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DIGITAL FASHION
Digital Fashion stellt die Materialität großer Teile der bekannten Supply Chain in Frage. Die virtuelle Welt wird zur neuen Leinwand der Kreativität. Mode schöpfen verliert nicht nur seine zwingende Physis, sondern auch seine Top-Down-Logik. Warum erst kreieren und aufwändig vermarkten, was dann vielleicht nicht gefällt? Angesichts der Klima-Urgenz ein Geschäftsmodell, das dringend überholt werden muss, wollen wir nicht selbst zum Dinosaurier werden.
KISS THE FUTURE
Kann es gelingen, komplexe Fragestellungen der Modeindustrie mithilfe künstlicher Intelligenz und Software zu lösen? Ja, antwortet die von style in progress befragte Community der Experten einstimmig. Und danach wird es vielfältig, denn die Möglichkeiten, die der ganzheitliche Ansatz der Digitalisierung vom Kollektionsentstehungsprozess über 3D-Tools bis hin zur Kommunikation mit dem Endkonsumenten bieten, sind grenzenlos. Sie haben alle eines gemeinsam: Sie eröffnen völlig neue Spielfelder für die Entfaltung grenzenloser Kreativität und schonen gleichzeitig natürliche Ressourcen. Einsparung auf der einen, Expansion auf der anderen Seite und das Ganze nachhaltig – digitale Designtools und systemgesteuerte Prozessoptimierung sind das neue Spielfeld der Mode.
Text: Isabel Faiss. Titelbild: Maro Kim. Fotos: Hersteller
THE FABRICANT – LOSGELÖST VON DER PHYSIS
Wann beginnt ein Produkt zu existieren? Auf dem Papier, als virtuelles dreidimensionales Rendering oder sobald es haptisch erfassbar ist? Kerry Murphy ist auf diesem Gebiet Pionier. Er will die gesamte Denkweise von Mode verändern, sie nachhaltiger machen und Kreativität von physischen Gesetzmäßigkeiten lösen.
Fashionauts sagen sie im Team zueinander. Mit seinem 2018 in Amsterdam gegründeten Unternehmen The Fabricant erforscht der gelernte Filmtechniker und Experte für Special Effects Kerry Murphy die Möglichkeiten digitalen Designs und kreiert virtuelle Mode, die es physisch nie geben wird. Dass der Markt dafür besteht und schnell wächst, sagt ihm keine Glaskugel, sondern die Nachfrage. Es ist ein Zukunftsmarkt. Die Digitalisierung eröffnet der gesamten Branche unzählige Möglichkeiten und grenzenlose Flexibilität, davon ist Kerry Murphy überzeugt. Seine Status-quo Analyse macht Sinn. Immer mehr Menschen pflegen ein digitales Alter-Ego. Und Selbstdarstellung funktioniert eben nicht nur analog, vor allem für junge Menschen verlagert sie sich zunehmend ins Digitale. Für diese Zielgruppe gibt es laut Kerry Murphy kaum noch eine Divergenz zwischen digitaler und analoger Welt. Virtuelles 3D-Design ermöglicht es den Digi-Sapiens, ihre Mode aktiv mitzugestalten. Digitaler Mode sind keine Grenzen durch Materialien, Dimensionen, Saisons, Trends, Passformen oder Preise gesetzt. Das klingt nach dem, was Mode ursprünglich mal war: einem unermesslich großen Raum zum Ausprobieren, Inszenieren und Konsumieren.
Kerry, verraten Sie uns Ihren Business Case: Wie verdient man mit Mode, die es nur virtuell gibt, Geld?
„Eine gute Frage und eine vielschichtige Antwort. Wir haben vier verschiedene Geschäftszweige definiert, wo wir mit Unternehmen zusammenarbeiten. Zum einen ist das die Digitalisierung des Designprozesses in Form von virtuellen 3D-Samples, Lookbooks und digitalen Showrooms. Wir können den gesamten Kollektionsentstehungsprozess begleiten und optimieren. Zum anderen kreieren wir digitalen Content, ebenso wie Marketing- und Anzeigenkampagnen, zuletzt mit Brands wie Puma oder Off White. Das sind die Sparten, in denen sich kommerziell Umsatz machen lässt. Unser vierter Bereich ist der experimentellste, hier geht es um Designs, die es physisch nie geben wird. Wir kreieren ein interaktives Erlebnis und bringen dabei Technologien wie Virtual Reality und Augmented Reality mit ins Spiel. Für viele ist das noch ein völliges Mysterium, wir sind mit dem Thema in einer sehr frühen Phase der Akzeptanz. Ich sehe aber enormes Potenzial, nicht zuletzt für Webstores, Social-Media-Plattformen und die Gaming-Szene. Es sind keine Grenzen gesetzt.
