Leseprobe "Gesa. Verrat im Kastell Bürgel"

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Gesa Leseprobe

VERRAT IM KASTELL BÜRGEL

Alexander Raabe



Alexander Raabe

Gesa VERRAT IM KASTELL BÜRGEL

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ÜBER DEN AUTOR Alexander Raabe, Jahrgang 1967, begeisterte sich schon in seinem Geschichtsstudium für die steinernen Zeugen der römischen Zivilisation im Rheinland. Mit ebenso viel historischer Akribie wie dramatischer Erzählkunst erweckt er die Bewohner des Kastells Bürgel, in dessen Nähe er lebt, wieder zum Leben.

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F端r Jana, Magnus, Hagen und Mecki

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Das Kastell B端rgel und seine Umgebung. 6


Rรถmische Provinz Unweit der Stadt Trier September 356

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I. Gesa schreckte auf. Die junge Frau fand sich in dem Haus wieder, in dem sie eingeschlafen war. Sie war allein. Ihr Mann lag nicht neben ihr, aber die Ziegen und Schafe, mit denen sie den Platz in dem Langhaus teilte, schrien vor Angst. Dann hörte sie die Stimme der alten Gudrun. »Sie töten uns!« Ihr Kreischen stellte Gesa sofort auf die Beine und brachte sie dazu, zur Tür zu laufen und sie zu öffnen. »Die Kinder! Holt die Kinder!« In der Dunkelheit waren Bewaffnete mit Fackeln zu erkennen. Der ganze Dorfplatz war voll von ihnen. Soldaten des Kaisers Constantius waren es nicht, denn ein Drachenbanner war nirgendwo zu sehen und die Gesichter der Fremden waren schwarz vom Ruß. Es mussten Franken sein, die seit einiger Zeit den Landstrich verwüsteten. Das alles schoss der überrumpelten Gesa durch den Kopf, als sie mit ansah, wie der alte Nordwin von einem Speer durchbohrt wurde und zu Boden fiel. Er lebte noch, als man seine Tochter unter Schlägen aus dem Haus zerrte und vor seinen Augen vergewaltigte. Einer der Plünderer, die die weinende Almut am Boden festhielten, sah Gesa in der Türe stehen und lachte bei ihrem Anblick hässlich auf. Das helle Haar hatte sie verraten, aber sie konnte sich nicht bewegen, stand wie gelähmt an Ort und Stelle. Ich muss fort! Zum Wald!, dachte sie und wusste nicht, wie sie das anstellen sollte. Erst als mit einem Male von irgendwoher 8


warmes Blut auf ihr Gesicht spritzte, gehorchten ihr die Beine. Sie trat zurück ins Haus und verriegelte die Türe. Ihre nackten Füße klatschten über den gestampften Lehmboden des Hauses. Nur wohin? Das eigene Haus drohte zur Falle zu werden, denn bis auf die versperrte Türe gab es keinen anderen Ausgang. Keine Tür. Kein Fenster. Ihr fiel ein, dass das Strohdach über dem Stall undicht war, ihr Mann hätte es längst reparieren sollen. Hektisch stieg sie über das Gatter, das den Wohnbereich von den Tieren trennte, und schubste dabei die gleichen Tiere beiseite, bei deren Geburt sie geholfen hatte. Gesa riss fauliges Stroh über ihrem Kopf heraus und legte alle Kraft hinein, um das Flechtwerk und das Stroh auseinanderzudrücken und so ein Loch zu schaffen, groß genug, um dort hinausklettern zu können. Strohhalme gerieten ihr in den Mund, trafen ihre Augen, aber das Unmögliche gelang. Plötzlich gab das Dach nach und machte ihr Platz. Gesa zog sich zur Öffnung empor, als die Feinde schon gegen die Tür des Hauses schlugen. Keuchend vor Anstrengung konnte sie sich endlich durch das Dach stemmen wie durch eine Eisplatte. Die Göttin Freya wachte über sie, denn in diesem Teil des Dorfes war alles ruhig. Von ihrem erhöhten Ausguck aus war niemand im Mondlicht zu sehen, während am anderen Ende des Hauses die Türe unter den Schlägen der schwarzen Bestien zu knirschen begann. Das Geräusch trieb Gesa zur letzten Anstrengung, nur dass sie, noch halb im Dach feststeckend, das Gleichgewicht verlor und mit zu viel Schwung vornüberkippte. Sie suchte mit Händen und Füßen Halt im Stroh, bekam nichts zu packen und fiel jenseits des Hauses zu Boden. Der Aufprall war hart, aber die Furcht trieb Gesa weiter. Der Hüftknochen pochte und das ganze Bein war wie gelähmt, als 9


sie möglichst schnell über den Zaun eines Gemüsegartens stieg. Weiter ging es über die Weide, wo jeder sie sehen konnte, und endlich tauchte sie in den Wald ein, in die Dunkelheit – auch wenn dort ohne jede Vorwarnung Dornen an ihren Haaren und der Kleidung zerrten und sie zu guter Letzt in ein Brennnesselfeld fiel. Atemlos sah sie sich um. Gesa wusste, dass sie nicht im Unterholz bleiben durfte. Und so kletterte sie erneut, diesmal auf den erstbesten Baum, der ihr hoch genug schien. Ob sie sich dabei an vorspringenden Ästen verletzte oder mit ihrem Wickelgewand hängenblieb, war ihr gleichgültig. Nur hinauf. Erst dort oben hatte sie den Mut zurückzusehen. Durch die löchrige Kuppel aus Blättern und Zweigen bemerkte Gesa das Flackern der Feuer, dort, wo das Dorf sein musste. Die Schreie der Bewohner, die um ihr Leben flehten, das Lachen der Männer und das Tosen der Flammen erreichten sie sogar hier – ebenso wie der durchdringende Gestank von verbranntem Fleisch. Gesa würgte vor Ekel und begann zu weinen – aus Angst um diejenigen, die bisher ihr Leben ausgemacht hatten. Aus Angst um ihren Mann, für den sie das Schlimmste befürchtete. Am meisten beweinte sie jedoch das abrupte Ende ihres friedlichen Lebens. Ihre Sippe lebte seit vielen Generationen im Schutz der nahen Stadt Trier, in der vor gar nicht allzu langer Zeit sogar der Kaiser residiert hatte. Die Alten konnten noch Geschichten von diesem Constantin, den sie den Großen nannten, erzählen. Die ganze Nacht hockte Gesa auf dem Ast und sprach dabei zu Freya, ihrer Schutzgöttin. Und Freya hörte ihr Flehen. Bis zum Morgen fand sie niemand. Der neue Tag begann mit Regen. Er fiel auf Gesas Haut, durchnässte ihr Haar und die zerrissene Kleidung. Er erstickte das Feuer, so dass der feuchte Waldgeruch sich mit dem des Rauches und des verbrannten Fleisches mischte. Weit mehr als 10


