich dem glitzernden und polarisierenden Phänomen der Shopping- und Konsumwelten widmete. Das spacemag spiegelt urbanistische, architektonische und ökonomische Sichtweisen ebenso wider wie künstlerische Positionen und persönliche Geschichten. Es setzt ein Band zwischen akademischer Stadtforschung und kioskem Szenemagazin.

Mit einem Call for Contributions suchten wir nach Positionen und Anwendungen dieses offenen und lernenden Begriffs. Das spacemag präsentiert somit eine erste Zusammenstellung von unterschiedlichen Denk- und Handlungsweisen zum Gaffa Urbanismus. Es nähert sich einem gesellschaftsrelevanten Thema, das parallel zu konventionellen Stadtentwicklungsprozessen verläuft. Im Vordergrund steht dabei die Aneignung und Mitgestaltung der Stadt. Die Gaffa Methode ist taktisches Vergnügen oder gelebte Realität im Stadtraum. Gaffa Urbanismus geht über den, in den letzten Jahren verstärkt auf der urbanen Agenda stehenden, Gegenstand der „informellen Stadt“ hinaus. Es ist ein Querschnitt spontaner und improvisierter Kombination von Objekten und Ideen im städtischen Kontext. Oft vorbei an bestehenden Kenntnissen, Gewohnheiten und Regularien, führt die Methode Gaffa in der Stadt zu ständig neuen kulturellen Erscheinungsformen und urbanen Funktionsmustern. Als Transmitter lokaler und globaler Geschichten aus den Bereichen Stadt, Mensch, Kunst und Kultur präsentiert das Magazin in seiner inhaltlichen Zusammenstellung einen Ausschnitt gelebter und gedachter Stadtkultur. Dabei ist die Wellblechhütte genau so ein Teil des Gaffa Urbanismus‘ wie die künstlerische und theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema – jeweils auf ihre Art und Weise. Wir freuen uns bereits jetzt auf die Fortführung des Magazins und wünschen viel Freude und neue Ideen mit der Lektüre. spacedepartment


SPONTAN URBAN

STADTPLANUNG – EIN FALL FÜR MACGYVER Jan Bovelet

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©spacedepartment


WAS MACGYVER PER GAFFA PROVISORISCH KREIERT, SIND KEINE DIREKTEN MODELLE FÜR URBANES DESIGN, DOCH WEISEN SIE EINEN METHODISCHEN WEG IN DIE GESTALTUNG UND PRAXIS DER STADT.

/// DIE INFORMELLE STADT IST VON DER FORMELLEN STADT AUS GEDACHT: SIE IST QUASI DIE ANTI-STADT. DIE STADT IST GEORDNET, SIE FOLGT OFFIZIELLEN REGELN, DIE IN EINEM ÖFFENTLICHEN, GEREGELTEN DISKURS FESTGELEGT WERDEN. Die informelle Anti-Stadt dagegen wächst ungeregelt, folgt keinen allgemeinen und übergeordneten Ordnungsprinzipien. Dieses Schwarz-Weiß-Bild geht allerdings geradewegs an der Wirklichkeit vorbei. Es ist ein idealtypisches Bild, das auf der Dichotomie von Ordnung und Chaos aufbaut und diese in unterschiedlichen Hinsichten ausdeutet. Entscheidend ist dabei, wie man mit dieser Differenz umgeht und was man aus ihr macht. Sobald sie eingeführt wird, ist damit auch eine ethisch-politische Positionierung impliziert, die als Verhältnis von Kontrolle und Emanzipation adressiert werden kann. Dieses Verhältnis erstreckt sich von der Ebene der Akteure der Stadtgestaltung über die Formen der Stadtpraxis bis hin zur Gestalt der Stadt. Man muss diese Differenz aber nicht notwendigerweise einziehen. Der Dualismus von Ordnung und Chaos, von Stadt und Anti-Stadt, hat kein ontologisches Fundament: Er ist ein epistemologisches Konzept, das Analyse und darauf aufbauend Entscheidungen und Handlungen ermöglicht. Es gibt nirgends das Chaos oder die Ordnung in einem starken ontologischen Sinn; ebensowenig gibt es irgendwo die absolute Stadt oder Anti-Stadt. Stadt und Anti-Stadt tragen jeweils immer auch Anteile ihres konzeptionellen Antagonisten in sich. Diese gegenseitige Verstrickung von Formellem und Informellem muss das Ziel der

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konzeptionellen Bemühungen und der Strategien der Stadtgestaltung sein. Die absolut-formelle Stadt ist tot: Dort – eigentlich ein Un-Ort, eine dystopie, auf die sich gar nicht zeigen lässt – kann es keine Stadtpraxis geben. Und die total-informelle Stadt ist gar keine Stadt, denn etwas gänzlich ohne formelle Struktur ist – nichts. MacGyver, mit dem Gaffa Tape in der Tasche der ledernen Blousonjacke, gehört in keine dieser beiden Städte. Er ist ein Grenzgänger zwischen Stadt und AntiStadt – wenn es diese beiden denn gäbe. Aber es gibt sie nicht; sie sind beide Erfindungen eines dualistischen Denkens, das sich in vornehmer Distanz zur Realität aufhält. MacGyver operiert mit seinem Gaffa Tape in der Realität: Er hält sich im Dazwischen auf, dort, wo Chaos und Ordnung aufeinander treffen. Die charakteristische Geste des Gaffa Tapes ist das Provisorium. In unstabilen Verhältnissen kann man sich nur provisorisch bewegen und einrichten. Aber das Provisorische ist nicht das Mittel zum Erreichen des Festen, Statischen, Absoluten. Das Provisorische ist das einzige, auf das sich die Stadtgestaltung stützen und von dem sie ausgehen kann. Sie findet sich wie MacGyver in Situationen wieder, aus denen sie sich kreativ befreien muss. Masterpläne lassen sich aus einer MacGyver’schen Perspektive höchstens gefaltet verwenden – z.B. zur provisorischen Stabilisation von wackligen Tischen.

MASTERPLÄNE LASSEN SICH AUS MACGYVER’SCHER PERSPEKTIVE HÖCHSTENS GEFALTET VERWENDEN – Z.B. ZUR PROVISORISCHEN STABILISATION VON TISCHEN.

1966 forderte Venturi den Vorrang des both and vor dem either or. Der Urbanismus ist aber immer noch dadurch beeinträchtigt, dass er dichotomische Perspektiven auf Stadt illegitim überhöht und hypostasiert. Die Stadtpraxis der Bewohner fällt in dieser Perspektive durch die Maschen der Konzeptionen: Eine formell durchgeregelte Stadt wird ihren Bewohnern nicht gerecht. In einer funktional entflochtenen Stadt z.B. gibt es keinen Platz für Bewohner, sondern nur für technokratische Klone. Ebenso entstehen in einer vollkommen ungeregelten Stadt keine Orte, die Bewohner für sich einnehmen und in denen sie sich entfalten könnten. Der Schlüssel zu diesem Dilemma liegt in der zeitlichen und räumlichen Relativität der Stadtpraxis. Stadt entsteht in der räumlichen und zeitlichen Verbindung verschiedener und nicht notwendigerweise homogener Provisorien. Stadt ist kein fester Begriff, unter dem man eine Gruppe von physikalischen Phänomenen und bestimmten Handlungsmustern zusammenfassen kann. Viel angemessener ist es, Stadt als Resultat der Überschneidung und Hybridisierung von verschiedenen Provisorien zu bestimmen, die in räumlicher und zeitlicher Hinsicht jeweils unterschiedlich stark stabilisiert sind. Diese Perspektive erinnert an die Konzeption der collage city. Aber dem Gaffa Urbanismus geht es nicht um die ontologische Feststellung, dass die Stadt eine Collage ist, deren Fragmente sich eklektizistisch aus in sich geschlossenen Architekturen rekrutieren, sondern er sieht die Stadtpraxis in den Nahtstellen und Zwischenräumen der Teile der Collage und fragt nach den Prozessen, die sich dort abspielen.

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Die Akteure des Gaffa Urbanismus sind die bricoleure. Das Motiv der bricolage, der Bastelei, trifft die faktische Situation der Stadtgestaltung wohl am genausten. Die Meister der Bastelei schätzen das Gaffa Tape als Mittel der Hybridität par excellence. Die unzähligen gadgets, die MacGyver per Gaffa provisorisch kreiert, sind natürlich keine direkten Modelle oder Konzepte für urbanes Design; aber sie weisen einen methodischen Weg in die Gestaltung und Praxis der Stadt. Mit MacGyver als role model verschiebt sich Stadtplanung auf den Ebenen von Gegenständen und Akteuren. Für MacGyver gibt es keinen festen Gegenstandsbereich; er teilt sich seine Umgebung nicht nach festen Regeln ein, sondern immer situativ. Er geht nicht geplant in Gefangenschaft und missliche Lagen, sondern gerät in sie hinein. Der Schlüssel zum Ausbruch daraus liegt in seiner epistemologischen Flexibilität: Für ihn ist die Welt nicht ontologisch determiniert und in feste Kategorien zerlegt. Sein Erfolg ist darin begründet, dass er alternative Möglichkeiten in den Konfigurationen von Dingen und in den Beziehungen von Akteuren erkennt, die anderen durch den unkritischen Glauben an ihre präformierte Perspektive auf die Welt verborgen bleiben. Gaffa Urbanismus weiß um die Unhintergehbarkeit der Relativität urbaner Ordnungsformate und um die fragile Beziehung zwischen Theorie und Praxis. Aus seiner Perspektive beinhaltet diese Relativität grundsätzlich auch immer eine politische Dimension: Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, dass all die verschiedenen und heterogenen Akteure der Stadt an der Konstitution der Stadt partizipieren können. Jeder Akteur konstituiert sich durch seine Stadtpraxis, und alle diese Praxen überschneiden und verschränken sich zum flüchtigen und instabilen Phänomen Stadt. Wie bei der ad hoc Konstruktion eines Artefaktes mit Gaffa Tape muss die Stadtplanung die divergierenden Stadtperspektiven experimentell aufeinander beziehen oder voneinander abgrenzen. Dazu muss sie auch und gerade davon ausgehen, dass es keine festen Akteure der Stadt gibt, sondern immer nur relativ stabilisierte, die man stets von neuem in der Stadt finden und identifizieren muss. Gaffa Urbanismus zielt in zwei Richtungen: Er konsolidiert Strukturen, die er in der Stadt vor- und erfindet und überführt sie in urbane Instrumente und Gestalt; zum anderen muss er aber auch überkommene Strukturen markieren und auflösen und dadurch Freiräume für Neues eröffnen. Informelle Strukturen können so in formelle übergehen, formelle Strukturen aber auch ihre praktische Relevanz wieder verlieren und aufgelöst werden. Die Gaffa Methode beginnt unverbindlich. MacGyver probiert, testet und experimentiert – immer wissend um das Potential seiner provisorischen Konstrukte. Er markiert Spuren in der Stadt, hebt diese hervor und setzt sie so auf die urbane Agenda. Ihm ist kein Hybrid zu grotesk – urbane Monstren entstehen nicht in den realen Zwischenräumen, in denen er sich bewegt, sondern gerade in den artifiziellen Domänen des Chaos und der Ordnung. Totale Kontrolle wie globales laissez-faire führen zu Versteinerung oder Auflösung der Stadt. In diesem unfruchtbaren Dualismus greift MacGyver zum Gaffa-Tape und bastelt Orte von relativer Stabilität, die das Potential bergen, zu Keimen urbaner Orte zu werden, gleichzeitig aber immer auch die Möglichkeit ihres eigenen Endes in sich tragen, und so auch wieder Raum für andere Orte freigeben können

Jan Bovelet

Architekt und Philosoph, lebt und arbeitet in Berlin.

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MIT LINKS WENN SICH TÜREN SCHLIESSEN ÖFFNET SICH EIN SPIELFELD Lukas Halemba

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HAUSGEMACHTE POSITIONEN ZU EINEM UMGANG MIT EINER TROCKENEN ZEICHENHAFTIGKEIT VON FUNKTIONALEN RÄUMEN. MENSCHEN IM FREIEN FALL TREFFEN AUF HARTBETON, STRASSE, MÜLL UND FLUT. DIE KUNST ZEIGT SICH IN DER WUNSCHPRODUKTION, UMDEUTUNG UND EINER ZUDRINGLICHEN WAHRNEHMUNG DES RAUMES

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Š Christian Wolff

EBBEFUSSBALLFELD Algorta // 2009 // unbek. Kreide auf Kaimauer 10


Hamburg // 2009 // Rudolf D. Klöckner Poolfarbe auf Parkhausbeton

© spacedepartment

MY PAINTED POOL

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Š Jan Eilts

SPIELFIGUREN Karlsruhe // 2009 // Jan Eilts und Phillip Scholz Gaffa Tape auf Recyclingpapier

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Marseille // 2009 // Cedric Bernadotte Silagefolie auf Polder

(cc) flickr.com: Cedric-Bernadotte

OSSERVATOIRENOMADES

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KURZER PROZESS

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STUTTGART 2 1 ZUM SELBE R BAUEN (...) D NECTION HAT IE STUTTGAR DIE AUFGABE T CONAN ALLEN VIE R JULI-WOCH EN-

DAS PRINZIP STUTTGART POP UP! Lukasz Lendzinski und Peter Weigand // umschichten

ZUM SCHLUSS: ES IST EINGANGS BETONT WORDEN, DASS HIER NICHT GLEICH AUF DEN ERSTEN ANHIEB ETWAS FERTIGES ENTSTEHEN KÖNNE. INZWISCHEN IST WOHL DEUTLICH GEWORDEN, DASS DIES KEINE LEERE FLOSKEL WAR. SO LASSE ICH DENN MEINE WISSENSCHAFT VOM WAL UNVOLLSTÄNDIG AUSGEBAUT STEHEN, WIE EINST DER GROSSE KÖLNER DOM UNVOLLENDET BLIEB, MIT KRANEN ZUOBERST AUF DEM UNFERTIGEN TURM. KLEINE GEBÄUDE MÖGEN VON IHREM ERSTEN ARCHITEKTEN ZU ENDE GEFÜHRT WERDEN; BEI DEN GROSSEN, WAHREN BAUTEN BLEIBT ES IMMER DER NACHWELT ÜBERLASSEN, DEN SCHLUSSSTEIN EINZUFÜGEN. DA SEI GOTT DAVOR, DASS ICH JEMALS ETWAS FERTIG BAUE! DIESES GANZE BUCH IST LEDIGLICH EIN ENTWURF, WAS SAGE ICH, DER ENTWURF EINES ENTWURFS. O ZEIT, KRAFT, GELD UND GEDULD aus Herman Melvilles „Moby Dick“

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Wollen wir überhaupt politisch auftreten, was radikalere Methodik erfordert oder bleiben wir neutral, subtiler interagierend, überhaupt hinterfragend? Ein anderes großes Thema war die Rezipientenfrage: wollen wir uns den Konventionen eines Kulturbetriebs unterordnen und uns prostituieren oder konsequenterweise ganz darauf, somit auch auf den Besucher, verzichten? Bis auf die „release is dead- partys“ und die „Apocalypse now“

/// JULI 2008: DIE BRACHE DES „STUTTGART 21“ - GELÄNDES: ALLES WARTET BIS DIE POLITIK ENDLICH DEN STARTSCHUSS ERTEILT. Die Gegner hoffen, dass ein Wunder das Mammutprojekt noch stoppt. Währenddessen initiieren wir „Stuttgart Pop Up!“ und spielen mit dieser Raum-ZeitLücke. Mehrere Monate wird ein Testfeld der Stadtgestaltung eröffnet. Startschuss 1. Juli: Mit 30 Tonnen feinstem Schalungsmaterial, 6 Containern und 90 Meter Stahlplatten wird eine Kulturbaustelle errichtet. Es werden Gelder, Helfer, Baumaterial und Akteure akquiriert. Anpassungsfähigkeit, kein idealistisches Gehabe, der richtige Ton und Netzwerk bringen uns Stück für Stück weiter. Wir simulieren einen Bauprozess und moderieren und bespielen ihn von Anfang bis Ende. Wir planen den verlangsamten Bau einer 600 qm großen, gelben Plattform. Die Bauphasen werden öffentlich zelebriert. Der riesige Materialpool erlaubt es unterschiedlichen Gruppen und Institutionen sich anzudocken, auszutoben und situativ auf den Ort zu reagieren. Ein Programm entsteht, das man für diesen Ort nicht planen würde. Ein Monat „PopUp!“: Der Zeitraum etabliert sich als soziales Gefüge: Für den Nachbarn, der den Wasseranschluss stellt, die Manager, die am Wochenende bei Bier mitaufbauen und die Kinder im Container-Swimmingpool. Die Eroberung des Ortes weckt Interesse und es kommen immer mehr Nutzungsanfragen. Zwischen Gleisanlagen und Hochhäusern entsteht das Gefühl eines Woanders. Festival-Charakter begleitet uns, wir haben nichts zu verlieren und können experimentieren. Schließlich ist es vorbei. Wir hinterlassen den Ort so, wie wir ihn vorgefunden haben. Während andere immer noch planen, nutzen wir die nächste Lücke um Stadt mit zu gestalten. Februar 2010 – „Stuttgart 21“ beginnt nun als Jahrhundertprojekt seine Bauarbeiten.

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U R. Liebel

Konzeptskizze, Juni 2007

Centrala Urban Research Institute

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Präsentation

Förderung

In diesem Sinne ist Stuttgart PopUp! ebenfalls eine Sowohl-als-auch-Organisation, die sich mit derartigen Grundwidersprüchen auseinandersetzt. Von der Idee, über die Bildung des Organisationskerns, hin zur Durchführung von Projekten ist die Arbeitsweise immer von einem Balanceakt zwischen Prozess und Struktur geprägt. Ähnlich einem gelandeten Ufo auf den BracKÁächen der Stadtschaft macht dieser Balanceakt das Pop Up zu einem Magnet für Interaktion und Kommunikation. Aus der Organisation wird dadurch ein Schlüsse-

als-auch-Organisationen vereinen Eindeutigkeit und Uneindeutigkeit in einer prozessualen Struktur. Die Koordination und das Gleichgewicht zwischen Dezentralisierung und Zentralisierung, Insourcing und Outsourcing, Autonomie und Abhängigkeit, Hierarchie und Heterarchie bestimmen dann maßgeblich den Output der Organisation.

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Sponsoring

Karle Entsorgung und Recycling GmbH

Kooperation Kunststiftung Baden-Württemberg

Nachbarschaftshilfe / Ermöglicher

Produktion

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Sucht man bei Wikipedia nach dem Ursprung des Wortes „brachial”, so ÀQdet man über „Brachareal” unweigerlich den Weg zu „dastop” , dem Underdog der Stuttgarter Subkultur. DASTOP

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sind das junge Architekturbüro „umschichten“ und verstehen sich als Architekturambulanz. Das Projekt Stuttgart PopUp! wurde als Multiplikator von Mai 2007 bis inkl. 2008 veranstaltet. Die beiden Organisatoren stellten die nötige Infrastruktur um anderen Gruppen und Künstlern wie auch Programmen ein Andocken zu ermöglichen.

Lukasz Lendzinski und Peter Weigand

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SHUETSU SATOS KLEBEARBEIT

GAFFA TAPE KUNST IN DER TOKIOTER U-BAHN Verena Dauerer

© Fotos von Verena Dauerer

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/// WACHMANN SHUETSU SATO HAT EIN BESONDERES HOBBY: IN DEN U-BAHNHÖFEN IN TOKIO KLEBT ER DIE UMLEITUNGSHINWEISE VOR DEN BAUSTELLEN – PER HAND FEIN SÄUBERLICH MIT BREITEM, BUNTEN KLEBEBAND. Exakt zeichnet er mit der Hand die Linien vor, dann schneidet er genau abschätzend das Klebeband in die Länge und setzt Lage für Lage behutsam in meditativer Präzisionsarbeit aneinander. Minutiös sind die Laufwege von U-Bahnlinie A zu Anschlusszug B – wie hier in Nippori Station – gelegt, die Fluchtwege und Toiletten gekennzeichnet und natürlich auch die Lage der Rolltreppen und Lifte dargestellt. Dabei sind die Linien zweifarbig geklebt, damit ermüdete Pendler gleich mit einem raschen Blick im Vorbeigehen wissen, in welche Fahrtrichtung sie die Treppe hinuntersteigen müssen. Und selbst die Route in den Gängen ist mit Eingang und Ausgang bezeichnet, dass sich die Pendler zu Stoßzeiten auch wohl geordnet auf der linken oder rechten Gangseite halten: Clever und ausgeklügelt ausgedacht und ein Paradebeispiel für japanischen, zur Perfektion gebrachten Pragmatismus. Angefangen hat Shuetsu Sato wohl im Jahr 2003, als die gigantische Shinjuku Station mal wieder an einer ihrer vielen Ecken ausgebessert werden sollte. Heute gehört er zum Sicherheitspersonal der U-Bahnlinien, eigentlich kommt er aber ganz woanders her: Vor Jahren hat er als Banker in Tokio angefangen und später als Schriftsetzer bei Zeitungen gearbeitet. Das war zu einer Zeit, als man die Texte für die japanischen Zeitungen noch komplett handschriftlich verfasst und kopiert hat. Er verlor seine Jobs irgendwann und heute ist er eben Wachmann. Über die Jahre hat sich schließlich eine treue Fangemeinde an Vorbeieilenden gebildet, und die Filmgruppe TrioFour hat Sato sogar eine Doku und eine Ausstellung gewidmet. Seine Klebebandwerke sind ja nie lange an Ort und Stelle – so lange wie die Baustelle eben am jeweiligen Bahnhof ist. Das kann aber wohlgemerkt in den Tokioter U-Bahnhöfen schon mal mehrere Monate dauern.

PERFEKTIONISTISCHER PRAGMATISMUS Doku von TrioFour über Shuetsu Sato (auf japanisch): http://www.youtube.com/watch?v=_tm0tQWmjSc&

Verena Dauerer

Journalistin. Von der taz und de:bug her über Newthinking (netzpolitik.org) bis nach Tokio gekommen und da die letzten zweieinhalb Jahre als Redakteurin des englisch-japanischen PingMag Magazins (pingmag.jp) arbeitend. Seit letztem Jahr wieder in Deutschland als Redakteurin von PAGE und WEAVE Mag aus Hamburg. http://spezify.com/#/verena%20dauerer

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© Alle Fotos: post

/// MANCHMAL ERTAPPEN WIR UNS DABEI, STUNDEN DURCH DIE NÄCHTLICHEN STRASSEN ZU WANDERN, AUF DER SUCHE NACH SPUREN UND LEBENSZEICHEN DER BEWOHNER. DOCH STOCKHOLM IST REIN – UND DAMIT SO RÄTSELHAFT WIE EIN WEISSES BLATT, DASS SICH BESTÄNDIG DAGEGEN WEHRT, BESCHRIEBEN ZU WERDEN. Plakate werden mit Krepp angeklebt, um nach einer Woche wieder spurlos verschwinden zu können. Alles andere wird binnen Stunden oder Tagen von den Wänden geschrubbt. Man ist sorgfältig darum bemüht, Teile der Stadt zu konservieren, während man andere rigoros löscht. Genau darin steckt eine großartige Chance, wenn man es schafft, zum weißen Fleck auf dem leeren Blatt zu werden – wenn man sich so versteckt, dass man anfängt, zu dem Teil zu gehören, der nicht weggeputzt wird.

Sie verschmilzt mit ihrer Umgebung – ein Stück Stadt sprichwörtlich ausgrauend, das sich nun mit neuen Funktionen füllen lässt. Von drei kleinen grauen Elektrokästen aus, blenden wir beispielsweise lokale Überwachungskameras für eine Minute pro Tag. Eine andere Kiste ist die exakte Kopie eines Trafohäuschens. Das “Electric Inn” lässt sich mit einer Bierflasche öffnen, wie ein Rollkoffer überallhin mitnehmen und innerhalb einiger Sekunden so ausklappen, dass man bequem und trocken darin schlafen kann. Wieder zusammengeklappt am Straßenrand wird es zum Nicht-Raum, der zwar existiert, aber für die meisten unsichtbar bleibt. Hinter unauffälligen, scheinbar nützlichen Hüllen versteckt sich eine Fülle vollkommen übersehener, unscheinbarer Orte. Es sind Zwischenräume, Inseln im öffentlichen Raum. Meist gut umbaut, getarnt in grauem Anstrich und manchmal garniert mit einer Seriennummer.

Wir beginnen damit, unwichtige kleine Dinge in der Stadt auszutauschen oder anzubauen. Am Anfang sind es Vogelhäuser, die sich den meisten Blicken durch ihre Banalität entziehen. Sie lassen sich einfach mit gefundenem Holz bauen, ohne, dass jemand Unterschiede zum Original entdeckt. Auf einmal tauchen überall Vogelkästen auf, mit denen man tutend für Unruhe sorgen, sich fotografieren, die Stadt mit Farbe besprühen, mit Leuten kommunizieren oder gar Feuer speien kann. Unsere Modifikationen sind anfangs noch recht augenscheinlich, je banaler aber die Tarnung, desto mehr kann man dahinter verstecken. Niemand hinterfragt eine graue Kiste mit nichtssagenden Logos, Codes und Seriennummern, die scheinbar einzig bestrebt ist, Normen zu erfüllen.

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Wir suchen neue Verstecke. Wir ändern Orte und geben ihnen auf seltsame Weise Heimlichkeit. Wir installieren nützliche Fehler oder implantieren geheime Funktionen. Versteckte Apparate werden zum Stoff von Gerüchten, Geräte zum Kommunizieren, zum Inbeschlagnehmen der Stadt. Wir statten die Alltäglichkeit mit kuriosen Knöpfen aus, mit denen sich die Stadt bedienen lässt.

post

post arbeitet seit 2008 als Kollektiv in den Städten Stockholm, Leipzig und Berlin. Videos der Aktionen findet man unter: vimeo.com/post


POST FROM SWEDEN

NÜTZLICHE FEHLER IM URBANEN RAUM

WIR DENKEN WIR KENNEN UNSERE STÄDTE, UNSERE STRASSE ODER DIE UNMITTELBARE NACHBARSCHAFT. WAS WIR KENNEN SIND DIE OBERFLÄCHEN DER STADT.

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PO 013: LAST MINUTE Der zentralste Ort der Stadt wird von drei Webcams aus Tag und Nacht live beobachtet. Sie zeigen online was los ist in Stockholm. Wir machen ein paar Experimente und installieren schließlich drei gefälschte Elektrokästen. Diese beherbergen je einen modifizierten Wecker und einen Laser, um zeitgleich um Mitternacht für eine Minute mit drei zielgerichteten Laserpunkten die Überwachungskameras zu blenden und ungesehen machen, was auch immer sich in der Minute ereignen könnte.

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PO 012: ELECTRIC INN Ca. 20 000 Transformatorenhäuschen gibt es in der Stadt. Aus Fundholz bauen wir die exakte Kopie einer solchen Kiste. Vollkommen unauffällig steht sie irgendwo am Straßenrand. Folgt man den versteckt aufgedruckten Instruktionen des “Electric Inn”, lässt es sich im Handumdrehen öffnen. Dazu braucht man nur eine leere Bierflasche als Schlüssel zu benutzen. Die Elektrokiste lässt sich außerdem wie ein Rollkoffer (also auch per Flugzeug) überallhin ziehen und innerhalb weniger Sekunden so ausklappen, dass eine Person bequem und trocken darin schlafen kann. Am nächsten Morgen lässt man die Kiste dann zusammengeklappt und somit unsichtbar am Straßenrand stehen bis zur nächsten Benutzung. Die Tarnung funktioniert so gut, dass wir prompt einplakatiert werden, während wir weitestgehend unbemerkt quer auf dem Gehweg im überlaufenen Stadtzentrum campieren.

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PO 010: PHOTOHAUS Ein einsames Vogelhaus im Leipziger Johannapark schießt Fotos aus einem Baum, wenn man am Strick zieht. Trotzdem nichts an ihm die Funktion verrät, können wir nach einigen Wochen nicht mehr jeden Tag neue Filme einlegen, so viele Leute kommen täglich und ziehen am Strick. Abzüge der Fotos heften wir schließlich an den Stamm und nehmen das überforderte Haus ab.

