Süddeutsche Zeitung, Schatz der Opfer

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FEUILLETON

DEFGH Nr. 66, Dienstag, 19. März 2013

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Die Kunst des Bittens

Europa und seine schwierige Insel Geografisch gehört Zypern zu Asien, kulturell zu uns

Die Wanderheilige unserer Krise ist eine Indierock-Sängerin

Schatz der Opfer

Das Schwierige an importierten Befindlichkeiten ist normalerweise, dass sie auf Geschichten beruhen, die nicht die eigenen sind. Das können die Geschichten von Nationen genauso sein, wie die Geschichten von Generationen. Im Fall der amerikanischen Sängerin Amanda Palmer ist sogar beides der Fall. Man muss aber nicht wissen, dass sie neben ihrer Solo-Arbeit eine Hälfte des Punk-Cabaret-Duos Dresden Dolls ist, man muss auch ihre exaltierten Lieder nicht mögen, um zu verstehen, warum sie gerade zu einer der Schlüsselfiguren der Popkultur aufsteigt. Amanda Palmers bisher größter Hit ist kein Song, sondern ein Vortrag mit dem Titel „The Art of Asking“ (Die Kunst des Bittens), den sie Ende Februar beim Ideenfestival Ted Conference in Long Beach hielt. Darin erzählt sie von ihrer Karriere, die sie als lebende Statue in Fußgängerzonen begann, und die sie nun ohne Hilfe von Platten- oder sonstigen Firmen vorantreibt. Dafür hat sie nach einem Streit mit ihrem Label ein Geschäftsmodell entwickelt, das vor allem darauf beruht, keine Geschäfte zu machen. Ihr letztes Album beispielsweise finanzierte sie mit einem kurzen Video, mit dem sie auf der Crowdfunding-Webseite Kickstarter ihre Fans um Geld bat. 1,2 Millionen Dollar bekam sie so zusammen. Auch ihre Tourneen lässt sie nicht mehr von etablierten Veranstaltern organisieren. Meist sind es Fans, die über soziale Netzwerke wie Twitter oder Facebook einen ihrer Auftritte möglich machen, weil sie Geld, Saal und Verstärker besorgen. Unterwegs steigt sie nicht in Hotels ab, sondern übernachtet bei meist unbekannten Anhängern. Dazu zeigte sie in Long Beach Bilder, auf denen sie vor selbstgekochten Buffets steht, auf Sofas und Matratzen schläft, sich von Fans bemalen lässt. Wer die Diskussionen um das Urheberrecht und die digitale Kultur in den vergangenen Jahren verfolgt hat, wird da – je nach Lager – das Ideal oder das Horrorszenario der künftigen Kulturwirtschaft erkennen. Neigt man eher zum traditionellen Ansatz, dass Arbeit und Ware auch regulär bezahlt werden sollten, verspürte man während des Vortrages spätestens dann den Bauchknoten des Fremdschämens, als Amanda Palmer davon erzählte, wie sie bei einer Familie illegaler Einwanderer in Miami übernachtete. Als sie beschreibt, wie die Mutter sie am nächsten Morgen beiseite nimmt, und ihr sagt, wie wichtig Palmers Musik für ihre Tochter sei, stehen der Sängerin die Tränen in den Augen. Da gipfelt diese wohlformulierte Ballade von Selbstlosigkeit, Vertrauen und Rebellion gegen die Konsumgesellschaft in einer gewaltigen Ladung Pathos. Und doch haben über eineinhalb Millionen Menschen in den vergangenen drei Wochen das Video des Vortrages angesehen und zumeist begeistert kommentiert. Mit einem Song wäre Amanda Palmer damit weit oben in den Charts. Als Mem beweist sie Instinkt für einen Zeitgeist, der weit mehr ist, als die Trotzhaltung, dass man für Musik nichts bezahlen will. Das Ideal des Teilens geht in den USA auf einen ganz spezifischen Moment der Geschichte zurück. Auf dem Höhepunkt der Depression der Zwanziger- und Dreißigerjahre gab es in ganz Amerika einen unvergleichlichen Geist der Solidarität. Während Europa und Russland diesen Geist von den Dik-

Warum der im Westen beargwöhnte Viktor Orbán in Ungarn so beliebt ist

VON TIM NESHITOV

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Flucht mit kurzen Flügeln: Wie sich Schwalben auf den Autoverkehr einstellen