Ein Mysterium ist doch auch, für etwas zu bezahlen, das es faktisch nicht gibt, oder?
Wir experimentieren momentan mit Digital-only-Fashion zwischen einem und 10.000 US-Dollar. Das ist noch in einem so frühen Stadium, dass wir dazu kaum Referenzen hinsichtlich der Preisakzeptanz haben. Sicher ist aber, Virtual Fashion sprengt die Grenzen des physischen Besitzes. Das ist für eine wachsende Zahl an Konsumenten ein nennenswerter Mehrwert für den sie auch bereit sind, Geld zu zahlen. Außerdem löst das ein Problem, das in dieser Zielgruppe große Akzeptanz hat: sie schont die natürlichen Ressourcen und verursacht keinen Müll. Ein gutes Beispiel: Wenn sich ein Influencer Designerkleidung online ordert, um darin einen Post für Instagram zu generieren, und sie anschließend zurücksendet, ist das ein ökonomisches und ökologisches Desaster. Virtuell lässt sich dieses Bedürfnis aber umsetzen.
2018 bespielten sie zwei temporäre Pop-up-Stores in Tokio und Paris – ein Pilotprojekt als Game Changer für den Modehandel?
Das war ein fantastisches Projekt in Zusammenarbeit mit dem Luxusretailer I.T aus HongKong zum 30-jährigen Firmenjubiläum. Wir haben die Jubiläumskollektion virtualisiert und einen Pop-up-Store ohne physische Ware kreiert, der einen Imagefilm und alle einzelnen Teile der Kollektion als animierte dreidimensionale Ansicht zeigte. Auf großen, viereckigen Säulen mit Screens lief die Kollektion mit Designs von unter anderem Helmut Lang, Alexander McQueen oder Marques Almeida. Erst nach der Bestellung wurde physisch produziert. Wir waren 2018 zu einem sehr frühen Zeitpunkt mit dem Thema auf der Fläche, trotzdem war es ein großer Erfolg, weil es gezeigt hat, was mit Digital Fashion alles möglich ist. www.thefabricant.com
ALBERTO LOVISETTO/MONCLER – DER INFORMATIONSINKUBATOR
Als einer der ersten 3D-Designer weltweit legte Alberto Lovisetto Hand an das heiligste Gut der Mode: die Haute Couture. Als der Experte für digitales Design von Sportswear und Luxusmode zuletzt dabei half, Teile der Genius-Kollektion von Moncler virtuell umzusetzen, ging ein Raunen durch die Branche. Dieses Prestigeprojekt stieß auf die globale Pandemie und plötzlich kam so viel Schwung in das Thema Digitalisierung, dass Alberto Lovisetto zum Shootingstar der Szene wurde.
Fotos: Moncler, Alberto Lovisetto
Er sieht das ganz pragmatisch. Digitales Modedesign hat eine Prämisse: Klarheit schaffen, und zwar für alle Beteiligten des Kollektionsentstehungsprozesses. Als Alberto Lovisetto vor fünf Jahren mit Clos3D startete, hatte das nur Vorteile, die auf der Hand lagen: Es gab keine ungeklärten Fragen mehr zu Detaillösungen. Seit zwei Jahren ist er der verantwortliche 3D-Projektkoordinator bei Moncler und beobachtet, wie die Digitalisierung Fahrt aufnimmt. Während der Corona-Pandemie gewann er den globalen Clos3D Designwettbewerb, den KTTA Award 2020. Erfolge wie diese schaffen Öffentlichkeit und belohnen digitales Design mit der Aufmerksamkeit, die es alleine aus wirtschaftlicher Sicht verdient.
Vor zwei Jahren begannen Sie Ihre Arbeit bei Moncler. Inzwischen ist Clos3D dort zum Standard geworden. Wie war das in so kurzer Zeit möglich?
Durch die Pandemie ist die Nachfrage nach digitalen Lösungen exponentiell gestiegen. Plötzlich scheint jeder zu verstehen, was das Potenzial von 3D ist, denn die vielen Vorteile sind eindeutig: Man sieht den Prototypen als fertiges Produkt in den entsprechenden Proportionen und in allen Farbvarianten.
Als Pionier des 3D-Designs haben Sie Teile der Genius Haute Couture von Moncler digital umgesetzt. Ein Meilenstein?
