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Kino
«Meine Texte sind ein Austausch»
RENÉ SENN (69) VERKAUFT SURPRISE IN ZÜRICH.
«Der Autor Stephan Pörtner hilft mir im Workshop von Surprise, meine Texte zu formulieren. Ich erzähle ihm meine Gedanken und Erlebnisse, und er bringt sie in eine literarische Form. Meine erste Kolumne haben wir über Mexiko geschrieben. Ich habe vier Jahre lang dort gelebt, und er kennt das Land von Reisen. So haben wir nicht nur den Text geschrieben, sondern uns auch über unsere unterschiedlichen Erfahrungen ausgetauscht. Für mich war Mexiko eine prägende Zeit, deshalb wurde sie für mich zum Kolumnenthema. Mein Text entstand aus dem Austausch und führte auch zu einem weiteren: Eine Pendlerin, die bei mir regelmässig Surprise kauft, kam nach der Veröffentlichung auf mich zu und erzählte mir, sie sei zur gleichen Zeit in Mexiko gewesen wie ich und habe 1985 auch das Erdbeben überlebt. Aufgrund meines Textes hat sie also gemerkt, dass wir etwas Gemeinsames haben. Als Nächstes will ich über die Globalisierung schreiben. Darüber, wie sich damit das Quartier verändert hat und unpersönlicher geworden ist. Ich verkaufe Surprise seit sechzehn Jahren am Bahnhof Enge. Wenn sich die Gesellschaft verändert, sehe ich das direkt auf der Strasse. Ich habe in Mexiko beobachtet, wie sich das Land mit den Drogenbanden veränderte. Und in Zürich sehe ich die globalen Entwicklungen sogar im eigenen Quartier.»
Wenn es gelingt, den Menschen zu sehen
Kino Drei Transmenschen auf ihrem Weg zu sich selbst: «Sous la peau» von Robin Harsch geht unter die Haut.
Mit gefasster Stimme erklärt der 18-jährige Logan seinen Lehrer*innen, die ihn im letzten Schuljahr noch als Aurélie angesprochen haben, dass er von ihnen in Zukunft als Mann wahrgenommen werden möchte. Er erzählt ihnen, wie er sich seit seinem zwölften Lebensjahr in seinem Körper mit weiblichen Geschlechtsorganen unwohl gefühlt hat. So unwohl, dass er mehrere Suizidversuche unternahm. Zum besseren Verständnis seiner Situation gewährt er ihnen Einblick in sehr intime Bereiche – etwa, dass er sich in Beziehungen nicht anfassen liess oder dass er sich im Alter von zehn Jahren beim Anblick von Jungs wünschte, er könnte so sein wie sie. Die Gesichter der ihm Zuhörenden drücken ebenso Betroffenheit wie Bewunderung aus: Vor ihnen sitzt ein junger Mensch, der ihnen gerade eine Lektion in Selbstwerdung erteilt.
An Logans Seite sitzt eine Mitarbeiterin von Le Refuge, einer Beratungsstelle in Genf, die Jugendliche dabei unterstützt, gemäss ihrer Geschlechtsidentität zu leben. Zum Beispiel bei der Änderung des Vornamens. Oder bei einem Gespräch mit den Eltern. Aufklärung tut not: Viele Eltern fragen sich, ob sie etwas falsch gemacht haben. Einigen gelingt es, am Ende das Kind, den Menschen zu sehen statt den vermeintlich verlorenen Sohn oder die Tochter. Es gelingt schliesslich auch dem Vater von Söan, der lange brauchte, um zu akzeptieren, dass Söan damit begonnen hat, Testosteron zu injizieren. Transmenschen haben gegen viele Vorurteile zu kämpfen . Einige müssen flüchten, so wie Effie Alexandra aus Panama, die ihre tief empfundene Weiblichkeit nicht offen ausleben durfte.
Regisseur Robin Harsch, der den Weg seiner Protagonist*innen während zwei Jahren dokumentiert hat, begleitet Effie Alexandra zu einem plastischen Chirurgen. Den Körper, mit dem sie geboren wurde, empfindet sie genau wie Logan und Söan als eine Last, die sie daran hindert, sich selbst zu sein. «Sous la peau» ist eine Aufforderung an die Gesellschaft, auch Transmenschen ihr Recht auf Selbstbestimmung anzuerkennen. MONIKA BETTSCHEN
AARDVARK FOTO:
Die Texte für die Verkäufer*innenkolumne (regelmässig auf S. 6) entstehen in Schreibworkshops in Zusammenarbeit mit dem Zürcher Autor Stephan Pörtner, der SurpriseRedaktion und in selbständiger Arbeit. Autor*innen der Kolumne lesen ihre Texte bei «Zürich liest» am Fr, 23. Oktober, 20 Uhr. Weitere Infos siehe S. 23. Robin Harsch: «Sous la peau», CH 2019, 85 Min., Dokumentarfilm. Läuft im Stattkino Luzern von Fr, 9. bis Mi, 14. Oktober, 18.30 Uhr und Do, 15. bis Mo, 19. Oktober, 20.30 Uhr; im Kinok St. Gallen am Fr, 9. Oktober, 18.30 Uhr (in Anwesenheit des Regisseurs), Sa, 17. Oktober, 15.10 Uhr, Mo, 19. Oktober, 18.40 Uhr, Sa, 31. Oktober, 12.30 Uhr.