der Gestank des Todes machte ihr jedoch die Stille zu schaffen, denn die Schreie der Nacht steckten die ganze Zeit über in ihrem Kopf und ließen ihr keine Ruhe, während der Regen unablässig vom Himmel fiel. Gesa blieb den ganzen Tag und die folgende Nacht in ihrem Baumversteck und kletterte, trotz der schmerzenden Hüfte, sogar höher, um auf einer breiten Astgabelung so etwas wie liegen zu können. Durchnässt und frierend wartete sie in der Eiche auf irgendetwas und starrte vor sich hin. Der Schlaf wollte allerdings nicht zu ihr kommen. Erst als am nächsten Morgen die Sonne die Wolken auflöste und den Wald in einen bronzenen Dunst tauchte, hatte sie den Mut, ihr Versteck zu verlassen. Sie wollte in den Ruinen ihres Dorfes nach Überlebenden, nach Essen und trockener Kleidung suchen. Mit steifen Armen und Beinen ließ sich Gesa vom Baum herab und schlich an den Rand des Waldes. Was sie dort, zwischen dem Dorf und dem Wald, sehen musste, ließ sie erstarren. Mitten auf der Weide lag der nackte, kopflose Körper eines Menschen im Gras, die Beine weit gespreizt und selbst nach dem Regen noch voller Blut. Es war eine Frau. Eine junge Frau. Nicht älter als sie selbst. Und etwas steckte in ihrer Scheide. Ein Messer. Jedenfalls war der Griff gut zu erkennen. Gesa blieb im Unterholz und erbrach sich, während in ihrem Kopf diejenigen erschienen, die in Frage kamen: Sigrun mit ihrer Stupsnase oder die schielende Svea, möglicherweise auch Osrun, Gesas beste Freundin. Mit ihr selbst diejenige, der die jungen Männer des Dorfes in der letzten Zeit am meisten nachgestellt hatten. Gesa kletterte über den Weidezaun und ging vorsichtig auf die geschändete Leiche zu. Sie bemerkte den blauen Fleck am Schienbein der Toten und erkannte schließlich die Prellung. Es war tatsächlich ihre beste Freundin Osrun, die dort lag. 11


Gesa würgte und hustete, zwang sich jedoch weiterzugehen. In ihrem regennassen Gewand, das kalt an ihrem Körper klebte, wankte sie an der Verstümmelten vorbei, die Augen starr nach vorne, auf die Überreste ihres Dorfes gerichtet. Ihr war kalt. Am ganzen Körper zitternd kletterte sie erneut über den Zaun, umrundete das, was von ihrem Haus übriggeblieben war, bis sie auf dem Dorfplatz stand. Da war der Schmied, der erst letztes Jahr aus Trier zu ihnen gekommen war. Die Plünderer hatten ihn ans Tor genagelt wie diesen Mann, den er angebetet hatte, ihm außerdem den Brustkorb aufgebrochen wie bei einem geschlachteten Schwein. Gesa stand fassungslos inmitten der Menschen, die bisher ihr Leben begleitet hatten. Ihre Kadaver lagen in Pfützen aus Regen, Gedärm und Blut: Kinder und Alte, Frauen und Männer – entstellt, zerstückelt und geschändet. Lautlos weinend nahm sie ein Paar Sandalen vom Boden, fand einen leeren Beutel neben der zerstörten Töpferei und stopfte ihn mit allem Essbaren voll, das die Plünderer zurückgelassen hatten. Auch den alten Kapuzenmantel, den sie immer beim Hüten der Schafe getragen hatte und den sie neben einer abgeschlagenen Frauenhand entdeckte, stopfte sie hinein. Plötzlich fiel ihr Blick auf ihren Mann Bernulf, sein Kopf steckte in einem Futtertrog. Gesa wurde schwarz vor Augen. Sie fiel zu Boden und schrie, schlug ihren eigenen Kopf gleich mehrmals gegen die Holzwand des Troges. Das war genug. Es ging nicht mehr. Sie hatte nicht mehr die Kraft, um zwischen Trümmern und Leichen weiter nach Nahrung zu suchen, und lief in den Wald zurück, zu der Eiche, die ihr das Leben gerettet hatte. Am nächsten Morgen begann sie ihren Marsch ins Ungewisse, in eine fremde Welt, von der sie nicht mehr kannte als das, was bis zu einer Wegstunde von Zuhause entfernt gewesen 12