Definitiv. Und eine große Herausforderung. Es war Pionierarbeit, die Möglichkeiten des 3D-Designs mit der Handwerkskunst und den Gesetzmäßigkeiten der traditionellen Haute Couture zu verschmelzen. Ein völliges Neuland für alle. Vor allem für die Schnittdirektricen war es eine unschätzbare Hilfe, durch die virtuelle Ansicht genau zu sehen, an welcher Stelle welches Muster sitzen muss. Ich hoffe, dass die Entscheidungsträger in der Modebranche möglichst bald verstehen, dass 3D als Tool eine sinnvolle Unterstützung ist und kein Staatsfeind Nummer eins. Hier stehen wir aber noch ganz am Anfang.
Verteidigt Italien auch im 3D-Design seine führende Position in der Modewelt?
Bis jetzt ist das Thema und all die Vorteile, die es bringen wird, in der italienischen Modebranche noch nicht vollständig antizipiert. Vor allem die Akzeptanz, dass 3D eine sinnvolle Unterstützung und keine Konkurrenz ist. Wenn es gelingt, digitale Designtools in den traditionellen Kollektionsentstehungsprozess zu integrieren, bringt es enorme Vorteile hinsichtlich Timing und Lead Times, weil es realistische Modelle innerhalb von wenigen Stunden schafft, was interne und externe Kosten spart und Ressourcen schont. Das ultimative Buzzword ist Klarheit. Virtuelle dreidimensionale Samples liefern ein unübertreffbares Maß an detaillierten Informationen für alle Abteilungen und Personen, die am Kollektionsentstehungsprozess beteiligt sind. Die digitale Darstellung ist eine Simulation der Wirklichkeit, denn sie hat die richtige Ästhetik, Schnitt, Proportion, Farbe und Muster. Davon profitiert jeder, auch das Marketing und der Handel für Visual Merchandising oder PoS-Aktionen. 3D ist ein sehr starkes Tool mit Optimierungspotenzial für alle Business-Functions. Für mich ist das unglaublich. Ein weiterer Mehrwert liegt darin, dass virtuelles Design die Distanz zwischen dem Designer und dem Konsumenten auf ein Minimum reduziert. Denn im Idealfall ist der Avatar, auf dem man etwas modelliert, der des Kunden.
Wie wird das Zusammenspiel von digitalen und analogen Designprozessen in Zukunft ablaufen?
Ich würde allen raten, mehr in die Digitalisierung zu investieren, sodass 3D-Design in der Modewelt zum Standard wird. Wenn die 3D-Software in die PLM unserer Zulieferer integriert wird, spart das sehr viel Zeit und Abstimmungsrunden. Das Unternehmen der Zukunft wird auf einem geschlossenen Warensystem basieren, das digital getrieben ist. 3D wird zum Informationsinkubator für die gesamte Branche. Im Moment steigt das Bewusstsein dafür exponentiell an. 2030 wird sich die Durchdringung mit Digitalisierung in unserer Branche meiner Meinung nach verdreifacht haben. www.moncler.com
ALPHATAURI PULL – STATT PUSH
In der Digitalisierung des Design- und Produktionsprozesses sieht Ahmet Mercan, CEO von AlphaTauri, die große Chance für einen Kulturwechsel der Nachfrageökonomie in der Modebranche. Seit Gründung der Marke beschäftigt sich das Unternehmen intensiv damit, Brücken zwischen Online und Offline zu schlagen.
Herr Mercan, Ihr Ziel ist die ganzheitliche Digitalisierung des gesamten Unternehmens. Welche Schritte des Kollektionsentstehungsprozesses sind heute schon konkret von der Digitalisierung betroffen?
Eine unserer Kernkompetenzen innerhalb der Kollektionen sind neben Outerwear 3D-Knits. Alle unsere Strickwaren werden mittlerweile mit der 3D-Knit-Technologie designt. Vorteile sind hier neben einer nachhaltigeren Produktionsweise, nahtlose Strickwaren mit einem deutlich höheren Tragekomfort und Fit. Wir gehen dabei so weit, dass wir auf das individuelle Body-Size-Profil hin maßgeschneiderte Pullover erstellen.
Wo sehen Sie das größte Potenzial und die ökonomischen Chancen?
Für die Modebranche liegt ein großes Potenzial darin, aus einem Push-Markt einen Pull-Markt zu machen. Viel zu lange unterliegt die Industrie schon dem Irrglauben, dass Produkte von Kreativen entwickelt werden und via noch kreativeren Marketingkampagnen in den Markt gedrückt werden, um dort eine Begehrlichkeit zu erzeugen. Viel interessanter und auch nachhaltiger ist doch der Ansatz, Konsumenten-zentriert zu hinterfragen, was der Kunde eigentlich will. AlphaTauri geht auch hier einen Schritt weiter und bietet dem Konsumenten Lösungen für Bedürfnisse an, von denen der Konsument noch gar nicht wusste, dass die Modeindustrie diese bedienen kann. Wie beispielsweise ein auf meine eigenen Körpermaße gefertigter 3D-Knit-Pullover in der gewünschten Farbe und Garnzusammensetzung oder ein wasserabweisender Merinopullover, der nicht funktional ausschaut.
