16 minute read

Laura Vogt

Next Article
Martina Caluori

Martina Caluori

Vielleicht der Luchs

TEXT LAURA VOGT

An: Betreff: Kurze Frage

Entwürfe – nicht gesendet

Guten Tag, Frau Weber, ich habe Ihr Video gesehen und frage ganz direkt: Gibt es für eine junge Frau wie Sie nichts Sinnvolleres zu tun, als sich vor der Kamera über die Welt zu beklagen? Gibt es nicht Vielversprechenderes, als per YouTube ihre Tränen zu vergiessen? Sie sind doch nicht dumm, haben einen Beruf erlernt, Verantwortung im Leben übernommen. Raffen Sie sich auf. Ich erlaube mir, Ihnen im Anhang

An: Betreff: Frage

Entwürfe – nicht gesendet

Guten Morgen, Frau Weber, vor einigen Wochen habe ich Ihr Video zum ersten Mal im Internet gefunden, und noch immer ist es aufrufbar. Es erstaunt mich ungemein, dass Sie sich auch nach neunzehn Monaten und 442.463 Aufrufen noch nicht zu schade sind, sich dermassen performativ über das Leid zu beklagen, das ein Nichtleben mit sich bringt. Denken Sie manchmal auch über das Leid der bereits vorhandenen Lebenden nach? Ich würde gerne mit Ihnen darüber

An: Betreff:

Entwürfe – nicht gesendet

Guten Abend, Frau Weber, Mein Name ist Sibylla Mohn. Ich bin 41 Jahre alt, lebe in Zürich, arbeite jedoch derzeit anlässlich eines Waldprojektes kurzzeitig in einem kleinen Dorf in der Nähe von Chur. Wie ich auf Ihren Blog gestossen bin, kann ich nicht mehr genau rekonstruieren. Das tut aber auch nichts zur Sache. Jedenfalls sah ich eines Abends Ihr junges Gesicht in Ihrem Video, die von Tränen glänzenden Wangen. Eine spezifische Art von Verzweiflung in Ihrem Ausdruck unterstrichen Sie, indem Sie mit den lackierten Fingernägeln immer wieder über Ihre Augen und durch Ihr Haar fuhren. Frau Weber, ich verstehe diesen Schmerz und diese Tränen nicht, und das ist der Grund, warum ich Ihnen schreibe. Haben Sie Interesse an einigen spannenden Artikeln, die Ihnen vielleicht sogar über Ihre Trauer hinweghelfen, schneller, als Sie sich vorstellen können? Darin geht es, kurz zusammengefasst, darum: Die Anwesenheit von Schmerz und Leid ist schlecht. Die Anwesenheit von Glück und Freude ist gut. Die Abwesenheit von Schmerz und Leid ist gut. Die Abwesenheit von Glück und Freude ist nicht schlecht. Bitte schreiben Sie mir, oder nehmen Sie um Himmels willen das Video vom Portal! Sibylla Mohn

An: nora-weber@gmx.ch Betreff: Kurze Frage 21. August 2018, 6:44 Guten Tag, Frau Weber, ich habe Ihr Video auf YouTube gesehen und würde Sie gerne treffen. Ist das möglich? Danke, dass Sie sich bei mir melden. Beste Grüsse, Sibylla Mohn

An: SibyMoon@bluewin.ch Betreff: AW: Kurze Frage 21. August 2018, 23:48 Hallo Sibylla, von was für einem Video sprichst du? Da gibt es wohl eine Verwechslung. LG, Nora

An: nora-weber@gmx.ch Betreff: AW: AW: Kurze Frage 22. August 2018, 6:44 Liebe Nora, vielen Dank für Ihre Antwort. Ich verstehe, dass Sie ungern direkt angeschrieben werden, aber Ihre E-Mail-Adresse ist leicht zu finden auf Ihrem Portal. Ausserdem – wenn Sie schon Blogs zu Themen wie «Meine ersten beiden Aborte», «Mein Freund und ich. Wie gut kennen wir uns?», «Wieder schwanger: Ich verrate euch das Geschlecht», «Das erste Babyshopping» veröffentlichen, wird es Ihnen wohl nicht zu persönlich sein, mit mir per Mail (also gleichwohl ziemlich anonym) zu kommunizieren. Ich beziehe mich ausschliesslich auf eines Ihrer älteren Videos: «Geburtsbericht/Stille Geburt». Im Anhang sende ich Ihnen einige Artikel, die für Sie von Interesse sein könnten. Danke, dass Sie mir wieder schreiben. Herzlich, Sibylla Mohn

An: SibyMoon@bluewin.ch Betreff: ??? 22. August 2018, 13:12 Hallo Sibylla, ich habe noch nie ein Video auf YouTube veröffentlicht und habe auch nicht vor, das zu tun. Viel Glück bei der Suche nach der «richtigen» Nora Weber. Alles Gute, N.