war. Sogar die Stadt Trier kannte sie nur aus den Berichten der Männer, die einmal im Monat dort die Erzeugnisse des Dorfes zum Kauf oder Tausch angeboten hatten. Und so ging die Siebzehnjährige zwischen den Bäumen und Felsen der Eifel nach Norden, ohne diese Richtung bewusst gewählt zu haben. Den Blick hielt sie die ganze Zeit über gesenkt und flüsterte auf ihrem Marsch andauernd die Namen der Menschen, die in jener Nacht ermordet worden waren. In ihrem Schmerz merkte sie nicht, wie der erste Tag ihrer Reise endete. Ihr war ebenso wenig bewusst, dass sie sich mitten in der Nacht wie ein Tier ins nasse Laub wühlte. Sie war nur froh, sofort einzuschlafen, glaubte irgendwann aber, beobachtet zu werden. Und wirklich wurde sie von einem Stoß gegen die schorfigen Knie geweckt. »Wach auf!« Das Licht blendete. Über sich erkannte Gesa die Umrisse von drei Männern. Sie trugen Kettenpanzer, auf denen Blut getrocknet war. Ihre Hosen waren ebenfalls zerrissen und schmutzig. Einer von ihnen hatte einen Verband um den Kopf. Auf dem ovalen Schild dieses Mannes sah sie das Zeichen der kaiser­lichen Soldaten. Die Gesichter konnte Gesa gegen das Sonnenlicht nicht erkennen, aber sie war gerettet. Das waren keine Plünderer. »Ein hübsches Ding.« »Auch nicht zu mager.« »He du, wir sind Freunde. Also sei nett zu uns und wir teilen mit dir!«, sagte einer der drei und hielt sein Vorratsbündel in die Höhe. »Und heul jetzt nicht.« Vor Gesas Augen versank alles im grellen Licht und ihr Herz raste. Sie begriff, dass die Soldaten ihr nicht helfen würden. Diese Männer waren nicht besser als die Plünderer, die ihre Heimat zerstört hatten, und vor allem war sie ihnen vollkommen 13


ausgeliefert. Es gab diesmal keine Gelegenheit zur Flucht, keinen Ausweg. Zitternd öffnete sie ihren Mantel und raffte das Gewand empor. »Ich zuerst.« Der mit dem Verband legte den Schild ins Laub, öffnete den Gürtel und lag im nächsten Moment schon auf ihr. Nervös versuchte er, in Gesa einzudringen. Der Schmerz ließ sie aufschreien. »Hab dich nicht so.« Die junge Frau schloss die Augen, wandte sich von dem Mann mit dem stinkenden Atem ab und versuchte, den Fremdkörper in ihrer Scheide nicht zu beachten, den Ekel und die Schmerzen nicht siegen zu lassen. Sie zwang sich, an damals zurückzudenken – als ihr erster Liebhaber mit seinen ungeschickten Fingern genauso grob gewesen war. Jedenfalls so lange, bis sie ihm ins Gesicht geschlagen hatte. Vor zwei, nein, vor drei Sommern war das gewesen. Unweit des Steinbruchs. Im Farnkraut. Kurz bevor Osrun sie beide dort überrascht hatte. Das Keuchen ihres Vergewaltigers riss Gesa aus der Erinnerung zurück. Heißer Samen verklebte alles in ihr. Sie kniff die Augen angewidert zusammen und spürte, wie der Soldat auf ihr weitermachte, nicht aufhören wollte. »Warte! Da sind Reiter!« »Sind es unsere?« Gesa öffnete die Augen und bemerkte die Angst der beiden Männer, die sie umstanden, während ihr Peiniger noch einmal lustvoll aufstöhnte. Sie folgte ihrem Blick hinunter zu der Senke, durch die ein Bach führte. Tatsächlich, dort bewegte sich etwas. »Verdammt! Es sind Krieger von Chnodomar!« »Alamannen? Bist du sicher?« »Ja.« 14


Wider Erwarten ließ der Soldat von ihr ab und richtete sich auf. »Du bleibst liegen! Wir sind noch nicht fertig mit dir.« Mit heruntergelassener Hose folgte er den Blicken der anderen zum Bach und sah ebenso unschlüssig aus wie seine Kameraden. Gesa erkannte die Gelegenheit, sprang auf die Beine und packte ihren Beutel. Der Sack, obwohl gestern den ganzen Tag getragen, war unerwartet schwer. Sie warf ihn sich trotzdem über die Schulter und lief los, den Hang hinauf, entgegen der Richtung, aus der die Reiter kamen. »Halt, du Hure!« Gesa stemmte sich gegen die Steigung, brach durch Sträucher und Büsche, erschrak, als ein Speer direkt neben ihr in den Waldboden einschlug. Sie sind hinter mir!, dachte die junge Frau mit rasender Angst. Sie sind hinter mir! Ihre Scheide brannte und Samen floss aus ihr heraus, als sie alle Kraft in den Aufstieg legte. Wegen der geprellten Hüfte drohte sie mehrmals wegzuknicken und hinzufallen. An eine Pause war jedoch nicht zu denken; die Schreie hinter ihr trieben sie hinauf. Endlich war die Kuppe des Bergrückens erreicht und Gesa wagte einen schnellen Blick zurück. Die Alamannen hatten die drei Soldaten in ein Scharmützel verwickelt. Erschöpft schleppte sie sich weiter, vertrat sich den Fuß in einem Hasenbau, schrie vor Schmerz auf, fiel, rutschte über eine pelzige Moosfläche und landete in einer Mulde, die sie mit weichem, nassem Laub auffing. Der Geruch nach Fäulnis nahm ihr den Atem, allerdings hielt sie den Sack mit den Vorräten in den Händen und darüber musste sie lächeln. Wenigstens würde sie nicht hungern müssen. Hier in der Mulde konnte sie allerdings nicht bleiben. Gesa raffte sich auf und ging humpelnd weiter durchs Unterholz – bis sie ein brauchbares Versteck unter einem Felsvorsprung fand. 15