Welchen Einfluss hat die Digitalisierung eigentlich auf die Zusammenarbeit mit Handelspartnern?
Unsere Handelspartner hatten seit der letzten Saison bereits die Möglichkeit, via des AlphaTauri DSA-01 den Übergang zwischen physischem Orderprozess im Showroom und digitalen Zusatztools zu erleben, ohne dabei die menschliche Bindung zu verlieren. Der DSA-01 ist ein eigens für AlphaTauri entwickelter digitaler Sales- und Studioassistent, der es Einkäufern ermöglicht, den Showroom über Teams, Zoom oder ähnliche Programme zu besuchen und zu erleben, um so den Onlineorderprozess zu unterstützen. Ein selbstfahrender Roboter sozusagen, der über eine frei bewegliche Studiokamera verfügt, die auch vom Handelspartner selber durch den Showroom gesteuert werden kann. In Anbetracht der aktuell notwendigen Dynamiken in der Fashionbranche findet der DSA-01 bei uns vielseitige Einsetzbarkeit. So haben wir beispielsweise auch schon Onboarding-Maßnahmen mit neuen AlphaTauri Mitarbeitern über den DSA-01 steuern können.
SIZOLUTION – VIRTUAL FASHION BESTEHT AUS DATEN
Vahe Taamazyan hat eine Vision davon, die Industrie mit ihren bisherigen Produktionssystematiken über cleveres Datenmanagement komplett auf rechts zu drehen. Begonnen hat alles mit der Size-and-Fit-App Sizolution, die seit drei Jahren auf dem Markt und bei zahlreichen internationalen Webstores und Marken im Einsatz ist.
Was Sizolution im ersten Schritt macht, nämlich die Simulation einer virtuellen Anprobe, um über eine Minimierung der Retouren das Onlinebusiness zu optimieren, lässt sich laut Vahe Taamazyan so hochskalieren, dass am Ende alle Seiten profitieren: die Industrie, die Kunden und die Natur.
Vahe, wohin geht die Reise, die ihr mit Sizolution vor rund drei Jahren begonnen habt?
Für uns war die erste Prämisse, das größte Problem des Onlinehandels zu lösen: die hohen Retourenquoten. Der Prozess des Anprobierens war nie Teil des Businessmodells von E-Commerce. Eine Size and Fit App wie Sizolution liefert in erster Linie Daten, den Stoff, aus dem Virtual Fashion mit einem wirtschaftlichen Anspruch besteht. Wir kennen nicht nur die Passform des Kunden, sondern erfahren auch viel über seinen Geschmack und bevorzugte Materialien. Meiner Meinung nach gibt es unendlich viele Möglichkeiten, unser Geschäftsmodell konsequent in weitere Felder der Digital Fashion zu expandieren. Dieses Thema ist super spannend, ein weißes Blatt, von dem noch keiner genau weiß, was irgendwann darauf stehen wird.
Das primäre Produkt von Sizolution ist ein Avatar anhand eines 3D-Scans. Welche Türen öffnet das in Bezug auf Digital Fashion?
Unendlich viele, aber auch das ist eine Frage, auf die es bisher nicht die einzig richtige Antwort gibt. Unsere lautet Hyper Personalization. Wir geben dem Avatar die exakten Maße des Kunden und lassen ihn ähnlich aussehen. Aber es ist kein perfektes Abbild des Kunden, sondern mehr ein virtuelles Model. Glaub mir, niemand möchte sich selbst als 3D-Modell von allen Seiten betrachten, zumindest nicht mit den Renderings, die es momentan gibt.
Was sind realistische Szenarien, wo Digital Fashion die Modeindustrie bereichern und optimieren kann?