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Anti-Dexiosis – ein Selbstversuch Gescheitert nach nur einer Woche

Der mutmaßliche Dieb behauptete, er habe einige der Kunstwerke selbst hergestellt

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Chronist der Gefühle: Der große amerikanische Romancier Philip Roth wird achtzig

Wissen

Beweisstück Nr. 137: Auf dem freien Markt wäre der frühbyzantinische Apostel Thomas Millionen wert. sich auf 173 der insgesamt 233 asservierten Kunstwerke. Was den Rest betrifft, will das Gericht erst ein erneutes kunsthistorisches Gutachten abwarten. Enno Engbers, der Münchner Anwalt, der in diesem Verfahren die Republik Zypern und die Kirchen vertreten hat, hofft allerdings, dass die Kunstwerke noch in diesem Jahr auf die Insel zurückkehren könnten. Um den 10. Oktober 1997, den Tag, an dem die erste von Aydin Dikmens Münchner Wohnungen durchsucht und er selbst dem Ermittlungsrichter vorgeführt wurde, ranken sich Legenden. In die Welt gesetzt hat sie der Holländer Michel van Rijn, einst der meistgesuchte Kunstdieb der Welt und vermutllich ehemaliger Komplize Aydin Dikmens. Ende der Achtzigerjahre erlebte Van Rijn nach eigener Aussage eine Läuterung und fing an, mit Kunstfahndern zusammenzuarbeiten – wodurch er sich nicht zuletzt Straffreiheit sicherte. Heute sieht sich Van Rijn als den Mann, der Aydin Dikmen entlarvte und sich dadurch wie sonst niemand um Zyperns kulturelles Erbe verdient machte. Tatsächlich hatte die LKA-Operation

maßgeblich eine zypriotische Frau vorbereitet, Tasoula Georgiou Hadjitofi, Flüchtling aus Famagusta und Zyperns Honorarkonsulin in Den Haag. Hadjitofi, 53, kämpft seit Mitte der Achtzigerjahre im Auftrag der Republik Zypern um die Rückkehr geraubter Kunstwerke nach Zypern. „Wir haben Van Rijn als Scheinkäufer eingesetzt, weil er die Sprache der Diebe spricht“, sagt sie. Das Gerichtsurteil gegen

Die Gesetze vieler EU-Länder begünstigen die Auktionshäuser Dikmen nach 15 Jahren Nervenkrieg kommentiert sie verhalten: „Natürlich sind wir glücklich, dass die Gerechtigkeit uns endlich lächelt. Aber das eigentliche Problem sind die europäischen Gesetze, an denen dieses Urteil leider nichts ändert. In Zyperns ausgeraubten Kirchen, Klöstern und Privatsammlungen fehlen immer noch geschätzte 20 000 Kunstwerke.“ Hadjitofi sieht ein Paradox: Einerseits betone die Unesco immer stärker, Raubkunst, ob aus Inka-Gräbern oder aus der Nazi-Zeit, müsse rückerstattet werden. An-

FOTO: GERICHTSKATALOG

dererseits begünstige die Gesetzgebung der meisten EU-Länder weiterhin die Interessen von Sammlern und Auktionshäusern und nicht die von Kriegsopfern. Dass es anders laufen kann als an den bayerischen Gerichten, zeigt ein Fall aus den USA. Im Juli 1988 kaufte Peg Goldberg, eine Kunsthändlerin aus Indiana, in Genf vier Mosaiken aus der ausgeraubten Kirche Panagia Kanakaria. Wert: eine Million Dollar. Verkäufer: Aydin Dikmen. Vermittler: Michel Van Rijn. Über einen New Yorker Händler bot Goldberg die Mosaiken dem Getty Museum in Malibu an. Zyperns Regierung und die Orthodoxe Kirche erfuhren davon und boten Goldberg an, ihr die Mosaiken für eine Million Dollar abzukaufen. Goldberg lehnte ab. Die Kirche klagte auf Rückgabe beim District Court of Indiana und gewann. Im Oktober 1990 bestätigte ein höheres Gericht das Urteil. Wenige Monate später wurden die Mosaiken nach Zypern gebracht und von 50 000 Menschen begrüßt. Seither werden sie in einem Museum ausgestellt. Und bald könnte sich ihnen auch das Porträt von Apostel Thomas anschließen.