Das Geschrei jenseits der Hügelkuppe hatte nicht nachgelassen und nachdem sie sich etwas erholt und festgestellt hatte, dass ihrem Fuß nichts Schlimmes passiert war, wurde sie davon angelockt. Gesa wollte wissen, was mit dem Schwein geschah, das sie vorhin vergewaltigt hatte. Also versteckte sie ihren Sack unter der ausgespülten Wurzel einer Erle und kroch auf allen Vieren den Hang hinauf, den sie vorhin hinabgerutscht war. Ihre Vorsicht war angebracht, denn die Gefahr war nicht vorbei: Ein Dutzend Berittener war nun bei den Soldaten. Männer mit eisernen Helmen und abgeschlagenen Köpfen an den Sätteln. Die fremden Krieger hatten die Römer umzingelt und hieben sie mit Schwertern und Äxten zusammen. Kaum lag der letzte Soldat am Boden, stiegen die Sieger von den Pferden, um den Erschlagenen ihre Rüstungen und Waffen abzunehmen. Wie in einem bösen Traum beobachtete Gesa, dass die Reiter den Toten die Köpfe abschlugen und ihre neuen Trophäen an den Sätteln befestigten. Sie lachten und sangen dabei, als wären sie auf dem Weg zu einer Hochzeit. Die Leichen der Männer, die Gesa vorhin gequält hatten, blieben da liegen, wo sie hingefallen waren. Nackt und kopflos, bestraft von einem ungebetenen Richter. Zufrieden kroch Gesa zurück in ihr Versteck. Sie strich Käfer und Tausendfüßler aus Kleidung und Haaren und war froh, als sie feststellte, dass ihre Scheide nicht sonderlich blutete, dass ihr Knöchel nicht weiter schmerzte. Sie würde gleich, wenn die Reiter verschwunden waren, zu dem Bach hinter dem Hügel gehen und sich waschen. Erst da fiel ihr ein, dass sie ihre fruchtbaren Tage hatte.

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II. Während viele Städte und Höfe zwischen dem Rhein und den Pyrenäen brannten, war das römische Kastell von Bürgel, trotz seiner Lage an der Rheingrenze, einer der wenigen Orte, die bislang von den Raubzügen der Franken und Alamannen verschont geblieben waren. Die zwölf Türme der Festung schützten eine rechteckige 64 mal 64 Meter große Fläche. Wie die Finger einer am Boden liegenden Riesenhand ragten sie unweit des Flussufers aus der Erde. Sie waren eine Warnung für alle, die vielleicht von jenseits des Rheins übersetzen wollten, um hier ebenfalls alles zu verwüsten. Die Pfeilschleudern auf den Spitzen der steinernen Finger konnten jeden Angreifer bereits am Rand des gegenüberliegenden Waldes unter Beschuss nehmen, lange bevor der Rhein überquert und das römische Ufer erreicht war. Die wuchtigen Türme waren durch eine gut zehn Meter hohe Mauer miteinander verbunden; ein Bollwerk, das man mit Bruchsteinen aus der Eifel und Unmengen Zement aufgefüllt hatte, so dass die Wachen auf dem Wehrgang ohne Mühe aneinander vorbeigehen konnten. Weil Steine in der lehmigen Flusslandschaft nördlich von Köln schwierig zu finden waren, hatten die kaiserlichen Ingenieure damals viele Dutzend Schiffsladungen voller Felsbrocken heranschaffen müssen. Der Bau des Kastells war trotzdem innerhalb weniger Wochen abgeschlossen worden und der Grundriss war identisch mit dem anderer Festungen, wie man sie vom großen Wall in Schottland bis an die syrische Grenze errichtet hatte: an der Innenseite der Mauer, die die 17


rechteckige Fläche umschloss, waren die Unterkünfte, Ställe und Werkstätten aufgereiht, um in der Mitte Platz für Soldaten oder Flüchtlinge zu lassen. Außerdem gab es ein kleines Badehaus innerhalb des Kastells und eine Siedlung für etwa 500 Menschen vor dem westlichen Tor. Der Friedhof, eine hölzerne Anlegestelle und eine Darre zum Trocknen von Obst und Getreide waren auf der gegenüberliegenden Seite, vor dem östlichen Tor unweit des Rheins zu finden. Die Nachfahren der Baumeister dieser Festung waren wie ihre Väter germanische Söldner im römischen Heer. Die meisten von ihnen lebten mit ihren Familien im Lagerdorf vor dem westlichen Tor. Und auch wenn das Kastell bislang von Überfällen verschont geblieben war, wussten seine Bewohner von den fränkischen und alamannischen Vorstößen, denn erst vor einigen Tagen waren wieder Flüchtlinge hier eingetroffen, die mehr an Gespenster als an Menschen erinnerten. Die Flüchtlinge suchten im Schatten der römischen Befestigung Unterkunft, Schutz und Nahrung, aber die Bewohner des Kastells hatten die Hungerleider in schlammige Erdlöcher am Waldrand verbannt. Dort lebten die Vertriebenen von den Abfällen der Garnison. Sogar in einer Sturmnacht wie dieser standen sie vor dem Kastell, um in den Gräben vor der Nordmauer nach Essbarem zu suchen. Sie hofften, von den Resten, die nicht an die Schweine verfüttert worden waren, satt zu werden. Abgenagte Knochen, matschiges Obst und Gemüse fielen jeden Abend zur gleichen Zeit zusammen mit Brotresten, Tonscherben und der Asche der Herdfeuer in die Senke und sorgten dort für Bewegung unter den flüsternden Schatten. Der Geruch nasser Erde mischte sich an den Gräben mit dem Gestank nach Abfall und ungewaschenen Menschen. Die Hungernden waren nicht allein. Wie jeden Abend seit dem Auftauchen der ersten Flüchtlinge, so standen auch heute 18