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TRASH YOUR HOUSE

EIN HAUS FÜR DEN HANG

Folke Köbberling und Martin Kaltwasser Text: Maren Richter

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© Bilder: Alexander Pfanzelt / Barbara Duregger


ÜBER GENERATIONEN AUFGEBAUTE LEBENSWERKE, EIGENINITIIERTE INFRASTRUKTUREN ODER ERKÄMPFTE RÄUME LASSEN SICH NICHT AN EINER MARKTFÖRMIGEN LEISTUNGSSKALA MESSEN. /// GEGENWÄRTIGE STADTENTWICKLUNG BRINGT EINE REIHE NEUER TERRITORIALSTRATEGIEN MIT SICH, WONACH SICH DAS KONZEPT „ZEIT“ AN DIE BESCHLEUNIGTEN ÖKONOMISCHEN REALITÄTEN ANZUPASSEN HAT.

produktiven Vehikel für selbstermächtigende Handlungsräume werden. Entsorgte Materialien, Abfall,

Diese Bedingungen erfordern zumeist einen hohen Grad an Selbstorganisation. Das Projekt „Trash your House“, das Folke Köbberling und Martin Kaltwasser gemeinsam mit studio 1 und Studierenden des Instituts für Gestaltung der Universität Innsbruck realisierten, konzentriert sich auf einen darin eingeschriebenen fast tautologischen Prozess, in der das Temporäre weniger ein aufbauendes als mehr ein Fehlerquellen reproduzierendes Prinzip zu sein scheint. Mit den Begriffen „temporär“ und „Prozess“ sehen die zwei jedoch die Chance, diesem Prinzip ein kritisches Gegenüber zu geben. Sie tun das mit Verweis dorthin, wo Materialien, die aus Verwertungszyklen fallen, zum

Die Arbeitsweise von Köbberling und Kaltwasser umschreibt damit aber auch ein ganz generelles Phänomen, mit dem sich das gesamte 20. Jahrhundert übertiteln ließe. Als Absetzbewegung waren die Moderne und im Weiteren die Postmoderne ein perpetuierendes Fortschreiten ohne Hinterlassen, wie der Ästhetikforscher Bazon Brock es unter dem Titel „Gott und Müll“ auf den Punkt brachte. In diesem Prozess der schöpferischen Innovations- und Zukunftsbezeugungen, musste sich die immobile Stadt, wie es schien, in wiederkehrenden Abständen als Hindernis darstellen, um sich, diese Krisenterminologien abwerfend, wieder neu erfinden zu können. Sei es im Übergang vom

also Dinge, die etwas Neuem weichen sollen, spüren die beiden akribisch auf, um diese durch umwertende Nutzungsvorschläge folgerichtig im Glanz eines programmatisch geforderten „Neuen“ erstrahlen lassen.

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ABSTURZ Nach dem Aufbau kommt der Abbau. Die soeben rekonstruierte Bergh端tte st端rzt den Hang hinab.

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industriellen Produktionsort materieller Güter und zentral gesteuerten Organismus hin zum globalen Ort der Finanzakkumulation und der Wissensökonomie, der den urbanen Raum zunehmend in Nutzungszonen fragmentiert, in der Wohnen, Arbeiten, Freizeit, Konsum als separat geführte Einheiten zu verstehen; oder im Übergang vom wohlfahrtsstaatlichen Hort zur Stadt als vorbildlich geführtem Unternehmen, diese Neuerfindungen erzeugten eine Hierarchisierung des städtischen Raums. Dennoch oder gerade deshalb muss man als Gegendarstellung die Stadt als eine unerschöpfliche Ressource in Erinnerung rufen, so Köbberlings und Kaltwassers 2006 publizierte, künstlerische Zwischenbilanz. In ihrem Verständnis kann sich im Prozessualen ein Potential entwickeln, das durch die Hierarchie weitgehend zum Stillstand gebracht wird - wenngleich die globale Marktwirtschaft sich einer ähnlichen Rhetorik bedient.

DARIN IST DIE STADT IN IHRER GESAMTHEIT ALS EINE ART ROHSTOFF ZU VERSTEHEN, DEREN UMSATZ STEIGERND VERÄUSSERT WERDEN MUSS, UM GEGENÜBER DEN ANDEREN UNTERNEHMENSSTÄDTEN KONKURRENZFÄHIG BLEIBEN ZU KÖNNEN. Dieses Verständnis wird vor allem dort verdeutlicht, wo ganze Stadtteile unter dem Vorwand der verbesserten oder innovativen Stadtentwicklung abgerissen werden, um sie strategisch aufzuwerten, obwohl man sich bewusst ist, dass die Zerstörung der über Jahrzehnte aufgebauten Individual- und Kommunallebensräume weit mehr als bloße stadtplanerische Veränderungen darstellen. Über Generationen aufgebaute Lebenswerke, eigeninitiierte Infrastrukturen oder erkämpfte Räume lassen sich nicht an einer marktförmige Leistungsskala messen. Im Besonderen dort, wo Behausungs-Provisorien in die Informalisierung übergehen, wo ausschließlich gesellschaftliche Brennpunkte geortet werden, für die keine staatlichen Problemdarstellungsmöglichkeiten mehr artikuliert werden, zeigen sich nicht selten Selbstversorgungsstrategien, anhand derer sich für die beiden KünstlerInnen sowohl soziale als auch ökonomische Taktiken erlernen lassen, vor allem jene, die marktwirtschaftlich keinen Wert haben. Als beispielsweise 2007 Mumbais Slum Dharavi zum Verkauf angeboten wurde, geschah das in der Befürchtung, dass Mumbai seine Position als Finanzmetro-

pole verlieren würde. Daher hat die Stadtverwaltung keine Stadtplaner sondern die weltweit agierende US-Consultingfirma McKinsey beauftragt, ein Stadtentwicklungskonzept zu erstellen. Um wettbewerbsfähig gegenüber anderen globalen Finanzhubs sein zu können, so die Konklusio des Mc Kinsey Reports, muss Mumbai aus seinen eigenen Ressourcen, also etwa durch die Aufwertung von Grund und Boden schöpfen. Dharavi ist aber nicht nur die größte Shanti-Town Asiens, es ist zugleich ein funktionierender Organismus, in dem sich etwa über Jahre aufgebaute Spezialbetriebe für Müllwiederverwertung etablierten. Mit dem Beschluss des Abrisses der Slumhütten würde somit ein informeller Überlebenszyklus durchbrochen und möglicherweise brisantere soziale Probleme generiert werden. Denn die Logik urbaner Raumaufwertung steht im gänzlichen Widerspruch zum Konzept eines sozialen Raums, und somit zu einem räumlichen Ordnungsprinzip, das die Stadt nicht nur als Produkt betrachtet, sondern als einen, dem Produkt gleichwertigen, sozialräumlichen Prozess, wie es etwa der französische Philosoph Henri Lefebvre in seiner kritischen Stadtforschung einforderte. „Trash your House!“ ist in mehrerlei Hinsicht eine radikale Aufforderung, um diese Widersprüche zu reflektieren. Indem eine Hütte ohne ersichtlichen Grund den Berg hinuntergestürzt wird, bedient sich die Aktion einer auf dem Prinzip der Immobilienblase beruhenden Taktik, so könnte man vorerst annehmen. Sie generiert somit einige unbeantwortbare Fragen. Sie überprüft aber zugleich die eigene Handlungsfähigkeit, für die Köbberling/Kaltwasser in ihrer Arbeit plädieren, mehr noch, zu der sie auffordern.

DENN IN DER ZERSTÖRUNG KOMMT DAS KONZEPT DER SELBSTORGANISATION ZUM INTENTIONSNULLPUNKT. Man könnte behaupten, die KünstlerInnen haben sich, um den aktuellen ökonomischen Stillstand zu verdeutlichen, in einer Weise ihrer eigenen Praxis in den Weg gestellt. Von anfänglichen Intentionen des simplen „Hausbaus“ als Aneignungspraxis im „Selbstversuch“, wie sie eines ihrer ersten Bauvorhaben untertitelten, über das „Musterhaus“ als Partizipationspraxis in einem festgefahrenen sozialen Gefüge, hin zur „Villa“ als Grundfeste bürgerlicher Werteökonomie manifestiert das Cluster „Haus“ im Laufe ihrer Arbeit nicht nur ihr wachsendes Selbstverständnis einem prozessualen Arbeiten gegenüber. Im Prinzip der temporären Behausung ortet das KünstlerInnenduo Bruchstellen, die sich sowohl in persönlichen

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TRASH YOUR HOUSE Für „Where we are“, eine Ausstellung im öffentlichen Raum im Rahmen der Kulturhauptstadt Europas Linz 2009, konzipierten Folke Köbberling und Martin Kaltwasser „Trash your house“. Die Ausstellung „Where we are“, kuratiert von Charles Esche und Maren Richter, wurde zwei Monate vor der Eröffnung abgesagt. Daher hatten die beiden KünstlerInnen die Idee, im Zusammenhang mit ihrem Lehrauftrag in Innsbruck „Trash you House“ dort zu realisieren.

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DIE LOGIK URBANER RAUMAUFWERTUNG STEHT IM GÄNZLICHEN WIDERSPRUCH ZUM KONZEPT EINES SOZIALEN RAUMS Erfahrungswelten widerspiegeln, als auch den oben beschriebenen exkludierenden Mechanismen eingeschrieben sind.

Raums dort freizulegen, wo ihre Brüche zum Vorschein treten: an vornehmlich zum Abriss stehenden Häusern und urbanen Brachen. „Trash your House“ bedient sich einer vergleichbaren Formensprache. Sie bauen zwar, wie in anderen Projekten, ein Haus, aber nur um dieses den Hang hinunterzustürzen. Mit diesem theatralischen Akt steigert sich der symbolische Gehalt ins Unendliche und zugleich konzentriert er sich auf das Wesentliche: auf die Strategien der Erneuerung.

Mit der Konzentration auf die Zerstörung demonstriert „Trash your House“ einen Kreislauf, dessen vorwärts-bewegende Mechanismen sich vielfach im Bereich des Nicht-Sichtbaren abspielen. Die Virtualität des Immobilienmarktes, die sich, bis sie beim Traum vom Eigenheim angelangt ist, in der Zentrifuge ihrer Kreise potenziert. Der insistierende Hinweis der beiden auf das „Haus“ als Produkt sozialer, politischer und ökonomischer Regelwerke bestärkt daher, allgemeiner gesehen, Raum als machtkonstituierende Variable. Die symbolische Vehemenz, die sie dem Projekt zuführen, schließt an eine Praxis an, wie sie beispielsweise Gordon Matta Clark anhand des Begriffs Anarchitecture in den siebziger Jahren ableitete. Als Architekt und Künstler zeigte Clark in seinen destruierenden Aktionen eine Möglichkeit auf, die Prozesse der künstlich eingeleiteten, wirtschaftlich gesteuerten Transformation urbanen

Maren Richter

ist freie Kuratorin und Kunstkritikerin mit Schwerpunk auf gesellschaftspolitische Kunst. Diverse Projekte u. a. in Berlin, Paris, Taipei und schreibt für Zeitschriften, wie Camera Austria/A, springerin/A, public art review/USA. Von 2007-2009 war sie Kuratorin der Europäischen Kulturhauptstadt Europas, Linz09.

Folke Köbberling / Martin Kaltwasser

Das KünstlerInnenduo entwickelt Interventionsmodelle für den urbanen Raum, wo sie vorhandene Strukturen umnutzen und so den gewohnten Umgang mit städtischer Architektur auf subtile, oft humorvolle Weise in Frage stellen. Konzepte von gemeinschaftlichem Zusammenleben werden dabei ebenso befragt wie kapitalistisch bestimmte städtische Strukturen des Wohnens und Arbeitens. www.koebberlingkaltwasser.de

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BESTER DANK GEHT AN DAS KLEBELAND IN BERLIN FÜR DIE UNMENGEN AN TAPE ZUR COVERGESTALTUNG. Klebeland

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© Bilder: Buff Diss

TAPE ART VON BUFF DISS

TAPE YOUR CITY


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KLEBEBAND IST MEHR ALS EIN KLEBSTOFF VON DER ROLLE. WELTWEIT FINDET MAN IMMER MEHR TAPE AUF DEN STRASSEN DER STADT.


© Shaun Roberts

/// DER AUSTRALISCHE TAPE ART KÜNSTLER BUFF DISS ZIEHT SEIT JAHREN DURCH DIE WELT UND HINTERLÄSST ÜBERALL, WO ER STATION MACHT EINS: VIEL KLEBEBAND. Der aus Melbourne stammende Tape Art Künstler Buff Diss lebt und arbeitet derzeit in Berlin. www.flickr.com/buffdiss

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TAPE ART Diverse St채dte // 2009 // Buff Diss

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„WIR WEIGERN UNS, ÜBER DIESE STADT IN MARKETING-KATEGORIEN ZU SPRECHEN. WIR WOLLEN WEDER DABEI HELFEN, DEN KIEZ ALS »BUNTEN, FRECHEN, VIELSEITIGEN STADTTEIL« ZU »POSITIONIEREN«, NOCH DENKEN WIR BEI HAMBURG AN »WASSER, WELTOFFENHEIT, INTERNATIONALITÄT« ODER WAS EUCH SONST NOCH AN »ERFOLGSBAUSTEINEN DER MARKE HAMBURG« EINFÄLLT.“ Not In our name, Marke Hamburg! http://www.buback.de/nion/

SITUATION ISMUS

DIE LUST AM SPEKTAKEL Christopher Dell

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(cc) Sven Lohmeyer

KRITIK AM SPEKTAKEL Es ist das Verdienst der Situationisten, sowohl die handlungsorientierte wie auch die psychologische Ebene des Raums für den architektonischen Diskurs fruchtbar gemacht zu haben. So wie Herbert Marcuse die Freudsche Lehre in die Gesellschaftskritik einbezieht, hebt die Situationistische Internationale Ende der 50er Jahre auf die Psychonalayse ab und führt so das Subjekt wieder als Faktor des Raums ein. Ein Subjekt, das bedroht scheint durch die kulturindustriellen Entfremdungsformen und Verdinglichkeitsstufen. Die, wie Guy Debord sie nennt, ‚Gesellschaft des Spektakels’ verursacht, indem sie originär-freiheitliche Begierden des Subjekts verdinglicht, instrumentalisiert und dem Konsum unterordnet, eine Verdrängung dieser revolutionären Begierden ins individuelle wie gesellschaftliche Unbewusste. Marxsche Kritik der kapitalistisch-fetischistischen Formen wird durch die Begrifflichkeit des ‚Spektakels’ auf die Höhe des Konsum- oder Kulturkapitalismus gebracht und die Gestalt des Performanzprinzips erhellt: kulturindustrielle Bilderproduktion, Bedürfnispräformierung sowie ein Übermaß an pseudo-individuellen Lebensentwürfen, die sich nach modular-vorgefertigten Lebensstilen zusammenbasteln lassen. Dem Schein von Performanz als vorgegaukelter Realität, also entfremdeter Lebenssitutation, versuchen die Situationisten durch die Bewegung bewusster ‚Konstruktion von Situationen’ in allen Aspekten des Lebens entgegenzuwirken. Für die Situationisten gilt die Grund-Formel Performanz = Spektakel. Durch das Spektakel wird die menschliche Fähigkeit zu kommunizieren dargeboten. Spektakel ist grundsätzlich ein Produkt unter vielen. Erst durch die Massenkultur, durch Pop, kann das Spektakel in andere industrielle Sektoren diffundieren, nämlich an dem Punkt, als Kommunikation zum essentiellen Bestandteil produktiver Kooperation wird. So wird das Spektakel zur Kraft des Performanzprinzips: als primäre produktive Kraft, die über ihre eigene Sphäre hinaus ragt und auf die Poesis im Totalen einwirkt. Eine Performanz ist dann doppelter Natur: sie ist zum einen spezifisches Produkt einer spezifischen Industrie, zum anderen Quintessenz des Modus der Produktion in ihrer Umfasstheit. Wer die Performanz oder das Spektakel präsentiert, sind die produktiven Kräfte der Gesellschaft selbst, dies umso mehr, als sie sich mit kommunikativen Kompetenzen und dem generellen Intellekt überlappen. Performanz ist durchdrungen von Möglichkeit, dem was getan werden kann. Dieses zeigt sich selbst nicht in dem Wert der Waren, also dem was Gesellschaft bereits

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produziert hat, sondern als Aggregat dessen, was eine Gesellschaft zukünftig zu leisten im Stande ist.

TRANSFORMATION VON INNEN Die S.I. sieht im Hinterfragen der Gesellschaft des Spektakels eine Gesellschaftskritik, die die Konditionen des urbanen Subjekts thematisiert und eine Art revolutionäre Psychoanalyse zur Grundlage haben muss. Transformation von Gesellschaft soll vom Innern der Subjekte heraus im Freudschen Modus des Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten den neurotischen circulus virtiosus immer wiederkehrender Situationen durchbrechen. Debord interpretiert die Spektakelform als Weiterentwicklung der Warenform. Deren Fetischcharakter entspringt aus dem eigentümlichen gesellschaftlichen Charakter der Arbeit, welcher Waren produziert. Diese warenproduzierende Arbeit erzeugt gesellschaftliche Herrschaftsform durch die Warenform als sinnlich übersinnliches Ding1. Debord leitet daraus einen Effekt ab, indem die sinnliche Welt durch eine über ihr schwebende Auswahl von Bildern ersetzt wird, welche sich zugleich als das Sinnliche schlechthin hat anerkennen lassen2. Die Bilderwelt beginnt, sich als die totale Welt der Realität zu inszenieren. Der Schein beherrscht das Sein in der allumfassenden Bilderwelt des Spektakels. Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Sammlung von Spektakeln3. Wobei diese Dominanz nur entstehen kann, weil das Spektakel sich der Warenform bedient. Um sich als Tauschwert realisieren zu können, müssen Produkte den Kunden auffallen. Image wird zum Hauptfaktor. Das Spektakel dreht die Schraube noch eine Drehung weiter: während die Ware auch Gebrauchsgegenstand war, so ist im Spektakel schon das reine Anschauen der Ware Warenform: das Spektakel ist das Geld, das man nur anblickt, denn in ihm hat sich schon das Ganze des Gebrauchs gegen das Ganze der abstrakten Vorstellung ausgetauscht4. Das bedeutet nicht, dass es das Bedürfnis nach Gebrauch nicht mehr gibt; dieses Bedürfnis wird vielmehr jetzt befriedigt durch das Spektakel als Pseudogebrauch des Lebens. D.h. nicht nur das Verhältnis zur Ware ist sichtbar, sondern: man sieht nichts anderes mehr. Die Welt, die man sieht, ist in der Gesellschaft des Spektakels Welt der Ware5. Erlebte Realtität wird zu einer verdoppelten Realität, einer Realität der Referenz: Alles was unmittelbar erlebt wurde ist in eine Vorstellung gewichen6. Massenkommunikationsmittel und Kulturindustrie werden verstanden als Oberfläche des Spektakels, als fetischistischen Schein spek-

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ALLES WAS UNMITTELBAR ERLEBT WURDE IST IN EINE VORSTELLUNG GEWICHEN. takulärer Beziehungen. Analog dem Marcuseschen Mechanismus des Performanzprinzips, versteht die Situationistische Internationale das Spektakel als Maschinerie, die die wirklichen, lebensgestalterischen Begierden zu Gunsten von Pseudo-Befriedigungen ins Feld des Unterbewussten zurückdrängt. Begierden werden hier nicht allein als triebtheoretisch gefasst, sondern als Anlagen aufgefasst, die den Mensch im Laufe historischer, gesellschaftlicher wie moralischzivilisatorischer Prozesse sowohl formen als auch ihn zu formender Praxis antreiben. Radikale Begierden sind dann diejenigen Begierden, die zur Überwindung der entfremdeten Arbeit wie auch der Selbstentfremdung der tätigen Subjekte beitragen. Durch den Bezug auf Freud wird klar, dass die Situationisten die gesellschaftliche Transformation nicht allein als geistigideelle interpretiert, sondern sich auch und vor allem mit der leiblich-physiologischen Organisation des Menschen befasst. Es geht ihnen um eine Bewusstseinsarbeit, die das individuelle wie gesellschaftliche Unbewusste und Vorbewusste ernst nimmt und gerade deshalb auf das Alltagsleben und seine Potentiale abhebt.

DIALEKTIK DER KULTUR Wie auch Herbert Marcuse7 verortet die S.I. die Kultur in einer Dialektik von Freiheit und Zwang: Wir müssen uns der Kultur bemächtigen, um sie für unsere Zwecke zu benutzen, und nicht mehr von außen eine Opposition betreiben, die ausschließlich auf der zukünftigen Entwicklungen unserer Probleme beruht8. Über den Weg der Kultur wird kritische Theorie in immanente revolutionäre Praxis transformiert, die die Trennung von Arbeit und Freizeit als Modus der Entfremdung zu überwinden sucht. Eine Praxis, die eine nichtentfremdete Kommunikation zwischen den Menschen ermöglicht und sich den individuellen Wünschen und Bedürfnissen widmet.


Der industrielle Prozess, bei dem das arbeitende Subjekt zum Mittel der Produktion wird, greift im performativen Spektakel in libidinös-verinnerlichter Form auf nahezu alle Lebensbereiche über. Die Gesellschaft des Spektakels instrumentalisiert den Menschen nicht nur in seiner Arbeits- sondern auch und vor allem in seiner Freizeit. Freizeit als disponible Zeit der freien Entfaltung wird von der spektakulären Freizeit als Konsumzeit vereinnahmt. Jedoch bedeutet die Verdrängung durch das Spektakel nicht, dass es keine radikalen Bedürfnise mehr existieren, das Gegenteil ist der Fall: sie geben vielmehr das reale Potential dafür ab, die bestehenden Gesellschaftsformen zu transformieren. Das kann nur erreicht werden, wenn sich die Subjekte ihre Praxen nichthintergehbare Situationen herbeiführen. Einen solchen Prozess strategisch zu fördern war das Anliegen der S.I. Es geht ihnen darum, das Alltagsleben als vernachlässigten Ort des Sozialen zu reaktivieren. In einer Aufhebung der Trennung von Kunst und Gesellschaft soll das Alltagsleben revolutioniert und individuell wie gesellschaftlich neu gelebt werden können. Der Moment der Situation wird dabei durchaus dialektisch gesehen: sowohl als subjektiver Moment der Entscheidung, des Ereignisses, der Wahl als auch der Produktion wie auch Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse, im Sinne von Marx als Situation... die jede Umkehr unmöglich macht9. Das performative Konzept des Spektakels wird kritisiert als ein kultureller Mechanismus, der die revolutionäre Aneignung und Verwirklichung der ökonomischen wie kulturellen Möglichkeiten des Individuums als Subjekt seines eignen Lebensentwurfes verhindert. Das Spektakel ist ein kapitalistischer Vergesellschaftungsmodus, der das Subjekt als ökonomisch instrumentalisiertes Mittel isoliert. Die Situationisten interpretieren das Spektakel als gesellschaftliche Macht, welche die Bedürfnislage des Subjekts nahezu vollständig durchdringt und sich ihm als die absolute Realität präsentiert. Das Kapital inszeniert sich in einer bestimmten Form: der der Theatervorstellung, bei der seine Produzenten zugleich auch seine Zuschauer sind. Grundlage der Gesellschaft des Spektakels ist, laut Debord, die alles vereinnahmende Selbstherrschaft der zu einem Status unverantwortlicher Souveränität gelangten Warenwirtschaft und die Gesamtheit der neuen Regierungstechniken, die mit dieser Herrschaft einhergehen10. Debord macht deutlich, dass Politik, Medien, Warenwelt, Kunst nicht einfach performativ werden, sondern dass diese aufgeteilten gesellschaftlichen Sphären selbst Inszenierungen des Spektakels

sind. Die spektakulär-fetischistischen Prozesse des Kapitals erzeugen einen performativen Schein und so die totalitäre Entfremdung: die subjektiven Möglichkeiten der Persönlichkeitsentfaltung werden unterminiert, die selbstbestimmte freie Entwicklung von Fähigkeiten und Bedürfnissen verunmöglicht. Dennoch ist sich auch die experimentelle Form des revolutionären Spiels nicht nur eine des Kampfes, sondern auch der einen Frage der performativen Darstellung: Kampf für ein der Begierde angemessenes Leben und konkrete Darstellung eines solchen Lebens11. Die freudschen Kategorien anwendend schreibt Debord: Wo wirtschaftliches Es war muss Ich werden12. Emanzipation ist nicht bloß Prozess der Bewusstwerdung der ökonomischen Ausbeutungsverhältnisse, sondern zugleich Verwirklichung der verdrängten Begierden. Nach den Scheiternserlebnissen der Klassenkämpfe sollen nun über den Umweg der Kultur neue effektive Kampfformen gefunden werden, um eine emanzipatorische Zukunft zu ermöglichen. Anders gesagt: es wird klar, dass eine revolutionäre Bewegung Entfremdung nicht mehr in entfremdeten Formen bekämpfen kann13. Damit wird auch die Frage nach der Organisation von Bewegung neu gestellt: es geht nicht nur darum die Produktionsverhältnisse zu verändern, das wäre noch im industriellen Modus gedacht, sondern darum neue menschliche Beziehungen zwischen den Menschen herzustellen, also im Modus des Urbanen zu denken. Dabei wirkt sowohl Raum als auch Zeit per-

ES GEHT NICHT NUR DARUM DIE PRODUKTIONSVERHÄLTNISSE ZU VERÄNDERN, DAS WÄRE NOCH IM INDUSTRIELLEN MODUS GEDACHT, SONDERN DARUM NEUE MENSCHLICHE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN DEN MENSCHEN HERZUSTELLEN, ALSO IM MODUS DES URBANEN ZU DENKEN. 45


formativ modulierend: Revolutionär ist eine Bewegung, die die Organisation dieser Raum-Zeit sowie die künftigen Entscheidungsformen ihrer permanenten Neuorganisation radikal umgestaltet14 und nicht nur Herrschaftsformen wie z.B. die Rechtsform des Eigentums kritisiert. Es handelt sich also auch um eine formale Frage: Formen zu finden, die die emanzipatorisch vorwärtstreibenden Widersprüche nicht verdecken, sondern vielmehr zulassen und verstärken um eine Kritik zu ermöglichen, die sich global gegen alle Aspekte des entfremdeten gesellschaftlichen Lebens richtet15.

RAUMORDNUNG DER STADT Das Spektakel greift nicht nur auf das Mentale der Menschen zu. Es zeigt sich, und auch dies ist eine entscheidende Entdeckung des Situationismus, in der Raumordnung der Stadt. Die kapitalistische Produktion hat, so Debord, in der Homogenität des Industriellen, den Raum vereinheitlicht. Es entfaltet sich ein gesellschaftlicher Raum, den keine äußeren Gesellschaften mehr begrenzen16. Gleichzeitig erscheint im Übergang zum Urbanen auch eine Tendenz zur totalen Ausdifferenzierung und Trennung der Menschen. Versinnbildlicht wird dies für die S.I. durch die Strategien des funktional-rationalistischen Urbanismus: Der Urbanismus ist diese Inbesitznahme der natürlichen und menschlichen Umgebung durch den Kapitalismus, der, indem er sich logisch zur absoluten Herrschaft entwickelt, jetzt das Ganze des Raums als sein eigenes Dekor umarbeiten kann und muss17. Der Urbanismus schafft Zentren der Kapitalverwertung, der Verwaltung und des Konsums, während der öffentliche Raum der Strasse als Ort der Begegnung marginalisiert wird. In dem der Urbanismus das Auto in den Vordergrund stellt, verstärkt er die Streuung der Stadt. Gleichzeitig bemächtig sich die politische Ökonomie des Urbanen der automatisierten Individuen in Konsumtempeln und Freizeitzentren und sucht dort künstliche Gemeinschaften zu erzeugen: sowohl die Betriebe als auch die Kulturzentren, die Feriendörfer und die großen Wohnsiedlungen sind speziell für diese Pseudogemeinschaft organisiert18. Die neuen Städte werden als Laboratorien dieser erdrückenden Gesellschaft erkannt. Mit der parkhausgerechten Planung des Urbanismus setzt sich ein klarer, fröhlicher, eintöniger und allen Gesellschaftsklassen gemeinsamer Lebensstil durch19. Performative Kartographie der Begierden durch körperliche Bewegung, das Umherschweifen im urbanen Raum soll eine neue Aneignung der Strasse und die Erforschung ihrer durch den Urbanismus verursachter Marginalisierung erzeugen. Die S.I. sieht, dass das Urbane in seiner

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Ausdifferenzierung und Bewegung der einzige Raum der Emanzipation sein kann. Gleichzeitig ist sie sich dessen bewusst, dass die Techniken des Urbanismus die Performativität verdecken, instrumentalisieren und das authentische Zusammenkommen von Menschen behindert. Die Aufstände der afroamerikanischen Bewegung im Los Angeles Stadtteil Watts von 1965 werden von der S.I. genau in diesem Zusammenhang gedeutet: nicht allein als gegen Rassimus und Pauperismus gerichtete Revolte sondern auch Rebellion gegen die warenproduzierende Hierarchie eines neuen Kapitalismus und für die Freiheit der Strasse. Protestiert wird nicht gegen einen Mangel an Produkten, sondern gegen deren Überfluss und die Besetzung des Raums durch die Warenform. Besonders die Beteiligung zahlreicher Weißer an der Plünderung beweist, dass die Watts-Geschichte in ihrem tiefsten Sinn tatsächlich eine Revolte gegen die Ware und die erste, dürftige Antwort auf den Warenüberfluss gewesen ist20.