An: nora-weber@gmx.ch Betreff: AW: ??? 22. August 2018, 20:21 Liebe Nora, bitte entschuldigen Sie. Ich habe sogleich herausgefunden, wie das Missverständnis zustande kam: statt .com habe ich .ch eingegeben, und so bin ich an Sie und nicht an Ihre Namensvetterin geraten. Kurz zurück zum Video: Es zeigt eine junge Frau Anfang zwanzig, die vor der Kamera darüber weint, ihr Kind tot geboren zu haben. Die hemmungslos ihren Rotz laufen lässt wegen einem nicht (mehr) existierenden Leben. Ein Leben, das so oder so nicht lebenswert gewesen wäre. Darüber und über das Phänomen, unbedingt Nachwuchs in diese Welt setzen zu wollen, wollte ich mit ihr reden. Hast du Kinder? Herzliche Grüsse, Sibylla

An: SibyMoon@bluewin.ch Betreff: AW: AW: ??? 22. August 2018, 22:01 Hallo Sibylla, nur ganz kurz: Es ist echt erstaunlich, auf welche Art du diese Nora (und auch mich) anschreibst; bemerkst du nicht selbst diesen scharfen Ton? LG, Nora

An: SibyMoon@bluewin.ch Betreff: AW: AW: ??? 22. August 2018, 22:49 Hallo Sibylla, ich habe das Video ohne grossen Aufwand auf YouTube gefunden. Im Grunde machst du dich lustig über diese Nora! Woher nimmst du dir das Recht, über eine Person, die du nicht kennst, dermassen zu urteilen? Stört es dich, dass diese Nora öffentlich spricht? Macht dir ihre Emotionalität Angst? Auch mir kommt diese Form von Verarbeitung per Video seltsam vor. Aber: Du brauchst es dir ja nicht anzuschauen. Ich nehme an, du hast keine Kinder? Denn jede Frau, die je ein Kind in sich trug, kann wohl annä-

hernd verstehen, was es bedeutet, es in der 24. Schwangerschaftswoche zu verlieren. Und ja, ich habe eine Tochter.

An: nora-weber@gmx.ch Betreff: AW: AW: AW ??? 23. August 2018, 6:11 Liebe Nora, fährst du Auto? Isst du Fleisch? Fliegst du in die Ferien? Magst du Lachs? Hast du ein Kind? So seltsam es für dich vielleicht klingt, schreibe ich das alles ganz bewusst auf einer einzigen Zeile. Denn wenn auf der Welt weniger Menschen leben würden, würde weniger CO₂ in die Luft gestossen. Es würden weniger Kühe geschlachtet. Weniger Flugzeuge würden starten. Und weniger Plastik würde die Ozeane fluten. Aber die Weltbevölkerung nimmt fortlaufend zu, und so ist es für mich alles andere als nachvollziehbar, warum Frauen wie diese Nora noch immer ihre persönliche Erfüllung in der Fortpflanzung sehen statt eins und eins zusammenzuzählen und für den Planeten zu agieren statt für das eigene Ego! Herzlich, Sibylla

An: SibyMoon@bluewin.ch Betreff: nachtrag 23. August 2018, 6:13 nachtrag zu gestern, ich verbessere mich. nicht jede frau würde so trauern wie diese nora; natürlich gibt es das, das nicht-lieben-können; es gibt frauen, die nicht glücklich werden als mutter; es gibt auch bei glücklichen müttern die verdammt harten phasen, in denen man nicht mehr mag, in denen man sich vielleicht sogar in die zeit zurückwünscht, als das kind noch nicht geboren worden war. als man seinen alltag noch im eigenen rhythmus plante, als man noch nicht gleich stark an geld zu denken brauchte, als man in der nacht durchschlief, als man einfach mal in den zug stieg, um freunde da und dort zu besuchen. aber trotzdem. dein kommentar zum film ist despektierlich, und es interessiert mich, woher deine ablehnung rührt.