mehrere Dutzend Schaulustige am Fuß der Mauer. Sogar die Taverne der Siedlung war um diese Zeit menschenleer. Den Holzbecher in der Hand und die Augen glasig vom Met, war man Zeuge einer Fütterung. Der Regen schreckte die Schaulustigen nicht ab, denn was man hier zu sehen bekam, war in jedem Falle unterhaltsamer als der übliche Tratsch aus der Siedlung. Der Drillmeister des Kastells, ein germanischer Söldner wie die anderen Soldaten in Bürgel, stand etwas abseits von der Menge, unmittelbar vor dem ersten der beiden Gräben. Obwohl er den meisten seiner Männer nur bis an die Schulter reichte, hielten alle Abstand zu ihm. Der Jähzorn des kleinen, bulligen Mannes war allgemein bekannt und man sah dem bärtigen Gesicht unter dem Helm an, dass er sich seiner fehlenden Größe nicht schämte. »Schaut Euch diese Ratten an, Drillmeister!« Ulfert nickte dem Soldaten links von sich zu. Seine Hände verließen den Schwertgriff und zogen den Gürtel straffer. Er hasste diese Flüchtlinge ebenfalls. Diese Fremden, die vor einigen Wochen wie Ungeziefer hier aufgetaucht waren und alle Kastellbewohner daran erinnerten, dass der Frieden in Bürgel jederzeit enden konnte. Außerdem klaute ihnen diese Brut nachts den Kohl und die Äpfel aus dem Garten und scheute sich neuerdings nicht einmal mehr, Hühner und Schweine aus den Ställen zu stehlen. Ulfert nahm allen Speichel zusammen und spuckte auf die Menschen in den Gräben. Er traf eine alte Frau auf dem Rücken, was seine Männer auflachen ließ. »Wie eine Seuche seid ihr!«, kreischte eine Frau aus dem Lagerdorf. Ulfert kannte die schrille Stimme. Das war die Frau des Wirtes, die dicke, rothaarige Uta. »Zurück in den Wald, ihr Schweine!« 19


Ulferts Hand strich über seinen regenfeuchten, hellen Bart und sein Blick wanderte weiter. Als zwei Kinder die bespuckte Greisin so lange schlugen, bis die ihnen ein aufgeweichtes Stück Brot auslieferte, lächelte er. »Hier, Drillmeister. Trinkt.« Jemand aus der Gruppe neben ihm trat auf ihn zu. Ulfert nahm einen Schluck von dem unverdünnten, sauren Wein, den die Versorgungsschiffe gestern aus Köln gebracht hatten, und beobachtete dabei, wie Schwaden aus mehlfeinem Regen vom Wind hin und her gejagt wurden. Auf seinem Wollmantel hatte sich das Wasser bereits zu dicken Perlen gesammelt. Es tropfte vom Rand seines Helmes und floss von der Nasenschiene als dünner Faden zu Boden. »Wir haben noch mehr davon, Drillmeister.« »Das ist gut.« Hinter den Flüchtlingen traten zwei Fremde in den zuckenden Lichtkreis, den die Fackeln an der Nordpforte warfen. Die beiden Männer gehörten weder zu den armen Schluckern in den Gräben noch zu den Grenzsoldaten aus der Siedlung. Sie trugen Hosen und Überröcke aus feinem Leinen. Weite, braune Kapuzenmäntel aus Wolle schützten sie vor dem Regen, aber vor allem ihre langen Messer erregten Ulferts Neugier. Eine gute Elle lang war die Klinge. Eine tödliche Waffe. Als ob er Ulferts Gedanken lesen könnte, zückte der größere der beiden, ein Riese mit zottigem, blondem Bart und kahlem Schädel, sein Langmesser und fuchtelte gekonnt damit herum. Da erst erkannte Ulfert die beiden. Das waren Knechte dieses Franken, der vor einigen Tagen sein Zelt hier aufgeschlagen hatte und seitdem den Befehlshaber von Bürgel mit Met versorgte. Bei Sonnenuntergang, kurz bevor dieses Unwetter aufgezogen war, hatte Ulfert beobachtet, wie der Händler aus der Unterkunft des Tribuns stolziert war. Ganz sicher, dachte er 20


verächtlich, verdiente der Franke mit diesem versoffenen, rothaarigen Krüppel ein Vermögen. »Der Schlag soll ihn treffen«, knurrte Ulfert und sein Blick fiel wieder auf die Hungernden in den Gräben. Inmitten von blutigen Schlachtabfällen stritt man sich um ein Paar alter Stiefel. Die kleinste der Frauen verlor in dem Durcheinander das Gleichgewicht und ihre Kapuze rutschte zurück. Schnell stellte sie sich wieder auf die Beine, zerrte die Kapuze über den Kopf und raffte den zerlumpten Mantel mit den Händen zusammen. Sie hinkte zwar, war jedoch, soweit Ulfert es in dem schwachen Licht hatte erkennen können, nicht alt. Er glaubte, schulterlanges Haar, so gelb wie Stroh, und ein feines, junges Gesicht gesehen zu haben. Nicht nur Ulfert war auf die Szene aufmerksam geworden, auch die beiden Franken hatten genau hingesehen. Der mit der Glatze steckte sein Messer in die Scheide, stieg in den Graben, stieß einige Kinder beiseite und marschierte schnurstracks auf die junge Frau zu. Mit einem Ruck zog er ihr die Kapuze wieder vom Kopf und begann damit, wie ein begeisterter Hund ihr Gesicht zu lecken. Das junge Ding schrie auf, sprang zurück und wollte um sich schlagen. Ihre Fäuste wurden ohne Mühe abgefangen und festgehalten. Der langhaarige Begleiter des Hünen, der seinem Kumpan gefolgt war, grunzte vor Freude und zog ebenfalls sein Messer, jedem zur Warnung, der vielleicht eingreifen wollte. Aber niemand rührte sich. Einige Betrunkene freuten sich auf das, was gleich kommen musste, und lachten. Der Glatzkopf wollte seine Beute zu Boden drücken, allerdings wich die Gefangene seinem Druck aus und spuckte ihm ins Gesicht. »Das reicht!« Erst da bemerkten die Franken, dass Ulfert am Rand des Grabens stand und sie beobachtete. 21