Athen ist fern, Berlin noch ferner: Warum gehört Zypern trotzdem zu Europa?

taturen aufgezwungen bekamen, formierte sich in den USA ein Gemeinschaftsgefühl, auf dem Präsident Franklin D. Roosevelt sein Reformpaket des New Deal aufbauen konnte. Oder verkürzt gesagt: In Amerika bekamen sie Bankenreformen und Rentenversicherungen, in Europa die Nazis und den Kommunismus. In der Weltwirtschaftskrise des 21. Jahrhunderts, ist dieses Solidaritätsgefühl in Amerika, aber eben auch in Europa weitgehend verschwunden. Wer von Schulden erdrückt wird (in den USA als Bürger, in Europa als Staat), ist selbst schuld – hätte er eben nicht über seine Verhältnisse gelebt. Deswegen ist Amanda Palmer kein rein amerikanisches Phänomen. Für eine Generation, die nicht nur mit den Schulden ihrer Vorväter leben wird, sondern auch mit dem Ende eines Wachstums, das bisher die Verbesserung des Lebensstandards von Generation zu Generation über mehrere Jahrhunderte automatisierte, wird Amanda Palmer so zu einer Art Wanderheiligen. Die Sängerin verkörpert gleich mehrere Ideale: Sie lebt ohne die Zwänge der Konsumgesellschaft, sie vertritt ein ethisch einwandfreies Wertesystem, sie ist ein Rockstar und sie macht all das durch das identitätsstiftende Internet möglich. Das ist keine Pose, sondern ein Kraftakt. Genau deswegen funktioniert ja auch ihr Pathos. ANDRIAN KREYE

Literatur

Diplomat durch und durch: Was Kofi Annan in seinen Memoiren nicht sagt

Schaumgeboren Gewaltiges Pathos: Amanda Palmer bei ihrem Ted-Auftritt. FOTO: JAMES DUNCAN DAVIDSON

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Das Politische Buch

as ist das vorläufige Ende eines jahrzentelangen Krimis, der begann, als man noch kein Geld nach Zypern schickte, sondern Soldaten. 1974 marschierte die türkische Armee im nördlichen Teil der Insel ein, um auf einen Putsch in Nikosia zu reagieren, Zypern wurde geteilt, die Vereinten Nationen entsandten Friedenstruppen. Die Blauhelme sicherten zwar einen brüchigen Frieden, konnten aber Zyperns Kunstschätze nicht bewahren. Unter den Augen der Soldaten plünderten international vernetzte Kunstdiebe Zyperns Klöster und Kirchen. Tausende Ikonen, Fresken und Mosaiken, manche aus der frühchristlichen Zeit, landeten auf dem Hehlermarkt. Im Herbst 1997 gelang den Kunstfahndern des bayerischen Landeskriminalamts ein Coup: Sie beschlagnahmten mehr als zweihundert solcher Kunstwerke in den Münchner Wohnungen des Türken Aydin Dikmen, darunter ein Mosaik aus der frühbyzantinischen Kirche Panagia Kanakaria auf der Halbinsel Karpas, das den Apostel Thomas zeigt. Eigentlich unschätzbar, aber auf dem heutigen Markt mindestens fünf Millionen Euro wert. Anders als Zyperns Regierung und Kirche erwarteten, wurden die Kunstwerke jedoch nicht nach Zypern zurückgeschickt, sondern wanderten erst einmal in die Asservatenkammer des Landeskriminalamtes.

Warum gehört Zypern überhaupt zu Europa? Das fragen sich derzeit nicht nur Bundestagsabgeordnete, die jetzt wegen dubioser Bankgeschäfte neue Milliardenhilfen zur Rettung des Euro bewilligen sollen, und ihre Wähler. Die Mittelmeerinsel Zypern liegt schließlich kurz vor Syrien, Libanon und dem östlichen Ende der türkischen Südküste. Die Städte Aleppo, Beirut und Adana sind nah, Athen ist fern, Berlin noch viel ferner. Geografisch gehört Zypern zum Nahen Osten, mithin zu Asien. Warum also: Europa? Man könnte antworten: Weil Aphrodite, die Göttin der Liebe, aus dem Schaum geboren wurde und an den Gestaden Zyperns dem Meer entstieg. Laut dem Philosophen Peter Sloterdijk („Schäume“) verkörpert die Schaumgeborene, mirakulös gezeugt aus dem ins Meer herabgefallenen Ejakulat des entmannten Urgottes Uranos, das generative Prinzip des Abendlandes. Diesem generativen Prinzip kann man mit guten Gründen auch die Erfindung der Geldschöpfung zurechnen. Sandro Botticellis Bild von der Landung der schaumgeborenen Aphrodite/Venus in Zypern, zu sehen in den Uffizien in Florenz, ist eines der allerberühmtesten Kunstwerke Europas. Und kaum eine Figur hat die Geschichte des Kontinents so beeinflusst wie die zyprische Liebesgöttin: Auf der Insel Lesbos inspirierte sie die Dichterin Sappho zu den Anfängen der europäischen Liebeslyrik; indem sie dem Königssohn Paris die schönste Frau der Welt versprach, löste sie den Trojanischen Krieg aus; und als Mutter des Äneas war sie die Urahnin des Römischen Reiches. Der bedeutende Aphrodite-Kult in Paphos, im