An: nora-weber@gmx.ch Betreff: AW: nachtrag 23. August 2018, 6:26 Guten Morgen, Nora, da haben sich unsere Nachrichten frühmorgens gekreuzt. Spannend, dass ausgerechnet Sie selbst den Punkt des Glücks ansprechen. Denn ist es nicht erstaunlich, wie viele privilegierte Mittelschicht-Mütter sich zu allem anderen (siehe meine Mail um 6:11 Uhr) auch noch selbst in einen goldenen Käfig pferchen oder sich von der Gesellschaft pferchen lassen? Ich habe jahrelang als Primarlehrerin gearbeitet und beobachtet, wie sich gewisse Frauen einst fröhlich aufgegeben hatten, um Mütter zu sein, und schliesslich alleine und mit dunklen Schatten unter den Augen zu den Elterngesprächen auftauchten, darüber sprachen, wie anstrengend es ist, Arbeit und Erziehung unter einen Hut zu bekommen … Und wofür? Um Kinder wachsen zu sehen, die der Mutter nicht nur individuell die Freiheit rauben, sondern von Anbeginn ihrer Existenz ihren Part dazu beitragen, diesen Planeten zu zerstören. Lassen Sie, Nora, den Gedanken doch einfach zu, dass es anders, vielleicht sogar besser gewesen wäre, ohne Kind. Nicht nur für Sie, sondern für die Erde …

An: SibyMoon@bluewin.ch Betreff: AW: AW: nachtrag 23. August 2018, 8:33 Hallo Sibylla, sind wir also wieder beim Sie gelandet. Ich frage mich noch immer: Was willst du eigentlich ganz konkret von mir? Einerseits versuchst du mir einzureden, ich wäre glücklicher ohne Kind als mit, und andererseits willst du mir auch noch ein schlechtes Gewissen machen aus Umweltgründen?! Du kennst mich doch gar nicht. Weisst nicht, wie ich lebe, was ich denke, welche Werte ich vertrete. Du kennst meine Definition von Glück nicht, und es wirkt so, als würde sie dich auch nicht im Geringsten interessieren. Auf diese Weise, wie du es gerade tust, andere zu beurteilen, ist natürlich ziemlich einfach. Nora

An: nora-weber@gmx.ch Betreff: Gute Gründe 23. August 2018, 19:56 Hallo Nora, ich habe dich anfänglich verwechselt, aber du scheinst – wenn du erlaubst – durchaus Parallelen zu jener Nora aus dem YouTube-Video zu haben. Was mich insbesondere verwundert, ist eure naive Lebensbejahung (entschuldige die Ausdrucksweise. Aber ich meine es genau so, wie ich es schreibe). Und genau diese Bejahung versuche ich zu verstehen. Damit du meine Ansichten besser nachvollziehen kannst, zitiere ich gerne aus einem Interview mit dem mehr oder minder bekannten Antinatalisten namens Théophile de Giraud: Wie begründet man, dass Nichtleben besser ist als Leben? 1. Der Schmerz, den man im Leben erleidet, ist immer intensiver und anhaltender als das Wohlgefühl. «Vergleichen Sie mal eine Migräne mit einem Orgasmus.» 2. Das Unglück ist immer schon präsenter als das Glück: «Es ist viel schwieriger und unwahrscheinlicher, glücklich zu werden, als unglücklich zu sein.» 3. Glücks- und Unglücksempfinden bringen ein jeweils anderes Zeitgefühl mit sich: «Unglück dehnt die Zeit, Glück komprimiert sie.» In der Summe ergibt das eine Existenz, mit der man besser gar nicht erst anfangen sollte. Glücklich ist, wer nicht geboren wird, sagt Théophile de Giraud, und ich, Sibylla, würde das sofort unterschreiben. Ich frage ganz direkt: Nora, wenn du könntest, dann würdest du das Leben deiner Tochter ungeboren machen, richtig?

An: SibyMoon@bluewin.ch Betreff: AW: Gute Gründe 23. August 2018, 20:14 Sibylla, wenn es ihn gäbe: Würdest du den roten Knopf drücken, der es ermöglicht, das gesamte Leben auf der Erde schmerzfrei und sofort auszulöschen? (Wie du siehst, habe ich in deinen Artikeln geblättert. Ganz ehrlich – deine letzte Mail bringt auf den Punkt, was ich am Morgen zu sagen versuchte. Es geht dir null darum, meine Ansicht auch nur in Ansätzen zu verstehen, meine «naive Lebensbejahung», wie du es nennst. Du willst mir deine antinatalistischen Grundsätze einhämmern, und das brauche ich echt nicht.)