»Ja, ihr zwei! Ihr habt mich verstanden!« Der Hüne zögerte und schleuderte das Mädchen seinem Begleiter in die Arme. Fast hätte der sie mit seinem Messer aufgespießt. »Sei ruhig, Zwerg!«, bellte der Riese. Ulfert lächelte und stieg in den Graben hinab. Eine nasse Böe traf sein Gesicht und seine Stiefel versanken in einem weichen Teppich aus Kohl- und Karottenresten. »Verschwinde, kleiner Mann! Ehe ich dir wehtun muss.« Aber bevor der Hüne einen Hieb anbringen konnte, hatte Ulfert dessen Arm gepackt, den massigen Kerl an sich gerissen und mit einem Krachen über die Schulter gewuchtet. Der Franke schlug im Abfall auf und brüllte mit schriller, sich überschlagender Stimme. Sein Arm lag inmitten schimmelnder Brotreste, so verdreht als würde er nicht zum restlichen Körper gehören. Sein Komplize stieß das Mädchen von sich, lief los und rettete sich in die Dunkelheit. »Beim nächsten Mal gehorcht ihr sofort!«, knurrte Ulfert und trat dem Mann im Graben seinen genagelten Stiefel mit voller Wucht ins Gesicht. Zufrieden mit sich packte Ulfert den Arm der Geretteten und marschierte mit ihr davon. Das Mädchen stolperte hinter ihm her, noch immer betäubt und fassungslos.

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III. Regen und Sturm wurden stärker. Der Wind spielte mit den Tropfen und wirbelte sie in alle Richtungen. Er fuhr in die Baumkronen, zerrte an ihnen, riss Blätter und morsches Holz herunter. Überall im Wald krachte, rauschte und pfiff es. Nun war es wirklich besser, ein festes Haus aufzusuchen. Ulfert blinzelte, als ihm Regenwasser in die Augen rann. Er stand am Waldrand, sah auf die hier und da aufflackernden Lichter der Siedlung und des Kastells und schloss den Gürtel. Seine Hände zupften an der Hose, bis sie ihn nicht mehr im Schritt kniff. Schließlich spuckte er aus und wickelte sich in seinen Wollmantel. »Mistwetter!«, knurrte er und blickte hinter sich, zurück in den Wald. »Nun komm schon!« Er meinte die Unbekannte, die hinter ihm im Laub hockte und mit einem Büschel nassem Gras versuchte, seinen Samen abzuwischen. »Steh auf!« Widerwillig gehorchte die junge Frau und stellte sich neben ihn. Jetzt, wo er mit ihr fertig war, erinnerte ihn ihr Geruch an einen nassen Hund. Das Haar klebte an ihrem Kopf wie eine gelb glänzende Kappe und aus ihrem zerfetzten Kleid wurde der Dreck in Bächen ausgewaschen. Da erst bemerkte er ihren Blick, in dem eine Mischung aus Angst und Wut lag. Ihre Lippen zitterten als würde sie frieren und Ulfert fiel auf, dass sie streng genommen sogar etwas größer war als er. 23


»Wie heißt du?«, fragte er und starrte sie so durchdringend an, dass sie seinem Blick auswich. »Gesa!« Sie schluckte aufgeregt ihren Zorn hinunter. Die Tränen spülte der Regen weg. Zuerst, als er sie von den Gräben in den Wald geführt hatte, wollte er nur seine Belohnung und sie dann fortjagen, aber bereits auf dem Weg durch die Nacht kam ihm der Gedanke, dieses Mädchen für sich arbeiten zu lassen. Sie sollte ihm das Geld einbringen, das man ihm vorenthielt, weil man diesen Krüppel aus Köln zum Befehlshaber des Kastells gemacht hatte. Mit diesem hübschen, blauäugigen Ding konnte Ulfert seinen Sold aufbessern und sich gleichzeitig vergnügen. Je mehr er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm der Plan – und das Geld war ihm sicher, denn wie er die anderen Offiziere hier kannte, würden sie einen guten Preis zahlen, um mit der da alleine zu sein. Vielleicht konnte er sie sogar dem Hinkebein schmackhaft machen, bevor der sein ganzes Geld nur für Met ausgab. »Hör auf zu heulen.« Ulfert sah ihr an, dass sie verzweifelt war und nicht wusste, wohin sie gehen sollte. Bei ihr würde er bestimmt keine Gewalt anwenden müssen, um sich durchzusetzen. Es konnte trotzdem nicht schaden, ein wenig den Freund zu spielen. »Ich gebe dir einen Rat, Gesa«, begann Ulfert. »Du bist hier eine Fremde. Du hast keinen Mann und keine Familie. Die Leute hier verachten euch Herumtreiber und niemand wird dir helfen, wenn wieder so etwas wie vorhin geschieht. Und es wird so kommen. Gerade weil du eine schutzlose Fremde bist.« Ulfert sah wie sie überlegte. Nichts verriet ihre Gedanken. Dumm schien sie also nicht zu sein.