DAS WETTKAMPFELEMENT MUSS EINER WIRKLICH KOLLEKTIVEREN AUFFASSUNG DES SPIELS – DER GEMEINSAMEN SCHAFFUNG DER SPIELBEDINGUNGEN – WEICHEN. DÉRIVE Der situationistische Ansatz des Dérive stellt eine neue Möglichkeit dar, über die performative Dimension von Raum zu reflektieren. Die Überlagerungstechnik findet hier im Psychologischen, im Zusammendenken von Körper und Geist, statt: es geht um eine kollektive Erkundung bisher ungenutzter Möglichkeiten der bestehenden Städte. Ein Netz psychographischer Verknüpfungen legt sich im experimentellen Spiel über die Stadt. Debord zufolge ist das Konzept des Umherschweifens […] untrennbar verbunden mit der Erkundung von Wirkungen psychogeographischer Natur und der Behauptung eines konstruktiven Spielverhaltens, was es in


jeder Hinsicht den klassischen Begriffen der Reise und des Spaziergangs entgegenstellt21. Stadt wird Versuchsanordnung für die Subversion situativer Beziehungen. Zentrales Element ist die performative Aneignung des Raums. Diese Aneignung ist als Paradigma einer Konstruktion von Situation subjektiv bestimmt. Ziel der Situationisten ist es jedoch, die Subjektivität nicht isoliert zu interpretieren, sondern für das Öffentliche, das Politische nutzbar zu machen. Dérive ist kollektives Umherschweifen in der Stadt als experimentelles Forschen, gleichermaßen forciert und beschleunigt in der Bewegung, wie systematisch und ziellos in seiner Orientierung. Dérive verortet sich im Zwischenraum von einerseits Hingabe an eine Szenerie, indem man sich ohne festen Kurs dem Spiel der Umgebung aussetzt, und andererseits der bewussten Entwicklung eines Verhaltens, das sich der Außenwelt performativ zuwendet; ein Verhalten, das den Raum situativ ortet, identifiziert, schnell Entscheidungen trifft und sich neu orientiert, um zu anderen Räumen zu gelangen. Das Sich-treiben-lassen ist also keineswegs völlig unkontrolliert, sondern strebt eine Praxis an, die durchaus performativ erübbar, erlernbar ist: als Methode der Beherrschung der psychogeographischen Variationen durch die Kenntnis und Berechnung ihrer Möglichkeiten22. Aus dem Dérive erwächst ein dynamisches, in Gegensätzen operierendes Zeit- Raumkontinuum. Der Rückgriff auf aleatorische Elemente ist nicht passiv gedacht, sondern wird als aktiver, durchaus auch theoriegeleiteter Prozess verstanden. Psychogeographie ist für die Situationisten deshalb die Erforschung der genauen Gesetze und exakten Wirkungen des geographischen Milieus, das, bewusst eingerichtet oder nicht, direkt auf das emotionale Verhalten des Individuums einwirkt23.

KONSTRUKTION VON SITUATIONEN Zentral in dieser Konzeption steht der Gedanke der Konstruktion von Situationen. Für Debord bedeutet dies die konkrete Konstruktion kurzfristiger Lebensumgebungen und ihrer Umgestaltung in eine höhere Qualität der Leidenschaft24. Die performative Erzeugung von Raum als Situation wirkt als feedback loop zurück, um von ihren Konstrukteuren erlebt zu werden25 und: Es gibt keine Freiheit im Gebrauch der Zeit, ohne den Besitz der modernen Instrumente zur Konstruktion des alltäglichen Lebens26. Situation ist der modulierende Raum für Experimentalformen der Performanz: Die Konstruktion von Situationen fängt jenseits des modernen Zusammensturzes des Begriffs Spektakel an. Wie sehr das Prinzip des Spektakels selbst – und zwar die Nichteinmischung – mit der Entfremdung der Alten Welt verbunden ist, ist leicht ersicht-

lich27. Die entfremdende Rolle des Publikum-Seins soll zurückgedrängt, passive Rollen immer geringer werden. Parallel dazu soll die Teilnahme derer zunehmen, die, so wird betont, nicht Schauspieler sondern in einem neuen Sinn des Wortes ‚Lebemänner’ genannt werden können28. Die Entfremdung der kapitalistischen Ökonomie wird aufgehoben und das Spiel aus seiner Randexistenz in die Mitte der Gesellschaft geholt werden. Wenn also das Spektakel die Handlungen der Menschen verdinglicht, geht es jetzt darum eine Gegenstrategie zu entwickeln: insofern steht die Konstruktion von Situationen für den Versuch, defetischisierende Praxisformen zu erforschen. Um erst einmal in die Lage zu kommen, allgemein gültige und normativ festgefahrene Praxisformen und Sichtweisen zu unterlaufen, muss das Handeln formal geöffnet werden. Das heisst, dass die Konstruktion das Handeln im Offenen privilegiert, gleichwohl aber Wert darauf legt, strategisch und theoriegeleitet zu agieren. Aus der Öffnung und Unvorhersehbarkeit speist sich die Hoffnung auf die prinzipielle Möglichkeit einer performativen Subjektwerdung der Handelnden als Aufschein von Wirklichkeit. Die so konstruierte Situation ist eine Art selbstproduzierter Schutzraum, in dem das eigene Handeln dem Handelnden nicht mehr als fremdgeleitet gegenübertritt.

SPIEL Das Spiel wird als reale Möglichkeit wieder eingeführt: die Arbeit der Situationisten besteht aber gerade darin, die zukünftigen Möglichkeiten des Spiels vorzubereiten29. Spiel ist jedoch nicht als ein Modus gedacht, den wir heute als ‚Spassgesellschaft’ bezeichnen würden. Im Gegenteil wendet sich die S.I. gegen alle rückläufigen Formen des Spiels, die die Rückkehr zu einer infantilen, immer mit einer reaktionären Politik verbundenen Entwicklungsstufe darstellen30. Entscheidend für die Situationisten ist, dass das in ihren Augen kapitalistische Moment des Agonalen aus dem Spiel verschwindet: Das Wettkampfelement muss einer wirklich kollektiveren Auffassung des Spiels – der gemeinsamen Schaffung der gewählten Spielbedingungen – weichen31. Die experimentellen Formen des revolutionären Spiels zielen ebenso ab auf die Erkundung neuer Lebenstile wie auch auf deren Darstellung. Eine Ontologie des Rituals wird postuliert : Die proletarischen Revolutionen werden Feste sein oder sie werden nicht sein, denn das von ihnen angekündigte Leben wird selbst unter dem Zeichen des Festes geschaffen werden32. Performanz wird für die Situationisten zur poetischen Kraft eines neuen Politischen. Das Urbane ist nicht mehr die Bühne von Waren und Macht, sondern wird als Feld der Psychogeographie erfahren. Als Epistemologie des alltäglichen Lebens und Raumes gestattet sie uns die Wirkungen der geographi-

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schen Umwelt zu verstehen und in einer performativen Dimension anzueignen.

VERFALL DES POLITISCHEN RAUMS – UNZULÄNGLICHKEITEN DER UTOPIE Was aber haben die Situationisten bewirkt? Auf gesellschaftspolitischer Ebene driftet der Utopismus seit den 60er Jaren kontinuierlich in den Mainstream. Ab den 70ern übernehmen die neuen sozialen Bewegungen die Funktion des Transmissionsriemens: von einer gesellschaftlichen Gesamtkritik bleiben zersplitterte Einzelinteressen und Slogans. Aus der Öffnung des Alltagslebens wird die negative Flexibilisierung am Arbeitsplatz oder besser noch: die Selbstverwirklichung als Selbstausbeutung in Form ewiger Praktika und freier Produzentenschaft – urbanes Prekariat. Man könnte sagen, Situationismus wird Ideologie im Sinne von Marx: Ersatz für wirkliche Veränderung; Veränderung verschiebt sich auf die Ebene des rein Imaginären. Die Kritik der Gesellschaft des Spektakels blieb wirkungslos, weil sie die Gesellschaft auf der Ebene ihres Scheins analysierte und nicht die Methode der Gesellschaftsform selbst. Anders gesagt: sie kritisiert nur die Form der Gesellschaft, nicht deren geschichtlich-sozialen Hintergrund. Situationismus hat das Kapital anhand der Warenform krisitiert, nicht jedoch anhand der Produktionsprozesse, anhand der politischen Ökonomie. Marx wurde zu Pop umgestülpt, das Wirkliche auf der Grundlage des Scheins, des Spektakels untersucht. Das liegt natürlich an dem Sujet selbst: indem er sich auf die Oberfläche bezieht, bleibt dem Situationismus das dahinter Liegende notwendig verborgen. So stagniert die S.I. auf der Ebene der Zirkulation, geht nie zur Produktion selbst über. Weil sie aus dem Spektakel eine Totalität macht, ist die S.I. unfähig, zwischen Ebenen der Gesellschaft zu differenzieren33. Gilles Dauvé34 hat aufgezeigt, dass die S.I. einem Warenfetischismus folgt, indem Ware als ihre eigene Bewegung erscheint. Es bleibt im Dunkeln, wer die Ware produziert, wo sie herkommt, welchen widersprüchlichen Prozess die Produktion durchläuft. Erst eine Kritik der politischen Ökonomie, welche die S.I. nicht unternimmt, hätte es ermöglicht zu erkennen, wie der Produzent, nicht nur sein Produkt, sondern sein Tätigkeit über sich und gegen sich stehen sieht. Aktuell neue Bewegungen wie z.B. „Recht auf Stadt“ werden zeigen müssen, inwieweit dasjenige, was als Unabgegoltenes des Situationismus in der Geschichte offen bleibt, in eine neue Form der Verhandlung darüber geführt werden kann, wie Raumaneignung und -produktion der Stadt heute aussehen könnte und wie wir in

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Zusammenhang damit das „Politische“ des sozialen Raums verstehen. Literatur: // (1) Marx, Karl, Das Kapital, in: Karl Marx u. Friedrich Engels, Werke, Bd. 23, Berlin 1960, S. 76 // (2) Debord, Guy, Gesellschaft des Spektakels, Hamburg 1978, §36 // (3) a.a.O., S. 6 // (4) a.a.O., §49 // (5) a.a.O., S. 20 // (6) a.a.O., S. 6 // (7) Marcuse, Herbert, Triebstrukur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt a. M. 1973, Marcuse, Herbert, Eros and Civilisation: A philosophical Inquiry into Freud, New York, 1961 (1955), Marcuse, Herbert, One-Dimensional Man. Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society, // (8) Potlatch, Informationsbulletin der lettristischen Internationale (1954-9157), Berlin 2002, S. 224 // (9) Marx, Karl, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Marx/Engels Werke , a.a.O., S. 118 „Bürgerliche Revolutionen, wie die des achtzehnten Jahrhunderts, stürmen rascher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatischen Effekte überbieten sich, Menschen und Dinge scheinen in Feuerbrillanten gefaßt, die Ekstase ist der Geist jedes Tages; aber sie sind kurzlebig, bald haben sie ihren Höhepunkt erreicht, und ein langer Katzenjammer erfaßt die Gesellschaft, ehe sie die Resultate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern sich aneignen lernt. Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze.“ // (10) Debord, Gesellschaft des Spektakels, a.a.O., §194 //(11) a.a.O., §163 // (12) a.a.O., §52 // (13) a.a.O., §122 // (14) Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, Hamburg 1995, S.160 // (15) Debord, Gesellschaft des Spektakels, a.a.O., §120 // (16) a.a.O., §165 // (17) a.a.O., §169 // (18) a.a.O., §172 // (19) Situationistische Internationale 1958-1969, Gesammelte Ausgaben des Organs der Situationistische Internationale, Band II, Hamburg 1977, S. 97 //(20) a.a.O., S. 311 //(21) Beginn einer Epoche, a.a.O., S. 64 //(22) a.a.O., S. 64 //(23) Debord, Guy, Rapport über die Konstruktion von Situationen und die Organisations- und Aktionsbedingungen der Internationalen Situationistischen Tendenz, Paris 1957 // (24) ebda. // (25) ebda. // (26) Debord, in: Internationale Situationiste, a.a.O // (27) Gesammelte Ausgaben des Organs der S.I., Band 1, a.a.O., S. 16 // (28) a.a.O., S. 16 // (29) a.a.O., S. 15 // (30) a.a.O., S. 18 // (31) a.a.O., S. 14 // (32) Beginn einer Epoche, a.a.O., S. 232 // (33) Dauvé, Gilles, Kritik der Situationistischen Internationale, in: Ohrt, Roberto, Das grosse Spiel, Hamburg 1999, S. 122 // (34) a.a.O., S. 117

Christopher Dell

Theoretiker, Komponist, Prof. Urban Design Theorie, HCU Hamburg


© Matthias Krüttgen

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PARASITES ILLEGAL EXHIBITIONS Bob Baster

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STREET ART HAT DIE STRASSE ZUR GALERIE GEMACHT, WIR WOLLEN DIE GANZE WELT IN EINE AUSSTELLUNG VERWANDELN

/// DIE MODERNE GROSSSTADT IST ZU EINEM KONSUMIERBAREN PRODUKT GEWORDEN, SIE WIRD KONTROLLIERT, INSZENIERT UND INSTRUMENTALISIERT. Jedes Graffito und jeder unerlaubte Eingriff im Stadtraum wird streng sanktioniert, weil er einen Angriff auf die staatliche Ordnung, und damit auf das bestehende System darstellt. Der sogenannte öffentliche Raum ist in Wirklichkeit scheinöffentlich und spiegelt allein die Realität der herrschenden Ideologie wider. Diese demokratische Hegemonie basiert vor allem auf Konsens. Ein solcher Konsens bedeutet nach Jacques Rancière jedoch die Auslöschung des Politischen, da das Wesen der Politik den Diskurs, die streitbare Auseinandersetzung, braucht. Ohne Dissens kein Gegenentwurf und ohne Gegenentwurf keine Vision und Utopie. Gegen diesen Funktionalismus und für den Einschluss der Ausgeschlossenen richten sich illegale Interventionen und Skulpturen im Stadtraum. Die Stadt selbst wird dabei zum Kunstwerk, dass frei gestaltet werden kann und dient, ganz im Sinne der Situationisten, als ein Laboratorium für spielerische Revolutionierung des Alltags. Die Straße wird zur Leinwand, zweckgebundene Stadtmöbel werden zweckentfremdet und jede Bushaltestelle, jede Sitzbank, jeder Pflasterstein ist ein nächstes potenzielles Kunstwerk. Und die Künstler scheinen sich dabei zu sagen: Wenn unsere

© Just

Stadt schon wie Disneyland aussieht, dann lasst uns gefälligst auch hier herumtollen. Urbane Interventionen sind realisierte temporäre autonome Zonen. Das Ausstellungsprojekt PARASITES möchte noch weiter gehen: Street Art hat die Straße zur Galerie gemacht, wir wollen die ganze Welt in eine Ausstellung verwandeln. Drei mal im Jahr präsentieren wir subversive Einzelausstellungen, die stets illegal in öffentlichen und privaten Räumen stattfinden. Für die erste Schau hat das französische Duo Encastrable (Antoine Lejolivet und Paul Souviron) mit dem in einem Baumarkt vorgefundenen Material temporäre Skulpturen direkt vor Ort realisiert. Und in der zweiten Ausstellung inszenierte der Berliner Künstler The Wa in der Hamburger HafenCity mit dutzenden, aus ihrem Kontext gerissenen, Demoschildern, die er im Vorfeld akribisch kopiert hatte, eine paradoxe und absurde Situation. PARASITES ist eine Kritik am überinszenierten Kunstbetrieb, bedingt durch, die als leblos empfundenen Museen, die geschützten Biotopen und bewachten Tempeln gleichen, dem elitären und inzestiösen Gangbang unter Galeristen, Kuratoren und Direktoren, sowie an der Dominanz des Kunstmarkts. Frei nach Karl Marx: Die Kuratoren haben die Welt bislang nur verschieden inszeniert, jetzt kommt es darauf an, sie zu verändern. www.para-sites.de

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Parasites

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PARASITES #1 Max Bahr Baumarkt // 09.2009 Encastrable (Antoine Lejolivet, Paul Souviron)

Alle Fotos Parasites #1: Š Just

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Parasites

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PARASITES #2 HafenCity // 02.2010 The Wa / „Switch Tense”

Alle Fotos Parasites #2: © Tim Holthöfer

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WORK WITH US SUBVERSIVE RAUMANEIGNUNGSPRAKTIKEN ALS UNTERNEHMENSSTRATEGIE BEI AMERICAN APPAREL Nils Grube

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© Nils Grube


/// EIN STUDENT – MITTE 20 – STEHT AN DER BUSHALTESTELLE UND WARTET. BEILÄUFIG REGISTRIERT ER DIE IMPROVISIERT MIT KLEBEBAND UND KLEISTER AN DER SCHUTZBRÜSTUNG DER HALTESTELLE ANGEBRACHTEN PLAKATE. Von Besuchen subkulturell geprägter Szeneviertel weiß der Betrachter um die Praxis dieser informellen Kundgebungsform des „Wildplakatierens“. Anstatt kostspielige Flächen bei der Stadt zu Werbezwecken anzumieten, werden Plakate einfach direkt an diversen Stadtkörpern des öffentlichen Raums angebracht. Grundsätzlich ist dies illegal und kann eine Klage wegen Sachbeschädigung oder Hausfriedensbruch nach sich ziehen. Dennoch gibt es Stadtgebiete, in denen dies toleriert zu werden scheint und mittlerweile ein Charakteristikum als auch Teil des Straßenbilds geworden ist.

SUBVERSIVE RAUMANEIGNUNGSPRAKTIKEN – INFORMELLES PLAKATIEREN ALS AKT UND KOMMUNIKATION ALTERNATIVER LEBENSENTWÜRFE Es sind jene sozial schwachen, baulich heruntergekommenen, innerstädtischen Altbauviertel, wo die Beseitigung nachlässig gehandhabt wird. Gleichzeitig ist in diesen Vierteln eine Vielfalt an subkulturellen Akteuren und Szenen anzutreffen, die fernab der Mainstreamkultur Nischen suchen, um per Do-it-yourselfPrinzip unter dem Einsatz von Eigeninitiative und unkommerziellen Absichten Partys, Diskussionsrunden, Workshops oder Ausstellungen zu veranstalten und um ihre alternativen Wertebilder und Lebensentwürfe zum Ausdruck bringen zu können. Mittels der verwendeten Plakatierungsform wird eine Raumaneignungspraktik deutlich, die sich auf eine Mischung aus finanziell schwachem Background, einer kritischen Haltung gegenüber städtischer (Vermarktungs-) Politik und auf einen Wunsch, das eigene Handeln und Denken öffentlich zu machen, zurückführen lässt. Letzteres ließe sich durch die speziellen Konstituierungsmechanismen städtischer Subkulturszenen begründen: Szenen werden im Allgemeinen durch ein gemeinsames inhaltliches Interesse geleitet, weisen aber eine eher zwanglose Vergemeinschaftungsform von lockeren Netzwerkbindungen auf, die ständiger Kommunikations- und Austauschprozesse bedürfen1. Der öffentliche Raum dient dabei häufig als Produktionsfläche. Auch der Passant an der Bushaltestelle nutzt diese Kommunikationsform, um sich über politische Protestaktionen, kulturelle Veranstaltungen oder Partys in seinen Lieblingslocations zu informieren. Er schätzt es, dass hinter den Veranstaltungen persönliches Engagement und weniger kommerzielle Vermarktungsabsichten stecken. Dies erzeugt eine persönliche Verbindung zum vom Plakat

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American Apparel ist ein US-amerikanischer Bekleidungshersteller, gegründet 1999 in Los Angeles. Mittlerweile betreibt er mehr als 260 Geschäfte in 19 Ländern weltweit, in denen 10 000 Menschen (davon die Hälfte in den USA) beschäftigt sind. transportierten Gehalt. Der über gewisse, vom Nutzer erkannte Zeichen und Symbole ablaufende Kommunikationsprozess liegt fernab der Praxis herkömmlicher Werbeaktionen und Vermarktungsstrukturen.

COME ON, WORK WITH US! Wieder zurück zur Bushaltestelle. Hier ist aber etwas anders, denkt sich der Student. Der Ort ist es nicht unbedingt – zwar befindet er sich nicht gerade in den üblichen Szenevierteln, sondern die Haltestelle nahe der Universität Hamburg, wo die Wände üblich kahl und frisch gestrichen wirken. Ein anderes, weit bedeutenderes Detail verstört: der transportierte Inhalt. Er findet weder Musikrichtung noch ist ihm Name oder Ort geläufig. Auch wird keine politische Initiative, kein Workshop beworben, so wie man es gemäß des fordernden Ausrufs work with us vielleicht assoziieren könnte. Stattdessen liest er etwas von Jobcasting und am Ende den Name des US-amerikanischen Bekleidungsgeschäftes american apparel. Somit steckt hinter dieser Ankündigung nicht ein einzelner Akteur, ein Clubbetreiber oder Partyveranstalter, sondern ein internationaler Konzern. Und dieser hat sich allem Anschein nach bewusst für diese subkulturell zuzuordnende Praktik und für die symbolhaften Szenecodierungen entschieden, um die Aufmerksamkeit potenzieller neuer Mitarbeiter für seine Filialen zu erregen und ein gewisses Image zu suggerieren.

ÖKONOMIE DER SYMBOLE UND KORPORATIVER SITUATIONISMUS Dieses auf den ersten Blick unbedeutende Plakatdetail ist Teil einer seit den 1980er Jahren einsetzenden Entwicklung, die Wissenschafter und Sozialforscher mit der Kulturisierung der Ökonomie beschreiben2. Wirtschafts-

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unternehmen haben zur Erschließung von Märkten neue Strategien entwickelt, die auf kulturell erzeugten Werten und der zunehmenden Produktion von Symbolen basieren. Symbole, so die Stadtsoziologin Sharon Zukin, lassen sich hierbei als immaterielle Güter begreifen: Bedeutungen, Werte, Bilder, Ideen, Erfahrungen, Emotionen, Atmosphären3. Güter werden kulturell aufgeladen und sollen beim Konsumenten einen höheren Bezug erzeugen. Somit wird mit Hilfe von produzierten, distributierten und konsumierten Symbolen Kultur in der Funktion einer Vermarktungsstrategie als Repräsentation von Urbanität benutzt4. Die neuesten Entwicklungen gehen noch einen Schritt weiter. „Am tiefgreifendsten sind die Werbemaßnahmen, wenn sie versuchen, die kulturellen Codes der Zielgruppe zu hacken“, formuliert der Architekturtheoretiker Friedrich von Borries die konsequente Weiterführung. Die Produkte wie auch das Unternehmen selbst werden als Ausdruck eines gesellschaftlichen, urbanen Lifestyles verkauft und noch offensiver auf die Zielgruppen gerichtet – mit Auswirkungen auf den städtischen Raum. „Die Grenzen zwischen Markeninszenierung und echter Aktivierung von städtischem Raum verschwinden“5. Wie heutzutage jene subkulturellen Handlungen von ökonomische Akteuren übernommen werden, beschreibt Tom Holert mit dem “Corporate Situationism“. Bezogen auf die Aktionen der Künstlergruppe der Situationistischen Internationale wird die ursprüngliche Kritik am „Verlust von Authentizität, Kreativität und Freiheit durch den Kapitalismus“ sowie an der „zweckentfremdeten, durchrationalisierten Stadt“ durch die „Détournements von Situationen“6 nun Teil einer Unterwanderung durch kapitalistische Vermarktungslogiken7. Der Aspekt der Kritik, der kulturelle Gruppen zu solch spontanen Aktionen verleitet, wird ad absurdum geführt. Immer


wieder sind bei verschiedenen Werbekampagnen großer Konzerne Verweise auf die Vereinnahmung subkultureller Praktiken und Güter zu erkennen. Als Bespiele hierfür führt von Borries die Inszenierung der eigenen Marke des US-amerikanischen Sportartikelherstellers Nike bei temporären Kunstgalerien oder optisch dem subkulturellen Untergrund zuzuordnenden Musikclubs auf8.

DIE PHILOSOPHIE AMERICAN APPAREL: MÖGLICHE HINTERGRÜNDE DER VERMARKTUNGSSTRATEGIE Nun wird diese Entwicklung durch den Konzern american apparel um ein neues Stück erweitert. Schaut man sich die Außendarstellung des Unternehmens an, wird deutlich, warum diese Handlungsweise logisch erscheint. Das Besondere liegt in einer Philosophie der „good company“: Produzieren würde man nicht in ausbeuterischen Sweatshops der dritten Welt, sondern ausschließlich zu übertariflichen Gehältern. Gegensätzlich zum Trend des Outsourcings säßen alle Firmenbereiche in einem Gebäude, ganz nach einem Modell der „vertical integreted manufactory“9. Begleitend sollen Kampagnen z.B. für eine Verbesserung der Rechte für Immigranten („Legalize L.A.“) bzw. Homosexuellen („Legalize Gay“) oder die Verwendung von „hochwertigen, ökologischen Materialen“ diese Unternehmensphilosophie einer gemeinwohlorientierten und besonderen Firma verstärken. Dazu gehöre demnach auch, dass für Werbeaktionen in der Regel kein Geld ausgegeben werden würde. Auch Urbanität ist Teil des Images. Betont wird die Produktion in „Downtown L.A.“10 in einem fünfminütigen Video zur Darstellung des eigenen Unternehmens beschreibt der Konzern seine Zielgruppe als „young metropolitan adults“11 – die Marke wird als Abbild eines urbanen Lebensstils inszeniert, die Produkte als Güter dieser Ideologie vertrieben. Beim Personal soll dieses Bild bekräftigt werden, es soll jung, international und optisch möglichst heterogen wirken. Diversität als Zeichen von Urbanität12. American apparel gibt sich als unkonventionelles, junges Unternehmen und Anti-Marke. Die angelegte Strategie des Anwerbens mittels der subkulturellen Zeichensprache des informellen Plakatierens belegt deutlich, wie bewusst das Unternehmen gemäß seiner eigenen Philosophie auftritt. Finanzielle Ressourcen für eine weit angelegte Aktion ständen sehr wohl zur Verfügung. Dies wäre aber nicht mit der eigenen Philosophie vereinbar, und so entscheidet man sich bewusst dafür, dem offiziellen, formellen Weg eine alternative, Image fördernde Methode vorzuziehen. Denn neben der Gewinnung szenekundiger

Arbeitskräfte – nämlich jene, die sich über Partys an den Häuserwänden von Szenevierteln informieren – wird bei allen nicht Arbeitssuchenden ein Bild des alternativen, in der städtischen (Sub-) Kultur glaubhaft verwurzelten Unternehmens bekräftigt. Dies belegt: Längst ist eine Vielzahl an subkulturellen Praktiken zur Raumaneignung durch die ökonomischen Akteure adaptiert worden. Abzielend auf eine noch intensivere und tiefer reichende Verankerung von Marke, Image und Produkten im Bewusstsein des Konsumenten werden szeneinterne Codes aufgegriffen und strategisch platziert, um gewünschte Zielgruppen besser erreichen zu können. Dies kann als ein äußerst geschickter Strategiecoup gelten, ist aber auf der anderen Seite eine Erdreistung gegenüber jenen Akteuren, die ihr Handeln als Ausdruck einer Kritik verstehen. Diese wird nämlich nicht nur entkräftigt, sondern durch die Intervention im städtischen Raum wird ihnen zusätzlich die freie Interaktionsfläche zur Kommunikation ihrer Ansichten genommen.

Literatur:

// (1) Hitzler, Ronald; Bucher, Thomas & Niederbacher, Arne (2001): Leben in Szenen: Formen jugendlicher Vergemeinschaftung heute. Opladen; Leske + Budrich. // (2) Vgl. Scott, Allan J. (1997): The Cultural Economy of Cities. In: The International Journal of Urban and Regional Research; Heft 21/1997. // (3) Vgl. Zukin, Sharon (1998): Städte und die Ökonomie der Symbole. In: Göschel, Albrecht; Kirchberg, Volker (Hg.): Kultur in der Stadt. Stadtsoziologische Analysen zur Kultur. Opladen; Leske + Budrich. S. 27–40. // (4) Vgl. Steets, Silke (2008): Wir sind die Stadt! Kulturelle Netzwerke und die Konstitution städtischer Räume in Leipzig. Campus-Verlag; Frankfurt/Main. // (5, 8) Vgl. Borries, Friedrich von (2004): Wer hat Angst vor Niketown? Nike-Urbanismus, Branding und die Markenstadt von Morgen. episode publishers; Rotterdam. Borries, Friedrich von (2009): Retortenwelt. (Interview). In brand eins; Heft 10/09; 11.Jahrgang; Hamburg. S. 124127 // (6) Vgl. Ohrt, Roberto (1995): Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten; Hamburg. // (7) Vgl. Holert, Tom (2002) : Brainware im Strukturwandel. In: Ehmann, Sven & Fischer, Axel (Hg.): sneakers, etc.; Berlin. // (9, 10, 11) American Apparel // (12) Vgl. Wirth, Louis (1974 [1938]): Urbanität als Lebensform. In: Herlyn, Ulfert (Hg.): Stadtund Sozialstruktur: Arbeiten zur sozialen Segregation, Ghettobildung und Stadtplanung. München: Nymphenburger Verlagsbuchhandlung. S. 42-66.

Nils Grube

lebt und studiert in Hamburg, Geographie, VWL sowie Stadtplanung an der HafenCity Universität und Universität Hamburg. Er schreibt derzeit an seiner Diplomarbeit: „Zwischen Hoffen und Räumen – Kulturelle Zwischennutzung und Standortvitalisierung am Beispiel des FrappantForum-Gebäudeensembles in Hamburg-Altona“.

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Š alle Bilder: Svenja Krist / Johanna Fink

HOSENTASCHEN REPUBLIK

EIN LAND GEHT SPAZIEREN Philipp E. Hachenberg und Malte Pill

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HINTER DEM SCHLAGBAUM BEFINDEN SICH ZOLLSTATION UND DUTY FREE SHOP. HEUTE IM ANGEBOT: MÄNNERPARFÜM, TABAKWAREN UND WEIN.

/// ZIEL UNSERER AKTION IST DIE PIAZZA IM SCHULTERBLATT, EINE LÄNGLICH GEZOGENE PLATZFLÄCHE, DIE ETWA 200 METER PARALLEL ZUR STRASSE VERLÄUFT. AUF DER EINEN SEITE ZIEHT SICH DIE AUSSENGASTRONOMIE DER CAFÉS UND RESTAURANTS IN DEN RAUM, AUF DER ANDEREN SEITE GRENZT STADTMOBILIAR ZUR STRASSE HIN AB, SO DASS FUSSGÄNGERSTRÖME KANALISIERT WERDEN. Der Platz ist als Aufenthalts- sowie als Durchgangsraum stark frequentiert. Wir platzieren uns an den Rand dieses etwas breiteren Bürgersteigs, so dass wir nicht im Weg sitzen. Die Cafés uns gegenüber sind prall gefüllt, man isst zu Mittag, eine Menge Leute gehen an uns vorbei, es ist „Sehen-und-gesehen-werden-Zeit“. Wir beginnen mit dem Aufbau der Republik. Eine etwa 4 qm große bemalte Plane, Signalrot markiert unsere Grenze, hinter dem Schlagbaum befinden sich Zollstation und Duty Free Shop. Heute im Angebot: Männerparfüm, Tabakwaren und Wein. Ein Schild mit der Aufschrift „Freie Republik Schulterblatt – Herzlich Willkommen“ lädt zum Besuch ein, der Schlagbaum bleibt jedoch unten. Ein gesundes Misstrauen gegen das kapitalistische Nachbarland scheint angemessen. Die Gäste der Cafés beäugen uns anfänglich interessiert bis verständnislos. Da wir uns sehr passiv verhalten, verliert man jedoch schnell das Interesse an uns.

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Die meisten Fußgänger schauen verständnislos und gehen weiter, viele lächeln aber auch und nicken uns zu, andere sehen angestrengt weg. Wir ernten interessierte wie irritierte Blicke, man bleibt stehen, dreht sich nach uns um und tuschelt oder nimmt uns gar nicht erst wahr. Wir scheinen niemanden zu stören, auch die Cafébesitzer nehmen keinerlei Notiz von uns. Es scheint hier normal zu sein, dass irgendwelche Leute auf der Straße seltsame Aktionen machen, auch der Duty Free Shop scheint unattraktiv zu sein. Sind die Menschen Irritationen gewöhnt und reagieren daher gar nicht mehr darauf? Oder gehört unsere Aktion gar zu dem Programm, das hier erwartet wird? Es dauert etwa 20 Minuten, bis uns die erste Person anspricht; wir werden insgesamt von 12 Personen angesprochen. Marvin, der auf seinem Fahrrad angeschlendert kommt, ist Freigeist, Hyperkreativer und Netzwerker. Er interessiert sich für Aktionen solcher Art und erzählt uns von einer Gruppe aus dem Schanzenviertel, die sich ausgiebig mit dem Thema Gentrification befasst: Eine Aktivistengruppe, die GEN(trification)OPOLY im öffentlichen Raum spielt, die Straße als Spielfeld nutzt und selbst als Spielfiguren agiert. Man kann ganze Hamburger Straßen kaufen und zocken, was das Zeug hält. Wir tauschen Kontakte und freuen uns auf ein nächstes Treffen. Kaum ist er da, gesellt sich noch eine junge Dame zu uns, die uns fragt, was wir da machen. Nach kurzer Erklärung unsererseits pflichtet sie uns zu der gelungenen Aktion bei und wünscht uns viel Glück! Marvin hat den Bann gebrochen, jetzt geht es Schlag auf Schlag. Ein Typ im Vorbeigehen: „Freie Republik Schulterblatt, versteh ich nicht!“ Café-Besucherin: „Die sitzen immer noch da?“ ihr Gegenüber bejaht mit einem Kopfschütteln. Es fehlt eine Toilette in unserem Land und zu essen gibt es auch nichts. Wir produzieren nichts, wir sind die Wissensrepublik, wir generieren Wissen und exportieren es. Hunger! Wir kommen gleichzeitig auf diesen Gedanken, 2 Sekunden später hören wir die süßeste Stimme des Tages: „Hey Jungs, wollt ihr ein Stück Pizza? Haben wir gerade gekauft. Ist ne gute Sache, die Ihr hier macht, viel Glück noch!“ Perfekt! Der Import läuft. Kinder sind die Interessiertesten, mittlerweile versorgt ein Straßenmusikant die Gäste der Cafés mit seinen musikalischen Darbietungen, immer mehr Leute bleiben für einen kurzen Schnack stehen: „Was macht Ihr hier? Wie lange gibt es eure Republik schon? Macht Ihr ein Kunstprojekt? Seid Ihr beim Schanzenfest auch wieder da? Wohnt Ihr hier? Ist das denn zollfrei? Und wieso habt ihr so ein mageres Angebot im Duty Free Shop? Brauch ich einen Ausweis?“ Mittlerweile hat sich eine Wohnzimmeratmosphäre eingestellt und wir fühlen uns gut. Alter Mann: „Wollt ihr das Stück kaufen?“ Nein, das haben wir besetzt, dass gehört jetzt uns! „Die Spinner sterben nie aus“ sagt er grinsend und geht weiter. Eine Frau im Vorbeigehen: „Ich finde euch super!“ Zu guter Letzt besucht uns dann doch noch jemand in der Republik. Justus beschwert sich darüber, dass unsere Republik sehr klein sei und möchte gerne für 50 Cent ein Stück Plane kaufen, um unsere Republik zu vergrößern. Er schlägt vor, diese ganze Aktion mit 100 Leuten zu wiederholen, die gleichzeitig in Hamburg in Zweiergruppen viele kleine Republiken ausrufen. Es entwickelt sich ein Gespräch über city-sell-out, Gentrification, fehlenden Freiraum, Wohnraum und Konsumisierung der öffentlichen Räume der Stadt. Unser Thema, die Kontrolle im öffentlichen Raum, bleibt unverstanden Das Thema hier ist Gentrification und was man dagegen unternehmen könnte. Nach einer guten Stunde packen wir unser Land in die Tüte, schwingen uns aufs Fahrrad und begeben uns zum neuen Wall in die Hamburger Innenstadt.

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HOSENTASCHENREPUBLIK Hamburg Sternschanze // 2009

Philipp E. Hachenberg und Malte Pill Laufendes Studium der Stadtplanung an der HafenCity Universität Hamburg. Im Rahmen des Seminars „Das Unbewusste der Stadt – Stadt als abstrakte Maschine“ setzen sie sich mit der stadträumlichen Manifestation von Kontrollmechanismen auseinander.

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FIX ANYTHING WITH GAFFA

WAS UNSERE STÄDTE WIRKLICH ZUSAMMENHÄLT Sven Lohmeyer

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NEBEN SPANNGURT, BINDEDRAHT, KABELBINDER UND PAKETSCHNUR IST VOR ALLEM GAFFA TAPE DER KLASSIKER UNTER DEN ALLTAGSHELFERN.

/// WENN ES DARUM GEHT, VIELSEITIGKEIT ODER MULTIFUNKTIONALITÄT ZU VERBILDLICHEN, WIRD VIELEN VERMUTLICH ALS ERSTES DAS SCHWEIZER MESSER EINFALLEN. Das kleine rote Messer mit dem weißen Kreuz und den zahlreichen integrierten Werkzeugen für diverse Anwendungszwecke ist der Inbegriff von universellem Gebrauch. Es gehört sowohl zur Standardausrüstung eines jeden NASA-Astronauten, eines jeden Campers allemal, und auch MacGyver wäre ohne dieses Allzwecktool wohl ein ums andere Mal in einer misslichen Situation gescheitert. Die nahezu unbegrenzten Fähigkeiten und Einsatzmöglichkeiten des kleinen Geräts sollen hier in keinster Weise relativiert werden. Neben dem eidgenössischen Platzhirsch der Allroundwerkzeuge gibt es jedoch auch die eher unscheinbaren Alltagshelfer, die es in punkto Vielseitigkeit durchaus mit dem Ta-

schenmesser aufnehmen können und bisher viel zu selten textlich gewürdigt wurden. Neben Spanngurt, Bindedraht, Kabelbinder und Paketschnur ist vor allem das Gaffa Tape der Klassiker unter den Alltagshelfern. Es findet sich in penibel geordneten Regalen eines Hobbykellers, im Durcheinander eines Handwerker-Koffers, in Ateliers und mit ziemlicher Sicherheit irgendwo im unüberschaubaren Inventar der allermeisten Werkstätten. Gaffa Tape ist ein ca. 5 cm breites, silbernes sowie auch in schwarzer Ausführung erhältliches Klebeband aus faserverstärktem Kunststoff. Neben Gaffa Tape wird es auch Gaffer Tape oder Duct Tape genannt. Der Name leitet sich von der Berufsbezeichnung „gaffer“ ab, die sowohl mit Beleuchtungsmeister, Elektriker, Glasmacher oder einfach Vorarbeiter übersetzt werden kann. Man darf annehmen, dass all diese Berufsgruppen Gaffa Tape mit ziemlicher Sicherheit häufig,

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wenn nicht gar täglich benutzen, ebenso Pragmatiker jeder anderen werkelnden Zunft. Die weite Verbreitung von Gaffa Tape lässt sich leicht erklären, denn es ist sowohl äußerst stabil und klebefest, lässt sich dabei aber erstaunlich einfach von Hand abreißen. Durch seine schnelle Handhabung und werkzeuglose Trennbarkeit hat es sich für allerlei zweckmäßige Provisorien und dringliche Improvisationen bewährt, die über die Fixierung von Kabeln und ähnlichen Arbeiten weit hinausgehen. Mit Gaffa wurden schon ganze Zeltstädte stabilisiert, und auch dauerhafte Strukturen wie Gebäude oder Infrastrukturelemente werden häufig in nicht geringem Maße durch Gaffa Tape zusammengehalten. Ein namenloser, der Science-Fiction-Szene zugehöriger Autor publizierte im Internet daher die offensichtlich übertriebene, aber im Kern vermutlich sehr treffliche Behauptung: „Gaffa tape is the force: it has a dark side, and a light side, and it holds the universe together”. Man mag sich in der Tat kaum ausmalen, was passieren würde, wenn – rein hypothetisch natürlich – auf einmal sämtliche in Benutzung befindliche Streifen Gaffa ihre Halbwertszeit überschritten und plötzlich zu Staub zerfielen…

IS THERE ANYTHING THAT CAN´T BE FIXED WITH GAFFA? 66

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GAFFA TAPE IS THE FORCE: IT HAS A DARK SIDE AND A LIGHT SIDE AND IT HOLDS THE UNIVERSE TOGETHER

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WER ERNTEN WILL, MUSS SÄEN

URBAN AGRICULTURE ALS DAS GEBOT DER STUNDE Yvonne Franz

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WER BEHAUPTET, GROSSSTADT UND LANDWIRTSCHAFT WÜRDEN NICHT ZUSAMMENPASSEN, WIRD WELTWEIT IN ZAHLREICHEN STÄDTEN EINES BESSEREN BELEHRT. /// NEUGIERIG GACKERNDE HÜHNER IM HINTERHOF, EINE GRUPPE FLEISSIGER GÄRTNER, DIE EINEN SCHMALEN ACKERSTREIFEN MIT FRISCHEN STECKLINGEN BEPFLANZT. Typische Landidylle? Mitnichten, wir befinden uns vielmehr im Zentrum einer Großstadt: in Detroit, um genau zu sein. Wer behauptet, Großstadt und Landwirtschaft würden nicht zusammenpassen, wird weltweit in zahlreichen Städten eines Besseren belehrt. Urban Agriculture ist das Gebot der Stunde, das nicht nur ein schnelllebiger Trend zu sein scheint, sondern vielmehr aus der Not eine Tugend macht, denn der Zugang zu frischen und bezahlbaren Lebensmitteln ist in Zeiten der Finanzkrise gerade für die Stadtbevölkerung zu einer täglichen Herausforderung geworden. Auch in den USA, einer der hochentwickeltsten Industrienationen weltweit, sieht die derzeitige Situation wenig rosig aus: Die Arbeitslosenquote ist Ende

2009 mit rund 10 Prozent fast doppelt so hoch als noch zwei Jahre zuvor, als der Konjunkturabschwung in den USA gerade begann. In der Region rund um Detroit kurbelt die Weltwirtschaftskrise den Rückgang der Automobilindustrie nur noch mehr an. Auch die Krise von General Motors und Ford führt in der 900 000 Einwohner-Stadt zu Fabrikschließungen, Jobverlust und gravierenden infrastrukturellen Schwächen. Wo früher ein lebendiges Stadtleben zu beobachten war, findet man heute leer stehende Gebäude. Die Oper wird zum Parkhaus umfunktioniert, der ehemalige Hauptbahnhof dient bestenfalls als schaurig schönes Fotomodell. Was nicht mehr benötigt wird, wird abgerissen und steht als Parkfläche zur Verfügung. Die Luftbildansicht der Innenstadt von Detroit gleicht einem überdimensionalen Parkplatz, wo urbane Verdichtung zu einem Fremdwort geworden ist und das Auto die Herrschaft über den öffentlichen Raum übernommen hat.

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© Yvonne Franz

DOWNTOWN VON DETROIT Die verbliebenen Bewohner der Innenstadt sind die Leidtragenden des wirtschaftlichen und städtebaulichen Verfalls. Doch sie machen aus ihrer Not eine Tugend.

Die verbliebenen Bewohner von Detroits Innenstadt sind die Leidtragenden dieses wirtschaftlichen und städtebaulichen Verfalls. Sie erleben tagtäglich, dass Nachbarn in die Suburbia wegziehen, dass Schulen und Kindergärten wegen zu geringer Auslastung geschlossen werden müssen. Wer es sich leisten kann, zieht weg. Wer zu arm zum Wegziehen ist, wird kreativ. Anstatt in Lethargie zu verfallen, wird eine beachtliche Anzahl von Detroits Stadtbevölkerung aktiv. Sie machen aus der Not eine Tugend und nutzen die freistehenden Flächen für ihre urbane (Not)-Lösung: Urban Agriculture. Ehemalige städtische Brachflächen werden zu landwirtschaftlichen Anbauflächen umfunktioniert. Wo früher Müll abgelagert oder im besten Fall Autos abgestellt wurden, wachsen heute Tomaten, Kartoffeln

plan nicht nur um wertvolle Vitamine, sondern steigern auch die Wertschätzung gegenüber Lebensmitteln. Eine Studie der Rutgers Universität in New Jersey zeigt, dass eine anfängliche Investitionssumme von 25 Dollar einen Erntewert von 500 Dollar pro Anbausaison generiert. Somit wird Urban Agriculture gerade für Familien mit geringem Haushaltseinkommen zu einer attraktiven und gesunden Alternative, die mit dem Verkauf ihrer selbstangebauten Nahrungsmittel auf lokalen Märkten sogar noch ein Zusatzeinkommen generieren können und im urbanen Gärtnern unter Umständen sogar eine erfüllende Aufgabe finden – Nachbarschaftsanschluss inklusive. Was in Detroit aus einer anfänglich urbanen Bewegung heraus begann, wird inzwischen von zahlreichen Organisationen unterstützt. Das Garden Resource Program unterstützt Privatpersonen, Schulen und Vereine mit Samen und Pflanzen sowie mit wichtigen Informationen rund um das Gärtnern in der Großstadt. Mehr als 32 000 Samen und 129 000 Pflanzen wurden 2008 von dieser Institution an die Detroiter Bevölkerung weitergegeben.

WAS IN DETROIT AUS EINER URBANEN BEWEGUNG ENTSTAND, WIRD INZWISCHEN VON ZAHLREICHEN ORGANISATIONEN UNTERSTÜTZT. und Salat; Nahrungsmittel, die von der Stadtbevölkerung angebaut, geerntet und konsumiert werden und die oftmals als „survival vegetables“ beschrieben werden. Selbst gezogene Erbsen, Bohnen, Mais, Karotten, Spinat und Salat ergänzen den täglichen Nahrungs-

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Eigene Gärtnerkurse bietet Urban Roots Detroit an. Hier lernen sogenannte Community-Garden-Leaders innerhalb von neun Wochen die hohe Kunst des Gartenbaus von Bodenkunde bis hin zum Umgang mit Pflanzenschädlingen. Die Non-Profit-Organisation Greening of Detroit ergänzt den Nahrungsmittelaspekt sogar noch um die gezielte (Wieder-)Erschließung öffentlichen Raums:


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Bäume werden gepflanzt, kleine Grünflächen – sogenannte pocket parks – angelegt, Spielplätze errichtet. Ganz im Sinne der Gemeinschaft, denn auch hier gilt „von der Community für die Community“. Es ist beachtlich, welche Ausmaße Urban Agriculture mit sich zieht, und es stellt sich die Frage, ob solch eine Form von Eigeninitiative nur in strukturschwachen Regionen entstehen kann. Ein Blick auf New York City zeigt: ganz und gar nicht. In der Global City schlechthin ist nicht nur ein boboesker Trend hin zu Organic Food und einer Art Renaissance von Grünflächen – erst kürzlich eröffnete der High Line Park im Szeneviertel Meatpacking District – beobachtbar. Auch hier öffnet sich die Wohlstandsschere immer gravierender und finanziell benachteiligte Bevölkerungsschichten kämpfen ums tägliche Überleben. Organisationen wie Just Food sorgen dafür, dass weniger privilegierte Stadtbewohner Zugang zu lokalen und gesunden Nahrungsmitteln, beziehungsweise Unterstützung im landwirtschaftlichen Eigenanbau erhalten. Dies nimmt zuweilen kuriose Züge an, denn eine besonders auffällige Ausprägung von Urban Agriculture in New York City sind die sogenannten City Chickens: Das Halten von Hühnern in New York City ist erlaubt, ausgenommen Hähne – die machen dann doch zu viel Lärm – und Bienen, die in der Großstadt vermutlich zu aggressiv werden würden. So lässt sich die Liste an gärtnernden Großstädten beliebig fortsetzen, deren landwirtschaftliches Potential nicht nur aufgrund community-basierter bottom-up Initiativen erwachte. Die Regierungen von San Francisco und Chicago fördern beispielsweise mit Steuervergünstigungen die Begrünung von Hausdächern. Und auch in Südamerika verzeichnet Urban Agriculture einen Siegeszug: Die nördlich von Buenos Aires liegende argentinische Stadt Rosario aktivierte 2001 gezielt urbane Landwirtschaft, indem sie Geräte und Samen zur Verfügung stellte, öffentliches Land zur landwirtschaftlichen Bewirtschaftung freigab sowie Steuererleichterungen für Landbesitzer anbot, die ihre Flächen der armen Bevölkerung überließen. Damit konnten in Zeiten von starker wirtschaftlicher Instabilität rund 800 000 Einwohner mittels Hilfe zur Selbsthilfe vor einer drohenden Verarmung bewahrt werden. Und auch der Blick auf Großstädte im deutschsprachigen Raum zeigt: Der Traum von Unabhängigkeit und dem eigenen Stück Land wird gerade in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit immer stärker. Allein in

URBAN AGRICULTURE IN CHICAGO

Berlin sind beispielsweise alle 80 000 Schrebergärten vergeben und rund 14 000 Interessenten stehen auf der Warteliste. Ein ähnliches Bild zeigt sich in Wien. Auch hier übersteigt die Nachfrage nach Kleingartenparzellen das aktuelle Angebot. Und das obwohl in den städtischen Randbezirken kontinuierlich neue Kleingärten erschlossen werden. Sicher ist: Gegärtnert wurde schon immer. Dennoch sollte Urban Agriculture keinesfalls nur als Relikt vergangener Zeiten bewertet werden, sondern muss vielmehr als ein integraler Bestandteil eines urbanen Systems betrachtet werden (RUAF, Foundation Resource Centres on Urban Agriculture and Food Security) – gerade in Zeiten expandierender Urbanisierung, Flächenverknappung, steigender ÖI- und Nahrungsmittelpreise.

Yvonne Franz

promoviert im Bereich „Urban Studies“ am Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien. Sie beschäftigt sich vor allem mit urbanen Aufwertungsprozessen in Europa und den USA. Interessante Stadtentdeckungen dokumentiert sie in ihrem Online-Blog http://urbantraces.wordpress. com/. In der Lehre ist sie vor allem im Zuge des UNICA Euromaster „4Cities“ engagiert, der Studierende an Universitäten in Brüssel, Wien, Kopenhagen und Madrid im Bereich Urban Studies ausbildet.

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IMPROVISIERTE STADT?

URBANISIERUNG IN ÄTHIOPIEN Nadine Appelhans

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© Fotos von Nadine Appelhans


VON EINER IMPROVISIERTEN STADT ZU EINER STADT MIT RAUM FÜR IMPROVISATION /// IN DER REGION OSTAFRIKA, WO SICH DIE URBANE BEVÖLKERUNG IM ZEITRAUM VON 2009 BIS 2017 VERDOPPELN WIRD, FINDET SICH DERZEIT DAS SCHNELLSTE STADTWACHSTUM WELTWEIT (UN-HABITAT 2008: 4). In Äthiopien, schätzt man, wird der Prozentsatz an Stadtbewohnern landesweit von 16,1% im Jahr 2007 auf 27,4 % im Jahr 2030 ansteigen (UN-HABITAT 2008: 171). Ungeachtet des allgemeinen Augenmerks auf die Megacities vollzieht sich dieses Bevölkerungswachstum vor allem in den Sekundärstädten mit weniger als 500 000 Bewohnern (UN-Habitat 2008: ix). Die genaue Zusammensetzung des städtischen Bevölkerungszuwachses ist aufgrund der geringen Datenlage schwierig nachzuvollziehen. Neben einem natürlichen Bevölkerungswachstum wird davon ausgegangen, dass die Zuwanderer vornehmlich aus ländlichen Gebieten kommen, wo bei stagnierender

Produktion und steigender Population ihr Überleben in der Landwirtschaft nicht gesichert ist. Trotz der wenigen Erkenntnisse über die Wanderungsbewegungen sind gerade die neu zugewanderten Stadtbewohner häufig im Straßenraum sichtbar und der Anstieg der Zahl der Stadtbewohner dadurch auch im Bewusstsein der breiten Bevölkerung vorhanden. So sind inländische Migranten in Äthiopien überproportional häufig im Handwerk und in Dienstleistungen beschäftigt, während die Nicht-Migranten häufiger landwirtschaftlichen Tätigkeiten nachgehen (Golini et al. 2001 :40f). Die Armut in den Städten ist zwischen 1994 und 2000 gestiegen, während sie insgesamt im gleichen Zeitraum sank (UN-HABITAT 2007: 5). Für viele der Zuwanderer hat dadurch der öffentliche Raum neben seinen Aufenthaltsqualitäten eine besondere Bedeutung für die Erwerbstätigkeit. Hier ist der Ort, an dem Kleinsthandel getrieben wird, Tagelöhner ihre Arbeitskraft anbieten und Dienstleistun-

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© Fotos von Nadine Appelhans

TAGELÖHNER IN BAHIR DAR

gen wie Schuhputzen angeboten werden. Aufgrund der geringen Einkommen ist er als kostenloser Raum für ökonomische Kleinstaktivitäten notwendig, denn ein regelmäßiges Einkommen selbst für die Mieten der kleinen Wellblechläden ist für viele der jungen Neuankömmlinge nicht garantiert. Sie übernachten meist zur Miete in Unterkünften, die ihnen andere Familien in ihren Räumen zur Verfügung stellen. Eine feste Bleibe ist nur unter hohem finanziellem und organisatorischem Aufwand zu bekommen, denn ausgehend von einer unter dem sozialistischen Regime langjährig vernachlässigten städtischen Wohnungspolitik herrscht in Äthiopien Wohnungsnot in allen Bevölkerungsschichten (UN-HABITAT 2007: 7f).

steht in Äthiopien dort, wo die Nutzungsrechte missachtet werden. Dies passiert bspw. in von Naturkatastrophen gefährdeten innerstädtischen Lagen oder auf illegal verpachtetem Agrarland am Stadtrand. Trotz ihres rechtlich meist geklärten Status haben weite Teile der urbanen Unterkünfte gemein, dass sie aufgrund der vorherrschenden Armut und der beschränkten Verfügbarkeit von materiellen Ressourcen im Ausbau improvisieren müssen. Dabei wird bei 75 % der Gebäude in Addis Abeba auf eine Mischung aus traditionellem Baumaterial (Lehm) und verfügbaren Importgütern zurückgegriffen (UN-HABITAT 2007: 29). Zum Bau wird sich auf das vorhandene soziale Kapital gestützt, welches auch dazu dient,

IN ÄTHIOPIEN HERRSCHT WOHNUNGSNOT IN ALLEN BEVÖLKERUNGSSCHICHTEN. Private Wohnungsentwickler sind erst vor kurzem auf den Markt getreten, so dass die Wohnraumversorgung im Selbstbau eine weit verbreitete Praxis ist. Aufgrund der staatlichen Grundverwaltung, nach der es keinen privaten Landbesitz gibt, sondern Nutzungsrechte vergeben werden, kann man die so entstehenden Siedlungen jedoch meist nicht als „informell“ im Sinne des Landrechtes bezeichnen. Die meisten der im Selbstbau entstandenen Siedlungen verfügen über die Nutzungsrechte für das Land, auf dem sie errichtet wurden. Diese Form der informellen Siedlungen ent-

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materielle Engpässe zu überbrücken. Dabei ist Letzteres eine Tatsache, die sich auch etliche neu gegründete Baugenossenschaften in Addis Abeba zu Eigen gemacht haben. In den Siedlungen erstreckt sich die Improvisation dabei jedoch auch auf die Ver- und Entsorgung von Wasser, Energie und Abfall, sowie die Transportinfrastruktur. Deren Qualität ist je nach finanziellen Möglichkeiten der Anwohner unterschiedlich und führt teilweise zu gesundheitlich untragbaren Zuständen in den Siedlungen. Aufgrund dieser Versorgungslage sind 80 % der urbanen Bevölkerung Äthiopiens nach technischen Kriterien zu Slumbewohnern erklärt worden (UN-HABITAT 2007: 22). Die in Eigenverantwortung praktizierte Entwicklung hat somit im Laufe der Zeit die staatlichen Stadtplanungsmechanismen weitgehend überholt, was von


INFORMELLE SIEDLUNG AM FLUSSBETT IN DIRE DAWA

der UN als „governance void“ bezeichnet wird (UNHABITAT 2008: 15). Genau an dieser Stelle setzt jedoch die Kritik von afrikanischen Urbanisten an, an deren Spitze AbdouMaliq Simone (Simone 2004) und Jennifer Robinson (Robinson 2006) stehen: Demnach kann die reale (informelle) Entwicklung nicht dem auf kolonialen Vorbildern gegründeten segregierten Stadtmodell und der als „developmental“ bezeichneten Haltung technische und gestalterische Vorbilder zu importieren, unterworfen werden. Eines der drastischsten Beispiele für solch ein opponiertes Vorgehen im Sinne des Stadtmodernisierungsgedankens ist die Räumung eines innerstädtischen Wohn- und Arbeitsquartiers zugunsten des Sheraton Hotel Neubaus. Die staatliche Zugriffsmöglichkeit auf das Land wurde hierbei dazu genutzt, die bis dato ansässige Bevölkerung in Ersatzunterkünften am Stadtrand unterzubringen, die jedoch ihren Lebensbedürfnissen aufgrund der Distanz zum Zentrum und den dortigen Erwerbsmöglichkeiten nicht ausreichend entsprechen. Um dieser technisch-regulativ geleiteten Entwicklungspraktik zu begegnen und um sie überwinden zu können, ist es notwendig, die lokale kulturelle und sozio-ökonomische Praxis anzuerkennen und die Begrenztheit der materiellen Ressourcen in der Gestaltung zu berücksichtigen (vgl. Kihato 2007: 214). Dieser Punkt ist aus westlicher Perspektive häufig schwierig nachzuvollziehen, denn er beinhaltet nicht nur, dass die Bau- und Mietkosten möglichst niedrig zu halten sind, sondern muss die

gesamten Lebensumstände reflektieren. Hierzu gehören unregelmäßige Einkünfte, der Bedarf an Selbstversorgungsmöglichkeiten, der teilweise zeitbegrenzte Aufenthalt in der Stadt (saisonale, zyklische oder permanente Migration) und veränderliche Haushaltszusammensetzungen. Diese wenig untersuchten, aber bereits sichtbaren Veränderungen im städtischen Leben zeigen die Notwendigkeit, weiterhin Raum für Improvisation im städtischen Gefüge zu belassen. Solcher Raum muss in der Stadtentwicklung jedoch vor kurzfristiger finanzieller Verwertung geschützt werden. Eine Zielformulierung von gesamtstädtischen Interessen könnte, sofern sie politisch gewollt ist, einer reinen Investorenplanung zuvorkommen und die verschiedenen Interessen koordinieren. Ansätze hierzu sind im aktuellen Masterplan von Addis Abeba zu erkennen und könnten bei einer Fortentwicklung Vorbildcharakter für andere Standorte bieten.