HEUTE Feuilleton

Seit mehr als 15 Jahren bewahrt das bayerische Landeskriminalamt Hunderte von Ikonen und Mosaiken auf, die aus Zypern geraubt wurden. Bald könnten die Kunstwerke die Heimreise antreten

Dort schlummern sie bis heute. Was als ein gemeinsamer Sieg bayerischer Beamten und der Republik Zypern begann, artete in eine skurrile juristische Hängepartie aus, die erst an diesem Montag zu Ende gegangen ist. Das Oberlandesgericht München hat geurteilt, die Mehrheit der geplünderten Kunstwerke solle an die Autozephale Griechisch-Orthodoxe Kirche beziehungsweise das Erzbistum der Maroniten Zyperns herausgegeben werden. Aydin Dikmen, 75, wird dazu verurteilt, seine Zustimmung zu dieser Herausgabe zu erteilen. Das Urteil ist letztinstanzlich, eine Revision nicht zugelassen. Dikmen kann sich theoretisch beim Bundesgerichtshof um eine Zulassung bemühen, aber die wird äußerst selten gewährt. Dass die Rückkehr des zypriotischen Nationalschatzes von der Zustimmung eines wohl am Kunstdieb Beteiligten abhängt, ist eine Besonderheit des deutschen Rechts. Wegen Kunstdiebstahls Mitte der Siebzigerjahre hätte Dikmen 1997 nicht mehr belangt werden können, diese Straftat verjährt in Deutschland nach zehn Jahren. Dikmens Behauptungen, er habe die Ikonen und Mosaiken legal auf Auktionen erworben und einige davon sogar selbst hergestellt, musste man rechtlich so hinnehmen. Als das Landgericht München I vor zweieinhalb Jahren nach einer aufwendigen Expertise zu dem Schluss kam, diese Behauptung könne kaum der Wahrheit entsprechen, legte Dikmen Berufung ein. Im Gegenzug für seine Zustimmung forderte er fünf bis sechs Millionen Euro. Beim Urteil vom Montag handelt es sich zwar nur um ein Teilurteil, es erstreckt

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Südwesten der Insel, stand unter dem Patronat der römischen Kaiser, die dortige Ausgrabungsstätte mit Mosaiken wird von vielen Zyperntouristen besichtigt. Wem das alles zu mythologisch ist, der kann sich lieber an die Wirtschaftsgeschichte halten. Wenn das hochverschuldete Griechenland zur Rechtfertigung riesiger Hilfspakete als „Wiege der europäischen Demokratie“ bezeichnet wird, dann ist Zypern zweifellos eine Wiege der europäischen Zivilisation. Wegen seiner Bodenschätze und seiner Lage im östlichen Mittelmeer – gegenüber von Ugarit, Kilikien und Ägypten – wurde Zypern im Altertum eines der frühesten und wichtigsten Drehkreuze für den Seehandel, der Wohlstand und Kultur in den Westen brachte. Die heutigen zyprischen 10-, 20- und 50-CentMünzen, deren gesamteuropäischer Wert jetzt durch Rettungsmaßnahmen bewahrt werden soll – Zypern gehört seit 2008 zur Euro-Zone – zeigen denn auch ein antikes Handelsschiff.