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»Ich kann auf dich achtgeben«, versprach er mit gönnerhaftem Lächeln. »Ich kann dafür sorgen, dass du satt und gut angezogen bist, einen trockenen Platz zum Schlafen hast und dass niemand dich anrührt, der es nicht darf.« Erneut versuchte Ulfert, in ihrem regennassen Gesicht zu lesen. Sie blickte jedoch durch ihn hindurch, als sei er gar nicht anwesend. Schließlich nickte sie. Sonst blieb sie stumm. Da war nur dieses Nicken. Ulfert schnaufte unzufrieden. »Dann lass uns gehen.« Verärgert über ihre Reaktion wickelte er sich fest in seinen Mantel und ging voraus. Zur Lagersiedlung und dem Kastell. Auf einmal kam ihm der Gedanke, dass es mit ihr doch nicht so leicht werden würde wie er anfangs gedacht hatte, dass sie störrisch war. Vielleicht sollte er sie besser erschlagen und im Wald liegen lassen? Wilde Tiere gab es genug, die sich um sie kümmern würden. Warum sollte der Luchs, der sich hier herumtrieb, nur Ziegen reißen? Nein, so einfach ging das nicht: Zu viele Menschen hatten sie zusammen gesehen und der rothaarige Krüppel würde eine solche Gelegenheit ganz sicher nutzen, um ihm etwas anzuhängen. Schließlich konnte Ulfert schlecht behaupten, er hätte die Frau in Notwehr erschlagen. Bei ihrem Marsch über die Weide, auf dem sie sich gegen Windböen und Regen stemmen mussten, erinnerte sich Ulfert daran, wie sie vorhin den Kittel hochgerafft hatte. Sie hatte sich von ihm abgewandt und alles geschehen lassen, dabei den Boden angestarrt und mit den Händen die Buche vor sich umklammert. Grinsend kratzte sich Ulfert beim Gehen zwischen den Beinen und überlegte, ob er mit ihr in den Wald zurückgehen sollte, aber leider musste er ins Kastell, bevor dieser Rotkopf sein Fehlen bemerkte.

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Die Lichter der Lagersiedlung kamen näher. Rauch hing in der Luft. Der Duft nach gebratenem Fleisch zog ihm in die Nase. Hundegebell begrüßte sie und ein Hornsignal aus dem Kastell kündigte die zweite Nachtwache an. Er war schon lange überfällig. Trotzdem musste er zuerst ein paar Dinge wegen des Mädchens klären. Bei sich zu Hause, bei seiner Frau Kreka, konnte sie natürlich nicht schlafen. Und so blieb er vor einem unscheinbaren Haus am Rand der Siedlung stehen. Seine Faust schlug mehrmals an die Tür der Hütte – eine bemooste Reihe von Brettern mit rostigen Beschlägen. In diesem niedrigen Fachwerkbau wohnte Baltrun, die Frau des alten Befehlshabers. Ihr Mann war im letzten Jahr von einem Keiler zu Boden gerissen und an der Kehle gepackt worden. Er hatte schon nicht mehr gelebt, als er auf dem Boden aufgeschlagen war. Ulfert stand nicht ohne Grund vor dieser Tür. Er wusste, dass die Witwe Geld brauchte und deshalb sollte sie für die Herumtreiberin auch die Kostgeberin sein. »Ja, ja!«, hörte er ihre brüchige Stimme aus dem Inneren des Hauses, vom Prasseln und Klatschen des Regens fast überdeckt. »Ich bin nicht mehr so schnell!« Der Riegel wurde beiseitegeschoben und die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, bis eine starke Bö sie im nächsten Moment gänzlich aufdrückte. »Du hier, mein Junge?« Baltrun blinzelte die Besucher mit trüben Augen an. »Und wer ist das?« Die Alte starrte die beiden verwirrt an und machte ihnen Platz. Sie durften eintreten. Ulfert sah sich im Inneren des Hauses, das aus einem einzigen Raum bestand, um. Eine winzige Talgleuchte gab etwas Licht, so dass man die Spinnweben, den Staub und den Dreck in den Ecken und auf dem Steinboden, den er zusammen mit dem Mädchen nasstropfte, nur erahnen konnte. 26


Eine Schüssel mit getrocknetem Brei vom Vortag stand auf dem Tisch. Kleidung lag herum, dazu angebissene Äpfel und Brotreste auf dem Boden. Das Bett mit der fleckigen Matratze war nicht gemacht und die Feuerstelle in der Mitte des Raumes war voller Asche und abgebrannter Scheite. Die Handvoll Ziegen, die der Witwe gehörten und im hinteren Teil des Raumes hinter einem Gatter eingesperrt waren, hatten bei ihrem Eintreten angefangen zu blöken, wahrscheinlich vor Hunger. Über allem hing der Geruch nach Vieh, alter Kleidung und Urin. Das war genau der Geruch, der von Baltrun ausging. »Was will die hier?«, fragte die Alte, zeigt auf Gesa und zupfte dann an ihrem grauen, wirren Haar. »Komm!«, sagte Ulfert lächelnd und trat mit ihr, die er seit seiner Kindheit kannte, an das Ziegengatter. »Was möchtest du, mein Junge?« »Mit dir reden.« Die Alte murmelte etwas und musterte aus sicherer Entfernung das durchnässte Mädchen. Die Fremde blickte zu den im Sturm ächzenden Dachbalken empor und versuchte ganz sicher mitzuhören. »Baltrun, du weißt, dass ich dir immer gerne helfe«, flüsterte Ulfert und die Alte nickte. »Ich würde dir gerne mehr Geld geben, wenn ich könnte. Schließlich war dein Mann wie ein Vater zu mir, nur leider haben sie nicht mich, sondern diesen Krüppel zum Befehlshaber gemacht.« Die Alte nickte eifrig und spuckte zu Boden. »Ja, ja, mein Junge! Verdammt sollen sie sein! Da haben sie dir großes Unrecht getan.« »Ich danke dir für deine Worte.« Ulfert wies mit einer Kopfbewegung auf das Mädchen neben der Tür. »Aber sie ist die Lösung für uns beide, Baltrun. Sie wird uns das Geld bringen, das uns zusteht.« 27