An: nora-weber@gmx.ch Betreff: AW: AW: Gute Gründe 23. August 2018, 20:18 Hallo Nora, ich denke, du kennst meine Antwort auf die von dir erwähnte Frage. Einzuhämmern gibt es nichts. Das alles ergibt sich doch absolut logisch und zweifelsfrei, wenn man sich endlich nicht mehr blenden lässt. Man beobachte nur die Schulkinder auf dem Pausenhof, das ständige Sich-Profilieren und -Vergleichen, das egoistische Gehabe, die systematische Abwertung der Schwächeren. Irgendwann während meiner Karriere als Primarlehrerin ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen: Die Menschen strampeln im Unglück und eine Grosszahl tut trotzdem so, als wären sie glücklich. Der Schein trügt. Herzlich, Sibylla

An: SibyMoon@bluewin.ch Betreff: AW: AW: AW: Gute Gründe 23. August 2018, 22:47

Hallo Sibylla, mal ganz mutmasslich. Du schreibst doch lediglich solches Zeugs, weil du keine Kinder bekommen kannst, und DAS ist dein Unglück. Gib’s zu, du hattest einst welche bekommen wollen, aber es ging einfach nicht. Und daher beobachtest du frustriert jene Eltern, die am Sonntag mit ihrem Nachwuchs im Restaurant frühstücken, die den Kindern beim Spielen zuschauen, die ihnen die Haare aus der Stirn wischen, die Milchschaummünder küssen. Du bist doch einfach neidisch auf ein Glück, das du nicht haben kannst, und darum stellst du dich dagegen. Das ist einfach. Ganz menschlich. Liebgruss, Nora

An: nora-weber@gmx.ch Betreff: AW: AW: AW: AW: Gute Gründe 24. August 2018, 5:24 Hallo Nora, ich verstehe schon, die Löwin geht zum Angriff über … beisst sich mit ihren scharfen Zähnen in zähes Fleisch. Guten Appetit. Sibylla

An: nora-weber@gmx.ch Betreff: AW: AW: AW: AW: Gute Gründe 24. August 2018, 6:02 Und übrigens, um es deutlich zu sagen: Feuchte Milchschaummünder-Küsse machen mich ganz sicher nicht neidisch.

An: SibyMoon@bluewin.ch Betreff: AW: AW: AW: AW: AW: Gute Gründe 24. August 2018, 20:10 Hallo Sibylla, sag mal, habe ich etwa ins Schwarze getroffen? Es geht mich ja gar nichts an, das ist mir schon klar, aber du grübelst dich dermassen vehement in mein Leben, dass ich ebenfalls rübergrübeln möchte, und warum auch nicht. Du mischst mich auf, und ich dich. Auch das: ganz menschlich. Aber ob das was bringt? Ich bin mir unsicher. Und du? LG, Nora

An: nora-weber@gmx.ch Betreff: AW: AW: AW: AW: AW: AW Gute Gründe 25. August 2018, 7:20 Hallo Nora, dann schreib mir doch mal. Von dem, was Glück für dich bedeutet. Von deinen Werten. Deinem Kind. Vielleicht, ja, vielleicht sollte ich es hören. Herzlich, Sibylla

An: SibyMoon@bluewin.ch Betreff: Von mir 25. August 2018, 12:58 Hallo Sibylla, okay, dann schreibe ich nun einfach drauflos, ungeachtet dessen, was bereits war zwischen uns. Nun ja, es ist nicht so, dass ich unbedingt habe schwanger werden wollen. Überhaupt habe ich mir nie ein Leben unbedingt mit Kind vorgestellt. Aber auch nicht unbedingt ohne. Schwanger wurde ich ungeplant, aber gefreut habe ich mich von Beginn an. Und jetzt ist es da, mein Mädchen, und ich kann dir sagen, es gibt nichts Schöneres. Und es gibt nichts Anstrengenderes, klar. Was ist so problematisch am Menschen? Er ist dünnhäutiger, als er tut, er ist lauter, als er sein sollte, und ja, er ist verschwenderisch. Machtgierig. Aber es gibt doch auch dieses andere. Es gibt das Zusammenleben in den Gemeinschaften; es gibt Umarmungen, Verzicht, nicht um des Verzichts willen, sondern um der Lücke willen, die durch den Verzicht entsteht und so schön mit Menschlichem aufgefüllt werden kann. Musik. Gemeinsames Tanzen, mein Mädchen schmiegt seine Wangen an meine Beine, wirft den Kopf nach hinten, und wir drehen uns gemeinsam, bis ich sie hochhebe und umherschwinge, sie lacht laut; die Schönheit in diesem Moment ist etwas, was tief im Menschen verankert ist und das es zu pflegen, hervorzuarbeiten, auf keinen Fall zu verlieren gilt. Dein Pessimismus, ich sag’s dir ehrlich, kotzt mich an. Herzlich, Nora

