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Chile
Auf der Suche nach Würde
Wohnen An den Rändern der Grossstädte Chiles besetzen Menschen leere Grundstücke. Nicht allen gefällt das.
TEXT MALTE SEIWERTH FOTOS CATERINA MUÑOZ RAMÍREZ
Santiago de Chile
CHILE
Soledad Terán wollte den Kindern, wie sie ihre Enkel nennt, ein anständiges Zuhause bieten. «Meine vorherige Wohnung war viel zu eng und zu teuer», sagt sie, ein enges Hinterhofgebäude mit zwei Zimmern. Mehrere dieser Häuschen reihten sich aneinander. Es gab Drogen- und Gewaltprobleme im Quartier. Einmal kam in der Nacht die Polizei, sie stürmte alle Häuser auf der Suche nach einem Bewohner. «Das war kein Leben dort», sagt Terán.
Dann hörte die 60-Jährige vor eineinhalb Jahren von einem besetzten Grundstück, sie bewarb sich beim Gründungskomitee und bekam ein sandiges Viereck. Der Vorbewohner hatte es verlassen, ihm war es zu viel Arbeit, ein Haus zu bauen, und zu viel Unsicherheit, jederzeit geräumt werden zu können. Terán aber liess sich dort nieder, in der Nähe des Stadtflusses Mapocho, im Westen von Santiago de Chile. Vor zwei Jahren besetzten Bewohner*innen der angrenzenden Armenviertel das brachliegende Gelände – am 17. Mai, daher der Name «Toma 17 de Mayo». Über 80 000 Familien leben derzeit landesweit in solchen «Tomas» oder «Campamentos», wie die illegal besetzten und bebauten Landstücke in Chile genannt werden. Seit Beginn der Pandemie hat ihre Zahl um 20 Prozent zugenommen, die dort ansässigen Hausgemeinschaften sogar um mehr als zwei Drittel. Der Name «Toma» kommt vom Verb «nehmen» (tomar) und stellt die Selbstbezeichnung für die neu entstandenen Wohnviertel dar.
Die Wirtschaftskrise, angetrieben durch die Pandemie, hat die Zahl von Wohnungslosen in Chile explodieren lassen. Pia Palacios von der Stiftung Un Techo para Chile (Ein Dach für Chile) zeigt sich besorgt über die aktuelle Situation: Die Wirtschaftskrise habe dazu geführt, dass viele Menschen schlichtweg ihre Wohnungen nicht mehr bezahlen konnten. Die Pandemie mache ein Problem sichtbar, das lange Zeit ignoriert wurde, sagt Palacios. Sie holt zur Erklärung historisch weit aus. Seit den 1990er-Jahren sei der Bau von Wohnungseigentum subventioniert worden, ohne die Qualität, Lage oder Infra-
struktur zu beachten. «Die Folge sind stark segregierte Viertel, abgeschnitten von der Stadt und der öffentlichen Infrastruktur.»
Der Zugang zu Subventionen ist bis heute sehr restriktiv. Man braucht ein Startkapital von mehreren Tausend Franken. In der Praxis erhalten vor allem Familien und gerade einmal sieben Prozent der Bewerber*innen einen positiven Bescheid. Die Regierung ignoriert derweil den Mietmarkt und eine integrale Planungspolitik im Wohnungsbau. Es entstanden Wohnviertel an den Stadträndern. Abgeschnitten von der öffentlichen Infrastruktur lebt hier der arme Bevölkerungsteil der chilenischen Gesellschaft. Schiessereien, Drogenkriminalität und fehlende Perspektiven sind an der Tagesordnung.
Terán wollte dieser Umgebung entfliehen, den Kindern einen sicheren Wohnraum geben und die Gewissheit haben, bei Verlust der Arbeit nicht auf die Strasse gesetzt zu werden. Sie entschied sich für eine Toma. Der Vorteil war auch, dass sich die besetzten Gebiete häufig näher am Zentrum befinden als die neuen Siedlungen. Dies liegt daran, dass sich die Grundstücksbesitzer*innen bislang weigerten, ihre Ländereien zu verkaufen.
