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Nathalie Krall - Wanderer zwischen den Welten (2022)

Ali Saoudi, "Selbstportrait", 2015, Mischtechnik, alle Rechte vorbehalten

ALI SAOUDI - WANDERER ZWISCHEN DEN WELTEN

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Einführungsrede von Nathalie Krall, 27. Januar 2022

Ali Saoudi im Juni 2021

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Kunstgäste,sehr geehrte Damen und Herren,

herzlich Willkommen zu der Eröffnung dieser Ausstellung zum Lebenswerk und Lebensweg des Künstlers Ali Saoudi und zur Premiere seines Films in der Reihe »Neusser Künstler*innen im Portrait«. Ich freue mich, dass Sie alle trotz der aktuellen Situation heute Abend den Weg zu uns an diesen außergewöhnlichen Ausstellungsort gefunden haben.

Zunächst möchte ich mich bei allen bedanken, die an der Realisierung dieses Projektes beteiligt waren: Mein ganz besonderer Dank gilt Christian Weber vom Kulturamt der Stadt Neuss, der mich vor mittlerweile fast zwei Jahren einlud, an der Planung dieser Ausstellung teilzuhaben und der sie bis heute unermüdlich voran trieb.

Von Herzen bedanken möchte ich mich auch bei meinem Filmteam, insbesondere bei meinem Kameramann Tom Birke, der mit stoischer Ruhe immer alle Änderungswünsche umsetzte, und bei Aaron Ehnes, der mit viel Leidenschaft extra für diesen Film die Musik komponierte.

Gemeinsam mit meinem Filmteam sage ich auch Harald Müller vom Kulturamt ein großes »Danke«. Von ihm stammt die Idee zur Filmreihe »Neusser Künstler*innen im Portrait« und er war es auch, der uns im Sommer 2021 mit großer Zuversicht die Gelegenheit gab, diesen Film zu Ali Saoudi Wirklichkeit werden zu lassen. Dass es sich dabei um das Portrait eines Künstlers aus einem anderen Kulturkreis handelt, ist umso schöner, denn so konnten wir sowohl von dem bewegten Leben eines facettenreichen Malers und Grafikers erzählen als auch von der Diversität der Stadt Neuss. Als letzter Film in der Reihe während der Amtszeit von Harald Müller hoffen wir, dass wir mit diesem Portrait ein kleines filmisches Ausrufezeichen hinter sein Engagement beim Kulturamt der Stadt Neuss setzen können.

Schließlich gilt mein besonders herzlicher Dank dem Künstler selber: Ali Saoudi hat uns allen unzählige Male warmherzig und gastfreundschaftlich die Türen in seine Gedankenwelt und seine Kunstwelt geöffnet. Dort fanden wir zwischen flirrenden Formen und schillernden Farben eine hollywoodreife Lebensgeschichte. Wir freuen uns, Ihnen allen diese heute erzählen zu dürfen!

DIE BESTE HEIMAT

Mein Name ist Nathalie Krall, ich bin Kunsthistorikerin und lebe in Düsseldorf. Geboren bin ich aber hier in Neuss und am Hafen unter dem strengen Blick von Quirinus zur Schule gegangen. So nah an meinen eigenen Wurzeln, schwang seit Beginn der Ausstellungsplanung hier im Atelierhaus auf der Hansastraße in mehr als einer Hinsicht ein besonderes Thema mit: Heimat. Wie Sie heute Abend sehen werden, ist die Heimat und das Zuhause eines der zentralen ideellen Motive in Leben und Kunst von Ali Saoudi.

Doch was bedeutet Heimat? Heimat ist ein Wort, das sich nicht recht in andere Sprachen übersetzen lässt. Denn Heimat ist mehr als der Ort, an dem wir geboren wurden oder aufgewachsen sind. Sie ist mehr als nur unsere Adresse und mehr als ein bloßer Eintrag in unserem Reisepass.

Heimat kann viele Formen annehmen. Sie kann ein tatsächlicher oder ein emotionaler Raum sein: Das Lied, das uns die Großmutter vorsang; der Geschmack der Currywurst vom Imbiss an der Ecke; der Mensch, der uns von allen am besten kennt. Ein lateinisches Sprichwort sagt dazu: »Ubi bene, ibi patria« - wo es einem gut geht, da ist Heimat. Heimat ist also ein Gefühl, die Erinnerung an Vertrautheit und Geborgenheit, ein gedanklicher Ort, an dem alle Masken fallen und wo wir das sein können, was wir wirklich sind.

Die beste Heimat von allen ist sowohl der Ausgangspunkt, von dem wir aufbrechen, um die Welt zu entdecken, als auch der sichere Hafen, in dem wir nach allen Stürmen zur Ruhe kommen können. Jede und jeder einzelne von uns mit einem solchen Raum im Leben, kann sich glücklich schätzen. Ali Saoudi gehört dazu, denn ihm war das Glück einer ebensolchen Heimat beschert.