An: nora-weber@gmx.ch Betreff: AW: Von mir 25. August 2018, 19:41 Hallo Nora, das liest sich recht gut aber … wie du dieses Glück überhöhst. Du lachst, dein Mädchen lacht. Du schwingst es umher, das Mädchen lässt sich umherschwingen. Weisst du, was ich meine?

An: SibyMoon@bluewin.ch Betreff: Tee 25. August 2018, 21:11 Sibylla, jetzt stelle ich mal Fragen. Was isst du zum Frühstück? Triffst du dich mit anderen Menschen, mit Freundinnen? Arbeitest du? Bewegst du dich an der frischen Luft? Folgst du mal einem Bachlauf, hörst du die Vögel im Wald, riechst du den Herbst, ein entfachtes Feuer? Gräbst du mit der Hand in der Erde? Ist das alles nichts, bloss Schall und Rauch? Ich sage ja nicht, dass wir diese Erde nicht verschmutzen, nicht grosse Teile davon zerstören würden. Aber du lässt deine Angst schüren, merkst du das nicht? Ich lache und mein Mädchen lacht, ja. Die Politik spricht von Bedrängnis, Ausweglosigkeit, Erderwärmung, einem Knall, und du sprichst von Bedrängnis, Ausweglosigkeit, Erderwärmung, einem Knall. Möchtest du nicht mal bei mir einen Kaffee trinken? Mit Sojamilch oder Kuhmilch oder ohne Milch oder einfach nur Tee aus frischer Minze direkt aus meinem Garten? Ich weiss nicht, warum ich dich überhaupt bitte, aber: komm doch. Wir wohnen in St. Gallen. Und du? Nora

An: nora-weber@gmx.ch Betreff: AW: Tee 27. August 2018, 6:02 Hallo Nora, der Zufall will es, dass ich ausgerechnet nächstes Wochenende in die Ostschweiz fahre. Ich besuche jemanden dort und könnte einen Abstecher zu dir machen. Welche Zeit würde dir passen, z. B. am Samstag? Und kannst du mir noch deine Adresse nennen? Zu deinen Fragen. Ich arbeite bei einem Waldprojekt in der Nähe von Chur. Hatte ich das nicht geschrieben?

An: SibyMoon@bluewin.ch Betreff: AW: AW: Tee 27. August 2018, 10:45 Liebe Sibylla, 9:30 würde passen, so plusminus, komm einfach, wir sind eh zu Hause. Übrigens, wie reist du denn – aber nicht etwa mit dem Auto …? :-)

An: nora-weber@gmx.ch Betreff: Entschuldige 3. September 2018, 21:36 Liebe Nora, jetzt hab ich mich einfach nicht mehr gemeldet. Du wunderst dich bestimmt schon seit Tagen über mich und fragst dich, warum ich Glucke nicht gekommen bin trotz unserer Verabredung. Ich kann es dir im Moment nicht erklären. Aber eins will ich dir sagen: Entschuldigung. Liebe Grüsse, Sibylla

An: SibyMoon@bluewin.ch Betreff: AW: Entschuldige 4. September 2018, 23:01 Hallo Sibylla, weisst du was? Am Samstag war bei uns eh die Hölle los. Die Kleine hat in der Nacht von Freitag auf Samstag kaum geschlafen, hat mich immer wieder geweckt in ihren Fieberträumen. Heiss war ihr ganzer Körper auch am Morgen noch, und mir blieb nichts übrig als Wickel zu legen und zu versuchen, ihr hin und wieder ein wenig Wasser einzuträufeln. Du kannst dir nicht vorstellen, wie hilflos man sich fühlt, wenn das eigene Kind auf einmal so apathisch wird, so völlig verschoben. Erinnerte mich an die Erzählung einer Freun-

