Alles bleibt anders - Kulturtechniken im Digitalen

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Die Ausstellung 2

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Informieren & Protestieren

Team

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Editorial

Ein Blick auf kulturelle Praktiken, die über Epochengrenzen hinweg Anwendung fin­ den, sollte helfen, die­ sen Fragen näher zu kommen. Wir wollten sehen, ob und wie Men­ schen schon vor dem Digitalen in den imagi­ nierten Welten des Spie­ lens abtauchten, sich ge­ genseitig überwachten oder unkonventionelle Formate für das Protestieren gegen Widrigkeiten nutzten. Die nächste Frage lautete also: Wie ver­ ändern nun digitale Technologien das Gesicht

und die Geschwindigkeit dieser grundlegenden menschlichen Kulturtechniken? Eine tatsäch­ liche Gegenüberstellung der Praktiken, wie sie im digitalen und analogen Raum gelebt wurden und werden, stellten wir uns als erhellend vor. Unsere Idee, kulturwissenschaftliche An­ sätze in eine Ausstellung zu übersetzen, stellte sich für uns als eine umfangreiche Forschungs­ aufgabe heraus. Wir machten uns auf zur Explo­ ration: Ob wir grandios scheitern oder unsere Gedankenexperimente aufgehen würden, war bis Ausstellungsende eine offene Frage. Nicht im konventionellen Medium geisteswissen­ schaftlicher Forschung, dem Text, sollten unsere Thesen präsentiert wer­ den, sondern in einer öf­ fentlich zugänglichen Ausstellung. Damit stell­ ten sich gleich zu Beginn ganz andere Fragen, da der Raum uns seine ganz eigenen Grenzen vor­

„Werden wir grandios scheitern oder unsere Gedankenexperimente aufgehen?“

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Der Titel des Wissenschaftsjahres betont, die Gesellschaft befinde sich nicht in einem Pro­ zess der Digitalisierung, sondern sei bereits als eine digitale zu verstehen. Wir fragten uns also zum einen, was diese digitale Gesellschaft ist, deren Teil wir augenscheinlich sind. Und zum anderen, ob wir sie von einer vorherigen – einer analogen – abgrenzen können.


gab. Es waren Fragen zur Auswahl, Anordnung und Inszenierung der Themen, zur Mate­rialität der Ausstellungsarchitektur und zum Verhält­ nis der Objekte zum Text. Wie sprechen wir und wie forschen wir mit materiellen Objekten? Wie vermeiden wir Geisteswissenschaftler_innen, die sonst Sprache als wichtigstes Werkzeug nut­ zen, die Objekte als bloße Illustrationen für den nebenstehenden Text zu degradieren? Und wie bringen wir das Digitale in den Raum?

„Wie sprechen und forschen wir mit materiellen Objekten?“

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Die Idee des Hochschulwettberbs des Wissenschaftsjahres ist es, junge Wissenschaft­ ler_innen zu fördern und ihnen eine Möglich­ keit zu bieten, ihre Arbeit zu kommunizieren. Die Kommunikation sollte nach draußen – in außer­ universitäre Kontexte – streben. Selbstreferen­ zielle Diskurse, Name-dropping oder theore­ tisch-fachliche Voraussetzbarkeiten galt es also zu ­vermeiden. Um nach der gesellschaftlichen Bedeu­ tung des technologischen Wandels zu suchen, wählten wir eine breite Perspektive. Sieben unterschiedliche Kulturtechniken nahmen wir in den Fokus. Niemals hätten wir so groß den­ ken können, hätte uns nicht ein Team von fünf weiteren Kolleginnen unterstützt. Die Kura­ tor_innen, neben uns, Gwen Lesmeister, Teresa Reichert, Anna Lena Seiser, Linda Winkler und Irmela Wrogemann, kommen aus verschiede­ nen geisteswissenschaftlichen Disziplinen: den


Im Laufe des Sommers 2014 haben wir Forschungsergebnisse verdichtet, Objekte re­ cherchiert, Texte verfasst und nach räumlichen Inszenierungsstrategien gesucht. Ohne die Ge­ stalter_innen, die das Erarbeitete harmonisch mit ihren Ideen verbanden, wäre das Projekt nicht in dieser Form denkbar gewesen. C ­ hristian Ernst entwarf ein zurückhaltend klares Gra­ fikkonzept. Die Illustrationen von Johanna ­Schneider bebildern die ‚Theorieschnipsel‘, die sich die Besucher_innen als Abreißzettel aus der Ausstellung mitnehmen konnten und die nun auch dieser Dokumentation beigefügt sind. Und besonders betonen wollen wir die Architektur