RAUM FÜR IMPROVISATION IM STÄDTISCHEN GEFÜGE IST WEITERHIN NOTWENDIG. Insgesamt muss es in der urbanen Zukunft darum gehen, auf Grundlage und unter Konsultation der breiten Stadtbevölkerung Entwicklungsziele zu formulieren, die verbesserten Lebensbedingungen in den jeweiligen Städten dienen und deren räumliche

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INFORMELLE OBERSCHICHTSIEDLUNG IN DIRE DAWA

HERSTELLUNG VON LEHMBAUMATERIAL 78


MERCATO-VIERTEL IN ADDIS ABEBA

Gestaltung zu Prozessbeginn offen ist. In dem Zuge wird die Planung ihr Verständnis der Dichotomie von Stadt und Land zugunsten eines Verflechtungsraumes überdenken müssen, um zu einer Prozessgestaltung zu gelangen, die für die von interner Migration geprägte Stadtentwicklung angemessen ist. Gleichzeitig dürfen dabei übergeordnete Interessen wie der Ausbau der (öffentlichen) Verkehrsinfrastruktur nicht ins Hintertreffen geraten. Entgegen einer oft geäußerten Meinung liegt die entscheidende Herausforderung in der Planung daher nicht darin, zu entscheiden, ob China oder der Westen das bessere Vorbild für die äthiopische Stadtentwicklung ist – sondern in der Entwicklung von Visionen aus den Verhältnissen vor Ort heraus. In dem Sinne führt der Weg fort von einer improvisierten Stadt zu einer Stadt mit Raum für Improvisation. Literatur:

Golini, Antonio; Mohammed Said; Casacchia, Oliviero; Reynaud, Cecilia; Basso, Sara; Cassata, Lorenzo; Crisci, Massimiliano (2001): Migration and Urbanization in Ethiopia, with Special Reference to Addis Ababa. Herausgegeben von Institute for Population Research – National Research Council (Irp-Cnr), zuletzt aktualisiert am 04.08.2009, zuletzt geprüft am 20.12.2009.

SHERATON HOTEL IN ADDIS ABEBA

Kihato, Caroline (2007): African Urbanism. In: Burdett, Ricky (Hg.): The endless city. The urban age project by the London School of Economics and Deutsche Bank‘s Alfred Herrhausen Society. London: Phaidon, p. 214–218. Robinson, Jennifer (2006): Ordinary cities. Between modernity and development. London: Routledge (Questioning cities series). Simone, Abdoumaliq (2004): For the city yet to come. Changing African life in four cities. Durham: Duke University Press. United Nations Human Settlements Progamme (UN- HABITAT): Situation Analysis of informal settlements in Addis Abeba. Cities without Slums: Sub -Regional Programme for Eastern and Southern Africa Addis Abeba Slum Upgrading Programme (2007). Nairobi. United Nations Human Settlements Programme (UN-HABITAT): The state of African cities 2008. A framework for addressing urban challenges in Africa. United Nations Human Settlements Programme (UN-HABITAT). Nairobi.

Nadine Appelhans

studierte Stadtplanung an der HafenCity Universität Hamburg und der Universidad de Valladolid. Derzeit promoviert sie bei Dieter Läpple über den Wandel der Existenzgrundlagen im Urbanisierungsprozess in Äthiopien und untersucht, wie dies in der Stadtentwicklung berücksichtigt werden kann.

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© alle Bilder: spacedepartment / Rudolf D. Klöckner

AUS DER JURTE, IN DIE JURTE

MIT DEM UMWEG ÜBER DIE STADT. Rudolf D. Klöckner

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DIE JURTE IST IN NUR WENIGEN JAHREN ZUR STÄDTISCHEN IMMOBILIE GEWORDEN

/// FAST DIE HÄLFTE DER DREI MILLIONEN EINWOHNER DER MONGOLEI LEBT IN DER HAUPTSTADT ULAANBAATAR, DER GRÖSSTEN UND BEDEUTENDSTEN STADT DES LANDES. TÄGLICH KOMMEN NEUE DAZU – NEUE STADTBEWOHNER MIT DEM IMMER GLEICHEN TRAUM VOM MODERNEN STÄDTISCHEN LEBEN IM HAUS AUS HOLZ UND STEIN. Die mongolische Hauptstadt hat wenig zu tun mit den touristischen Idealvorstellungen der Mongolei von Natur, endlosen Weiten und romantischem Nomadentum; vielmehr präsentiert und verdeutlicht die Stadt das geladene Spannungsfeld zwischen nomadischer Tradition und westlichem Einfluss.

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Die Zahl der Einwohner von Ulaanbaatar hat sich seit Mitte der neunziger Jahre bis heute nahezu verdoppelt. Schätzungen zufolge leben heute 1,3 Millionen Menschen in der Stadt. Dieses rasante städtische Wachstum findet vor allem in der Hauptstadt Ulaanbaatar statt. Andere Städte wie Erdenet, Darchan oder Tschoibalsan verzeichnen zwar ebenfalls Bevölkerungszuwachs, spielen aber mit jeweils weit unter 100 000 Einwohnern im Vergleich zur Hauptstadt kaum eine tragende Rolle. Der Stadtplan, den man als Tourist von Ulaanbaatar bekommt, orientiert sich in seiner Darstellung neben dem groben Straßenraster der Hauptverkehrsstraßen ausschließlich an den wenigen auffälligen, politisch oder kulturell bedeutsamen Gebäuden, welche seit den 1930ern durch die Russen und mit der Demokratisierung der Mongolei seit den 1990ern auch durch andere ausländische Investoren entstanden sind. Diese Tatsache mag, betrachtet aus einer bewusst naiven westlichen Perspektive, angesichts der reinen Reproduktion der Wohnarchitekturen auf den ersten Blick auch sinnvoll sein: Sowohl die Wiederholung von ein und demselben Gebäudetypus aus der sozialistischen Ära, wie auch das endlos erscheinende Jurten-Meer, welches Zelt an Zelt die Hügel um die Stadt heraufsteigt, macht die Orientierung für den Besucher nicht immer einfach. Diese Plandarstellung der Stadt präsentiert aber gleichzeitig auch genau jenes „neue Ulaanbaatar“, über das man in den Hochglanzbroschüren, welche man als Ankömmling am Chinggis Khaan International Airport bekommt und die einem die Kapitalanlage in Immobilien mit Namen wie „Golden Horse Castle“ oder „Dream Land“ schmackhaft machen sollen, liest. Als moderne und fortschrittliche zentralasiatische Metropole präsentiert sich die Hauptstadt, immer stolz zurückblickend auf die glorreiche Geschichte: Von der Khan-Dynastie, über die Unabhängigkeitserklärung von China im Jahre 1911 und dem darauf folgenden Ausruf als Satellitenstaat der UdSSR, bis hin zur Demokratisierung und dem friedlichen Loslassen vom sozialistischen großen Staatenfreund und gleichzeitig westlichem Bruder Russland. Die heutige aus Stein gebaute Stadt ist zu den größten Teilen das Produkt des letzten großen politischen Abschnittes der Mongolei, ein in Stein gebautes Erbe der sozialistischen Ära. Die ersten festen 2- bis 3-geschossigen Wohn- und Geschäftshäuser der Stadt stammen bereits aus den 1920ern, und somit noch aus der Zeit der Besetzung durch China. Das erste mehrgeschossige reine Wohnhaus wurde in den frühen 1950ern durch die Russen errichtet und kann neben den buddhistischen Tempeln sowie einigen Repräsentativbauten als einer der wesentlichen Grundsteine der heutigen Stadt betrachtet werden. Zuvor bestand die Stadt aus einer Ansammlung von Jurten. Polemisch formuliert könnte man also von einer von außen initiierten Immobilisierung der Architektur und mongolischen Siedlungskultur im Generellen sprechen, denn genau genommen sind die Entwicklungen der heutigen Strukturen, architektonisch und stadtstrukturell sowie stadtpolitisch, das Resultat der seit den 1930ern dominierenden sowjetischen Einflüsse. Zurück zum anfangs erwähnten Stadtplan: Was auf dem Stadtplan verzeichnet ist, zeigt jedoch, wie so oft, nur einen kleinen Ausschnitt der städtischen Realität. Denn was der Plan nicht zeigt, sind die nahezu 100 000 Gers, die traditionellen Rundzelte der Nomaden, die heute in der Stadt stehen und in denen rund 60 Prozent der Bevölkerung leben – und somit die vorherrschende Siedlungsweise stellen.

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AUF DEM LAND Die Jurte ist mobil und wechselt mehrmals im Jahr den Ort. Der Standort wird gewählt nach dem Vorkommen natürlicher Ressourcen. Es existiert kein Grundbesitz.

ANNÄHERUNG AN DIE STADT Die Jurte wechselt nicht mehr den Ort. Sie wird zur Immobilie. Das Landstück wird symbolisch abgesteckt und durch die Dauernutzung markiert. Das Stück Land wird zum dauerhaften Grundstück.


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Die allgemeine Unzufriedenheit mit dem Leben auf dem Land, überdurchschnittlich lange und kalte Winter sowie Seuchen und der damit einhergehende Verlust der Viehherden, treiben die Menschen vom Land in die Stadt, immer verbunden mit der Hoffnung, dort neue Alternativen zum Erwirtschaften des Lebensunterhaltes zu erlangen. Im Durchschnitt zieht jede Stunde eine Familie mit ihrer Jurte in die Hauptstadt, um nach einem freien Stück Land, möglichst dicht an der Innenstadt zu suchen oder um auf einem ihnen freigehaltenen Platz ihr Zelt aufzubauen. Von Bretterzäunen eingeschlossen, errichten die Familien ihr Rundzelt auf einem je ca. 700 qm großen Stück Land, welches jedem Mongolen mit dem Erlangen der Volljährigkeit per Gesetz zusteht – ein populistisches Politikversprechen, um das Volk an der Dynamik der unaufhaltsamen Privatisierungsströme nach dem Systemwechsel teilhaben zu lassen. Erst im Nachhinein, oft nach Jahren der gelebten Sicherheit, wird das Grundeigentum beim Katasteramt eingetragen, mit der Minimalauflage, dass für das Grundstück keine übergeordneten Vorhaben, wie Straßen- oder Brückenbau durch die Stadt vorgesehen sind. Wer das Geld hat, kauft sich ein bereits erschlossenes Stück Land, um möglichst zentral in der Stadt unterzukommen.

ZWISCHEN STADT UND LAND Die Jurte wird durch zusätzliche Architekturen erweitert, als zusätzlicher Stau- und Arbeitsraum. Das Grundstück wird zum gefühlten Eigentum und wird eingezäunt.

Aufgrund der großen Landflucht und der damit einhergehenden Nachfrage an Grund, wächst die Stadt stetig mit zentrifugaler Ausdehnung um das Stadtzentrum herum. Viele Familien versuchen es somit erst gar nicht mit ihrer Jurte in direkte Stadtnähe zu kommen. Sie siedeln sich außerhalb der Stadt an, da wo die Stadtgrenze den Übergang zur umliegenden Provinz Töv markiert. Hier entstehen, ohne großen Abstimmungsbedarf mit der ohnehin kaum greifenden Stadtentwicklungsplanung, Geschosswohnungsbauten auf günstigem unerschlossenem Steppenland. In der gemeinsamen Hoffnung, mit dem wachsenden Siedlungsdruck könnte es in den nächsten Jahren zur Anbindung der Gebiete an das städtische Kanalisations- und Stromnetz kommen, siedeln sich auch Familien mit ihren Jurten zwischen den 5-geschossigen Wohnhäusern und Baustellen vorwiegend chinesischer und kanadischer Investoren an. Das Stadtwachstum folgt dem Duktus einer sich selbst überlassenen unkontrollierbaren städtebaulichen Dynamik. Die Folge ist eine infrastrukturelle Unterversorgung der rasant wachsenden „Ger-Distrikte“, den aus den traditionellen nomadischen Rundzelten bestehenden Stadtteilen. Basierend auf der alten zentralistischen Verwaltungsmaschinerie, ist der Mangel an städtischer Infrastruktur zwar schon lange erkannt, die Logik des alten Systems, kombiniert mit Geldmangel und Korruption, verhindert jedoch jegliche Abstimmungsprozesse und das Aneignen technischen Know-hows zur Bewältigung der Missstände. Das Stadtwachstum wird zur Überforderung für die nicht regulierend eingreifende Stadtplanung. Gleichzeitig bekommen die Ger-Distrikte von offizieller Seite keine Anerkennung und tauchen aus diesem Grund im Stadtplan gar nicht erst auf. Außerhalb der Stadt, wo das gedruckte Schwarz der Stadt auf dem Stadtplan in das SteppenGrün des Umlandes übergeht, weist lediglich das traditionelle Symbol der Jurte auf die Möglichkeit hin, in Jurten-Hotels in ausgewählten Naturreservoirs zu übernachten; wie sich versteht, bei Bedarf auch mit Dusche und WC. Einmal in der Stadt, träumen die neuen Stadtbürger von einem neuen Leben in einem Haus aus Holz und Stein. Gebaut wird nach individueller Verfügbarkeit der Materialbesitztümer: wenn genug Material vorhanden ist, wird gebaut. Wenn die Familie wächst und genug Material vorhanden ist, wird weiter oder für

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TEIL DER STADT Die Jurte wird endgültig zur Immobilie. Die Zusatzarchitektur wird zum Haus. Die Jurte bleibt auf dem Grundstück stehen: als zusätzlicher Wohnraum oder als Haus für die nächste / vorherige Familiengeneration. Das Grundstück wird zum rechtlichen Eigentum.


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die Kinder oder Enkel erneut gebaut; der Eingang immer nach strenger Tradition ausgerichtet gen Süden. Die Jurte, als überdrüssig gewordene Wohnform, wird in einem radikal konsequent erscheinenden Schritt durch das feste Haus ersetzt, die mongolische Bauund Wohnkultur gegen in China produzierte westliche Güter und den vermeintlich neuen Wohn- und Lebenskomfort getauscht.

IN DER JURTE Familie, lebend in der Jurte im Ger-Distrikt im östlichen Teil von Ulaanbaatar.

Neben der Familie ziehen Großteils auch das bewährte Raumkonzept und die gelebten Nutzungsrituale mit um ins neue Haus, die räumlichen Nutzungsprinzipien und Gewohnheiten werden von der Jurte auf das fest gebaute Haus übertragen. Es entstehen Häuser mit Giebeldach, Gaubenfenstern und Vorgarten, aber mit nur einem großen Raum. In diesem Raum lebt die ganze Familie, die Küche ist separiert im Vorraum, die Toilette draußen. Was in der Jurte funktioniert hat, scheint sich auch im der Praxis im festen Haus zu bewähren. Die neue Wohnung ist nicht rund, sie ist nicht aus Holz und Stoff, aber sie ist, betrachtet nach dem funktionalen Raumprogamm, auch in ihrer neuen Weise eine Jurte. Aus der über Jahrhunderte gewachsenen intensiven Beziehung zur Jurte scheint in nur wenigen Jahrzehnten eine enge und spezielle Beziehung zum festen Haus geworden zu sein. Ohne Zweifel ist diese Bindung zur neuen, globalisierten Architektur stark; bei genauerer Betrachtung jedoch großteils von platonischer Natur. Für das durch Material- und Formensprache der Jurte geprägte Bild der GerDistrikte bedeutet dies eine nach und nach eintretende Ergänzung durch die Architektur westlich anmutender Einfamilienhäuser „Marke Eigenbau“. In den meisten Fällen bleibt die Jurte jedoch auf dem Stück Land bestehen, denn Bedarf an Wohnraum gibt es genug. So wird auch das Stadtbild nicht ausgetauscht, sondern Stück für Stück ergänzt. Aus der Beziehung zur Natur ist eine Beziehung zur Stadt und aus der Bindung zur Jurte ist eine Bindung zum festen Haus geworden, intensive, zweckgebundene Beziehungen, mit Auswirkung auf die Lebensweisen und -welten der Familien. Neue Lebenswelten, die auf den ersten Blick ohne offensichtlich erkennbare Bezugspunkte und Systematiken der traditionellen Lebenswelten daherkommen. Beim genaueren Betrachten löst sich diese Sichtweise jedoch mehr und mehr in der Erkenntnis auf, dass das heutige Ulaanbaatar aus weit mehr als dem Abziehbild des „neuen Ulaanbaatar“, bestehend aus westlicher Architektur und neuen Lebensstilen, ist. Die Stadtbewohner sind moderne Nomaden, die keine Nomaden mehr sind, moderne Jurtenbewohner, die keine Jurtenbewohner mehr sind.

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IM HAUS Schwiegertochter mit zwei ihrer vier Kinder im Haus auf demselben Grundstück wie die Jurte.


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DIE SIEDLUNG HECKPFAD VERSUCH EINER BESCHREIBUNG IN 10 PARAGRAPHEN Lola Meyer und Boris Sieverts

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© Foto von Anne Fissenewert

§1 ZITAT „Als wir hier den Beton eingeebnet haben, da kam ja immer einer vom Bauamt. Das wussten wir immer, wann der kommt: So zwischen neun und halb zehn, sonntags, mit dem Mofa… Wir haben uns in den Bombentrichtern versteckt und der ist gekommen und hat mit dem Kopf geschüttelt, als wollte er sagen: jetzt steht da schon wieder ein Haus.“ Lotte Arlt, 83 Jahre alt, seit 57 Jahren Bewohnerin der Siedlung am Heckpfad.

§2 KÖLN NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG Am Heckpfad, einem alten Überlandweg im Norden des Stadtgebiets, verpachtet ein Ziegelfabrikant das ausgelehmte, zwischen Friedhof und Bahndamm gelegene Land rund um seine Ziegelei an Ausgebombte, Flüchtlinge und Heimkehrer, die sich in den flachen Senken zunächst Behelfsheime errichten. Was oftmals als hölzerne Baracke von weniger als 30 qm beginnt, ist heute nicht selten zum festen Haus von 250 qm und mehr angewachsen.

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© Boris Sieverts

§3 DIE 1950ER In den 50er Jahren übernimmt ein Bauunternehmer das Gelände mitsamt den existierenden Pachtverträgen und beginnt unmittelbar neben der Siedlung Kies abzugraben.

§4 1960ER UND 1970ER JAHRE Während überall in Köln und anderen deutschen Großstädten die im Fachjargon der Planer „Splittersiedlungen“ genannten, ungeplanten Häuseransammlungen abgerissen und ihre Bewohner in neue und wieder aufgebaute Mietwohnungen umquartiert werden, verhindern am Heckpfad komplizierte Eigentumsverhältnisse, sich widersprechende Planungsabsichten und eine Lage im Sichtschatten der städtischen Behörden diesen Lauf der Dinge. Währenddessen wächst die Siedlung – mal schneller, mal langsamer, aber stetig, auf ca. 300 Bewohner in knapp 100 Häusern.

§5 1970ER JAHRE BIS HEUTE Planungsrechtlich liegt das Gebiet im Außenbereich, also außerhalb jeglichen Baugebiets und ist im Flächennutzungsplan als Grünfläche mit Kleingartennutzung eingetragen. Im Umgang mit der Siedlung agieren die städtischen Behörden im Detail widersprüchlich, in der Summe aber im Sinne einer stillschweigenden Duldung: Hier und dort wird ein Abriss durchgesetzt, während nebenan im Halbverborgenen weitergebaut wird. Einzelne Häuser werden versiegelt und von ihren Besitzern wieder geöffnet. Es wird Strom gelegt und Stadtwasser ersetzt die ursprünglichen Brunnengemeinschaften. Häuser entlang der öffentlichen Etzelstraße werden an die Kanalisation angeschlossen, während andere – an Privatwegen gelegene – ihre undichten Sickergruben weiter benutzen. Pläne für eine Friedhofserweiterung kommen und gehen. Pläne für eine Ringstraße kommen und gehen und kommen wieder. Ein rudimentärer Bebauungsplan, der im Wesentlichen die jetzige Bebauungsdichte und -höhe festschreiben würde, scheitert am Desinteresse der Landbesitzer, die notwendigen Investitionen in Kanalisation und Lärmschutz zur Eisenbahn zu leisten. So bleibt die Siedlung im Status der stillschweigenden Duldung mit Pachtverträgen, die lediglich eine Gartennutzung und eine dreimonatige Kündigungsfrist vorsehen, ohne Möglichkeit, Baukredite oder Hypotheken aufzunehmen. Bis heute hat keines der Gebäude eine Baugenehmigung oder ist auf ausgewiesenem Baugrund errichtet worden.

HIER UND DORT WIRD EIN ABRISS DURCHGESETZT, WÄHREND NEBENAN IM HALBVERBORGENEN WEITERGEBAUT WIRD. 90


© Boris Sieverts

§6 SELBERMACHEN Die Bewohner haben, bei allen teilweise gravierenden Differenzen, eine hohe Risikobereitschaft sowie das Bedürfnis nach materieller Substanz gemein, die das selber Bauen der eigenen Biographie verleiht. Alle fangen sie klein an. Kommt Geld ins Haus oder ein Kind dazu, ziehen die Großeltern mit ein oder auf das Grundstück, so wird angebaut, umgebaut, aufgestockt und ausgebaut. Diese Baupraxis lässt Haustypen entstehen: Allen voran diejenigen des „Fladen“ und der „Satelliten“: Beim „Fladen“ wird sukzessive und zu allen Seiten angebaut, was fast immer früher oder später zu einem hohen Anteil an Durchgangszimmern führt. Die ohnehin – aus Gründen der Unauffälligkeit – flache Dachneigung bei niedriger Bauweise wird nun ausgereizt, bis sich innen nicht mehr stehen lässt. Sollte später noch ein weiterer Anbau nötig werden, wird die Dachkante über dem Neubau wieder höher gesetzt, wobei in der Knickstelle problematische Entwässerungsstellen entstehen. Die Alternative zur Fladenbauweise sind die „Satellitenhäuser“. Hierbei wird ein vom Ursprungshaus entfernter, neuer Baukörper errichtet. In der Praxis sind häufig Mischformen beider Typen zu finden, zum Beispiel, wenn ein Satellit seinerseits erweitert wird und so langsam wieder auf das Ursprungshaus „zuwächst.“ Einer der Bewohner, den wir zusammen mit Kasseler Studenten im Rahmen eines Workshops interviewten, wohnt in einem komplexen Hauskonglomerat, welches am ehesten als „Krake“ zu beschreiben wäre.

§7 DIE ZERKLÜFTETE STADTLANDSCHAFT Zur Patchworkbauweise der Siedlung gesellen sich die Weite und ein Flickenteppich verschiedenster Freiflächen des sich hier überraschend plötzlich auftuenden Stadtrands, der de facto nur ein Innenrand ist, denn tatsächlich setzt die “ordentliche und dichte Stadt” einige Kilometer weiter erneut an. Am Heckpfad ist immer ganz viel Himmel. Vom Stadtinneren kommend weiß man zunächst nicht, woher diese Anmutung kommt. Nur wenn man sich traut, die Siedlung zu durchqueren, die in ihrer Andersartigkeit bei Besuchern leicht die Befürchtung weckt, als Eindringling empfunden zu werden, wird man der großen, savannenartigen Senke mit Baggersee gewahr, die sich hier überraschend auftut und an deren Abbruchkante die Häuser der Siedlung teilweise gefährlich nahe heranreichen. Die umfangreiche Baggerseenlandschaft geht über in ein Sammelsurium aus verwilderten Deponieflächen, Grabeländern, Schrottplätzen und Feldern, an deren Horizont man vage die wieder einsetzende Bebauung wahrnimmt. Halb ländliche Idylle, halb suburban-industrielle Mondlandschaft, bilden Umgebung

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© Kjell Herrmann

BAUBIOGRAFIE LOTTE ARLT 1

1953 haben Frau Arlt und ihr Mann ein Fertigteilhaus am Heckpfad aufgestellt. Es bestand aus zwei Zimmern – Schlafzimmer in einem und Küche und Wohnen im anderen Zimmer.

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Etwa ein Jahr später bauten sie die Küche an und ummauerten die ursprünglichen Holzfaserwände zur besseren Isolation.