din, die berichtet hatte, eine Person zu kennen, die einst eine Hirnhautentzündung erlitt. Es sei so weit alles gut verlaufen, aber nach der Genesung sei die Person nicht mehr sie selbst gewesen; aus dem einst liebevollen, zurückgezogenen Charakter war eine aggressive, sexuell superaktive Person geworden, die innerhalb weniger Jahre drei Kinder mit drei unterschiedlichen Männern bekommen und mit der Familie völlig gebrochen hatte. Das dachte ich, als ich meinem Mädchen die Stirn abtupfte: wie seltsam schnell man sich an die Art eines Menschen gewöhnt, auch wenn er noch kaum sprechen kann und so klein ist. Jedenfalls habe ich in all dem völlig vergessen, dass du hattest anreisen wollen, und es fiel mir erst am Abend wieder ein, als es der Kleinen ein wenig besser ging. Hatte wohl so sein müssen. Ich weiss, was ich schrieb, wird dir wenig sagen. Ich schicke es dennoch ab oder: TROTZdem. Herzlich, Nora

An: nora-weber@gmx.ch Betreff: AW: AW: Entschuldige 5. September 2018, 8:57 Liebe Nora, du wirst es nicht glauben, aber ich hoffe wirklich, deiner Tochter geht es besser. Ich bin zurück in meiner Zürcher Wohnung, vor meinem Küchenfenster blühen Dahlien. September! Weisst du, als ich vor drei Jahren meine Stelle als Primarlehrerin hinter mir liess, habe ich mich in diversen Garten- und Waldprojekten betätigt. Ich habe Trockenmauern gebaut, Wanderwege zu sichern geholfen und so weiter. Und ja, ich weiss sehr wohl, wie angenehm es ist, die Hand in die Erde zu graben. Diese Kühle. Schön. Und trotzdem: so kurz anhaltend. Denn im nächsten Moment kreisen wieder meine Gedanken im Kopf. Ich lese in der Zeitung von den Flüchtlingen aus Syrien, die ihre Häuser, ihr Land, ihre Familien verloren haben, und es ist doch verrückt: Wie die Menschen immer wieder versuchen, sich etwas zu erschaffen, und wie die Menschen das immer und immer wieder zerstören. Hätte sich nicht der Mensch dermassen drastisch entwickelt – frage ich mich manchmal – hätte sich ein anderes Wesen diese Übermacht genommen? Wäre eine andere Spezies «aufgestiegen»? Oder wäre es zumindest ein wenig friedlicher und ruhiger geblieben auf diesem Planeten? Wir sollten zurück. Alle Nägel aus den Balken unserer Häuser ziehen, das Holz auf die Erde legen und warten, bis es verwittert ist. Wir sollten uns nicht weiter fortpflanzen, Nora, das ist mir in den letzten Tagen nochmals deutlich geworden. Wir sollten es lassen, sollten warten, bis unsere Population so klein ist, dass es nur noch eine Handvoll Menschen gibt auf dieser Erde, und dann schauen wir mal weiter. Der Luchs darf dann regieren. Oder das Reh. Der Wolf und der Fuchs zusammen, was auch immer. Ich nicht. Wir nicht. Gute Nacht: Sibylla. An: SibyMoon@bluewin.ch Betreff: AW: AW: AW: AW: Entschuldige 5. September 2018, 23:01 Liebe Sibylla, wie überraschend, deine Worte, dass du dich auf einmal auf die Erde legen und sinnieren willst. Vor unserm Haus gibt es einen kleinen Garten, mit Betonung auf «klein», aber genug gross für dich, mein Mädchen und mich. Das Teeangebot steht noch. Komm vorbei, wenn du magst, und wir reden. Herzlich, Nora

LAURA VOGT, geboren 1989 in Teufen (AR), studierte Kulturwissenschaften in Luzern und Literarisches Schreiben in Biel. 2016 erschien ihr Debüt «So einfach war es also zu gehen» (VGS St. Gallen), 2020 folgte der Roman «Was uns betrifft» (Zytglogge, Basel). Sie schrieb neben Prosa auch lyrische, dramatische und journalistische Texte und ist als Schriftdolmetscherin und Mentorin tätig. Derzeit arbeitet sie an ihrem dritten Roman. Der vorliegende Text wurde erstmals veröffentlicht in «Geografie der Freiheit – John-Berger-Projekt», Vexer Verlag, 2019.

ANZEIGE

This article is from: