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Weltuntergang oder Paradies?

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(Un)guter Hoffnung

(Un)guter Hoffnung

Der Kurs der Digitalisierung ist nicht vorgegeben. Wir haben es in der Hand, mitzusteuern und dafür zu sorgen, dass das Digitale nicht exklusiv bleibt.

Die Digitalisierung wird uns als Chance verkauft: Sie verspricht die Demokratisierung des Wissens, den Austausch über die Grenzen von Nationen und Sprachen hinweg, sie bietet Bequemlichkeit und Effizienz. So starteten wir vor einigen Wochen in diese Serie über die schöne neue digitale Welt. Wir wollten herausfinden, wer auf diese Reise mitgenommen wird und wer nicht – und ob sie wirklich hält, was ihre Werber*innen versprechen.

Schnell wurde klar, dass die Digitalisierung eine ganze Liste von Gefahren im Gepäck mitschleppt: Überwachung, Eingriffe in die Privatsphäre, Ausgrenzung oder Diskriminierung. Lauter Risiken, die sehr ungleich in der Gesellschaft verteilt sind. Denn: Wer schon ein paar Jahre auf dem Buckel hat, arm oder schlecht gebildet ist, findet sich schnell auf der «falschen» Seite des digitalen Grabens (siehe Surprise 548/23). Dort, wo Digitalisierung vor allem Überforderung und Ausschluss bedeutet. Diesen Menschen bleibt die schillernde Welt des vernetzten Lebens und die Leichtigkeit, alles mit einem Fingerwisch zu erledigen, verwehrt. Also stellten wir uns die Frage: Wie lassen sich diese Menschen dennoch mitnehmen? Denn die analoge Welt ist eine aussterbende: Bargeld, Ticketautomaten und menschliche Kontakte am Schalter fallen immer weiter reichenden Rationalisierungsmassnahmen zum Opfer.

Die Digitalisierung schliesst aber nicht nur aus und lässt alle zurück, die «nicht spuren». Sie zementiert auch bestehende Machtverhältnisse und unterdrückt jene, die ohnehin nicht auf der Sonnenseite leben (siehe Surprise 553/23). Mit ihren tausenden Augen, gierigen Datenspeichern und endlosen Vernetzungsmöglichkeiten analysiert und überwacht sie das Leben von uns allen. Das Resultat: Grundrechte, Privatsphäre oder das Recht auf Selbstbestimmung vor allem von Ausländer*innen und Migrant*innen werden mit Füssen getreten – alles unter dem Deckmantel der Sicherheit.

Und schauen dorthin, wo sie Teilhabe an der Gesellschaft ermö glicht. 5.18

Gibt es denn gar keine Hoffnung, dass die Digitalisierung auch Gleichberechtigung und Fairness bringen kann? Dass sie etwas zum Guten in der Welt beiträgt?

Wir fragen bei Estelle Pannatier nach. Die 28-Jährige ist politische Anthropologin und arbeitet bei AlgorithmWatch Schweiz. Sie untersucht die Einflüsse von algorithmischen Systemen auf uns und unsere Gesellschaft. «Digitale Technologien sind soziale und technische Konstrukte», erklärt sie. «Als solche fliessen unsere Werte in diese ein. Sie sind von Menschen erdacht, entwickelt und eingesetzt.» Mit anderen Worten: Wenn wir bloss wollten, könnten wir die digitale Welt durchaus so gestalten, dass sie für alle da ist. «Wir müssen aber aufpassen, dass wir die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen, sonst reproduzieren wir einfach die bestehende Ungleichheit oder verschärfen sie sogar», warnt Pannatier. Das bedeutet: Wir sollten darauf achten, dass bestehende Diskriminierungen nicht einfach reproduziert werden, wenn zum Beispiel Algorithmen Lebensläufe und Bewerbungen auf ihre Eignung hin prüfen (siehe Surprise 552/23). Dass in der Vergangenheit mehr Männer eingestellt wurden, bedeutet ja nicht, dass das auch in Zukunft so sein muss. Gerade in diesem Bewusstseinswandel sieht Pannatier auch das Positive. Die Debatte über die ver- schiedenen Seiten der Digitalisierung rücke bestehende Machtgefüge in den Blick. Wenn wir uns mit den negativen Folgen von digitaler Überwachung, wilder Datensammlung oder den Vorurteilen in Algorithmen beschäftigen, merken wir gleichzeitig auch, «wo wir als Gesellschaft aktuell stehen und wo wir in der Vergangenheit waren». Wenn wir uns mit der Diskriminierung von Gesichtserkennung auseinandersetzen – die mit weissen Männern zum Beispiel besser zurechtkommt als mit Frauen oder PoC (People of Colour, wird als Selbstbezeichnung von vielen rassifiziert gelesenen Menschen verwendet) –, so wirft das auch ein Schlaglicht auf den alltäglichen Rassismus. Ein Rassismus, der gänzlich analog ist. «So lädt die Digitalisierung auch ein, uns zu fragen, ob wir so weitermachen wollen», sagt Pannatier.

