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Das Tanzfestival Rhein-Main Dresden Frankfurt Dance Company mit Workshop für Kids Hessisches Staatstheater: »V/ertigo«
Zum Schwärmen
Das Tanzfestival Rhein-Main eröffnet mit »Murmuration« von Le Patin Libre
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Auf Schlittschuhen in den Eissporthallen von Darmstadt (27. /28. Oktober) und Frankfurt (31.), eröffnet das 7. Tanzfestival Rhein-Main mit einer außergewöhnlichen Schau. Fünf Jahre lang hat das 15-köpfige kanadische Eiskunstlaufkollektiv »Le Patin Libre«, (der losgelassene Schlittschuh) aus Montreal daran gearbeitet, das virtuose Schwarmverhalten der Stare, die riesigen, sich tänzerisch ständig verändernden Wolken über den Himmel ziehender Vogelscharen nachzuahmen auf das Eis zu bringen. In hoher Geschwindigkeit kombinieren die Eiskunsttänzer*innen Präzision, athletische Virtuosität und komplexe Choreografie – ohne sichtbare Anstrengung. Dabei entsteht das, was ein jeder Mensch erlebt, der einen Vogelschwarm beobachtet: die Magie einer kollektiven Schönheit, die die vitale Energie und die innige Hoffnung des Überlebens verkörpert. Le Patin Libre verwandelt in »Murmuration«, so nennt die Ornithologie diese Himmelstänze, die traditionelle Eiskunsthalle in eine Bühne für zeitgenössische Bewegungen.
In mittlerweile elf Kategorien wird Deutschlands wertvollster jährlicher Theaterpreis Der Faust vergeben. Unter die jeweils drei Nominierten hat es aus dem RheinMain-Gebiet nur eine Produktion geschafft: Rafaële Giovanolas Inszenierung »Sphynx« mit Tanzmainz ist im Rennen um die beste Tanzchoreografie des Jahres. Das Ensemble aus der Domstadt ertanzte die begehrte Auszeichnung bereits 2017 und 2018 mit »Fall Seven Times« für Maria Campos/ Gay Nader und »Soul Chain« für Sharon Eyal. Am 28. Oktober um 11 Uhr gibt Le Patin Libre einen Workshop in der magischen Kunst des vogelgleichen Gleitens. Grundkenntnisse im Eislaufen werden vorausgesetzt. Im Fokus des über Darmstadt, Frankfurt, Offenbach und Wiesbaden verteilten Tanzfestivals steht die französisch-ivorische Choreografin Nadia Beugré mit insgesamt drei Arbeiten. Im Frankfurt LAB wird am 28. und 29. Oktober ihre Arbeit »L’ Homme rare« zu sehen sein, die Geschlechterstereotypen den Kampf ansagt. Fünf Tänzer erforschen darin Tanzstile , die normalerweise als »weiblich« gelesen werden. Weitere Veranstaltungen stellen wir im Novemberheft vor. Das Programm inklusive eventueller Änderungen findet sich in ausliegenden Broschüren sowie unter dem nachstehenden Link.
27. Oktober–13. November in Darmstadt, Frankfurt, Offenbach und Wiesbaden www.tanzfestivalrheinmain.de gt
© Andreas Etter
Immer wieder Tanzmainz
Die Schweizerin Giovanola dekliniert in ihrer Arbeit alle möglichen Formen des Gehens. Für das Strandgut besprach Katja Sturm die Inszenierung »Sphynx« im Juni-Heft (s. Archiv www.strangut.de). Eine Wiederaufnahme ist angedacht. Aktuell führt tanzmainz zwei Sharon-Eyal-Produktionen: »Promise« und das Kultstück »Soul Chain« auf.