Die Alte folgte seinem Blick und zögerte. Plötzlich erkannte man an ihren Augen, dass sie begriffen hatte. »Hast du etwa mit ihr …?«, fragte sie Ulfert und als der schwieg, schürzte sie die Lippen. »Ach, ihr Kerle! Du Dummkopf! Hast dich auf sie geworfen wie ein Hund! Und wenn deine Kreka davon erfährt?« »Wenn du es ihr nicht erzählst, wird sie es nicht erfahren!« »Und wenn die da es nicht für sich behalten kann? Oder hast du ihr danach die Zunge rausgeschnitten?« »Das alles lass meine Sorge sein.« Ulfert legte Baltrun seine schwere Hand auf die Schulter. »Also, was sagst du zu meinem Vorschlag?« »Mein Junge«, kam die prompte Antwort der Alten. »Ich habe noch keinen richtigen Vorschlag von dir gehört.« Ulfert lachte. Man konnte diese Frau auf den ersten Blick für zerstreut und gebrechlich halten, aber wenn es darauf ankam, war ihr Kopf klarer als der vieler anderer hier. »Sie wird für uns zu den Offizieren gehen«, erklärte er leise und bemerkte zufrieden wie sich die Augen der Alten weiteten. »Von allem, was sie einnimmt, wird der eine Teil dir und der andere mir gehören.« »Glaubst du denn, dass hier so viel Geld zu holen ist?«, fragte Baltrun und kniff die Augen zusammen, während sie die Fremde musterte. »Arnulf trinkt, Oktar verspielt alles beim Würfeln und die anderen … So richtig hübsch sieht sie mir auch nicht aus, mein Junge.« »Vertraue mir!« Ulfert nickte Baltrun zu. »Sie wird den anderen schon gefallen. Du wirst es sehen, wenn sie erst einmal gewaschen ist und in sauberen Sachen steckt.« Er trat beiseite und zusammen mit Baltrun betrachtete er die Fremde. Wie ein unbekanntes Tier, über dessen Nutzen man sich nicht ganz einig war.

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»Vor allem«, flüsterte er der Alten ins Ohr, »kennt niemand hier sie schon von Kindesbeinen an und sie hat keine Familie, die man beleidigt, nur weil man mit ihr in den Wald oder hinter ein Haus geht.« »Aber sie stinkt.« Baltrun rümpfte die Nase. »Deshalb bin ich bei dir. Sorge dafür, dass sie morgen bei Sonnenaufgang nicht mehr riecht wie ein Abfallhaufen.« Ulfert drückte ihr eine Münze, einen bronzenen Follis, in die Hand. »Das hier vorab für deine Mühen. Gib ihr zu Essen, damit sie morgen nicht zusammenbricht, wenn ich sie zum ersten Mal anbiete. Wir sehen uns bei Sonnenaufgang!«

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IV. Jeder suchte Schutz vor dem Unwetter. Sogar die Flüchtlinge gaben ihre verzweifelte Suche nach Nahrung früher als sonst auf und liefen in ihre Erdhütten am Waldrand zurück. Dort war es allemal besser als auf freiem Feld, wo einem der Regen ins Gesicht peitschte und die Fackeln nach und nach verloschen. Auch im Kastell zog sich jeder, der keinen Wachdienst hatte, in ein Haus zurück. In den Unterkünften, die sich entlang der Innenmauer um den Hof zogen, wartete man darauf, dass sich der Sturm legte. Beim Rasseln von Würfeln aus Horn redeten die Männer über die Schlägerei von vorhin, staunten darüber, wie der kleine Ulfert dem Riesen die Schulter gebrochen hatte, und lachten, weil er mit dieser Fremden in den Wald gegangen war. Wozu, konnte sich jeder von ihnen denken. In einer dieser Unterkünfte im Kastell, einem schmalen Fachwerkbau neben der Schmiede, war es anders. Hier lachte niemand und weil die Feuerstelle an der Kastellmauer wegen des Sturmes nicht genutzt werden konnte, war es ungemütlich kühl und feucht. Das alte Bettgestell mit der speckigen Strohmatratze und die Kleidertruhe mit den angerosteten Bügeln am Fußende des Bettes machten ebenso wenig her wie die durchgebogene Tischplatte in der Mitte des Raumes. Lediglich zwei einfache Hocker standen neben dem Möbel. Auf einem der Schemel saß der Bewohner des Zimmers, ein rothaariger Mann um die vierzig. Er blinzelte in die Talgleuchte vor sich, blickte zwischendurch zur Tür und horchte auf die Geräusche der Nacht. 30


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I

m Jahre 351 gerät die Grenze des römischen Reiches unter dem Ansturm von Franken und Alamannen ins Wanken. Selbst das mächtige Köln fällt kurzfristig den Barbaren in die Hände. Mit knapper Not entkommt die junge Bäuerin Gesa einem Überfall marodierender Germanen. Nur das Kastell Bürgel verspricht ihr und den anderen Flüchtlingen Schutz. Doch Ulfert, der Drillmeister der verwahrlosten Garnison, nutzt ihre Notlage gnadenlos aus und zwingt sie zur Prostitution. Unterdessen reift im Kastell der Plan für ein Komplott gegen den Neffen, Erben und Stellvertreter des Kaisers: Julian soll nach Bürgel gelockt und in die Hände seiner Feinde gespielt werden. Kann Gesa den Verrat rechtzeitig aufdecken? Und wer wird ihr glauben?

Alexander Raabe entfaltet seine mitreißende Geschichte auf der Grundlage sorgfältiger Recherchen zur spätrömischen Geschichte im Rheinland und vor Ort in Bürgel. Meisterhaft entführt er den Leser in eine Zeit dramatischer Umbrüche und großer Leidenschaften.

www.sutton-belletristik.de

Originalausgabe | 9,95 € [D] 32


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