Das hört sich gut an. «Leider liegt der Fokus aber noch zu oft ausschliesslich auf Effizienzsteigerung und technologiegetriebener Innovation», relativiert Pannatier sogleich. «Im schnellen Wandel wird zu selten auf die Konsequenzen für alle Menschen geschaut.» Entsprechend fordert sie, dass in der Bewertung der Digitalisierung viel mehr ökologische und soziale Aspekte hervorgehoben werden müssten. «Das Ziel muss eine Entwicklung sein, die für Menschen, Individuen und die Gesellschaft Gutes schafft – und nicht bloss Profite für wenige.»

Kein Stein mehr auf dem anderen Wie gelingt das in einer Welt, die sich rasend entwickelt und von den spektakulären Versprechungen der Industrie vereinnahmt ist? Gerade jetzt, da die sogenannte generative Künstliche Intelligenz – also Programme, die innert Sekunden aus bestehenden Daten völlig neue und kreative Inhalte erstellen können – unsere Welt radikal verändern könnte, lohnt sich ein Blick zurück.

Die transformative Kraft und Geschwindigkeit der Digitalisierung lässt sich mit einer rasanten Pickup-Fahrt vergleichen. Wer am Steuer sitzt, gibt die Richtung vor. Diejenigen auf der Ladefläche müssen sich festhalten –oder sie werden in der nächsten Kurve einfach abgeworfen. Mit jedem sogenannten «iPhone-Moment» nimmt der digitale Pickup dabei weiter an Fahrt auf. Solche Zäsuren unterteilen die Welt in ein Davor und ein Danach –ein Schritt zurück ist kaum mehr möglich. Wie eben 2007, als Apple-CEO Steve Jobs der Welt das erste iPhone präsentierte. Damit legte er zugleich den Grundstein für die

Digitale Meilensteine

Entwicklung der Nutzer*innenzahlen des Internets weltweit digitale Vernetzung aus der Hosentasche. Dass wir heute an der Migros-Kasse mit Twint bezahlen, unsere Beziehungen über Tinder und Bumble aufgleisen und per Videochat mit unseren Liebsten und Verwandten über tausende Kilometer verbunden bleiben, sind alles Folgen dieses Moments – nicht nur negative.

Und es ist natürlich nicht der einzige transformative Moment in der Geschichte der Digitalisierung – von denen jeder mit je eigenen Grautönen versehen ist. 1999 leiteten Filesharing-Dienste und die grossflächige Verbreitung von mp3-Dateien einen Umbruch der Musik- und Unterhaltungsindustrie ein. Wir tummelten uns auf Plattformen, um «Millenium» von Backstreet Boys oder das Debutalbum von Gorillaz herunterzuladen. Dass sich unsere Geräte dabei ab und zu einen Virus einfingen, war ein unvermeidbarer Kollateralschaden. Zwei Jahre später kam der erste iPod auf den Markt – und damit die Möglichkeit, die gesamte Musik-Bibliothek inklusive allenfalls peinlicher Vergnügen digital mit sich zu tragen. Das CD-Gestell ist seither vielerorts nur noch Dekoration –und Spotify und Netflix gehören heute zu den umsatzstärksten Digitalunternehmen.