So, wie bei der Toma 17 de Mayo: Zwar liegt sie am Rand der Stadt, doch die Verbindungen sind gut. Die Bewohner*innen vermuten, dass die Besitzerin auf eine Wertsteigerung spekuliert hat und deswegen die Parzelle brachliegen liess. Die Lage, neben dem Flughafen und der Autobahn, ist ideal für den Bau von Lagerhallen oder Büros.
Vom Grundstück aus hört man das Rauschen der vorbeirasenden Autos. Es ist heiss und trocken. Der Eingang ist durch ein grosses Metalltor geschützt. Teráns Haus ist ein einfacher Bau aus Holzbalken und Spanplatten. Wellbleche grenzen ihren Garten zur Strasse ab. Das Haus hat grosse Zimmer und ist spärlich eingerichtet, an der Wand hängt ein Bild mit der Jungfrau Maria.
Terán hat weder fliessendes Wasser noch ausreichend Strom. Das ganze Viertel zapft behelfsmässig eine angrenzende Stromleitung an. In der Nacht sinkt die Stromspannung, zum Teil gehen dann die Fernseher aus. Terán zeigt auf eine Waschmaschine, «für die Schleuderfunktion reicht der Strom fast nie», sagt sie. Ein Wasserkanister versorgt Küche und Bad. Umgerechnet zehn Franken zahlt die ältere Frau pro Auffüllung. Der Kanister reicht höchstens eine Woche. Für Menschen ohne Vorratskanister oder mit wenig Geld steht an jeder Strassenecke ein öffentlicher Wassertank zur Verfügung, der von der Gemeinde einmal wöchentlich aufgefüllt wird. Allgemein haben nur sieben Prozent der Menschen in den Tomas Zugang zu Wasserleitungen.
Zwischen Armut und Solidarität
Die zehn Franken für das Wasser sind auch für die alleinerziehende Grossmutter ein Vermögen. Damit könnte sie für eine Woche genügend Brot zum Essen kaufen. Vor der Pandemie bereitete sie Sandwiches für einen Strassen-
SOLEDAD TERÁN
händler zu, doch das Geschäft ist mittlerweile eingegangen. Wie fast alle Bewohner*innen der Toma hält sich Terán mit Gelegenheitsjobs und der staatlichen Nothilfe über Wasser. Die meisten arbeiten informell, ohne feste Anstellung oder Vertrag, viele in den Häusern der Reichen als Handwerker oder Hausangestellte.
Die Armut bestimmt einen grossen Teil des Lebens in der Toma. Es sind Streitereien, meist über die Verteilung des Wassers, aber es gibt auch viel Solidarität und Selbsthilfe, Student*innen bieten Kurse an und Bewohner*innen der benachbarten Viertel bringen Essen vorbei. Zu Beginn der Pandemie gründeten die Frauen der Siedlung eine Suppenküche für alle, die sich kein Essen mehr leisten konnten. Später machten sie daraus eine Genossenschaft. Heute produzieren sie gemeinsam Konserven und backen Brot. Die Genossenschaft besteht ausdrücklich nur aus Frauen, so Terán. Es geht ihnen darum, zusammen Geld zu verdienen, aber auch eine Gemeinschaft zu schaffen. «Wir wollen Frauen dabei unterstützen, gegen ihre gewalttätigen Männer vorzugehen», erzählt die Frau. Regelmässig gebe es Vorfälle von häuslicher Gewalt. In zwei
Vorerst ein Dach über dem Kopf, das sei das Wichtigste, sagt Soledad Terán (Bild oben). Und dass die Kinder in der Siedlung Spiel- und Lernmöglichkeiten haben (links). Das grösste Problem sei fliessendes Wasser; für jene ohne Geld stehen öffentliche Kanister zur Verfügung (unten).
Armut prägt den Alltag der Leute in der Siedlung (Bild oben). Sie sind auf sich selbst angewiesen, Hilfe von den Behörden kommt keine. Eine Kooperative schaut fürs Nötigste. Sie besteht nur aus Frauen, die sich um Sanitäres kümmern (oben rechts) oder um den Verkauf von Hygieneartikeln (rechts).
NICOLAS DACCARETT
Fällen hätten es die Frauen gewagt, gegen ihre Ehemänner Anzeige zu erstatten. Als die Polizei nicht eingriff, warfen sie ihre Männer mit Hilfe ihrer Nachbar*innen aus der Siedlung.