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Anschließend kam das Bad hinzu; bis dahin gab es eine Außentoilette im Garten.

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Als Entrée und Windfang wurde ein kleines Zimmer an die Küche gebaut.

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Das Haus heute mit Schuppen und Abstellkammer.

und Siedlung gemeinsam fast so etwas wie ein ästhetisches Biosphärenreservat des Wilden, Zerklüfteten, sich im einen Moment zu vertrauten Bildern fügen dem und im nächsten Moment diesen krass Widersprechendem.

§8 DAS DIFFERENZERLEBNIS Die Siedlung lässt sich auf vielerlei Weise beschreiben – über Schwarzpläne, über Statistiken, über Fotos oder Filmmaterial. Seit Jahren beschäftigen wir uns nun schon mit der Siedlung und nie haben wir das Gefühl erlangt, das passende Werkzeug zur Beschreibung gefunden zu haben. Alles sind Versuche der Annäherung geblieben, die den einen oder anderen Aspekt besser oder schlechter abbilden, nie aber der Komplexität und Einzigartigkeit des Ganzen gerecht werden. Was indes bleibt ist eine Fasziniertheit. Diese speist sich aus unterschiedlichen Motiven. Da ist zunächst das Differenzerlebnis: Man ist gerade mal 5 km Luftlinie vom Kölner Dom entfernt,

DAS ALLES ERZEUGT EINEN GESCHMACK, DEN MAN IN TOURISTENFÜHRERN WOHL AUTHENTISCH NENNEN WÜRDE.

ist soeben noch durch geschlossene Straßenräume gegangen oder gefahren, hat 50er-Jahre-Hochhäuser und eine ordentliche Kleingartensiedlung passiert und steht auf einmal in einer ländlichen Szenerie: Zwischen niedrigen, mit Teerpappe gedeckten Häusern stehen regelrechte Villenbauten, Gemüse- und Blumengärten neben Autowerkstätten. Es ist halb Balkanvorstadt, halb schlesisches Dorf oder was eigentlich? Dieses Differenzerlebnis ist eines der stärksten Faszinosen des Heckpfades.

§9 DER TOURISTENFÜHRER WÜRDE SAGEN AUTHENTIZITÄT Die vollständige oder weitgehende Selbstgemachtheit aller Bauwerke, Einfriedungen, Bodengestaltungen; der durch Gebrauch gezeichnete Belag der unbefestigten oder nur notdürftig geflickten Wege, die, sofern überhaupt vorhanden, aus ihrem bürgerlichen Gestaltungsrahmen gerissenen Statussymbole: Das alles erzeugt einen Geschmack, den man in Touristenführern wohl authentisch

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© Boris Sieverts

nennen würde, womit nichts anderes gemeint ist, als dass Menschen und Gegenstände etwas von der Kultur, das heißt der Summe der alltäglichen Begebenheiten und Beziehungen, aus denen sie entstanden sind, erzählen. Das schafft einen Reichtum an erzählerischen Einzelheiten, den man aus der umgebenden, bürgerlichen Stadt mit ihrer mehr oder weniger einheitlichen Gestaltung des öffentlichen Raums und der Geschlossenheit ihrer Bebauung nicht gewohnt ist. Diese Vieldeutigkeit verleiht der Siedlung etwas Schillerndes. Sie ist überall zugleich Abenteuer und Idylle, Freiheitsversprechen und Krämerladen, Urtyp und Ausnahme.

§10 ZITAT Fragt man oben bereits erwähnte Frau Arlt, was ihr am Heckpfad am meisten gefällt, platzt heraus: „Die Freiheit!“

Lola Meyer

SEIT JAHREN BESCHÄFTIGEN WIR UNS NUN SCHON MIT DER SIEDLUNG UND NIE HABEN WIR DAS GEFÜHL ERLANGT, DAS PASSENDE WERKZEUG ZUR BESCHREIBUNG GEFUNDEN ZU HABEN.

Landschaftsarchitektin, lebt und arbeitet in Berlin. Seit 2006 ist sie Mitglied von urbikon.com, einem interdisziplinären Zusammenschluss von Architekten und Landschaftsarchitekten. urbikon.com widmet sich der konzeptuellen Reflexion und der Gestaltung von Stadt, Architektur und Design. Die Projekte reichen von baulichen Aufgaben über Studien und städtebauliche Strategien bis hin zu verschiedenen Methoden der Kommunikation.

Boris Sieverts

Stadtführer und Künstler, veranstaltet mit seinem Büro für Städtereisen Stadtführungen und Wanderungen zu den Grauzonen unserer Städte. www.neueraeume.de

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MAL GANZ UNTER UNS

POSITIONEN ZUM BEGRIFF DES »INFORMELLEN« Frank Othengrafen und Jakob F. Schmid

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BEBAUUNGSPLAN RAHLSTEDT 121 © Freie und Hansestadt Hamburg Landesbetrieb Geoinformation und Vermessung

/// INSBESONDERE IN ZEITEN LEERER KASSEN, EINGESCHRÄNKTER HANDLUNGSMÖGLICHKEITEN UND PLURALISIERTER, HETEROGENER NUTZUNGSANSPRÜCHE SIEHT SICH DIE KOMMUNALE PLANUNG ZUNEHMEND MIT DER NOTWENDIGKEIT KONFRONTIERT, PLANUNG NEU ZU DENKEN (so auch der Titel einer Internet-Plattform des Lehrstuhls für Planungstheorie und Stadtentwicklung der RWTH Aachen). Damit untrennbar verbunden ist nicht nur die Frage, welche stadtentwicklungspolitischen Handlungsoptionen den Kommunen verbleiben um Stadt zu gestalten und zu entwickeln, sondern auch die viel grundsätzlichere Frage, welche Rolle der kommunalen Planung angesichts sich ändernder Rahmenbedingungen überhaupt (noch) zukommen soll. Eine vermeintliche Antwort darauf findet sich seit einiger Zeit im Ruf nach flexibleren, dezentralen und marktanalogen Konzepten und Instrumentarien der Stadtentwicklungspolitik (vgl. Altrock, Kuder, Nuissl 2009), der sich phänotypisch im Trend zur »Planung durch Projekte« unter verstärktem Einbezug der lokalen Wirtschaft und der Zivilgesellschaft zeigt (Keller, Koch, Selle 1998). Dies mit einigem Erfolg, wie nicht nur klassische »Public-Private-Partnerships« im Bereich urbaner Infrastrukturen belegen, sondern auch einige der im Rahmen der Transferstelle »Null Euro Urbanismus« (siehe Infokasten) dokumentierten Projekte, die sich insbesondere in Bezug auf die Rolle der Kommune durch eine gelungene Gratwanderung zwischen Wahrung ihrer staatlichen (Planungs-) Hoheitsfunktion und kontrollierter Kompetenzabgabe auszeichnen.

DIE KONJUNKTUR DES »INFORMELLEN« Die Planung und Realisierung städtebaulicher Vorhaben und Projekte konzentriert sich hauptsächlich auf den Innenbereich von Städten und Gemeinden; gleichzeitig stellen sie – nicht zuletzt aufgrund der eingeschränkten kommunalen Handlungsspielräume – zunehmend einen Verhandlungsprozess zwischen Kommunen, privaten Entwicklern und Investoren dar. Stadtentwicklung ist deshalb gleichermaßen eine fachlich integrierende Querschnitts- und eine realisierungsorientierte Managementaufgabe, die versuchen muss, verschiedene Akteursgruppen mit ihren jeweiligen Handlungslogiken zusammenzubringen (Krüger 2007: 341). Die Erfahrungen der Transferstelle »Null Euro Urbanismus« und anderer Initiativen (u.a. Post-It City) zeigen, dass, nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines zunehmenden Standortwettbewerbs, insbesondere in Städten mit knappen finanziellen Ressourcen händeringend nach Möglichkeiten zur »Inwertsetzung« ungenutzter Ressourcen und Potenzialen für die Stadtentwicklung gesucht wird und somit »informelle« Lösungen sowie »low-tech-Erfindungen« einen ungeahnten Bedeutungsschub innerhalb planerischer Strategie- und Entwicklungsprozesse bekommen (Müller et al. 2008: 60). Durch ihre Projekt- und Umsetzungsorientierung sowie die Einbeziehung wirtschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure sollen »informelle« Planungsaktivitäten zunehmend als Motoren der Stadtentwicklung fungieren, von denen man sich Impulse für die ökonomische, soziale und städtebauliche Entwicklung erhofft.

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Die Kommunikation in solchen »informellen« Akteurskonstellationen ist zuweilen nicht nur zeitaufwendig sondern für die Kommune auch nicht unproblematisch, da zwischen dem Anspruch einer transparenten kommunalen Planung – die seitens zivilgesellschaftlicher Akteure oft auch lautstark eingefordert wird – und den oft informellen und phasenweise auf Vertrauensschutz angewiesenen Projektentwicklungsprozessen in der Privatwirtschaft wie auch im Umgang mit zivilgesellschaftlichen Akteursgruppen ein Spannungsverhältnis besteht (vgl. Krüger 2007:341).

FORMELL VS. INFORMELL Die derzeitige Konjunktur des abstrakten Begriffs des »Informellen« kann im Gegenzug jedoch auch als ernsthaftes Indiz gewertet werden, dass die kommunale – formale – Planung seitens zivilgesellschaftlicher und wirtschaftlicher Akteure zunehmend nicht mehr als Garant für eine »dem Wohl der Allgemeinheit dienende sozialgerechte Bodennutzung« (§ 1 Abs. 5 BauGB) wahrgenommen wird. Dies leider nicht ganz zu Unrecht wie einige »Beteiligungsverfahren«, z.B. im Zusammenhang mit dem ehemaligen Flughafen Tempelhof in Berlin, oder auch der bundesweit beachtete »Hamburger Diskurs« (Klöckner 2009) um bezahlbaren Wohn- und Arbeitsraum in der Hansestadt belegen. Versteht man Planung ausschließlich als »räumliche Konkretisierung von Gesellschaftspolitik« (Priebs 2006: 101), so sind die Ursachen für solche Fehlentwicklungen in Gesellschaft und Politik zu suchen; sollte Planung jedoch darüber hinaus den Anspruch formulieren auch als fachliches Korrektiv innerhalb des politischen Systems zu fungieren, kann man ihr in diesen Fällen – wenn nicht Versagen – so zumindest eine erhebliche Fehlfunktion vorwerfen.

TRANSFERSTELLE NULL EURO URBANISMUS Die Transferstelle »Null Euro Urbanismus« widmet sich seit 2007 der Suche nach »Good-Practice«-Projekten und Maßnahmen aus den Bereichen Städtebau, Stadtplanung und Stadtentwicklung, die sich durch einen verhältnismäßig geringen Einsatz kommunaler finanzieller Mittel auszeichnen oder sich als kostenneutral für die Kommune erwiesen haben. Zielsetzung der Transferstelle ist dabei einerseits einen Beitrag zur Diskussion um ein modernes und effizientes Verwaltungshandeln zu leisten und andererseits zu einem Wissenstransfer in Form von Anregungen und Ideen zwischen Kommunen, Planenden und der Zivilgesellschaft beizutragen. www.null-euro-urbanismus.de

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Der Begriff des »Informellen« selbst ist im Planungsbereich nicht neu: Ursprünglich im Zusammenhang mit informeller Bürgerbeteiligung im Sinne von frühzeitig in Theorie und Praxis thematisiert oder sich auf einen informellen Städtebau (z.B. Favelas in Brasilien) beziehend, gibt er zunächst lediglich Aufschluss über den rechtlichen Charakter eines Projekts, eines Planwerks oder einer Maßnahme. Unter informeller Planung werden weitestgehend alle Planungen verstanden, die nicht dem Regelungsbereich des öffentlichen Rechts (z.B. Bauleitplan-Verfahren nach Baugesetzbuch mit Beteiligung der Bürger, der Träger öffentlicher Belange und der Nachbargemeinden) unterliegen und nicht deren rechtliche Bindungswirkung entfalten. Dazu zählen unter anderem Stadtentwicklungskonzepte, städtebauliche Studien oder räumliche Leitbilder. Mit anderen Worten: Jedes durchschnittlich ambitionierte Stadtentwicklungskonzept ist streng genommen »informell«, da dessen Ausarbeitung im Gegensatz zu einem Bebauungsplan rechtlich nicht definiert ist. Dennoch: Informell gilt nicht nur im universitären Diskurs als spontan, individuell, situativ, akteursbezogen und aktivierend, sondern wird insbesondere im Zusammenhang mit zivilgesellschaftlichen Initiativen zunehmend zum Label einer wie auch immer gearteten »Planung von unten« in Form von »Interventionen«, »Rückeroberungen« und »Zwischennutzungen«; gern geschmückt mit urbanem »chic« und kreativ-elitärer Note.

ZUR KRITIK AM »INFORMELLEN« Damit entspricht informelle Planung weitestgehend dem postmodernen Paradigma, das als Antwort auf die eher technikgläubige, rational-wissenschaftliche Vorgehensweise der Moderne entstanden ist (Allmendinger 2001): Die rationale Vorgehensweise und die Entwicklung umfassender (utopischer) Planwerke in den 1960er und 1970er Jahren haben die Realität nur unzureichend abgebildet, so dass sich planerische Ansätze in der Folge auf eher pragmatische und realisierbare Ansätze konzentrierten (z.B. Lindblom 1959). Im Vordergrund standen dabei zunehmend auf den Einzelfall bezogene Lösungswege, die zu einer Verbesserung der Lebensqualität führen sollten. Aspekte wie Einzigartigkeit, Pluralität und Diversität gewannen an Bedeutung und spielen seither sowohl im planerischen als auch städtebaulichen Kontext eine wichtige Rolle. Allerdings mit der Folge, dass sich der planerische Fokus zunehmend auf kleinräumliche Entwicklungsprozesse verschoben hat: Großräumige und umfassende – ungeachtet ihre rechtlichen Bindungswirkung oft als formell bezeichnete – Planungen sind seitdem nicht länger »en vogue«. Planung versteht


sich eher als »Möglichkeitsraum«, in dem verschiedene Aktivitäten zeitgleich stattfinden – egal ob sie von kommunalen, wirtschaftlichen oder zivilgesellschaftlichen Akteuren initiiert und koordiniert werden. Allerdings besteht bei diesen Ansätzen die Gefahr, dass die gesamtstädtische Perspektive aus den Augen verloren wird (vgl. Oranje 2002). Bei der Betonung des »Informellen« handelt es sich oftmals um ein Sammelsurium einzelner verschiedener Projekte, die strategisch oder perspektivisch nicht miteinander verbunden sind. Stadtplanung und -entwicklung verfolgen dann eine Strategie des »muddling through« (Lindblom 1959), ohne wirkliche Schwerpunktsetzung und strategische Orientierung. Gerade vor dem Hintergrund informeller Aushandlungsverfahren zwischen Immobilienentwicklern und Politikern im Vorfeld der Ausweisung eines Bebauungsplans – als Stereotyp formaler Planung – erscheint diese Begeisterung für das »Informelle« oftmals eher naiv denn innovativ. Planerinnen und Planer drohen sich angesichts komplexer werdender Akteursstrukturen und einer zunehmenden Planungsskepsis im informellen »Interventions-Klein-Klein« und einer »Provisoriumsplanung« zu verlieren. Dies mag zwar zu den teilweise prekären Arbeitsverhältnissen in der Branche passen, wird der Disziplin Stadtplanung aber über kurz oder lang die Daseinsberechtigung entziehen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil sie sich zunehmend mit dem »Provisorischen« und »Informellen« begnügt und sich damit pikanterweise sehr gut in die Verwertungslogiken anderer Akteure einfügt (vgl. Borries 2007). Neben einer eher kurzfristig ausgerichteten Umsetzungsorientierung, die selbstverständlich eng mit »informellen« Vorgehensweisen verbunden ist, bedarf Stadtentwicklung langfristiger kommunaler Planungsstrategien. Städte wie Berlin, Barcelona, Wien, London, Stuttgart und Leipzig zeigen mit der »Renaissance großer Pläne« (Frey et al. 2003) bzw. der »Renaissance strategischer Planung« (Altrock 2004), dass gesamtstädtische planerische Perspektiven notwendig sind, um eine koordinierte nachhaltige Stadtentwicklung zu ermöglichen (Koordinations- und Orientierungsfunktion), Prioritäten für die Stadtentwicklung zu setzen (Orientierungs- und Legitimationsfunktion) und deren Umsetzung zu reflektieren bzw. zu kontrollieren (Reflexionsfunktion). Stadtplanung sollte sich deshalb auch wieder auf ihre strategische, zukunftsorientierte und koordinierende Ausrichtung besinnen und sich nicht beim »muddling through« mit wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren verlieren.

Literatur Allmendinger, P. (2002): Planning Theory, Palgrave, Houndmills. Altrock, U.; Kuder, T.; Nuissl, H. (2009): Kommunalpolitische Handlungsoptionen in Zeiten begrenzter Handlungsspielräume, in: Altrock, U. (Hrsg.): Städte im Aufbruch - Stadtentwicklungspolitische Handlungsoptionen in Krisenzeiten, Reihe Planungs-rundschau, Nr. 16, Kassel., S.7-20. Altrock, U. (2004): Anzeichen für eine „Renaissance“ der strategischen Planung?, in: Altrock, U. et al. (Hrsg.): Perspektiven der Planungstheorie, Berlin, 221-238 Borries v., F. (2007): Zwischennutzung als neoliberale Raumvermarktung. Das Prinzip Guerilla-Store, in: archithese (6/37), S.54-57. Frey, O.; Keller, D.A., Klotz, A.; Koch, M und K. Selle (2003): Rückkehr der großen Pläne? Ergebnisse eines internationalen Workshops in Wien, in: DISP, H.153, 13-18. Keller, D. A.; Koch, M.; Selle, K. (1998): Planung + Projekte. Verständigungsversuche zum Wandel der Planung, Rohn-Verlag, Dortmund. Klöckner, R. (2009): Eine Aktualitätensammlung zum Hamburger Diskurs. www.urbanshit.de Krüger, T. (2007): Planung durch Projekte – Projektentwicklung als Element des Stadtmanagements, in: Sinning, H. (Hrsg.): Stadtmanagement : Strategien zur Modernisierung der Stadt(-Region), Rohn Verlag, Dortmund, S.332-343 Lindblom, C. E. (1959): The Science of »Muddling Through«, Public Administration Review, H.19, 79-88. Müller, M.; Schmid, J. F.; Schönherr, U.; Weiß, F. (2008): Null Euro Urbanismus - Stadtentwicklung ohne Geld, in: PLANERIN, 6/2008, S.60-61. Oranje, M. (2002): Planning and the Postmodern Turn; in: Allmendinger, P.; Tewdr-Jones, M. (Hg.): Planning Futures: New Directions for Planning Theory, London, Routledge, 172-186. Priebs, A. (2006): Planung neu denken!; in: Selle, K. (Hg.): Planung neu denken (Band 2), Praxis der Stadt- und Regionalentwicklung: Analysen, Erfahrungen, Folgerungen, Rohn Verlag, Dortmund, S.101-106.

Frank Othengrafen

(Dipl.-Ing. Raumplanung) ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Stadtplanung und Regionalentwicklung (Prof. Dr.-Ing. Jörg Knieling M.A.) der HafenCity Universität Hamburg (HCU) tätig. Schwerpunkte seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit sind Fragestellungen europäischer Raumentwicklung und Planungskulturen sowie strategische Planung und stadtregionale Leitbildprozesse.

Jakob F. Schmid

(Dipl.-Ing. Stadtplanung) arbeitet ebenfalls als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Stadtplanung und Regionalentwicklung der HCU. Er ist Projektleiter der Transferstelle »Null Euro Urbanismus« und arbeitet seit 2007 selbständig für private Architektur-, Planungs- und Consultingbüros.

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© Bilder und Grafiken: Team [malko magazinche]

BAUANLEITUNG FÜR EINEN TRANSPORTABLEN LADEN Silvia Posavec

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/// [MALKO MAGAZINCHE] IST EINE KONZEPTUELLE SHOP- UND PRÄSENTATIONSIDEE. In einer Zusammenarbeit von Studenten der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe und Modedesignern aus Sofia (Bulgarien) entstand im Rahmen eines viertägigen Workshops ein „kleiner Stand“. [malko magazinche] ist konzipiert zum Präsentieren, Auffallen, Nachbauen und Inspirieren.

Team

Silvia Posavec, Georgi Florov, Aleksandar Gerginov, Peter Schäfer

Supervisor:

BLESS und Neli Mitewa

Für den Bau eines [malko magazinche] werden insbesondere die Produkte in einem Baumarkt als Werkstoff verstanden. Alles, was nützlich sein kann, wird zu einem transportablen kleinen Laden zusammengefügt. Das [malko magazinche] ist komplett nachbaubar und steht stellvertretend als Beispiel für eine außergewöhnliche Präsentationsforrn, die sowohl als selbstständiger Marktstand als auch als „super Displayer“ in Shops verwendet werden kann.

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BAUANLEITUNG BILDER DER NACHBAUTEN GERNE AN HFG-PROJEKT @ GMX.DE Mit rotem Klebebandand [1] Ladenbereich abgrenzen. Die Vorhangstange [2a] in dem Sonnenschirmfuß [3] stecken und festschrauben. Sonnenschirmfuß mit Wasser füllen. Wandhalterung der Vorhangschiene [26] mit einer Schraube [4] in ca. 1 Meter Höhe befestigen. Handgriff des Fischernetzes [5] überstülpen und ebenfalls mit einer Schraube befestigen. Rückspiegel [6] mit zwei Schrauben auf Augenhöhe fixieren. Autospiegelaufsatz [7] an montiertem Spiegel [6] anbringen. Handtuchhalter [8] mit zwei Schrauben auf ca. 1,5 Meter Höhe befestigen. Metallwinkel [9] am oberen Rand der Vorhangschiene [2a] befestigen. Schiene [10] in vier Teile schneiden, jeweils zwei der gleichen Länge lassen. Die Duschvorhänge [11] mit den Vorhangösen [12] an einem der vier Teile der Schiene einfädeln. Die vier Einzelteile und die vier Winkelteile [13] zu einem Rechteck verbinden. S-Haken [14] an je einer Ecke des Rechtecks befestigen, zwei weitere Haken ineinander hängen und in die Mitte legen. Mit Hilfe der Schnur [15] je zwei nebeneinander liegende Haken des Rechtecks mit einem der Haken in der Mitte verbinden. Die Schnur gut spannen. Die mittleren Haken öffnen und die gesamte Vorhangkonstruktion an dem äußeren Ende des Metallwinkels [9] befestigen. Die Spitze [16] auf die Vorhangschiene setzten. Die Fußmatte [17] als Unterlage in die Umkleidekabine legen. Die Lampe [18] lässt sich durch ihren Haken leicht an unterschiedlichen Stellen am [malko magazinche] befestigen. Kleidung am Handtuchhalter aufhängen. Verkaufen.

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INSTANT BALKONY

EIN AUFBLASBARER BALKON AUF ZEIT Just / Burgeff Architekten mit J端rgen S. Wassink 102


© Grafiken: Just.Burgeff Architekten

Der Instant Balcony an einer Hausfassade

/// INSTANT BALCONY IST EIN AUFBLASBARER BALKON, DER AN JEDEM FENSTER BEFESTIGT WERDEN KANN. ER ERFÜLLT DEN TRAUM DES URBANEN WOHNENS, EIN BALKON AUF ZEIT, EINFACH AN DIE WOHNUNG ANZUFÜGEN. Der Balkon wird zum Wohnaccessoir, das jederzeit mitnehmbar und auch an anderen Orten einsetzbar ist. Der aufblasbare Balkon ist als temporäre, reversible und die Gebäudehülle nicht beschädigende Konstruktion konzipiert. Bei der Konstruktion handelt es sich um eine pneumatische Konstruktion, die mittels Klemmwirkung zwischen Innen- und Aussenwand in der Fensterlaibung befestigt wird. Es sind keine konstruktiven Eingriffe in die Bausubstanz notwendig. Im Balkon können zwei Personen Platz finden. Außerdem kann der Balkon durch Drehung in verschiedene Positionen gebracht werden, so dass unterschiedliche Sitz- bzw. Liegelandschaften möglich werden. Instand Balcony ist eine mobile, optionale Architektur. Die temporäre Gebäudeerweiterung wirkt wie ein Fremdkörper, setzt sich bewußt formal vom üblichen Bild des Balkons ab und generiert so ein sich ständig veränderndes Fassadenbild im Stadtraum. Außerdem geben die Balkone einen Hinweis auf die aktuelle Nutzung und Belebung der Wohnungen.

Just / Burgeff Architekten mit Jürgen S. Wassink

Es geht Malte Just und Till Burgeff von Just / Burgeff Architekten um das Entfalten von architektonischen und städtebaulichen Potentialen, um maßgeschneiderte, nachhaltige Architektur, die der Situation entsprechend vom vorgefundenen Kontext geprägt zu etwas Neuem weiterentwickelt wird. Das Instant Balcony Projekt wurde zusammen mit dem Tragwerksplaner und Architekten Jürgen S. Wassink, der sich auf pneumatische Strukturen spezialisiert hat entwickelt. www.just.burgeff.de

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IMPLANTAT MÖCHTE IMPULSE IN DER STADT AUSLÖSEN, UM BEWOHNER AUFZUFORDERN, DEN URBANEN RAUM AKTIV MITZUGESTALTEN. /// BLICKEN WIR AUF DIE GEGENWÄRTIGE LAGE VON MITTELEUROPÄISCHEN STÄDTEN, SO WIRD ERKENNBAR, DASS SEIT VIELEN JAHRZEHNTEN NAHEZU KEINE REINTERPRETATION VON ÖFFENTLICHEM RAUM STATTGEFUNDEN HAT. Der Mensch des 21. Jahrhunderts befindet sich in überlieferten Ballungszentren, die er aus früheren Jahrhunderten geerbt hat – Räume, die eine Materialisierung längst vergangener politischer und ökonomischer Machtverhältnisse wie auch Denkstrukturen darstellen. Diese Tatsache regt dazu an, alternative Planungsszenarien zu suchen und folglich eine unserer Zeit angepasste, aber auch sensible Veränderung dieser „verstaubten“ Strukturen zu erlauben. Um einer zeitgenössischen Planung von Städten gerecht zu werden, bedarf es der Schaffung eines flexiblen Rahmens. In diesem können Prozesse vollzogen werden, die sich laufenden Entwicklungen anpassen. Dies erfordert eine öffentliche Stadt, deren Wesen es ist, sich ständig zu verändern und die keiner zentral gesteuerten ökonomischen Logik unterliegt. Nur weil eine Siedlung, ein Stadtquartier oder ein Freizeitbereich mit staatlichen Mitteln finanziert worden und frei zugänglich ist, entsteht nicht zwingend das, was Bewohner für sich als öffentlichen Raum definieren. Aufgrund der aktuellen Problematik versucht sich ImplanTat als Bindeglied zwischen den zwei Planungsprozessen „Top Down“ und „Bottom up“ zu positionieren und der konventionellen Masterplanung entgegenzutreten.

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IMPLAN.TAT DIE VERALTETEN STRUKTUREN UNSERER STÄDTE SCHREIEN NACH VERÄNDERUNG ImplanTat

© ImplanTat

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© Screenshots: ImplanTat

LAWN PUZZLE puzzleartige Rasenstücke sollen anregen, sich seine eigenen Grünflächen an Orten zu schaffen, die sonst nicht zum Verweilen einladen. Ausgestattet mit einem Puzzleteil liegt es an den Bewohnern der Stadt, sich zu einer Liegewiese zusammenzufinden. Die Interaktion soll zu unbekannten Begegnungen und unerwarteter Kommunikation führen.

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© Screenshots: ImplanTat

LEGO Viel zu oft sind wir mit Bauschäden im Stadtbild konfrontiert, die wir einfach so hinnehmen oder automatisch ausblenden. Mit der Legosteinsanierung versuchen wir die Blicke der Passanten auf diese Flächen zu lenken. Nur weil wir das Gewohnte kennen und der Bequemlichkeit halber akzeptieren, heißt es nicht, dass wir die Veränderung als gegeben hinnehmen sollten. Legosteine sollen den Fokus neu richten und zu einer Sanierung anregen.