Früher einmal versorgte Zypern Europa mit harter Währung – nicht umgekehrt Während aber heute Kredite mit weiteren Krediten gestützt werden müssen, während die finanzielle und wirtschaftliche Lage nicht gerade solide ist, versorgte Zypern die Mittelmeerwelt einst mit harter Währung. Diese Währung war Kupfer. Das Edelmetall verdankt seinen Namen bis heute der drittgrößten Mittelmeerinsel – vom lateinischen aes cyprium (Kupfererz). Man brauchte es für die Bronze, die aus

Kupfer und Zink legiert wurde und die der Bronzezeit ihren Kulturfortschritt verschaffte. Das Metall, das Zyperns Kupferminen hergaben, wurde nicht nur für Waffen, Streitwagen, für haltbare Gefäße und Schmuck verwendet, es diente auch direkt als Tauschgut – die frühe Form des Münzhandels. Und so stand auch die Metallurgie als fruchtbarer Grund von finanzieller Prosperität in Zypern unter dem Schutz der Großen Göttin Aphrodite. Heute scheinen die Gebete nicht mehr zu helfen. Zuerst blühte Zypern in der späten Bronzezeit auf, in der zweiten Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends. Es gab dort rege multikulturelle Kontakte, man kam aus den mykenischen Zentren Griechenlands oder aus dem Hethiterreich nach Zypern; Archäologen und Historiker können nicht zweifelsfrei bestimmen, wer damals auf der Insel das Sagen hatte – was mit der gegenwärtigen Situation ja seine Ähnlichkeit hat. Im ersten vorchristlichen Jahrtausend kontrollierten die Phönizier, die großen Kapitalisten der Antike, unter anderem von Niederlassungen in Zypern aus den Handel im Mittelmeerraum. Die Phönizier brachten Europa keine unwichtige Kulturtechnik bei: die Alphabetschrift nämlich. Überhaupt nimmt man an, dass mit dem Handel, der über Zypern lief, nicht nur Güter, sondern auch allerlei Ideen ausgetauscht wurden; die griechischen Heldengeschichten und wundersamen Erzählungen, die uns in der homerischen „Ilias“ und „Odyssee“ begegnen, verdanken dieser Seefahrerwelt nicht wenig. So hat Zypern auch noch seinen Anteil an der Geburt der allerersten europäischen Literatur.

Von alters her gibt es also Gründe, das heiße, ferne Zypern zum Abendland zu rechnen. Wie viele Mittelmeerinseln – Zypern ist die drittgrößte – hatte es seitdem viele wechselnde Herrscher. Unter französischen Kreuzfahrer-Königen brachte es der Hafen von Famagusta im Hochmittelalter zu sagenhaftem Reichtum, später trat die Handelsmacht der Venezianer das Erbe der Phönizier an. Shakespeares „Othello“ spielt in einem „Seehafen auf Zypern“. Dann kamen Osmanen, Briten . . . Zypern zog viele an, und dass diese Magie bis heute wirkt, sieht man nicht bloß am Boom des Massentourismus in den letzten Jahrzehnten, sondern auch an der Reiseliteratur westlicher Besucher, die sich in die Besonderheiten Zyperns einfühlen wollen – so zuletzt Joachim Sartorius in seinem gerade erschienenen Buch „Mein Zypern“ (Mare Verlag, 2013, 191 Seiten, 18 Euro). Seit der völkerrechtswidrigen Besetzung Nordzyperns durch türkische Truppen im Jahr 1974 ist die Lage, einfach gesagt, vertrackt. So spezifisch nun die aktuellen Probleme auch sind, man muss die alten Bezüge und Beziehungen immer wieder mal im Blick haben. Nicht nur berufen sich die Griechen im Südteil der Insel darauf – die Zyperngriechen, die nach der britischen Herrschaft erfolglos versucht haben, sich mit dem griechischen Mutterland zu vereinigen; nein, ohne all jene Geschichte und Geschichten wäre auch die Europäische Union wohl niemals auf die Idee gekommen, das von Klientelwirtschaft und Zerrissenheit geprägte Zypern im Jahr 2004 in ihre Staatengemeinschaft und 2008 in die Euro-Zone aufzunehmen. JOHAN SCHLOEMANN