Neben dem reinen Nutzen des Schutzes und der Isolation hat Mode viele weitere Soft Skills, allen voran die Selbstinszenierung. Wir verbringen immer mehr Zeit online und auch in dieser virtuellen Parallelwelt haben wir eine Identität und ein Image. Beispielsweise bei Instagram ist die Anzahl deiner Follower Teil deines Images. Heute wird bereits unglaublich viel Mode ausschließlich dafür produziert, um mit ihr virtuellen Content zu kreieren. Sei es in Onlineshops, in der Vororder oder in den Social Media Kanälen. Man stelle sich mal vor, welche Ressourcen eingespart würden, wenn das alles virtuell abgedeckt wäre. Oder wenn ein Onlineshop einem Kunden anhand der Daten über seine Figur, Passform und Stilpräferenz statt 1.000 willkürlicher Produkte 50 exakt passende herausfiltern würde. Und es geht noch einen Schritt weiter: Bisher funktioniert Mode so, dass ein Designer ein Produkt kreiert und es produziert wird, bevor es der Kunde überhaupt sieht. Viel ökonomischer und ökologischer wäre es, den Kunden virtuell ein Produkt aussuchen und anprobieren zu lassen und es dann on demand zu produzieren. An genau diesen Stellen setzen wir an, indem wir die entsprechende Passform des Kunden erfassen. Der größte Vorteil, den Virtual Fashion hat, ist, dass es kein klassische Overhead-Struktur gibt wie bei analoger Mode, keine Logistik, keine Warenbestände, keine Produktionszyklen. Ein digitales Objekt lässt sich viel leichter an die individuellen Bedürfnisse des Kunden ausrichten, Customizing ist innerhalb weniger Arbeitsschritte möglich.
Wie wird das die Kommunikation über Mode verändern?
Stell dir vor, einem Kunden werden nicht mehr x-beliebige Fotos von Produkten als Werbung angezeigt, sondern auf ihn und seinen Stil zugeschnittene hochprofessionelle Renderings von Mode, die ihm passen und gefallen. Das spart allen Beteiligten Zeit, Ressourcen und Arbeit. Jeder Kunde schätzt andere Dinge. Manche wollen möglichst effizient ohne Umwege ein Produkt finden. Andere schätzen die Inspiration, das virtuelle Bummeln. Digital kann man auch die Kommunikation und Werbung auf jeden Kundentypen passgenau zuschneiden. www.sizolution.com
HEIKO SCHÄFER/HUGO BOSS – DAS DIGITALE SPEEDBOAT
Wenn man mit Pionieren des 3D-Designs spricht, nennen sie häufig Hugo Boss als Benchmark. Das Unternehmen aus Metzingen war nicht nur eines der ersten, das die Digitalisierung im Designprozess auch industrieseitig etabliert hat. Es ist sicherlich auch am konsequentesten im Rollout-Prozess und setzt dabei neue technische Standards in der Branche – und das für den gesamten Produktzyklus.
Fotos: Hugo Boss
Als Unternehmen hat die Hugo Boss AG ein paar zentrale Schalter für die Digitalisierung früh umgelegt und seit 2015 kontinuierlich an der Implementierung des Themas in allen Bereichen gearbeitet. Dass sie mit eigenen Produktionsstätten und der nötigen Manpower als Innovationsinkubator am momentan längsten Hebel in der Branche sitzt, definiert Hugo Boss Chief Operations Officer Heiko Schäfer als große Chance und auch als Herausforderung, einheitliche technische Standards für alle zu erreichen.
Herr Schäfer, Hugo ist Ihr digitales Speedboat, mit dem sie Innovationen erst einmal ausprobieren, bevor Sie sie über das Flaggschiff Boss ausrollen. Wie läuft das Rennen aktuell?
Ja, in der Tat bietet Hugo hier die Möglichkeit, Dinge einfacher zu testen. Aber letztendlich stehen sich die beiden Marken heute eigentlich in nichts nach. Wir haben uns wie viele andere erstmals 2017 mit Hugo über den digitalen Showroom an das Thema herangetastet. Im gleichen Jahr kam dann der Zeitpunkt, an dem wir anfangs noch als Projekt mit einem cross-funktionalen Team bestehend aus Designern, Technikern und Experten für 3D-Visualisierung begonnen haben, digitale Tools konsequent in den Kollektionsentstehungsprozess zu integrieren. Die Digitalisierung großflächig auszurollen und neue Standardprozesse zu etablieren, kam 2019. Und 2020 haben wir nun unter Boss die erste voll digital entwickelte Kollektion auf den Markt gebracht.
Von welchen Volumen sprechen wir hier?
Über alle Kollektionen und Marken betrachtet, haben wir mit der Frühjahr-/Sommer-Kollektion 2021 deutlich mehr als 50 Prozent der Styles digital designt und entwickelt. Bei Hugo Menswear liegen wir allerdings schon bei knapp 75 Prozent, bei Hugo Womenswear bei knapp unter 50 Prozent. Auch bei Boss nimmt der Anteil mit immer größeren Schritten zu. Unser Ziel ist es, bis Ende 2022 insgesamt 80 Prozent unserer Kollektionen digital zu entwickeln.
Wenn man Digitalisierung als ganzheitlichen Ansatz betrachtet, wo stehen Sie gerade?