2001 startete Wikipedia ihren Dienst – und ermöglichte allen im Internet verbundenen Menschen beinahe uneingeschränkten Zugriff auf Wissen. Wie man konkretes Wissen findet, gleiste Google 1998 mit seiner Suchmaschine auf. Im Gepäck trug Wikipedia auch das Versprechen einer Demokratisierung des Wissens. Nie war es einfacher, Gesagtes, Gesehenes und Gehörtes auf Wahrheit zu überprüfen. Schon drei Jahre später wurde die Idee des digitalen «sozialen Netzwerks» geboren. Was früher ein loses Netz aus Freundschaften, Bekannten und Familien war – geknüpft an Geburtstagsfesten, in Schulklassen oder auf der Arbeit –, transformierte sich mit Facebook in ein digitales Archiv von «Friends», «Likes», Ferien- und Partybildern.

Im Schlepptau verwandelte 2009 WhatsApp unsere tägliche Kommunikation und die Vorstellung, was es bedeutet, miteinander verbunden zu sein. Nur zwei Jahre später befeuerten soziale Netzwerke massgeblich die ägyptische Revolution und andere Graswurzelbewegungen wie Occupy.

Es war ein weiterer «iPhone-Moment», der in seiner Ambiguität besticht: Demokratische Bewegungen sind heute ohne digitale Tools kaum mehr denkbar. Gleichzei-

1999

Individuelle Nutzer*innen in % der Bevölkerung Schätzung 2022 tig hinterlassen sie Spuren im Netz und bieten mehr oder weniger autoritären Staaten die Möglichkeit, mit Überwachung und digitaler Repression Gegensteuer zu geben. Kein Wunder, versuchen Staaten die heute standardmässige Verschlüsselung von WhatsApp-Nachrichten bereits wieder zu untergraben – sei es mit Spionageprogrammen wie Pegasus oder mit der Verwässerung von Verschlüsselung. Und die Freude und Möglichkeiten des Vernetztseins werden immer wieder durch den Druck getrübt, ständig online zu sein. Von den Gefahren durch Fake News, die nicht nur in den sozialen Medien ihre Runden drehen, brauchen wir nicht extra zu sprechen.

Filesharing führt zu einer radikalen Transformation der Unterhaltungsindustrie, die in den heutigen Streamingdiensten mündet.

Mit dem Beginn der Pandemie nahm die Digitalisierung des täglichen Lebens 2020 vor allem in digital gut vernetzten Ländern wie der Schweiz massiv an Fahrt auf: Videochats, Homeoffice und QR-Codes wurden zum Kitt, der uns in der Isolation und darüber hinaus zusammenhielt. Doch sie zeigten auch, was uns fehlt, wenn wir uns nur noch über viereckige Fenster und eine stockend übertragene Stimme austauschen. Die Geschwindigkeit, mit der gesellschaftliche Prozesse digitalisiert wurden, liess nochmals viele von der Ladefläche unseres digitalen Pickups purzeln – ohne dass man ihnen zuhörte oder sie wahrnahm.

2011

2022

Generative KI-Modelle zeigen, wie einfach sich viele kreative Arbeiten künstlich erledigen lassen und führen zu Angst vor Jobverlust und dem Verwischen der Wirklichkeit.

2020

Mit der Covid-19-Pandemie intensiviert sich die Digitalisierung des täglichen Lebens, aber sie hilft in der sozialen Isolation auch gegen Einsamkeit und Ausgrenzung.

2016

Die Arbeit von Cambridge Analytica verdeutlicht, wie unsere Daten zur Beeinflussung demokratischer Prozesse genutzt werden können.

2009

Mit WhatsApp wird unsere tägliche Kommunikation digital und breit verfügbar. Doch wir hinterlassen damit auch immer mehr digitale Spuren im Netz.

2001

Erster iPod

Wikipedia leitet die sogenannte Demokratisierung von Wissen ein.

2007

2013

Edward Snowden macht die Gefahren durch staatliche Überwachung des digitalen Raums bewusst und betont damit die Wichtigkeit von digitalen Grundrechten und Privatsphäre.

2011

Die Ägyptische Revolution und Occupy Bewegungen werden massgeblich durch digitale Plattformen und soziale Netzwerke geprägt.

Das erste iPhone erlaubt es, die digitale Welt in der Hosentasche zu tragen und immer vernetzt zu sein – aber auch immer online verfügbar sein zu müssen.

2004

Facebook erfindet das «soziale Netzwerk» neu und legt gleichzeitig den Grundstein für Filterblasen und die Verbreitung von Fake News.

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