In der Toma kümmern sich die Bewohner*innen um alles selber. Die Besetzung wird von einem Komitee geleitet, das den Strassenplan anfertigte und die Grundstücke verteilte. Man plante sogar ein Zentrum mit einem Fussballplatz, einer Schule, einem Amphitheater und einem Saal für Aktivitäten. Nach zwei Jahren steht etwa die Hälfte der vorgesehenen Infrastruktur.
Auch für die Sicherheit sind die Bewohner*innen selber verantwortlich. Die Polizei bleibt der Siedlung fern. Dies hat auch mit Menschenrechtsverletzungen seit der Protestwelle vom Oktober 2019 zu tun. Damals ging die Polizei so brutal gegen die Bevölkerung vor, dass diese jegliches Vertrauen verlor. «Ich traue meinen Nachbar*innen mehr als jedem Polizisten», sagt Terán. «Wer Mist baut, wird bei uns rausgeschmissen», erläutert sie trocken das Sicherheitskonzept der Toma. Das sei schon mehrfach passiert, bei Männern, die ihre Frauen misshandeln, bei Kriminellen, die in der Siedlung mit ihrer Waffe herumschiessen, oder Typen, die mit Drogen handeln.
Terán ist stolz auf das Erreichte in der Siedlung. Sie geht glücklich durch die Strassen ihres Viertels. Und gibt zu, dass es nicht immer einfach war. «Doch heute ist es schön, hier mit meinen Nachbar*innen zu leben, es gibt viele gemeinsame Aktivitäten und Solidarität.» Der grosse Saal im Zentrum der Siedlung ist ein Symbol dafür, dort fanden vor der Pandemie gemeinsame Abendessen statt. Neben den Eingang wurde ein Brett angenagelt. Daran hängt der Stundenplan der Erwachsenenbildung sowie eine Liste mit Aktivitäten für die Kinder. Im Garten eines Nachbarn findet gerade ein Theaterworkshop statt. Die Nachbarskinder laufen im Kreis, hüpfen über herumliegende Balken und spielen Fangen.
Strafrechtliche Verfolgung
Wie lange das Projekt noch läuft, ist allerdings unklar. Die Besitzerin der besetzten Parzelle klagt derzeit mithilfe von Anwälten gegen die ungebetenen Bewohner*innen. Diese möchten das Land eigentlich kaufen; jede Hausgemeinschaft hat etwa 1200 Franken in einen gemeinsamen Topf gelegt. Das Angebot des Zusammenschlusses lehnt die Besitzerin aber ab. Ihre Anwälte stehen dem rechtskonservativen Präsidenten Sebastián Piñera nahe und verfolgen einen kompromisslosen Kurs: Die Siedlung soll nicht nur geräumt werden, man will die Besetzer*innen strafrechtlich verfolgen. Tatsächlich wird derzeit im Parlament ein Gesetzesprojekt diskutiert, welches die Strafen erhöhen und die Räumung von besetzten Grundstücken erleichtern soll. Es wäre das Aus für Besetzungen in Chile.
Dagegen wehrt sich Nicolas Daccarett vom Architekt*innenkollektiv Habitar Colectivo. «Das Recht auf ein Dach über dem Kopf muss über dem Recht auf Privateigentum stehen», sagt er. Auf lange Sicht müsse die chilenische Verfassung dem Eigentum eine soziale Komponente beimessen. Daccarett meint, Besitzer*innen dürften nicht länger ihre Ländereien brachliegen lassen und auf Wertgewinn spekulieren. Nur so könne das Grundrecht auf Wohnen umgesetzt werden. Sein Ziel ist es, Wohnbaugenossenschaften wie in Uruguay zu gründen. Dort kauft der Staat Ländereien und fördert die Bildung von Genossenschaften, die später selber Stadtviertel entwerfen und bauen. So könne das Recht auf Wohnraum deutlich besser umgesetzt werden als durch private Unternehmen oder dem Staat. Die Gemeinschaft, so Daccarett, könnte ihre Stadtviertel anhand der eigenen Interessen entwerfen und verwalten.
Die Besetzerin Terán blickt in eine ungewisse Zukunft. Sie hat weder einen Plan B noch Geld, um wieder eine Wohnung zu mieten. «Ich habe niemanden, der mir helfen kann. Ich hoffe auf Gott, dass er mich davor bewahrt, auf der Strasse zu landen.»