Termine »Soul chain«: 8. Okt., 19.30 Uhr; 9. Okt., 18 Uhr Termine »Promise«: 23., 30. Okt., 18 Uhr; 26., 28. Okt., 19.30 Uhr www.staatstheater-mainz.com
Dem zuzusehen, ist wie ein Rausch
hessisches Staatsballett tanzt V/ertigo in Darmstadt und Wiesbaden
Ursprünglich wollte Bruno Heynderickx, der Direktor des Hessischen Staatsballetts, einen ganzen Abend mit zwei Stücken von Damien Jalet füllen. »Thr(o)ugh« hatte der belgisch-französische Choreograf mit dem Ensemble aus Darmstadt und Wiesbaden 2016 erarbeitet, nun sollten die Tänzer*innen auch das von der GöteborgsOperans Danskompani entliehene »Skid« in ihr Repertoire aufnehmen. Für beide Werke ließ sich Jalet von der japanischen Tradition Onbashira inspirieren. Dabei ketten sich Männer an Bäume und rutschen mit diesen zusammen einen Berg herunter. Doch Heynderickx Wunsch erwies sich als zu aufwändig, und so fand der Belgier eine neue Kombination, die nicht minder perfekt zusammenpasst. »V/ertigo«, so der Titel des Doppelprogramms handelt von Leben und Tod und einem Zustand dazwischen. Letzteren kreiert im zweiten Teil das niederländische Geschwisterpaar Imre und Marne van Opstal bei der Uraufführung von »I‘m afraid to forget your smile«. In kupferfarbenem Licht (Tom Visser) sitzen Mitglieder des Opernchors unter der Leitung von Ines Kaun auf zwei Bänken auf der Bühne. Ihnen zu Füßen in dieser an eine Trauerhalle erinnernden Szenerie liegen zwei Tänzerinnen und vier Tänzer, nackt wirkend in ihren hautfarbenen Kostümen. Zu himmlischem Gesang wehren sie sich anfangs noch gegen den Übergang, schlagen mit einzelnen Körperteilen verzweifelt, aber rhythmisch auf den Boden, erheben sich schließlich, um sich den Chorälen anzupassen. Skulpturale Bilder entstehen, Soli voller Leiden und Schmerz mit intensivem Nachhall. Einen deutlich spektakuläreren Lebenskampf zeigt zuvor Jalets »Skid«. Eine acht Meter hohe, weiße Rampe mit einer Neigung von 34,5 Grad nimmt die gesamte Bühne ein. An ihr rutschen die Körper zur elektronischen Begleitmusik von Christian Fennesz herab in den Orchestergraben, anfangs wehrlos der Schwerkraft gegenüber, dann, dank rutschfester Gummisohlen und einer ausgefeilten Technik, nach und nach mehr Halt bekommend. Doch die Kontrolle hält nie lange an. Die Menschen wirbeln dem Abgrund entgegen, werden von anderen mitgerissen, wenn sie mal zum Stillstand kommen und sich einen trügerischen Augenblick lang in Sicherheit wiegen. Der Zufall setzt sie zu Gruppen zusammen, reißt sie wieder auseinander. Doch sie geben nicht auf, versuchen den Sog für sich zu nutzen, sich an ihm aufzurichten, ein ums andere Mal. Gemeinsam, wie eine Bergsteigergruppe, erklimmen sie, mit Polstern an Schultern und Ellbogen gerüstet, auf allen Vieren den Hang. Erst wie Maschinen stampfend, dann immer leichtfüßiger, selbstbewusster, wie Heuschrecken in neue Formationen hüpfend. Ein faszinierender Anblick. Ein Kokon wird gesponnen, ein nacktes Wesen schält sich heraus. Das Aufbegehren gegen das Schicksal, das am Ende immer Verderben bringen wird, fängt von vorne an. Dem zuzusehen, ist wie ein Rausch. Das Publikum bedankt sich für die perfekte Mischung am Premierenabend mit stehenden Ovationen.
Katja Sturm Termine in Darmstadt: 1., 15. Oktober, 19.30 Uhr Termine in Wiesbaden: 28. Oktober, 19.30 Uhr, weitere im November www.hessisches-staatsballett.de