Saskia Scarpe su Misura

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Auf der Spur des Sesambeins


Vor 17 Jahren zog Saskia Wittmer nach Florenz und wurde Maßschuhmacherin. Am Anfang hielt fast jeder sie für wahnsinnig. Heute halten viele Menschen sie für die beste Maßschuhmacherin der Welt. VON TAKIS WÜRGER

Es gibt verschiedene gute Gründe, nach Florenz zu reisen, die

Werkstatt von Vivian Saskia Wittmer aufzusuchen und ihr den Auftrag zu geben, ein Paar Maßschuhe für mindestens 2400 Euro zu bauen. Ein Russe kam in den Laden und sagte, er brauche einen kniehohen Stiefel aus Elefantenleder, weil er in Afrika auf Safari ginge. Als der Stiefel fertig war, ging der Russe damit joggen, um sich und den Schuh auf Afrika einzustimmen. Ein Araber kam in den Laden und sagte, er möge die Farbe Grau, deswegen brauche er 14 Paar graue Schuhe, vor allem Stiefeletten, jedes Paar in einer anderen Schattierung. Zur Anprobe flog Wittmer nach England ins Jagdschloss des Arabers und schaute ihm bei der Fasanenjagd zu, bevor er in die Schuhe schlüpfte. Ein Amerikaner kam in den Laden und sagte, er sei Anwalt und habe nur Schuhe aus Krokodilleder im Schrank. Nun brauche er ein Paar aus bescheidenem Kalbsleder, weil Krise sei, und in der Krise sei es möglicherweise schlecht für den Ausgang der Prozesse, wenn ein Anwalt im Gerichtssaal Krokoleder trage. Es gibt noch einen anderen Grund, warum Menschen zu Saskia Wittmer reisen und sich Schuhe anfertigen lassen: Sie halten sie für die Beste. Saskia Wittmer, 41, ist die vielleicht beste Maßschuhmacherin der Welt. KulturSPIEGEL

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Zugegebenermaßen gibt es nicht zu viele Maßschuhmacherinnen auf der Welt. Das ist so wie beim Rhönradturnen, da wird man auch schnell Weltmeister, wenn man gut ist. In Deutschland arbeiten ein paar wenige Maßschuhmacherinnen, eine gute in Berlin, eine angeblich gute in Köln, eine bezaubernd gute in Hamburg in der Bellealliancestraße. In Italien, sagt Wittmer, kenne sie keine andere Schumacherin, die ihre eigene Werkstatt habe. Schumachermeister in Italien sind Männer. Schuhmachermeister in Italien sind meistens alt und grau, mit schwieligen Händen, und meistens kommen sie aus dem Süden. Manchmal fragen Kunden Wittmer, wo denn der Chef sei. Als sie ihre Werkstatt eröffnete, standen die Männer aus der Nachbarschaft vor dem Schaufenster, guckten sie an und sagten, so laut, dass Wittmer es durchs Glas hören konnte: „Eine Frau? Eine Deutsche? Niemals. In einem halben Jahr ist die wieder weg.“ Heute bleiben die Männer immer noch vor der Scheibe stehen, erzählt Wittmer. Heute sagen sie: „Ciao, Saskia, bella, kannst du uns nicht auch mal ein paar Schuhe bauen, per favore?“ Wittmer arbeitet an einem Schuh ungefähr zehn Tage. In ihrer Werkstatt ragt ein Regal bis unter die Decke, darin stapeln sich die Leisten. Es sind rund 300 Leisten. Das heißt, es existieren nur rund 300 Menschen auf der Welt, die Wittmers Schuhe tra-

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Herrenschuh-Modelle von Saskia Wittmer