Wir beginnen bereits in der textilen Vorstufe, wo es um die digitale Materialentwicklung und die Digitalisierung bereits vorhandener Materialien geht. Um das Kleidungsstück digital designen zu können, müssen zuerst die Stoffe, Rohmaterialien und Zutaten wie Knöpfe digital verfügbar sein. Momentan arbeiten wir intensiv daran, alle benötigten Materialien mit den entsprechenden Lieferanten digital abzubilden. Da ist unser Status derzeit bei rund 40 Prozent.
Wie gut klappt hier die Zusammenarbeit mit der Vorstufe?
Wir sind in der Branche in der Tat einer der Vorreiter darin, technologische Standards zu setzen. Unser Ziel ist es, unsere Lieferanten ins Boot zu holen, damit wir einheitlich mit einer gewissen Logik arbeiten. Wenn wir keine klaren Vorgaben zu beispielsweise Datenformaten erarbeiten, ist die Kommunikation über die Supply Chain ineffizient und wir verursachen viele Komplexitätskosten bei Lieferanten. Die Herausforderung ist es ferner, nicht nur die virtuelle Erscheinung eines Materials abzubilden, sondern auch die physischen Eigenschaften beispielsweise eines Stoffes voll zu simulieren und ein Kleidungsstück später auf einem Avatar zeigen zu können. Der zweite Schritt ist die Nutzung dieser digitalisierten Materialien im Designprozess und anschließend die gemeinsame digitale Entwicklung eines Styles unter Einbezug der Produzenten. Die Kernfrage ist hier die digitale Interaktion mit der Produktion: Wie können wir sinnvollerweise die Informationen zu einem Style mit einem Lieferanten so austauschen, dass er alle nötigen Informationen relativ einfach für seinen Produktionsprozess umsetzen kann? Am Ende wird das Produkt als 3D-Rendering für den Showroom verwendet und nur noch sehr begrenzt physisch als Sample produziert.
Hugo Boss gibt ein hohes Tempo und einen gewissen Anspruch an den Professionalisierungsgrad vor. Gehen das Ihre Partner in der Branche mit?
Da gibt es eine hohe Varianz. In der Vorstufe ist der Professionalisierungsgrad oft noch überschaubar. Hier sind wir in der Tat dabei, Standards zu etablieren. Für viele unserer Partner in der Produktion sind 3D-Prototypen und Renderings nichts Neues. Die Digitalisierung ist also in vielen Bereichen angekommen.
Welche direkten Auswirkungen hat die Digitalisierung auf Ihre internen Ressourcen?
Dort, wo wir die Digitalisierung konsequent umsetzen, können wir den Entwicklungskalender um bis zu 70 Prozent verkürzen. Geschwindigkeit und Flexibilität sind ein unglaublicher Vorteil. Aber auch in Sachen Nachhaltigkeit sprechen wir von einem deutlich geringeren Materialeinsatz. Über die Prozessstandardisierung können wir Abläufe automatisieren, sind aber auch in der Lage, bessere Entscheidungen in einer frühen Phase der Produktentwicklung zu treffen. Erstens: Corona hat den Prozess der Eliminierung physischer Samples extrem beschleunigt. Wir reden hier durchaus von Beträgen im zweistelligen Millionenbereich, die wir durch die Digitalisierung der Muster einsparen können. Zweitens haben wir unter dem Stichwort Industrie 4.0 in unserem eigenen Werk in Izmir auch digital unterstützte Arbeitsprozesse implementiert. Und drittens setzen wir in vielen administrativen Bereichen Tools wie Robotic Process Automation ein, mit der einfache repetitive Arbeitsschritte durch einen automatisierten Bot direkt im IT-System übernommen werden.
Welche Möglichkeiten sehen Sie hinsichtlich Kommunikation und Einbindung des Konsumenten?
Der nächste logische Schritt ist, dass man die Daten eines 3D-Designs mit denen eines Kundenavatars verknüpft, um dem Kunden eine simulierte Anprobe zu ermöglichen. Auch die Personalisierung von Produkten ist damit einfacher, zum Beispiel im Bereich Made to Measure. Production on demand kann dann später hinsichtlich Nachhaltigkeit ein übergeordnetes Ziel werden.
REGINA TURBINA/REPLICANT.FASHION – KÜNSTLICHE INTELLIGENZ MACHT MODE
In Russland war sie die Erste, die ein digitales Kleidungsstück real verkaufte. Als Regina Turbina 2019 mit ihrem Onlinestore für Virtual Fashion startete, konnte sie es selbst kaum glauben, wie schnell die Nachfrage stieg.