Ali Saoudi, "Meine Heimat", 1976, Federzeichnung, alle Rechte vorbehalten

TAUSENDUNDEIN TRAUM

Die Geschichte von Ali Saoudi beginnt 1949 in Casablanca, einem Schmelztiegel der Kulturen Nordwestafrikas. Zum Duft von Minze und Grüntee und zur Stimme der Mutter, die ihm und seinen neun Geschwistern beim Teppichknüpfen von »Tausendundeiner Nacht« erzählt, lässt der kleine Ali seiner Phantasie freien Lauf und entwirft aus tausendundeinem Punkt Muster und Motive zu den morgenländischen Geschichten. Die Mutter verwebt sie in ihren Teppichen und ermutigt den Sohn zu noch mehr: Noch mehr Phantasie, noch mehr Träume, noch mehr Kunst. Und dazu, den eigenen Weg zu gehen. Darin sind sich die Eltern ähnlich und darin sind sie sich einig.

Als junger Mann träumt Ali Saoudi dann zu den Songs von Elvis und den Beatles von der weiten Welt. Mit dem Ende der Schule ergreift er die Gelegenheit beim Schopfe und macht sich Anfang der 70er Jahre in Schlaghosen auf nach Europa und in sein Abenteuer. Mit viel Zufall und oft einer ordentlichen Portion Glück führt ihn sein Weg über Meer und Land von Marokko über Spanien, Frankreich und Skandinavien ausgerechnet ins Rheinland.

Ali Saoudi, "Sonnenuntergang", 1976, Federzeichnung, alle Rechte vorbehalten

Ali Saoudi, "Traum einer Familie", 1976, Lithographie, alle Rechte vorbehalten

Eigentlich sollte es von hier zurückgehen nach Paris, zum Kunststudium an die École des Beaux-Arts. Doch Frankreich ist keine wirkliche Herausforderung für ihn, Deutschland schon: Eine ganz andere Sprache, eine ganz andere Kultur. Marokkanische Menschen in Ratingen, die direkt zu Freunden werden, nehmen ihn mit nach Düsseldorf, in »seine« Stadt. In der Altstadt verliebt er sich - in den Rhythmus der Metropole am Rhein, in die sagenumwobenen Erzählungen von der Kunstakademie im Geiste der 68er und in eine junge hübsche Frau namens Ingrid. Gemeinsam mit ihr findet er in Neuss das Leben, das ihm vorbestimmt ist.

Das Studium bei den Professoren Joseph Beuys und Rolf Sackenheim an der Kunstakademie Düsseldorf schließt er 1977 mit Akademiebrief und als Meisterschüler in Grafik ab. Erst arbeitet er als Kunstlehrer, später als Gebrauchsgrafiker. Der Traum einer Familie wird wahr. Die Söhne werden geboren. Die Muster seiner Kunst springen von der Leinwand über auf das Leben in Reuschenberg, auf Heizkörper und Zimmerdecken, auf Haushaltsgeräte und Autotüren. Und immer stellt er aus.

Ali Saoudi, "Rheinbrücke", 1976, Federzeichnung, alle Rechte vorbehalten

MARROKANISCHER BEUYS-SCHÜLER

Die Kunst von Ali Saoudi wird besprochen als marokkanisch oder orientalisch, als arabisch und als Folklore. Bei all diesen Versuchen der Zuordnung wird aber vor allem eins klar: Dass nicht klar ist, worum es sich bei seiner Kunst genau handelt.

Ein Neusser Künstler aus Marokko? Die Versuche der Kategorisierung werden ihm nicht gerecht. Sie sind zu kurz gefasst, denn seine Kunst befindet sich im dauerhaften Zustand der Veränderung. Und so kratzt auch die gern verwendete Formulierung des »Beuys-Schülers« doch nur an der Oberfläche. Ein Beuys-Schüler, der vor allem von Sackenheim beeinflusst war?

Wir können seine Kunst nicht wirklich verorten. Immer wenn wir glauben, wir wären ihrem wahren Wesen auf der Spur, müssen wir erkennen, dass die Wahrheit immer noch verschleiert bleibt. Doch genau das macht ihren Reiz aus.

Ali Saoudis Kunst ist marokkanisch, arabisch und afrikanisch, aber sie ist auch französisch und deutsch und chinesisch. Sie ist erwachsen aus der europäischen Kunstgeschichte, doch sie ist international, ja gar transkulturell.

Die farbenfrohe Formensprache der Teppichknüpfkunst der Berber verbindet sich mit dem meditativen Punktierstil der Postimpressionisten wie Paul Signac und Henri Edmond Cross. Ali Saoudis Vorzeichnungen erinnern an die leichte Hand Pablo Picassos, sein Umgang mit der Form an den Kubismus von Georges Braque. Das flimmernde Licht Marokkos war eine Inspiration, ebenso wie die Monochromie der schwarz-weißen Radierungen von Rolf Sackenheim. Die ornamental-verschlungenen Arabesken der islamischen Kunst, die so oft dem Anthropomorphen entrückt ist, werden bei Ali Saoudi in den endlosen Spiralen und floralen Motiven des Jugendstils à la Gustav Klimt zu eben dieser menschlichen Gestalt zurückgeführt.