Typisch italienische, elegante Form

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Nieren in den Füßen beginnen. Orthopäden unterscheiden allein anhand der Längenunterschiede zwischen dem zweiten Zeh und dem großen Zeh drei verschiedene Fußformen: den ägyptischen, römischen und griechischen Fuß. Natürlich ist es möglich, die beiden Wunderwerke am Ende unserer Beine in Schuhe von der Stange zu zwängen. Wenn wir Glück haben, passiert dann nichts, und wir gehen. Wenn wir Pech haben, werden wir gequält von Blasen, Schweißfüßen, Rückenschmerzen, Überbeinen, Hühneraugen und Hass. Saskia Wittmer vermisst die Füße ihrer Kunden meistens mor-

gens. Sie sagt, dann sei der Fuß noch nicht so breitgelatscht, und sie könne verhindern, dass der Maßschuh zu groß würde. Sie zeichnet die Umrisse des Fußes mit einem Kugelschreiber auf Papier, sie schreibt drei Maße auf, sie zeichnet den Fuß im Profil. Es sieht einfach aus und dauert vielleicht zehn Minuten, wenn sie das tut. Dann beginnt der Leistenbau. Der Leisten ist ein Nachbau des Fußes. Er schenkt dem Schuh die Seele. Die meisten Schuhmacher schnitzen ihre Leisten aus Holz. Wittmer nimmt Plastik, weil es in Italien so heiß sei, dass Holz austrockne und sich dadurch verforme, sagt sie. Keiner von Wittmers Lehrmeistern hat ihr gezeigt, wie man einen Leisten konstruiert. Sie kannte die Theorie, aber die Meister stellten die Leisten hinter verschlossenen Türen her, am Samstag, wenn die Lehrlinge nicht in der Werkstatt waren, sagt sie. Wittmer lässt die Grundform ihres Leistens in einer Fabrik gießen, dann schleift sie mit einer Feile daran und baut ihn mit Kork auf, bis der Leisten so ähnlich aussieht wie der Fuß des Kunden. Schon im Leisten erkennt man ihre Handschrift. Die Spitze geht nicht gerade runter, wie sie es bei Budapester Leisten tut, sondern sie verjüngt sich nach vorn, so bekommt der Schuh eine typisch italienisch, elegante Form. Die Spitze fällt sachte ab, und im Mittelteil hat der Schuh eine schlanke Taille. Die Kunst des Leistenbauers liegt darin, den Fuß des Kunden nachzuahmen und gleichzeitig die Eleganz zu wahren. Manche ihrer Kunden sagen, an ihren Leisten würde man erkennen, dass sie eine Frau sei. Auf den Leisten klebt sie Tape und Papier und schneidet die Schnittmuster für das Leder zurecht. Kunden dürfen sich das Leder aussuchen. Wer kein mit Chrom gegerbtes Leder mag oder gegen Chrom allergisch ist, kann sich Schuhe aus pflanzlich gegerbtem Leder machen lassen, das sei allerdings weniger haltbar. Wittmer sagt, es gebe auch Kunden, die wollen nur französisches Kalbsleder oder Känguru aus Australien. Egal, welches Tier, Wittmer schneidet das Leder in Form und näht es zusammen. Dann legt sie ein großes Stück Leder vom Hals der Kuh in Wasser, damit es geschmeidig wird, und nagelt es auf den Leisten. Sie lässt das Ganze zwei Tage trocknen, schneidet mit einem Messer einen Kanal, durch den später der Faden laufen wird, der die Sohle zusammenhält. Sie zwickt den Schaft auf, vernäht Rahmen mit Brandsohle, Futter und Oberleder. Sie haut Holznägel in die Sohle und baut ein Holzgelenk hinein, weil Holz leicht ist, nicht rostet oder quietscht und sich besser verkleben lässt. Sie füllt die Sohle mit Kork auf und raspelt alles eben und verklebt und vernäht die Sohle. Sie baut den Absatz Schicht um Schicht auf und schleift die Sohle und den Absatz mit Sandpapier glatt und zieht mit einem heißen Eisen die Kanten glatt. Sie pinselt die Sohle mit Farbe an, bestreicht sie mit Wachs und 12/2013