Fotos: Replicant.Fashion
Gerade designte Regina Turbina eine Virtual-Fashion-Kollektion, indem sie mithilfe künstlicher Intelligenz neuronale Netzwerke in Mode übersetzte. Mit Replicant.Fashion zeigt sie, dass grenzenlose Kreativität losgelöst von den Gesetzen der Physik einen Business Case ergeben, den bis jetzt nur wenige auf dem Schirm haben.
Regina, wie verkauft man eigentlich Mode, die es physisch nicht gibt?
Ich verstehe digitale und physische Mode als Einheit. Als ich als erste Designerin in Russland 2019 ein virtuelles Design verkaufte, bekam ich durch die mediale und öffentliche Aufmerksamkeit plötzlich so viele Aufträge, dass es Sinn machte, den Replicant.Fashion-Onlinestore als Plattform für die Community für Virtual Fashion zu launchen. Anfangs haben wir physische Kollektionen von Marken wie Akoa oder Yuliya Yefimtchuk ins Digitale übersetzt und verkauft, später kamen die rein digitalen hinzu. Momentan verkaufen wir zwei Varianten, die digitale und auf Bestellung auch eine physisch produzierte personalisierte Variante des Designs. Das ist ein Geschäftsmodell, an dem auch andere wie The Farbicant, Carlings oder Tribute Brand arbeiten. Dress-X-Marketplace eröffnete ein paar Monate nach uns. Das lässt uns hoffen, dass der Markt schnell wächst.
Mit Replicant.Fashion sind Sie gleichzeitig auch Kurator digitaler Mode?
Ja. Ein gutes Beispiel ist der Contemporary Designer Passgoaltriple. Er hatte immer schon eine einzigartige Vision von Mode und eine eigene Bildsprache. Über Replicant. Fashion kann er diese jetzt mit einem breiten Publikum teilen, ist völlig frei in der Gestaltung und verkauft digitale Mode.
Sie kooperieren auch mit Marken wie Puma. Was hat es damit auf sich?
Es ist so wichtig, dass große Marken Ditigal Fashion als Thema begreifen und ihre Möglichkeiten promoten. Wir haben gemeinsam die erste digitale Puma-Kollektion entwickelt, die nicht nur Influencern zur Verfügung gestellt, sondern bei einem Live-Event präsentiert wurde und anschließend online zu kaufen war. Die Kollektion hieß Unitgravity und die Reaktionen der Kunden, die sie virtuell anprobierten, war fantastisch. Momentan ist die Kollektion bei uns ausverkauft, aber wir hoffen auf eine weitere limitierte Drop-Kollektion. www.replicant.fashion
ESEMPLARE – „DIGITALISIERUNG IST EIN INVESTMENT, KEINE AUSGABE“
Esemplare, die High-End-Outerwearmarke aus Turin, vereint alle wesentlichen Attribute der heutigen Zeit: Innovation, Nachhaltigkeit und Tradition. So aufgestellt möchten Fulvio Botto und Francesco Martorella, Esemplare-Gründer und -Inhaber, auch den deutschsprachigen Raum erobern.
Interview: Janaina Engelmann-Brothánek. Fotos: Esemplare
Bevor Esemplare ins Leben gerufen wurde, haben Sie gemeinsam Pattern gegründet. Wie haben Sie beide sich gefunden und warum dann Esemplare?
Fulvio Botto: Wir arbeiten seit 1987 zusammen. Erst als Kollegen in großen Modefirmen, seit 2000 an unseren gemeinsamen Projekten. Also länger als eine durchschnittliche Ehe (lacht). Die Erfahrung im Bereich Modelling und Prototypen-Entwicklung bei großen Häusern haben uns bestens auf das Unternehmertum vorbereitet und Pattern schnell zu einem Marktführer in Sachen Schnittmuster und Produktion gemacht. 2014 hatten wir den Wunsch, in eine eigene Marke zu investieren und so kauften wir Esemplare. Zu Beginn war es ein reines Kreativlabor, in dem wir mit den neuesten Stoffen und Technologien experimentierten, ehe wir sie Kunden anboten. Vor zwei Jahren haben wir uns entschlossen, strategisch und langfristig eine Marke daraus zu machen, in sie zu investieren und sie sichtbar zu machen.
Was die Digitalisierung der Lieferketten und anderer Prozesse angeht, gehören Sie zu den Vorreitern. Was ist die nächste große Entwicklung?