Ali Saoudi, "China-Vision", 2015, Mischtechnik auf Leinwand, alle Rechte vorbehalten

collectAR, "Ali Saoudi - China-Vision", 2022, AR, alle Rechte vorbehalten

Maghrebinische Marktfrauen und Düsseldorfer Reiterstandbilder, Studien von Bäumen im Wechsel der Jahreszeiten und neubarocke Fassaden hundert Jahre alter Häuser in Neuss, die segenspendende Symbolik der islamischen Welt und Kommentare auf das Konsumverhalten der 1980er Jahre. Alles hat bei ihm eine Daseinsberechtigung, denn alles kommt direkt aus dem Leben selbst.

Mit festen Wurzeln in der Erde Nordafrikas und der Erde des Rheinlands greift Ali Saoudi Neues stets mit großer Experimentierfreude auf und macht es zu einem Teil seiner Bildsprache. Alle Eindrücke kommen hier zum Ausdruck. Und so ergänzt er stetig seinen Stil und seine Techniken, sein Formenrepertoire und seinen Themenkosmos. Indem er dabei das Wesentliche verhüllt lässt, lädt er uns ein auf unser eigenes Kunstabenteuer. Die Erkenntnisse, die wir dabei finden, sind immer die richtigen.

Ali Saoudi, "Ohne Titel", 2019, Acryl auf Leinwand, alle Rechte vorbehalten

VERKNÜPFUNGEN

Ali Saoudi, "Konsumgesellschaft", 1981, Acryl auf Leinwand, alle Rechte vorbehalten

collectAR, "Ali Saoudi - Konsumgesellschaft", 2022, AR, alle Rechte vorbehalten

Wie ein Nomade wandert Ali Saoudi zwischen den Welten und den Kulturen. Dabei fühlt er sich überall Zuhause, als Reisender, der es immer verstanden hat, neuen Freunden mit offenen Augen und offenen Armen zu begegnen.

In seiner Kunst, wie in seinem Geiste sind dabei die Grenzen fließend. Oder mehr noch: Die Grenzen sind überwunden. Ost und West, Süd und Nord, Weiß und Schwarz, das Abstrakte und das Figurative, Afrika, Europa und Asien - alles ist untrennbar miteinander verknüpft, verschmolzen und eins.

Als Definition eines zeitgenössischen Künstlers, führt Ali Saoudi uns so die Grenzüberschreitung vor Augen, die nur in der Kunst derart möglich ist. Wie nirgends sonst sind wir alle hier durch viel mehr miteinander verbunden als uns je trennen könnte. Nationalität, Sprache, Religion sind vor der Kunst nicht von Bedeutung. Hier ist unser aller Heimat.

ENTFESSELUNG

Bei Ali Saoudi entsteht aus tausendundeinem einzelnen Aspekt das Bild eines bewegten Lebens; eines Lebens, das beweist, welch schöpferisches Potential entfesselt werden kann, wenn man die Blickrichtung ändert, das Bekannte hinter dem Horizont zurücklässt und sich auf Neues einlässt. Das ist für mich die Botschaft von Ali Saoudi.

Wir sehen hier heute ein kleines Stück Zeitgeschichte, vor allem aber eine zutiefst biographische Kunst, die mit Farbe und Pinsel Geschichten von Nostalgie erzählt und von Sehnsuchtsorten, vom Gestern und vom Morgen und von allem dazwischen. Eine Kunst, deren wichtigste Lehrer nicht Beuys und Sackenheim sind, sondern die Mutter, das Zuhause und das Leben selbst.

Gemeinsam mit dem Kulturamt der Stadt Neuss lade ich Sie nun also ein, hinter die schillernden Farben und die flirrenden Formen zu schauen und in den unzähligen Facetten der Kunst von Ali Saoudi eine weitere Heimat zu finden.

Vielen Dank!

Ali Saoudi, "Mère", 1989, Acryl auf Leinwand, alle Rechte vorbehalten

www.saoudi.org

ALI SAOUDI - WANDERER ZWISCHEN DEN WELTEN

Eröffnungsrede von Nathalie Krall, M.A. zur Ausstellung »Ali Saoudi« des Kulturamts der Stadt Neuss im Atelierhaus auf der Hansastraße, 27. Januar 2022.

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Permalink: http://www.nathalie-krall.art/wp-content/uploads/2022/02/ 20220220-Nathalie-Krall-Ali-Saoudi- Wanderer-zwischen-den-Welten.pdf

»Ali Saoudi - Mein Leben ist Kunst« ein Film von Nathalie Krall in der Reihe »Neusser Künstler*innen im Portrait« im Auftrag des Kulturamts der Stadt Neuss nach einer Idee von Harald Müller mit Bildern von Tom Birke und Musik von Aaron Ehnes ist zu sehen auf YouTube.

Mit den QR-Codes kann man die Kunstwerke von Ali Saoudi im AR, der Augmented Reality, von collectAR auf dem mobilen Endgerät im Google Chrome-Browser bei Android oder im WebXR Viewer beim iPhone erleben. Weitere Informationen unter ar.collectar.org.

www.collectar.org

www.nathalie-krall.art

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