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FOTOS: ALESSANDRO VECCHI

gen. Manche dieser Menschen haben 15 Paar, aber sie bleiben dennoch Mitglieder eines kleinen Clubs. Die Kunden kommen aus Japan, Deutschland, Italien, Russland, Gabun, aus der ganzen Welt, erzählt Wittmer. Manche sparen jahrelang für die Schuhe, manche bestellen 14 Paar, manche haben kaputte Füße und sehnen sich danach, schmerzfrei zu sein, manche schauen sich acht Stunden lang verschiedene Oberleder an, manche gehen in den Laden, sagen, sie hätten gern einmal schwarze Oxfords und glauben, dass sie den Schuh am nächsten Tag abholen können. Im Grunde genommen ist die einzige Schnittmenge der Kunden, dass sie schöne, bequeme Schuhe mögen. Ein Maßschuh hat mit einem Schuh von Tamaris oder Deichmann eigentlich nur gemeinsam, dass beide an den Füßen getragen werden. Es ist, als würde man einen Maserati mit einer Wurst auf Rädern vergleichen, beides rollt, aber damit endet die Gemeinsamkeit. Der Fuß eines Menschen ist ein Geniestreich der Natur, der uns den aufrechten Gang ermöglicht. In einem menschlichen Fuß befinden sich unter anderem Knochen mit den Namen: Sprungbein, Fersenbein, Kahnbein, Würfelbein, Keilbein und Sesambein. Ein Viertel der rund 200 Knochen eines Menschen befindet sich in den Füßen. Heiler der Traditionellen Chinesischen Medizin glauben, dass die Meridiane für Leber, Milz und


Maßschuhmacherin Wittmer in ihrer Werkstatt

„Ich wollte nie zum Strand. Ich wollte immer nur in Schuhgeschäfte“

geht noch mal mit einem heißen Eisen drüber, um sie wasserdicht zu imprägnieren. Sie haut zur Sicherheit noch drei Nägel von innen in den Absatz, dann kommt die Decksohle drauf, dann schleift sie den Schuhspanner in Form. Dann poliert sie den Schuh. Allein das Polieren dauert einen ganzen Nachmittag, sagt sie. Wittmer erzählt das alles, während sie in ihrer Werkstatt auf einem Hocker sitzt und mit einem pechbestrichenen Faden die Sohle an einen Schuh näht. „Als ich ein Kind war, habe ich mit meinen Eltern Urlaub in Italien gemacht. Ich wollte nie zum Strand. Ich wollte immer nur in Schuhgeschäfte“, sagt sie. Saskia Wittmer hat in Berlin eine Waldorfschule besucht und dort früh erkannt, dass ihr Arbeit mit den Händen liegt. Ihre Mutter war gelernte Schneiderin, vielleicht hatte das auch seinen Anteil an der Berufswahl. Eine Freundin ihrer Großmutter wusste, dass Saskia Schuhe mag und gab ihr einen Zeitungsartikel, in dem ein Schuhmacher erwähnt wurde, Benjamin Klemann, der sein Handwerk erst bei einem Ungarn gelernt hatte, dann beim Schuhmacher des Britischen Königshauses in England. Wittmer bewarb sich bei Klemann um einen Ausbildungsplatz, bekam ihn und sagt heute, es sei die absolute Erfüllung gewesen. Klemann hatte damals seine Werkstatt im Spritzenhaus auf einem Gut in Schleswig-Holstein. Wittmer saß an einer Werkbank unter einem Bogenfenster und werkelte die Tage durch.