Wer in diesen letzten Tagen der Grippewelle versucht zu tun, was der Arzt empfiehlt, fühlt sich schnell seltsam schrullig. Wie aussätzig. Oder er gibt auf. Händewaschen? Menschenmengen meiden? Nicht ins Gesicht fassen? Kann man alles versuchen. Aber: Keine Hände schütteln? Niemandem die Hand geben? Geht gar nicht. Oder nur mit einer kleinen Lüge: „Guten Tag. Wir sollten uns heute lieber nicht die Hand geben. Ich bin, glaube ich, ein wenig erkältet.“ Der zu begrüßende Mensch zieht dann entweder die ausgestreckte Hand erschrocken zurück und denkt: Blöde Kuh, warum bleibst du dann nicht zu Hause. Oder er sagt heldenhaft beherzt: „Das macht mir gar nichts. Ich stecke mich schon nicht an.“ Und greift zu. Mit der Wahrheit ist es noch schwieriger: „Bitte, ich möchte Ihnen nicht die Hand geben. Mein Arzt hat das empfohlen. Es ist, müssen Sie wissen, jetzt zu spät, um sich noch gegen diese Monster-Grippe impfen zu lassen, weil es zwei Wochen dauert, bis so eine Impfung ihren vollen Schutz entfaltet. Auch sind außer dem Schweinegrippevirus H1N1 noch andere fiese und unimpfbare Sachen unterwegs. Wir sollten uns das mit dem Händeschütteln überhaupt ganz abgewöhnen, noch bevor das tödliche Supervirus kommt.“

Händeschütteln sollte zeigen, dass man nicht bewaffnet ist – heute ist die Hand die Waffe So was macht man ein-, zweimal. Als Mutprobe. Und fängt sich halbstündige Vorträge ein, oder hält sie selbst, etwa so: Wir machen das mit dem Händeschütteln ja schon seit mehr als 2000 Jahren. Handgeben gehört in die Kultur-DNA des Westens. Man muss sich nur mal in der Antikensammlung des Pergamonmuseums zu Berlin das Grabrelief des Thraseas und der Euandria anschauen, 2000 Jahre alt: Zwei Männer in Toga geben sich die rechte Hand. Ein dritter schaut skeptisch verzweifelt zu. Wahrscheinlich ist er Virologe. Oder: Ursprünglich hat man sich in unserem Kulturkreis die rechte Hand zur Begrüßung gereicht, um zu zeigen: Ich komme in friedlicher Absicht, ohne Waffe, jedenfalls ziehe ich sie nicht. Heute laufen nicht mehr so viele mit Schwert oder Messer im Gewand herum. Heute ist die nackte rechte Hand schon die eigentliche Waffe. Sie zu ergreifen ist, neben den gemeinsamen Kontakten von Menschenhänden mit Türklinken, Handläufen und Bahnautomaten, der wichtigste Übertragungsweg für Keime und Infektionen aller Art. Ja, klar, man kann sich nach der Handgeberei waschen oder desinfizieren mit Sterillium. Aber die Infektionskette durchbricht man so nicht. Wenn ich bei einer Veranstaltung 27 Menschen die Hand schüttle und mich anschließend desinfiziere, dann hat der Siebenundzwanzigste trotzdem allen 26 anderen die Hand gegeben. Das Klinikum in der auch in vielen anderen Dingen großartig vorbildlichen Stadt Lüdenscheid hat in seinen Behandlungsräumen und Fluren Plakate aufgehängt: „HÖFLICH OHNE HÄNDE.“ Beispielfotos zeigen, wie man sich „zum Schutz unserer Patienten“ auch ohne Händedruck begrüßen kann. Mit einem freundlichen Lächeln zum Beispiel. Schon seit Jahren sagt der Biologe Harutyun Melkonyan (www.no-hands.de) nur noch zu jedem: Ich grüße Sie. Und hebt dazu die rechte Hand wie Winnetou oder Mr. Spock. Auf seiner Internetseite bekommt er grob xenophobische E-Mails deswegen. Apropos fremd und Fremdwort: Vielleicht sollte man den guten alten keimverbreitenden Händedruck Dexiosis nennen, wie die Kunsthistoriker das schon immer tun, wenn sich zwei die rechte Hand geben auf einer Münze, einer Vase, einem Relief oder einem SED-Plakat. Dexiosis klingt viel besser und vor allem: gefährlicher. Einfach mutig die rechte Hand zum Gruß heben, sagen: „Dexiosis vermeiden!“ Und lächeln. Geht doch. Bis dann der Chefredakteur vor einem steht, oder eine Bundeskanzlerin, die freundlich die Hand zum Gruß entgegenstreckt . . . EVELYN ROLL NeshitovT SZ20130319S1724354


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