Francesco Martorella: Wir haben früh in die Digitalisierung 4.0 investiert. Denn Digitalisierung ist ein Invest- ment, keine Ausgabe. Wir haben seit zwei Jahren ein internes 3D-Team. Das hat uns einen enormen Vorsprung während des ersten Lockdowns verschafft, wir konnten ohne Verzögerungen unsere Kollektion präsentieren. Wir arbeiten stetig an der Transparenz und der Verbesserung unserer Lieferkette. Aktuell tüfteln wir an einem neuartigen Lagersystem, bei dem RFID-Etiketten eine tragende Rolle spielen. Doch nicht nur intern: Wir haben soeben eine Esemplare-Jacke kreiert, deren RFID-Etikett alle Infos vom Rohstoff bis zum Finishing enthält, eine Jacke mit integriertem Lebenslauf sozusagen. Ich glaube, dass diese Transparenz der gesamten Lieferkette bald von uns allen verlangt wird.
Esemplare ist bestimmt von Zukunft und Innovation, wie passen da Handwerk und italienische Modetradition dazu?
Francesco Martorella: Wir sind sehr innovativ und haben futuristische Visionen, aber wir sind unserem Land und der handwerklichen Kunst sehr verbunden. Technologie kann viel, aber nicht alles. Wir verarbeiten keinen Stahl, sondern Stoffe und Fasern mit viel Leben und es gibt Dinge, die nur Hände machen können. Dessen sind wir uns bewusst. Wir unterstützen kleinere „eccellenze“ aus unserer Branche und investieren in diese Kleinbetriebe, wenn sie finanzielle Schwierigkeiten haben. Es geht darum, das Können und die Fertigkeit zu bewahren. Fulvio Botto: Das ist für uns, aber auch für die Zukunft wichtig. Wir müssen dem Humankapital angemessenen Wert geben und diese Art von kleineren Unternehmen unterstützen, speziell jetzt. Wir müssen vereint bleiben, uns gegenseitig stärken, Know-how austauschen und aus Synergien profitieren.
ERMINA AVDISHA/NAPAPIJRI – DIE DIGITAL- BOTSCHAFTERIN
Ermina Avdisha vermittel zwischen zwei Welten, die sich ihrer Meinung nach weder gegenseitig ausschließen noch ersetzen: das digitale und das analoge Design. Als gelernte Schneiderin und passionierte Pionierin des 3D-Designs versteht sie beide Seiten. Ihre Vision ist das konsequente Umdenken von Konsum in Bezug auf physische Produkte zugunsten grenzenloser Kreativität.
Fotos: Ermina Avdisha
Sie kommt aus der klassischen Modeproduktion. Als gelernte Schnittdirektrice für Jacken eignete sie sich in der Produktion für Sportswearmarken wie Colmar das entsprechende Know-how an. Parallel verfolgte sie von Anfang an die Entwicklungen im 2D- und 3D-Design und setzt es seit April 2020 bei Napapijri als technische 3D-Design-Spezialistin um.
Ermina, Sie kennen beide Welten und ihre Konflikte. Wie vernetzt man sie?
Anfangs waren das wirklich zwei getrennte Welten und alles wurde in analog und digital kategorisiert. Dank meiner Ausbildung kenne ich die Anforderungen und Problematiken der Produktion und die Lösungen dafür mit 3D-Software. Am Anfang bin ich oft auf Vorurteile gestoßen, es gab bizarre Diskussionen. 3D ersetzt nichts Dagewesenes, es ist eine komplett neue, eigene Welt, die für sich ihre Berechtigung hat. Digitale Designtools helfen uns, Entscheidungen zu treffen, aber das Digitale wird nie das Physische ersetzen.
Was ist mit Digital Fashion noch alles möglich?
Ich könnte mir vorstellen, dass wir in Zukunft viel weniger physische Mode tragen und stattdessen mit der 3D-Technologie die Möglichkeit haben, uns selbst kreativer und individueller zu inszenieren, ohne noch mehr zu konsumieren. Überall, wo das virtuelle das physische Produkt ersetzen kann, macht es Sinn, denn es spart Ressourcen. Vielleicht tragen wir alle irgendwann nur noch schwarze oder weiße Basics auf die durch eine AugmentedReality-Brille individuelle Designs virtuell draufgespielt werden. Digitale Mode ermöglicht uns, unserer Kreativität komplett freien Lauf zu lassen. Momentan hat ein Konsument Zugriff auf eine schier unbegrenzte Anzahl von Kleidung und ein vergleichsweise kleines Maß an Kreativität. Einige Modemarken haben die Aufgabe schon angenommen, kreativ zu sein, ohne noch mehr zu produzieren. Die Technologien dafür gibt es, aber der Konsument muss sie erst annehmen. Bestes Beispiel: Zoom gab es immer schon. Aber es brauchte erst eine Pandemie, damit wir auf die Idee kamen, uns virtuell zu treffen, statt für ein Meeting um die halbe Welt zu fliegen.