Nach der Lehre fragte sie sich, was sie nun tun solle, nachdem sie beim besten deutschen Schuhmacher gelernt hatte, und sie entschied sich, ihre Ausbildung beim besten italienischen Schuhmacher fortzusetzen. Klemann gab ihr einen seiner feinsten Schuhe, den eigentlich er gebaut hatte, und schickte Wittmer zu Stefano Bemer nach Florenz. Saskia Wittmer zeigte Bemer den Schuh. Er sprach kein Englisch, Wittmer sprach ungefähr drei Worte Italienisch, sagt sie. Aber Bemer muss gedacht haben, dass sie gute Arbeit geleistet habe, als er sich den Schuh anschaute, den sie ihm mitgebracht hatte, und sagte, sie könne bei ihm anfangen. Stefano Bemer ist eine Legende unter den Schumachern. Viele hielten ihn für den Besten, als er noch lebte. Der Schauspieler und mehrmalige Oscar-Gewinner Daniel Day-Lewis hat einmal acht Monate bei Bemer gelernt und war so bewegt von der Zeit, dass er sich weigert, in Interviews darüber zu sprechen. Wittmer arbeitete zweieinhalb Jahre in einem Raum ohne Fenster für Bemer. Sie lernte Italienisch, und sie lernte von einem alten sizilianischen Mann, der auch in der Werkstatt saß und in Wahrheit die Schuhe zusammennähte, wie man einen Maßschuh baut, der elegant ist und sich gut anfühlt.

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Vor 13 Jahren hörte Wittmer bei Bemer auf und eröffnete kurze Zeit später ihre eigene Werkstatt. Seit ein paar Jahren hat sie eine Angestellte, eine Japanerin, die Izumi heißt und während des Interviews die ganze Zeit stumm in der Werkstatt sitzt und die Sohle eines Schuhs glattschleift. Es sind wohl diese stillen Momente, die ein Mensch aushalten und schätzen muss, um die Geduld und Ruhe dafür aufzubringen, einen guten Maßschuh zu machen. Es ist eine harte körperliche Arbeit, das Hämmern, Ziehen und Nähen, und es gleicht dennoch einer Meditation.

Sie nimmt einen Schuh aus dem Regal, der so schwarz ist, dass man glaubt, man schaue nicht auf den Schuh, sondern in den Schuh hinein. Wittmer geht jeden Morgen eine halbe Stunde zu Fuß zur Arbeit, spaziert am Fluss entlang und isst ein süßes Teilchen nahe der Ponte Vecchio. Sie hat einen italienischen Freund, der mittlerweile 27 Paar ihrer Schuhe besitzt, der Trattoria-Besitzer um die Ecke begrüßt sie mit Küsschen, und sie hat gelernt, fließend Italienisch zu sprechen, sehr gute Pasta zu kochen und woher die besten Melonen des Landes kommen (Ferrara). Wahrscheinlich sind ihre Schuhe so gut, weil sie so glücklich ist. Nach ein paar Stunden, in denen man Saskia Wittmer zuhört, verändert sich die Sicht auf die Welt, vielleicht sind es die Dämpfe aus dem Leder, auf jeden Fall beginnt man, kleine Rechnungen im Kopf anzustellen, die rechtfertigen würden, mehrere tausend Euro für Schuhe auszugeben. Wittmer erzählt von dieser alten, deutschen Ledergerberei, die vor 15 Jahren dichtgemacht hat. Sie nimmt einen Schuh aus dem Regal, einen schwarzen Wholecut, der so schwarz ist, dass man glaubt, man schaue nicht auf den Schuh, sondern in den Schuh hinein. Und Wittmer sagt, dass sie vor zehn Jahren versucht habe, alle Leder dieser Manufaktur aufzukaufen und dass es mittlerweile leider nichts Vergleichbares mehr gebe. Aber eine Haut habe sie noch von dieser Manufaktur, ein einziges schwarzes Leder. Später liegt man abends allein im Hotelzimmer und denkt immer noch an Schuhe und dieses Schwarz des Leders, und man rechnet sich die Welt schön. Und am nächsten Morgen wacht man auf und fragt sich, ob man gestern komplett geistesgestört war, auch nur in Betracht zu ziehen, diesen Schuh zum Preis eines Gebrauchtwagens zu kaufen. Man geht noch mal zum Geschäft von Saskia Wittmer, um „Auf Wiedersehen“ zu sagen und steht vor dem Schaufenster wie ein kleiner Junge. Die meisten würden wohl weitergehen können und abreisen. Ich ging hinein und ließ meine Füße vermessen.

Saskia Wittmer Scarpe su misura www.saskiascarpesumisura.com

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