ImplanTat

Das Kollektiv ImplanTat besteht aus Studenten verschiedener Wiener Universitäten. Es setzt sich in seiner Arbeit mit dem urbanen Raum auseinander.

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Katja Aufleger

lebt und arbeitet in der Pr채rie. Eingrenzung, Abgrenzung, Fiktion und Expansion.

TAPE UND FRAGMENT

BILDSTUDIEN UND EIN KURZFILM Katja Aufleger

2008 // Hamburg 108


Š Bilder: Katja Aufleger

200 g BLAUBEEREN 2007 // Hamburg Kurzfilm: www.katja-aufleger.de/ordner/blaubeeren.html

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31 DORT WO ORDNUNG UND CHAOS AUFEINANDERTREFFEN Sophie Naue

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EIN VISUELLES UND AKUSTISCHES EXPERIMENT, DAS SICH AN DIE WAHRNEHMUNG DES BETRACHTERS UND ZUHÖRERS ZUGLEICH RICHTET.

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DORT WO ORDNUNG UND CHAOS AUFEINANDERTREFFEN. BILD- UND TONKOLLAGE ZU HÖREN UND ZU SEHEN UNTER:

HTTP://31.SPACEDEPARTMENT.DE 112


© spacedepartment

/// DIE VILLA 31 IST EINE INFORMELLE ARMENSIEDLUNG, DIE IN DEN 1930ER JAHREN DURCH IRREGULÄRE LANDBESETZUNG IM ZENTRUM VON BUENOS AIRES ENSTANDEN IST. HEUTE IST DIE SIEDLUNG LEBENSRAUM UND HEIMAT VON MEHR ALS 30 000 MENSCHEN. An einem Sonntagnachmittag führt der Weg über eine Foto- und Tonstrecke vom städtischen Bahnhofsviertel Retiro direkt in die Villa 31, einer informellen Siedlung inmitten von Buenos Aires. Der Geräuschpegel der Villa 31 übertrifft die sonst relativ laute Stadt noch bei weitem. Bei den Aufnahmen handelt es sich jedoch nicht um den Nachhall von Klängen aus der Siedlung, sondern um charakteristische Geräusche und Bilder, die sich auch außerhalb der Villa 31 durch die Bewohner reproduzieren. Die aufgezeichnete Klanglandschaft verdeutlicht auf akustische Art – visuell unterstützt – wie sich die Villa 31 außerhalb ihrer Grenzen ausbreitet und in die „formelle Stadt“ fortschreibt. Dabei wird auf narrative Weise aufgezeigt, dass die Villa 31 und Buenos Aires, die häufig als zwei sich untereinander ausschließende Gegenwelten gesehen werden, längst auf unterschiedlichsten Ebenen weitreichend miteinander verwoben sind. An den Zuhörer bzw. Betrachter wird die Frage gestellt, ob die Übergänge zwischen dem „Außen“ der Stadt und dem „Innen“ der Villa überhaupt wahrnehmbar sind und ob ein Unterschied – eine Grenze – zwischen den Welten der „formellen“ und „informellen“ Stadt erfahrbar ist. Erst in zweiter Linie geht es darum, die für die Villa 31 spezifische Geräusch- und Bildkulisse widerzuspiegeln, um so eine Vorstellung von der Atmosphäre vor Ort zu erzeugen.

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IM GESPRÄCH MIT DEN KÜNSTLERN TINHO UND NOVE AUS SÃO PAULO Anja Nettig

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// NOVE – JOÃO MENDES SQUARE


ICH GLAUBE, DASS DIE STADT OHNE MEINE EINGRIFFE DIE GLEICHE WÄRE, IHR WÜRDEN LEDIGLICH MEINE SPRACHE, MEINE INTERPRETATION DES LEBENS UND DIE WELT, WELCHE ICH PERSÖNLICH AUF DIE STRASSE TRAGE, FEHLEN. NOVE

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// TINHO – PENHA

// TINHO – VILA ALBERTINA

Graffitti und du, wie habt ihr zueinander gefunden? Glaubst du, dass deine Liebe zur Street-Art etwas mit der Stadt São Paulo zu tun hat? // NOVE Das war etwa so vor zehn Jahren, zu diesem Zeitpunkt war ich schon seit einiger Zeit auf Skates unterwegs und in meinen „Sessions“ durch die Stadt São Paulo begann ich die Bilder, Formen und Farben, die in das Stadtbild hineinspielten, bewusst wahrzunehmen. Ich hatte keine Zweifel, es war Liebe auf den ersten Blick. Ich beschloss dann Tinte zu kaufen um mit Herz und Verstand auf die Straße zu gehen, um all den Gefühlen Ausdruck zu verleihen, die in mir gefangen waren. Alles was ich sah, hörte und atmete, hat mich in dieser Zeit beeinflusst; die Menschen, das Chaos der Metropole, die Ästhetik der Stadt und vor allem die sozialen Gegensätze. Auf der Straße zu zeichnen ist etwas sehr Besonderes für mich, denn es ist die Schnittstelle um der Außenwelt meine Gefühle mitzuteilen und die Stadt São Paulo ist dabei eine der größten Unterstützungen für mich. Ich habe die Freiheit mit der Stadt zu interagieren und einen Dialog zu führen: zwischen dem Raum, dem Schaffenden, dem Geschaffenen und dem Beobachter. Auf welche Art und Weise spürst du, dass deine Bilder mit der Geschichte oder der Kultur São Paulos zusammenhängen? Inwiefern sind deine Bilder und du ein Teil dieser Stadt? // NOVE Alles, was man auf der Straße findet, steht in

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direkter oder indirekter Verbindung zur Stadt und seinen Einwohnern. Schließlich ist die Straße frei, sie gehört allen und das Graffiti hat seit den 1980er Jahren eine große Präsenz in der Kultur und Geschichte São Paulos eingenommen. Derzeit haben meine Arbeiten ein sehr enges Verhältnis zur Stadt, denn die Interaktion entsteht im Raum mit meiner Kunst. Sie sind Teil der Stadt, Teil der Geschichte, des Alltäglichen, aller Beobachter. Mit dem Augenblick, in dem ich auf der Straße sprühe, hört meine Arbeit auf lediglich eine persönliche Bedeutung zu haben, sie wird öffentlich und bekommt eine gemeinschaftliche Interpretation anhand derer, die sie sehen. // TINHO Ich fühle mich wie ein Teil der Stadt, ich kann nicht ohne sie leben. Ich liebe es zwar in der Natur zu sein, aber leben kann ich nicht mehr außerhalb der Stadt. Ich brauche den Smog, die Elektrizität, die Menschenund Automassen. Mein ganzes Leben steht in einem sehr intensiven Austausch mit der Stadt, denn meine Gedanken und meine Arbeit sind eng verbunden mit dieser Lebensweise. Wie wäre São Paulo ohne deine Bilder und Street-Art im Allgemeinen? // TINHO Ich glaube, São Paulo würde ohne die Kunst ein Teil ihres urbanen Charakters verlieren. Dabei geht es mir nicht um mich und meine Arbeit, sondern um StreetArt im Allgemeinen. Eine Großstadt braucht einfach so eine Bewegung. Wenn du durch die Welt reist kannst du diese Entwicklung in jeder Großstadt beobachten, sie ist wie ein natürliches Phänomen. Eine Großstadt ist leben-


// NOVE – RUA DA CONSOLAÇÃO SÃO PAULO

dig und die Kunst ist die Seele der Stadt, eine Großstadt ohne Kunst ist für mich wie ein Körper ohne Seele. // NOVE Ich glaube, dass die Stadt ohne meine Eingriffe die gleiche wäre, ihr würde lediglich meine Sprache, meine Interpretation des Lebens und die Welt, welche ich persönlich auf die Straße trage, fehlen.

Moments, sowohl durch die Umgebung als auch durch die Bewohner. Durch diese Einflüsse werden Änderungen an den Skizzen notwendig.

Wonach wählst du den Ort für ein Bild aus?

// TINHO Klar! Jeder Ort hat seine spezifische Geographie, seine Nachbarschaft, seine Community und seine eigene Geschichte. All diese Faktoren nehmen Einfluss auf meine Arbeit und die Entstehung meiner Bilder, denn jedes Werk braucht eine Beziehung zu seiner Umgebung.

// NOVE Die Ortswahl ist eines der wichtigsten Elemente für Graffitis, abgesehen von dem Motiv an sich, und sie hängt von mehreren Faktoren ab. Alles beginnt mit der Suche nach der perfekten Umgebung für den Mo-

Was denkst du über die Vergänglichkeit von Street-Art Arbeiten? Man weiß ja schließlich nie, wann sie entfernt oder durch eine andere Arbeit verdeckt wird? Stellt dieser Aspekt eine positive Herausforderung für dich dar

ment und die Energie, welche ich an dem Tag spüre. Die fotografische Fülle ist einer der Schlüssel für die Wahl des Platzes, welcher besprüht werden soll. Ich entscheide mich für Plätze, die bereits reichhaltig sind in ihrer Struktur und visuellen Komposition, immer bemüht, das Konzept des digital Organischen anzuwenden.

oder empfindest du dies als einen schmerzlichen Teil der Street-Art?

// TINHO Ich glaube, jeder Ort eignet sich für ein Bild. Aber das Bild hängt von den Eigenschaften des Ortes ab, an dem es gemalt wird. Jeder Ort verdient sein Bild. Nimmt der Ort Einfluss auf deine Ideen? Stellt er eine Inspiration für ein bestimmtes Bild dar? // NOVE Normalerweise fertige ich eine Skizze an, bevor ich auf die Straße gehe, um die Energien, die ich an dem Tag spüre, zu übertragen. Wenn ich den richtigen Platz finde, spüre ich eine Menge Einflüsse dieses spezifischen

// NOVE Die Vergänglichkeit liegt nicht an dem fehlenden Respekt zwischen den Künstlern, wie es in vielen Hauptstädten der Welt der Fall ist, sondern an einem Zusammenspiel mehrer Faktoren, die mit der Stadt an sich zu tun haben. Dies sind Einflüsse wie Veränderungen durch Wetter, die falsche Werbung (durch Printmedien und politische Kampagnen) sowie das Gesetz „saubere Stadt“ – ein Programm der Stadtverwaltung São Paulos zur Bekämpfung ihrer visuellen Verschmutzung. Das Gesetz betrifft auch das Graffiti, da ein Fokus darauf liegt, vorübergehend das zu überdecken, was als legal bezeichnet wird. Durch die stetige Erneuerung der besprühten Plätze, haben alle Künstler genügend Platz um ihre Kunst auszudrücken und haben keinen Grund fremde Arbeiten nicht zu respektieren.

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EACH WORK IS A KIND OF TREASURE IN THE MIDDLE OF THE CITY. SOME PEOPLE CAN TAKE IT SOME PEOPLE CAN´T TINHO

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// TINHO – MEETINGS OF STYLES


Wenn einmal meine Arbeit zerstört wird, verspüre ich noch mehr Lust durch die Stadt zu ziehen um noch mehr zu interagieren, immer mehr zu sprühen. Die Vergänglichkeit ist ein großer Stimulus. Durch sie wird das Sprühen auf der Straße zur Interaktion mit Allem und Allen. // TINHO Ich glaube, jede Arbeit, jedes Bild hat sein Eigenleben. Dabei kommuniziert es mit all denen, die es wahrnehmen, auch wenn in manchen Fällen diese Beziehung nur zwischen mir und meiner Arbeit entsteht. Denkst du, dass in São Paulo Geschichten über StreetArt existieren, die es nur hier gibt und die sich so von anderen Städten unterscheiden? // NOVE Ja, ich denke, dass das Graffiti in São Paulo Charakteristika aufweist, die es von Graffitis in anderen Städten der Welt unterscheidet. Hierbei meine ich nicht nur Unterschiede in der Ästhetik, sondern Unterschiede, die durch die Geschichte und die Kultur des Landes entstanden sind. Brasilien weist eine starke Mestizisierung der Bevölkerung auf, dies führt zu einer Beeinflussung und zum Austausch durch unterschiedliche regionale Kulturen unseres eigenen Landes und zusätzlich noch durch andere Kulturen dieser Erde. Wir haben unsere eigene Art und Weise unser Graffiti zu sehen, es zu leben, zu entwerfen und darüber zu urteilen. Die Verwendung unterschiedlicher Techniken und Materialien, wie z.B. die Verwendung von Latextinte in einem Großteil der Arbeiten, welche sich nicht direkt mit dem normalen Spray verbindet, das ist ein großen Unterschiede dazu, wie in anderen großen Städten der Welt gearbeitet wird. Wie verhältst du dich, wenn du illegal sprühst? Gibt es einen großen Unterschied zwischen legalen und illegalen Arbeiten? // TINHO Wenn ich illegale Bilder male, versuche ich das so schnell wie möglich zu tun und dabei so natürlich wie es eben geht zu arbeiten. Ich glaube, grundsätzlich macht das für die Öffentlichkeit, die meine Bilder sieht, keinen Unterschied. Für andere Künstler allerdings schon. Von der ersten Idee bis zur Umsetzung und Fertigstellung eines Bildes verändert sich sehr viel. In São Paulo gibt es viele Möglichkeiten legal zu malen, manche ergeben sich sogar von Seiten der Regierung. Wenn du eine gute Idee, ein gutes Projekt hast und die richtigen Leute kennst, ist das alles kein Problem. Bei meiner Arbeit fühle ich mich aber grundsätzlich frei, einfach an den Orten zu malen, an denen ich möchte

und welche mich interessieren. Also wenn ich an einem bestimmten Ort malen möchte, dann mache ich das mit oder ohne Erlaubnis. Ein Freund von euch hat über eine Situation mit der Polizei gesprochen, bei welcher diese sagte: „Den werde ich nicht festnehmen, mir gefallen seine Bilder. Keep on.“ Ist dir schon einmal etwas ähnliches passiert? Glaubst du, dass diese Reaktion typisch für São Paulo ist? // NOVE Das Graffiti hat sich in alle Ecken der Stadt ausgebreitet, hin zu Künstlern der unterschiedlichsten Richtungen, es ist wahnsinnig bekannt geworden und wird fast von der gesamten Gesellschaft akzeptiert, völlig unabhängig von sozialer Schicht, Glaubensbekenntnis oder Hautfarbe. Diese Sozialisierung, die das Graffiti in São Paulo erfuhr und weiterhin erfährt, ist nichts anderes als die Akzeptanz für die größte freie künstlerische Bewegung des 20. Jahrhunderts. Es ist unmöglich abzustreiten, dass das Graffiti nicht längst seinen ganz festen Platz in der Stadt hat. Es ist mir schon oft passiert, dass die Polizei kam, während ich illegal sprühte und lediglich sagte: „Ah, du machst ein Graffiti. Dann ist ja gut. Mach nur weiter. Aber beschmier nicht die Wände.“ Für die Gesellschaft steht das Beschmieren der Wände mit Parolen in engem Verhältnis zu Vandalismus und Illegalität. Deshalb wird Street-Art immer mehr geschätzt und von allen unterstützt. Würdest du sagen, dass in São Paulo eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber Street-Art existiert? Hat sich die gesellschaftliche Haltung möglicherweise geändert seit du sprühst? // NOVE Wir Künstler, die wir die Straße nutzen um unsere Arbeiten zu machen, erhalten erst in letzter Zeit eine größere Akzeptanz und unsere Arbeit wird von der Gesellschaft mehr geschätzt. Dies entstand durch das Bekanntwerden der Street-Art und durch die Sozialisierung der Kunst, welche in den letzten Jahren entstand, aber auch dadurch, wie die Künstler ihren eigenen Arbeiten gegenüberstehen. Unterschiedliche Medien und Segmente nutzen unsere Sprache als Ausdrucks- und Kommunikationsform. Dies stärkt die Einführung, die Akzeptanz und die positive Bewertung unserer Sprache. Vor wenigen Jahren galt das Sprühen in der Straße als Delikt, welches Geldbußen und andere Strafen forderte. Aber im Verlauf der Jahre hat die Stadtverwaltung von São Paulo begriffen, dass Street-Art eine künstlerische Bewegung von großer Präsenz in der Stadt ist, die es zu unterstützen gilt. Die Entstehung von Projekten in

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Zusammenarbeit mit staatlichen und privaten Organen mit dem Fokus der Revitalisierung und Aufwertung öffentlicher Plätze durch künstlerische Interventionen hat gezeigt, wie stark wir sind und wie groß unsere Präsenz in der Stadt ist. Denkst du, dass in unterschiedlichen Teilen der Stadt unterschiedlich damit umgegangen wird? Es Teile gibt, in denen den Menschen gefällt was ihr macht und andere, in welchen sie die Polizei rufen? // NOVE Unabhängig vom Teil der Stadt haben wir stets Bewunderer aber auch Kritiker, das ist immer so, schließlich heißt das Malen auf der Straße offen zu sein für unterschiedliche Meinungen, sowohl für Bewunderung als auch für polizeiliche Ermittlungen. Abhängig von der Gegend in der Stadt wo ich male, treffe ich auf unterschiedliche Reaktionen von unterschiedlichen Personengruppen. Wenn ich in den Ärmeren Regionen der Stadt sprühe, loben die Menschen mehr und sehen das Graffiti eher von einem pädagogisch-erzieherischen Blickwinkel, jedoch ist das Verhalten der Polizei hier unterdrückender. Hingegen ist in reicheren Gegenden das Graffiti mehr als pure Kunst angesehen, hier gibt es mehr Information und der polizeiliche Umgang ist milder. Die Stadt ist in soziale Klassen unterteilt, diese richten sich nach der Region der Stadt, der Kaufkraft oder dem Zugang zu Informationen, welche sich drastisch unterscheiden. Ohne Frage ist der soziale, ökonomische oder kulturelle Kontrast sehr stark je nachdem wo man sich innerhalb der Stadt befindet. Wen würdest du als Sympathisant und wen als wahren Feind von dir als Street-Art Künstler bezeichnen? // NOVE Sympathisanten sind all die Personen, sowie staatliche- und private Organe, die unsere kulturelle Bewegung auf ehrliche Weise würdigen, akzeptieren und unterstützen. Die wahren Feinde sind die, die unsere Sprache erforschen und dann für ihre Zwecke benutzen, und so unsere Arbeit abwerten und entwürdigen. Hier in Deutschland, vielleicht auch in Europa und der Welt, wird São Paulo oft als die Hauptstadt des Graffitis genannt, so wie New York in den 80er Jahren. Es gibt hier Führungen speziell für „Graffiti-Touristen“. Hast du diesen Hype beobachtet und was denkst du darüber? // TINHO Ich glaube nicht, dass Sao Paulo die Hauptstadt des Graffitis ist, sondern nur eine davon, so wie New York, San Fransisco, Paris, Berlin, London oder Barcelona. Die Anerkennung, die Sao Paulo als Kunst- und Kulturmetropole erfährt, macht mich glücklich und ehrt mich, da ich Teil dieser kulturellen Entwicklung bin. Doch ich kann

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es nicht leiden Hype zu sein. Mein ganzes Leben war ich eher Underground und fühle mich mehr einer Subkultur zugehörig als dem Mainstream. Ich hasse diese Modeerscheinungen. Das ist alles nur ein Geschäft, in dem sich am Ende die Schlange selber in den Schwanz beißt. Doch trotz dieses Street-Art Hypes entstehen gute Gedanken und es werden viele gute Bilder produziert. Dieser Street-Art Trend hat hier in den 90er Jahren begonnen als Künstler wie Twist, Loomit, Jonone, Doze und Daze nach Brasilien gekommen sind und angefangen haben sich für unseren Stil und unsere Graffitiproduktion zu interessieren. Street-Art in Brasilien erfährt seitdem internationale Anerkennung und Respekt, denn wir haben unseren eigenen kulturellen Ursprung und Style, den wir in unseren Bildern ausdrücken. Genauso entwickeln sich aber auch die brasilianischen Künstler weiter, indem wir nun auch in andere Länder reisen und uns die Kunstproduktion dort anschauen. Noch eine abschließende Frage: Welche Rolle spielt Geld für das Material (Dosen, Hefte, Stifte...) zur Ausführung deiner Arbeit? Gibt es noch andere Restriktionen welchen sich ein StreetArtist gegenüber sehen könnte? Ist es möglich, dass diese Hindernisse deine Arbeit verbessern oder sind sie lediglich als Nachteil zu sehen? // NOVE Unser Material ist sehr wichtig, um unserer Kreativität freien Lauf lassen zu können und Geld hilft sehr, dies sicher zu stellen. Ich glaube, für die Mehrheit der Künstler ist das Fehlen von Material (Förderung) das größte Problem um alle unsere kreativen Ideen auf die Art und Weise in die Tat umzusetzen, wie wir gerne würden. Allerdings sind es genau die Zeiten, wenn uns Mittel fehlen, in denen wir es schaffen, zu improvisieren und neue Wege zu gehen, um unsere Ideen angemessen umzusetzen. Schaffen heißt frei zu sein.

Walter Nomura alias Tinho João Paulo Cobra alias NOVE Thinho und Nove sind Street-Art Künstler aus Brasilien. Mit ihren Werken suchen sie den Dialog mit der Stadt São Paulo, anderen Metropolen und ihren Bewohnern. Thino www.walternomura.blogspot.com www.flickr.com/photos/tinho_nomura Nove www.digitalorganico.com www.flickr.com / digitalorganico www.choquecultural.com.br


// TINHO, SNEK, NICK, BTS, ANJO, BINHO – TUCURUVI 121


SUFFIX

EINE KURZGESCHICHTE Dennis Gaens 122


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/// ES GIBT VIELE GRÜNDE, DANIEL ZU HASSEN. IN DER SCHULE WAR ER EIN KIND REICHER ELTERN UND NACH SEINEM BURN-OUT IST ER EHER EINE ART VON PREDIGER GEWORDEN. ABER ER IST EINER DER WENIGEN, DIE NACH DEM ABI HIER HÄNGEN GEBLIEBEN SIND. UND WIR TEILEN EIN GEHEIMNIS. In der Zeit, in der Daniels Vater noch nicht irgendwo in der Wüste von Dubai Wolkenkratzer aus dem Boden stampfte, baute er diese Stadt zu. Er war in Mode damals und hatte einen Tick: Er kombinierte traditionelle Steinsorten mit gläsernen Hochbauelementen. Für die Erdgeschosse seiner Bauwerke benutzte er Tuffstein in großen Blöcken oder andere Steinarten, aus denen früher nur Kirchen gebaut wurden. Je mehr Stockwerke ein Gebäude bekam, desto mehr Glas wurde verbaut. Ich erinnere mich an einen Zeitungsartikel, in dem sein Baustil eine »Darstellung der Evolution« genannt wurde. Jede Firma mit etwas Geld und Wert auf Imagepflege ließ sich von Daniels Vater zumindest ein neues Bürogebäude skizzieren. Doch nur die meist prominenten Banker und andere Großverdiener konnten sich ein völlig aus Glas aufgezogenes Direktionszimmer in schwindelerregender Höhe erlauben. Die Gebäude wurden alle nur mit Abkürzungen versehen, was ich nie so richtig verstanden habe. Eins der Gebäude, das TTT an der Hannestraße, widmete er seinem Sohn: Eine dunkelbraune Plakette mit »FÜR DANIEL« in schwarzen Lettern unter dem Firmenlogo eines imposanten Rechtsanwaltbüros.

In der Zeit, als das Gebäude noch neu war, zeigte Daniel überall Zeitungsausschnitte über seinen Vater. Jeden Erfolg feierte er, als ob es sein eigener wäre. Und sein Portemonnaie feierte mit. Daniel war die erste Person, die ich kannte, die einen Burn-out von zu vielen Feiern bekommen hatte. In der Zeit, als organisierte Feten in großen Discotheken mit alternativen Kellern noch in waren, war er immer dort zu finden. Er trank Kaffee wie ein Lastwagenfahrer und schluckte fast alles, um wach zu bleiben. Daniel war an diesen Abenden überall zu finden und jeder kannte ihn. An seinem zwanzigsten Geburtstag versucht er sich auf dem großen Markt anzuzünden. Ich weiß nicht, ob es eine direkte Verbindung gab, aber kurz danach wurde das Rauchverbot im Gaststättengewerbe eingeführt. Die Feten verlagerten sich ins Illegale. Nach seinem Burn-out fing Daniel dann doch noch an, zu pubertieren. Er verzichtete auf alles, was er von seinem Vater bekommen hatte, aber behielt sein monatliches Taschengeld. Einerseits hasste ich Daniel für diesen Charakterzug, anderseits ist für mich dadurch ein super Laptop herausgesprungen. Daniel studierte nun die Bauwerke seines Vaters. Es überraschte ihn, wie viel über seinen Vater geschrieben worden war, mehr als Daniel je erwartet hatte. Es gab wohl Personen, die seinen Vater besser zu kennen schienen als er selbst. Er las jedes Wort und machte sich zum ersten Mal in seinem Leben Notizen. Und zum ersten Mal beschmierte er ein Gebäude. Neben dem Schild des Anwaltsbüros stand in großen, roten und vor allen Dingen unbeholfenen Buchstaben

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»Dieses Haus ist kein Vater«. Der Schriftzug wurde übermalt. Weder die Presse noch die Öffentlichkeit nahmen Notiz davon. Diese Stadt hatte immer schon die Eigenschaft, alles Unangenehme einfach auszublenden und ohne viel Ballast sich dem jeweiligen Zeitgeschehen zu widmen. Nicht viel später griff Daniel zu Hammer und Meißel, um die Plakette mit der Widmung herauszubrechen und zu verbrennen. Ich fand diese Idee ziemlich kindisch: »Vielleicht brennt das Zeug ja gar nicht. Und die hängen eh gleich eine neue Plakette auf.« »Diese Gebäude sind seine echten Kinder,« meinte Daniel, »für Typen wie mein Vater ist es nicht genug, dass sie in ihren Kindern weiterleben. Nee, die müssen unbedingt ins nächste Jahrhundert rein.« Er schaute mich dabei an, um zu sehen, ob das eine ausreichende Antwort war auf eine Frage, die ich nie gestellt hatte. »Auf jeden Fall nicht mit meinem Namen drauf.« fügte er hinzu. Scheinbar hatte ich so reagiert, als könne seine Antwort noch ein bisschen mehr Melodrama gebrauchen. Und so entstand unser neustes Hobby. Daniels genauen Worte waren »Scheiße, scheiße, scheiße«, jedes Wort begleitet von einem Schlag auf den Meißel, der sich durch die Schichten des Natursteins fraß. Seit dieser Zeit schlagen wir Löcher in Gebäude. Unser erstes Loch wurde schnell wieder zuzementiert, aber man kann es noch immer sehen. Die Farbe des Zements stimmt für keinen Meter mit der originalen Steinfarbe überein. Ich schaue es mir immer gerne an. Es hat den Charme einer ersten Liebe oder auch den einer ersten Skizze. Nach unserem dritten Gebäude beschlossen wir, dass wir eine Kennung, eine Signatur brauchten. Es sollten doch bitte Löcher mit Erkennungswert entstehen, nicht einfach nur Löcher. Unser Tun war ja mehr als ordinärer Vandalismus. Wir wurden uns einig über ein zierliches ‚S’. Wenn man mit den Augen blinzelt, ähnelt es ein bisschen dem Zeichen für Unendlichkeit. Diese Art von Zufälligkeiten ist nicht witzig. Anfangs beschränkten wir uns auf Gebäude, die Daniels Vater entworfen hatte, aber selbst in der größten Stadt gehen einem auf Dauer die Stararchitekten aus. Nach Dubai ziehen kam nicht in Frage: Es ist entweder diese Stadt oder gar keine. Inzwischen schlagen wir Löcher in alles, was nur monumental ist oder noch lieber: in Monumente. Unsere Meißeltechnik haben wir perfektioniert. Es ist eins der wenigen Dinge, in denen wir richtig gut sind, worin wir uns wirklich auskennen.

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Wir wissen zum Beispiel, dass Trachyt prellt, wenn man zu hart mit einem Meißel drauf schlägt: Kleine Risse entstehen unter der Oberfläche und in wenigen Jahren bröckelt der Stein langsam ab. Diese Erfahrung hat uns unser schönstes ‚S’ gekostet. Heutzutage ziehen wir in die Nacht mit gutem Gummihammer und einem Rucksack mit verschiedenen Sorten an Meißeln, Schlagkeilen, Zahneisen, Beizeisen, Raspeln, Feilen und ein bisschen Sandpapier. Wir führen alles sorgfältig aus, damit unsere Signaturen lange überleben. Wir kleben Handtücher über den Beton, um weniger Lärm zu machen, obwohl das meist nicht nötig ist: Die Menschen in dieser Stadt schlafen durch jeden Lärm hindurch. Es ist auch noch kein Artikel über uns in der Zeitung erschienen – noch nicht. Auch das passt zu der Neigung zum Schweigen, die in dieser Stadt das tägliche Handeln bestimmt. Im Gegensatz zu Daniels Vater stimmen wir unsere Fähigkeiten mehr auf das Handwerk als auf die Planung ab, aber Daniel und ich sind im Grunde mit derselben Sache beschäftigt: Wir werden nur gut in Dingen, von denen wir abhängig werden können, und wenn wir einmal süchtig sind, wollen wir, dass es nie endet, sogar über unseren Tod hinaus. Vor kurzem erzählte Daniel mir, dass ‚TTT’ für ‚The Third Twin’ stehe. Es war gar nicht mal die Anmaßung, die mich überraschte. Ich hatte einfach immer vermutet, das eines der ‚T’ für ‚Tower’ oder ‚Turm’ stünde. Aber unser ‚S’ steht noch immer für Nichts. Es ist ein Suffix und geht mit den Gebäuden ins nächste Jahrhundert ein. Daniel und ich teilen ein Geheimnis, und wir gehören zu den Wenigen, die nach dem Abi hier hängen geblieben sind. Und wir bleiben noch eine Weile, denn diese Stadt kann ein bisschen Melodrama gebrauchen.

Dennis Gaens

Schriftsteller, moderiert, schreibt Poesie und Kurzgeschichten und debütierte 2009 in der Sammlung ›Het Nieuwe Zwart‹ [Das Neue Schwarz]. Er ist Mitarbeiter des Literarischen Produktionshauses Wintertuin und betreut den Austausch zwischen deutschen und niederländischen Autoren.


DAS GAFFA ABC Lisa Buttenberg

ANONYME ARCHITEKTUR CHAMÄLEON ist der Verwandlungskünstler des Tierreichs. Es gehört zur Familie der Echsen und lebt in südlichen Mittelmeerländern, Afrika und Indien. Bekannt ist das Chamäleon für seine einzigartige Anpassungsfähigkeit. Lang ging man davon aus, dass es über die Fähigkeit verfügt, sich in seiner Farbe der jeweiligen Umgebung anzupassen. Heute weiß man, dass sich die Farbe je nach Stimmung und körperlicher Verfassung verändert. So verfärbt sich ein Chamäleon bei Angst dunkel, bei Stress zeigt es sich in changierenden Tönen. Einige Chamäleons können durch Aufblasen oder Aufstellen der Kopflappen auch ihre Gestalt ändern. Das Bild des Chamäleons wird außerhalb der Tierwelt wahlweise auf opportunistisch angepasste, wetterwendische Personen aber auch bewundernd auf schillernde, wandlungsfähige Personen angewandt, je nach Bewertung und Umstand der Wandlungsfähigkeit.

ist die „Architektur der Erfahrung“, eine Architektur nach vernakulären Prinzipien. Das Bauen ohne Architekt basiert auf evolutionären, gewachsenen Bauweisen und reagiert in Selbstorganisation der Beteiligten auf die jeweiligen Lebensumstände. En vogue war die Besinnung auf die Anonyme Architektur vor allem in den 1950er und 1960er Jahren. Damals suchten Architekten und Stadtplaner hier die Antwort auf die Frage nach ihrem beruflichen Selbstverständnis. Mit dem Fokus auf selbstbestimmte, praktische Raumaneignung und urbane Alltagspraktiken wurden deswegen u.a. der Gebrauch und die Aneignung des Straßenraums in Arbeitersiedlungen in England sowie afrikanische und südamerikanische Bauformen und Siedlungstypen untersucht. Stellvertretend dafür stehen z.B. der „Urban Reidentification Grid“ von Alison und Peter Smithson (1953) oder die Ausstellung „Architecture without Architects“ von Bernhard Rudofsky (New York City, 1963).

DO IT YOURSELF

BRICOLAGE die Bastelei, geht zurück auf den Anthropologen Claude Lévi-Strauss. Der Begriff bezeichnet das Bild des Bastlers („bricoleur“), der verfügbare Objekte und Versatzstücke kombiniert und neue Gesamtzusammenhänge erstellt. Er schafft nichts Neues, sondern ordnet neu und schließt dabei Dekontextualisierung und Umdeutung ein. Bricolage ist: Die Verwendung von Sicherheitsnadeln als Körperschmuck. Bricolage in der Architektur sind z.B. die aus Baumarktteilen bzw. vorgefertigten Gewächshausteilen gebauten Sozialwohnungen des französischen Architektenduos Lacaton & Vassal. Nach der Prämisse „No Architecture“ sampeln sie einfache Baumaterialien, schaffen unkonventionelle Grundrisse und so vielseitigen Wohnraum für weniger Geld. Auch der Bewohner wird zum „bricoleur“ und zur offensiven Aneignung seines Wohnraums aufgefordert.

ist eine in England, in den 1950er Jahren entstandene Bewegung zur eigenmächtigen Gestaltung des heimischen Umfelds. Die sogenannte „Kultur des Amateurs“ setzte sich anfangs vor allem im Bereich des Heimwerkens durch: Dekoration, Verbesserung des Eigenheims und Garten. In Deutschland ermöglichte die DIY Bewegung die Deckung der gestiegenen Bedürfnisse der „Aufbau-Generation“ zu geringen Kosten. Zeitschriften, wie die seit 1957 erscheinende „Selbst ist der Mann“, unterstützten mit praktischen Schritt-für-Schritt Selbstbauanleitungen die Ambitionen der Amateurhandwerker. Daneben gibt es seit den 1970er Jahren verstärkt die subkulturelle Ausformung z.B. in der Punkbewegung und in zahlreichen Gegenbewegungen, die sich mithilfe von Selbstermächtigung und -organisation gegen den Massenkonsum stellen. Auch heute ist DIY Mittel zu preiswerten Umsetzung eigener Projekte in der Kunst- und Kulturwirtschaft.

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EIGENLEISTUNG

FAVELA

ist eine Art der baulichen Selbsthilfe. Sie kann entweder als „Muskelhypothek“, d.h. als bauliche Arbeit oder in Form von Planungs-, Kommunikationsoder Organisationsleistungen erbracht werden. So können monetäre Defizite kompensiert werden. Eigenleistung und Selbsthilfe sind oft Reaktion auf gesellschaftliche und sozioökonomische Missstände. Nachdem die traditionell selbstverständlichen baulichen Eigenleistungen bei der Wohnraumversorgung mit der Industrialisierung aus dem urbanen Wohnungsbau nahezu verdrängt wurden, gewannen Eigenleistung und Selbsthilfe als Notreaktion (in der Genossenschaftsbewegung als Antwort auf schlechte Wohn-/ Lebensbedingungen sowie im Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg), als Protestbewegung (in Form der „Instandbesetzungen“ der 1970er und 1980er Jahren) und als Suche nach alternativen Lebensmodellen wieder an Bedeutung (1980er und 1990er). Nach dem letzten Höhepunkt urbaner Eigenleistung in Selbsthilfeprojekten hat ihr Anteil an der Wohnraumbeschaffung jedoch stetig abgenommen.

heißen die informellen Siedlungen in den Städten Brasiliens. Sie entstehen in der Regel durch irreguläre Landbesetzung und spontane, illegale Bebauung. So entsteht ein Konglomerat aus zuerst einfachen Hütten meist in prekären Lagen in der Stadt. Ständig von Verdrängung und Abriss bedroht wird die Siedlung, nach Möglichkeiten ihrer Bewohner, ausgebaut und verbessert. Der Begriff Favela steht oft als Sinnbild für das Phänomen der informellen Stadt, das längst kein Randphänomen mehr ist. In vielen Megastädten, wo formeller Wohnungsmarkt und staatliche Regulierung versagen, ist die informelle Stadtentwicklung treibender Motor der Urbanisierung geworden. Formelle und informelle Stadt stehen dabei in einem ambivalenten Verhältnis zueinander. Gelten die Favelas einerseits als Schandflecken ohne Daseinsberechtigung, so sind Ober- und Mittelschicht andererseits auf die billigen Arbeitskräfte angewiesen, die als Hausmädchen, fliegende Händler, Kellner etc. den reibungslosen Ablauf des urbanen Alltags garantieren. Darüber hinaus basieren große Teile der „formellen Stadt“ auf auch informellen Strukturen. Die gated communities, in denen sich die Oberschicht zurückzieht, entstehen häufig auf Flächen, die nicht für den Wohnungsbau vorgesehen und somit informell sind. Mit den privaten Gesellschaften, die immer mehr die Aufgaben des öffentlichen Dienstes übernehmen, verschärft sich dieser Trend zusätzlich.

HOBBYKELLER der Hort deutscher Freizeitgestaltung, findet sich meist in suburbanen Einfamilien- und Reihenhausgebieten. Holzvertäfelung und/ oder Fototapete geben ihm seine typische Gestalt. Zur Ausstattung gehören je nach Schwerpunkt der Freizeitausgestaltung die Werkbank, die elektrische Eisenbahn, die Dartscheibe oder Derartiges. Traditionell ist der Hobbykeller Rückzugsraum und kreativer Freiraum des männlichen Familienoberhaupts. Die gesellige Variante des Hobbykellers ist der Partykeller – je nach Ausstattungsgrad mit selbstgewerkelter Bar inkl. Zapfanlage und Bierdeckelsammlung. Mit dem Übergang der Kinder in das Teenageralter wird der Hobbykeller oft zur Veranstaltung von Teenagerparties missbraucht oder weicht dem Umbau zum Jugendzimmer.

auch Gaffer, ist ein vielseitig einsetzbares Klebeband. Ursprünglich im Bühnenbau verwendet ist das Klebeband inzwischen zum universellen Allzweckband mutiert. Mit Gaffa kann man spontan alles fixieren, reparieren, abkleben oder auch dekorieren. Es zeichnet sich durch seine besondere Reißfestigkeit und hohe Klebekraft aus. Dabei ist es bequem mit der Hand abzureißen. So ist Gaffa prädestiniert für den kompromisslosen und situativen Einsatz entsprechend der jeweiligen Situation und dem bestimmten Bedarf. Gaffa ist Sinnbild für Improvisation und MacGyvers zweite Armbanduhr.

IMPROVISATION Improvisation ist eine Strategie für den Umgang mit der Diskontinuität von Planung und Raumproduktion auf allen Maßstabsebenen. Besser als konventionelle Strategien ist sie in der Lage auf die sich veränderten Bedingungen zu reagieren. Improvisation ist kein Handlungsmodell des Entweder-Oder, [...] sondern unermüdliche, sorgfältige Erprobung von Handlungsspielräumen. Der improvisatorische Imperativ lautet: wenn Du improvisieren willst, musst Du deine Handlungen so organisieren, dass sie konstruktiv mit den Mehrdeutigkeiten, Unordnung und einer Situation umgehen kann, und zwar in Interaktion und Auseinandersetzung mit anderen. nach Dell/ Matton (2009):

Improvisations on Urbanity

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GAFFA


JOKER ist eine Spielkarte, meist als Hofnarr dargestellt. Im Spiel ist er universell einsetzbar. Das Chamäleon der Spielkarten ist damit wandelbar und passt sich an die jeweilige (Spiel-) Situation, die Gegebenheiten und Notwendigkeiten flexibel an.

KLEKSHOPS LEARNING FROM steht sinnbildlich für den Aspekt nach der Übertragbarkeit. In der aktuellen Stadtplanung wird dabei meist die Frage nach der Übertragbarkeit von Praktiken und Strategien der informellen Stadt im sogenannten globalen Süden gestellt. Was kann man von der informellen Stadt für die zeitgemäße und zukünftige Entwicklung der europäischen Städte lernen? Damit verbunden ist jedoch oft die Gefahr einer romantisierten oder naiven Verherrlichung des Informellen mit Fokus auf das hochstilisierte Prinzip der Selbsthilfe, ohne die prekären Ausgangssituationen kritisch zu bewerten. Der Diskurs des „learning from“ wurde maßgeblich von dem Stararchitekten Rem Koolhaas geprägt, der mit dem Havard Projekt über acht Jahre informelle Strukturen in der nigerianischen Hauptstadt Lagos untersucht hat. Das Ergebnis des Projekts publizierte er in dem Buch “Lagos – How it works“.

sind kioskartige Verkaufsstellen in der bulgarischen Stadt Sofia. Das bulgarische Wort „klek“ bedeutet „hocken“ oder „bücken“. Das gesamte, verfügbare Warenangebot der Klekshops wird in einem Schaukasten an der Hauswand des jeweiligen Wohnhauses präsentiert. Der eigentliche Laden und zugleich das Lager befinden sich im Keller des Hauses. Der Verkauf findet durch das Kellerfenster statt. Der Käufer hockt sich vor das Fenster Klekshop, und die Ware wird aus dem Keller direkt auf den Gehweg gereicht. Dieses Geschäftsmodell hat sich mit dem Systemwechsel Anfang der neunziger Jahre entwickelt und ist seitdem fester Bestandteil der Stadt. Zu jeder Tages- und Nachtzeit erfüllen die Klekshops die alltäglichen Bedürfnisse der Bewohner und versorgen sie mit Produkten. Neben Getränken, Tabak- und Süßwaren gibt es eine kleine Auswahl von Artikeln des täglichen Bedarfs und Hygieneartikel.

MACGYVER, ANGUS

ist ein US-amerikanischer, international agierender Sonderermittler im Auftrag der Forschungseinrichtung/ privaten Sicherheitsfirma Phoenix Foundation. Er lehnt die Benutzung von Feuerwaffen ab, löst stattdessen brenzlige Situation und die Bedrohung der öffentlichen Sicherheit mithilfe der praktischen Anwendung seiner naturwissenschaftlichen Kenntnisse. Seine Hilfsmittel dabei sind neben seinem Schweizer Taschenmesser und Klebeband (s. Gaffa), die er immer dabei hat, die jeweiligen auffindbaren Gegenstände, um immer wieder überraschend und dabei souverän jegliche Bedrohungen abzuwehren. Damit ging er in die telemediale Geschichte der Improvisationskultur ein.

NACHBARSCHAFTSHILFE ist die gegenseitige, unentgeldliche Unterstützung sozialer Gemeinschaften. Sie bildet ein informell orientiertes Instrument zur Bewältigung alltäglicher Bedürfnisse aber auch von Krisen. Traditionell entsteht Nachbarschaftshilfe in überschaubaren Gemeinschaften. Im urbanen Umfeld ist Nachbarschaftshilfe aufgrund eines höheren Grads an Individualisierung und Institutionalisierung sozialer Infrastrukturen und Gefahrenabwehr weniger verbreitet. Nachbarschaftshilfe ist u.a. das Holen einer Prise Salz beim Nachbarn, das Erledigen gemeinschaftlicher Arbeiten, die gegenseitige Hilfe bei der Kinderbetreuung und die Gründung einer Bürgerwehr.

OPEN SOURCE (offener Quellcode) ist ein Begriff aus der Softwareentwicklung und steht für das Prinzip, in dem Entwicklungsprozesse und Informationen offen gelegt und für jeden frei zugänglich, benutzbar und veränderbar gemacht werden. Das Prinzip Open Source, hat inzwischen solche Professionalität und Verbreitung erlangt, dass es in der Softwareentwicklung (Linux, Firefox, Wordpress), in der Sammlung von Wissen (Wikipedia, OpenStreetMap) sowie im kulturell-künstlerischen Bereich (Creative Commons) Produkte hervorbringt, die gegen kommerzielle und proprietäre Konkurrenz wettbewerbsfähig sind oder diese (bspw. den Brockhaus) gar verdrängen. Seit einigen Jahren verlässt das Prinzip Open Source die Computerwelt und beeinflusst zunehmend die analoge Lebenswirklichkeit.

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PARKOUR ist eine Sportart, deren Spielfeld der städtische Raum ist. Der Traceur (der Läufer) versucht dabei schnell, effizient und elegant räumliche Hindernisse, ohne Hilfsmittel zu überwinden. Parkour geht zurück auf den Franzosen David Belle, der die im Wald erlernte Méthode naturelle auf die Pariser Vororte übertrug und dabei urbane Hindernisse zum Spielplatz reinterpretierte. Parkour löst sich von der Gewohnheit, im urbanen Umfeld gekennzeichnete Wege zu benutzen. Es werden neue Strecken erschlossen und der alltäglichen Normierung die Individualität der Bewegung entgegengesetzt. Die gewohnte Umgebung wird anders wahrgenommen. Das Spektrum der Möglichkeiten richtet sich nach dem jeweiligen Können und der Kreativität bei der Hindernisüberwindung. Das Hauptaugenmerk der individuell gestalteten Parkourtouren liegt auf dem Flow – d.h. die Bewegung in höchster Effizienz zu beherrschen und auszuführen, sozusagen über die Hindernisse zu fließen. Am Ende steht jedoch schließlich das individuelle Höchstmaß an Bewegungsfreiheit.

QUERFELDEIN ist das Mittendurch. Ungeachtet von Grenzen, Vorgaben, Schubladen bahnt man sich individuell seinen Weg, findet man seinen Geschmack, hört auf seinen Bauch. Kompromisslos verlässt man sich dabei auf das eigene Empfinden und Bedürfnisse sowie auf die jeweiligen Gegebenheiten. Im Sport findet das Prinzip im QuerfeldeinRadrennen (Cyclocross) sowie im Motorcross Anwendung. In der Musik hört der unentschlossene Musikliebhaber querbeet.

RAUMDIETRICH ist ein vom spacedepartment entwickelte Strategie zur individuellen Oberflächenerweiterung des Stadtraums; zum Entdecken, Öffnen und Schließen urbaner Räume. Die Taktik ist es, einfache Hilfsmittel aus dem Alltagsleben zur Öffnung oder Aktivierung ungewohnter Räume und Wege zu nutzen. Ein Raumdietrich kann sein: einfache Werkzeuge zur Überwindung von Grenzen (Steigbügel, Fußmatte, Leiter) als auch Informationen, Interventionen, Tarnung und Verkleidung. In der Literatur wurde das Prinzip Raumdietrich im „Hauptmann von Köpenick“ aufgegriffen.

SCHATTENWIRTSCHAFT bezeichnet das Phänomen steuerlich nicht erfasster Wirtschaftsaktivitäten sowie das Phänomen der informellen Ökonomie. Diese ist nicht durch das allgemein gültige Recht abgedeckt oder verstößt dagegen und umfasst diverse Tätigkeiten: Hausarbeit, Ehrenamt und Nachbarschaftshilfe, Steuerhinterziehung und kriminelle Aktivitäten wie Drogenhandel oder Schmuggel etc. In Entwicklungs- und Schwellenländern bestreitet ein großer Teil der Bevölkerung seinen Lebensunterhalt über informelle Tätigkeiten. Meist handelt es sich dabei um einfache Dienstleistungen oder kleine Produktion in Familienunternehmen. Illegalität, fehlende Formalisierung bzw. Institutionalisierung der Arbeit ziehen prekäre Arbeitsbedingungen (unsichere und niedrige Bezahlung, lange Arbeitszeiten, keine Absicherung, kein Arbeitsschutz etc.) nach sich. Trotzdem bietet der informelle Sektor – da wo Staat und Wirtschaft versagen – eine gewisse Grundversorgung. Schlechte Arbeitsbedingungen werden aufgrund mangelnder Alternativen akzeptiert.

TAPE ART ist eine Kunstform, die mit Klebeband arbeitet. Aus Gaffa und anderen Klebebändern entstehen im urbanen Kontext Arbeiten. Die Ursprünge dieser Form der Urban Art findet man in den USA, während Tape Art in Europa und Deutschland noch ein relativ neu und unverbreitet ist. Ausgehend als Trend der New Yorker Street Art Szene, etabliert sich die Tape Art mehr und mehr zum eigenständigen Kunst-Genre. Bekannte Vertreter sind u.a. Aakash Nihalani, Buff Diss und El Bocho.

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UNGEPLANT ist nicht das Gegenteil von Planung. Es bezeichnet lediglich einen Zustand oder Prozess, dessen Weg und Ausgang ungewiss sind. Erfahrungsgemäß erfordert dieser offene Prozess vice versa viel organisatorische Planung. Es birgt den Schein einer unprofessionellen Herangehensweise und die Gefahr vor einem negativen Verlauf. Andererseits bietet geringe oder keine Planung die Möglichkeit zu Spontanität und Improvisation und somit die Entwicklung neuer Verfahren und Wege jenseits eingefahrener Strukturen und Routinen. Planung nimmt zumeist einen vordefinierten Endzustand an. Vor allem in komplexen Kontexten (Beispiel Stadt und Stadtentwicklung) kann diese Festlegung ein Problem bedeuten und zu Fehlplanungen führen. Ein Öffnen und das Zulassen ungeplanter Elemente und Improvisation ermöglicht die Anpassung von Prozess und Planung an komplexe Realitäten


VERSUCH UND IRRTUM (englisch trial and error) ist eine Methode, um bei begrenztem Wissen zu einer Lösung zu kommen. Anwendung findet sie Lernprozessen und als Verfahren zur Problemlösung. In einer unbekannten Problemlage werden verschiedene, scheinbar planlose Reaktionen bzw. Lösungsversuche angewendet, so lang bis einer zum Erfolg führt. Fehlschläge (Irrtum/ error) werden bewusst in Kauf genommen, da so sukzessive Problemlösungsstrategien entwickelt werden können. Abstrahiert sind diese dann in ähnlichen Situationen wieder anwendbar.

WOCHENTAGSBARS waren in den 1990er Jahren wesentlicher Teil des Berliners Nachtlebens, vor allem im ehemaligen Ostteil der Stadt. Dem Prinzip der Wochentagsbar nach wird nur an einem Tag der Woche geöffnet. Montags-, Dienstags-, Mittwochsbar etc. wechselten sich ab. Der Club- bzw. Barbetrieb fand improvisiert und temporär begrenzt in Wohnungen und Kellern statt. Kurzfristig wurden preisgünstige Räume angemietet und fernab jeglicher gaststättengewerblichen Auflagen und Verbote als einfach ausgestattete Bars bespielt. Aufgrund der niedrigen Einstiegsschwelle wurden Clubbesucher hier häufig zum Clubbetreiber. Mit der zunehmenden Sanierung der Häuser und der Schließung der räumlichen und institutionellen Lücken wurden die Wochentagsbars nach und nach verdrängt.

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Zeichen für eine unbekannte oder variable Größe.

YPS ist der Name einer Kinderzeitschrift, die von 1975 bis 1999 erschien. In den 1980er Jahren gehörte das Magazin zu einem der bekanntesten und erfolgreichsten Comicmagazine. Unter dem Motto „lesen, lernen, lachen und basteln“ stellte Yps mit seiner Mischung aus Comics und Spielzeug eine Neuerung auf dem Kindermagazin (Sektor der Kindermagazin, Neuerung im Vergleich zu bereits bestehenden Magazinen, …) dar. Das beigelegte Gimmick war das Herzstück der Zeitschrift. Wöchentlich erschien mit den Comics eine Beigabe aus den Themenbereichen Wissenschaft und Natur, Abenteuer und Survival, Detektivwesen und Kriminalistik. Zu den bekanntesten Gimmicks gehören: die mexikanischen Springbohnen, der Agentenausweis, die Uhrzeitkrebse, das Abenteuerzelt, der Ostereierbaum, der Solar-Zeppelin, die Geld-Zauber-Maschine, das Fingerabdruck-Pulver, die Fliegenschreck-Pistole, die Detektiv-Stifte für GeheimNachrichten, das Schleuder-Katapult, die Gasdruck-Rakete, der Taschen-Tresor und das Fußball-Spiel für die Hosentasche.

ZWISCHENNUTZUNG ist die temporär begrenzte (Um-) Nutzung von Brachflächen oder vakanten Räumen bzw. Gebäuden. Meist handelt es sich um aus dem konventionellen Verwertungszyklus gefallene Objekte, die zu günstigen Mieten (oder für die Übernahme der Betriebs- und Nebenkosten) angemietet werden können. Die Nutzungen variieren von sportlicher Bespielung wie Skateboardparks und Kletterparcours über Clubs und Bars, Künstlerateliers, Grafikstudios und Musiklabels, Autoschrauber und Werkstätten bis hin zu Yen Zentren, Kinderbauernhöfen und Bauwagensiedlungen (und so weiter). Zwischennutzung bietet die Möglichkeit preisgünstig und mit geringem Risiko Nutzungen, Ideen, Projekte und Geschäftsmodelle ausprobieren zu können. Da klassische Instrumente der Stadtplanung beim Umgang mit Leerständen oft an ihre Grenzen stoßen, finden Zwischennutzungen als Teil der Stadtentwicklung zunehmend Aufmerksamkeit.

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IMPRESSUM SPACEMAG #2 / GAFFA URBANISMUS / HAMBURG / FEB. 2010 Herausgeber

spacemag ist ein Magazin für urbane Phänomene und urbane Alltagskultur, das seit 2008 vom spacedepartment herausgegeben wird. Das spacemag ist ein langfristig angelegtes Magazinprojekt und erscheint in unregelmäßigen Abständen. Es verfolgt derzeit keine gewinnorientierten Strategien. Das spacemag ist ein Liebhaberprojekt. Es lebt vom persönlichen Engagement der Redaktion und der Begeisterung für urbane Themen seitens der Autoren, die ihre Artikel unentgeltlich zur Verfügung stellen. Alle Vertriebserlöse fließen in die direkte Fortführung des Projektes.

Redaktion

Lisa Buttenberg, Lukas Halemba, Rudolf D. Klöckner, Sven Lohmeyer, Sophie Naue, Anja Nettig

Beiträge

Nadine Appelhans, Katja Aufleger, Bob Baster, Cedric Bernadotte, Jan Bovelet, Buff Diss, Till Burgeff und Malte Just mit Jürgen S. Wassink, João Paulo Cobra alias Nove und Walter Nomura alias Tinho, Jan Eilts und Phillip Scholz, Silvia Posavec, Verena Dauerer, Christopher Dell, Dennis Gaens, Nils Grube, Yvonne Franz, Philipp E. Hachenberg und Malte Pill, ImplanTat, Martin Kaltwasser und Folke Köbberling mit Maren Richter, Lukasz Lendzinski und Peter Weigand, Lola Meyer und Boris Sieverts, Frank Othengrafen und Jakob F. Schmid, post, Christian Wolff

Wir danken

Alain Bieber (Gute Seiten), Aimara Bauer, Jens O. Brelle (Art Lawyer Gallery), Frappant, Luise Herrmann, Klebeland, Winz L. Nettig, Benjamin Wiemann

Herstellung und Druck

PRESSEL Digitaldruck und Verlag www.pressel-druck.de

spacemag beziehen

über die Seite www.spacedepartment.de oder per E-Mail post@spacedepartment.de

Rechte

Die Rechte der Gastbeiträge verbleiben bei den jeweiligen Autoren, Fotografen und Grafikern. Bilder und Grafiken, die unter einer Creative Commons Lizenz erstellt bzw. verwendet wurden, sind als solche gekennzeichnet.

(cc) flickr.com: urbanartcore.eu

spacedepartment

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Das spacedepartment entwickelt Ideen für Städte. Das Kollektiv von acht Hamburger Studierenden und Absolventen der Stadtplanung macht die Stadt und ihre urbane Umgebung zum Feld ihrer Aktivitäten und Aktionen. Auf der Suche nach neuen Denkweisen für Stadt und Gesellschaft entwickelt es verschiedene Formate von der theoretischen Auseinandersetzung zu urbanen Themen, der Organisation von Veranstaltungen und Workshops hin zu Gestaltung, Kommunikation und Aktionskunst. spacedepartment sind: Lisa Buttenberg, Jan Ole Frerichs, Lukas Halemba, Rudolf D. Klöckner, Anna Kokalanova, Sven Lohmeyer, Sophie Naue, Anja Nettig

Kontakt

www.spacedepartment.de post@spacedepartment.de


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