von Eva Lüttmann: Aus Pappkartons – einem so unprätenziösen und ephemeren Material – ent­ wickelte Eva variable Schaukästen. Die Ausstel­ lung ist nur in dieser kollektiven Autorschaft des Kurator_innen- und Gestalter_innenteams zu denken. Vielen Dank! Ein großer Dank geht außerdem an unsere Hochschule, die Humboldt-Universität und das dort als Zentralinstitut angesiedelte Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik. Er­ möglicht hat uns die Einreichung des Projektan­ trags Dr. Cornelia Weber, die uns ihr Vertrauen entgegenbrachte und gemeinsam mit uns in den Hochschulwettbewerb gegangen ist. Ein großer Dank gebührt außerdem Felix Sattler, Kurator des Tieranatomischen Theaters, dessen ­gesamte Infrastruktur er uns zur Verfügung stellte und uns darüber hinaus maßgebliche inhaltliche und praktische Impulse gab. Für ihr Vertrauen in unsere anfängliche Projektidee bedanken wir uns bei der Jury des Hochschulwettbewerbs. Außerdem danken wir Esther Lauer und Thorsten Witt von Wissen­ schaft im Dialog ebenso wie dem Bundesminis­ terium für Bildung und Forschung für die groß­ zügige Unterstützung. Projektleitung Sarah K. Becker, Arkadij Koscheew und Mona Wischhoff

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­ edien- und Kommunikationswissenschaften, M der Kunstgeschichte und der Kulturwissen­ schaft.


Die Ausstellung


„Kulturtechniken sind Bedingung zur Erzeugung von Kultur und ihr Produkt zugleich.“

Die Werkzeuge der Kulturtechniken sind technische Apparate und andere Medien. Sie bedingen sich gegenseitig und sind deswegen einer ständigen Entwicklung unterworfen. Im Zuge der Digitalisierung kommt dies eklatant zum Vorschein. Das Digitale bietet Raum für In­ teraktion losgelöst von der eigenen körperlichen Präsenz: Raumübergreifende Vernetzung Vieler und neue Formen der Gemeinschaft entstehen. Zugleich schafft das Digitale eine neue Dimensi­ on der Information: Das Generieren, Teilen und Speichern passiert simultan. Jede_r ist Produ­ zent_in und Nutzer_in zugleich. In den digitalen Strömen löst sich das Mitgeteilte von den Urhe­ ber_innen: Wissen wird zu einer kollaborativen Praktik. Vom Spielen zum Überwachen: Wie ver­ ändern sich Kulturtechniken in einer digitalen Gesellschaft – und umgekehrt? Welche histo­ rischen Vorläufer werden transportiert, was ist neu – und was bleibt alles anders? Die Ausstel­ lung blickt auf die Veränderungen grundlegen­ der sozialer Praktiken wie Spielen, Überwachen oder Kodieren im Zuge der Digitalisierung und vergleicht sie mit ihren analogen, historischen Vorgängern.

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Der Mensch kopiert, spielt, überwacht, kodiert, archiviert, stellt sich dar und protestiert schon immer – aber jeweils in gewandelter Form. Diese grundlegenden, sozialen Praktiken und Verfah­ ren werden als Kulturtechniken bezeichnet. Sie sind Bedingung, um Kultur zu erzeugen, und gleichzeitig Produkt einer Kultur: denn sie ent­ stehen aus einer komplexen Verkettung einer Vielzahl von Akteur_innen und ihrer Handlun­ gen. Kulturtechniken schlagen sich in Bildern, Texten und Objekten nieder und bilden den Rah­ men für soziale Interaktionen.


„Das Mobilliar der Ausstellung setzt nicht auf Verstetigung, sondern auf ­Erweiterung.“

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Strategien des Digitalen haben auch Ein­ zug in die Ausstellungsgestaltung gefunden. Es gibt keine festgelegte Lesrichtung der sieben Themenbereiche. Die Besucher_innen sind dazu eingeladen, Mitproduzierende des Inhalts zu werden. Im Eingangsbereich der Ausstellung lie­ gen Kommentarzettel bereit, die ihnen die Mög­ lichkeit geben, Fragen zu stellen, Ergänzungen anzubringen, oder auch zu kritisieren. Hierfür verfügt jede Station über ein eingezeichnetes Kommentarfeld. Auch das Ausstellungsmobiliar selbst reflektiert Strategien, die mit dem Digi­ talen an Bedeutung gewonnen haben, denn es setzt nicht auf Verstetigung, sondern bietet Mög­ lichkeiten der Erweiterung. Was wir erzählen, ist nicht in Stein gemeißelt, sondern wird von Umzugskartons getragen, die Medium für Bewe­ gung und Veränderung sind.

Die Eröffnung der Ausstellung Alles bleibt anders am 10. Oktober 2014 war zugleich das Kick-Off-Event der EU Code Week und fand in Kooperation mit der Universität der Künste Ber­ lin statt. Sie war das Finale einer bereichern­ den und inspirierenden Zeit im Projektteam. Zugleich war damit die Ausstellung an die Öf­ fentlichkeit übergeben. Es folgte eine sechsmo­ natige Ausstellungslaufzeit, geprägt von einem anregenden Austausch mit den Ausstellungsbe­ sucher_innen und einem Begleitprogramm, das sich aus den Formaten eines klassischen Ver­ mittlungsprogramms heraustraute.


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Grundriss Tieranatomisches Theater Erdgeschoss


„Das Mobilliar der Ausstellung setzt nicht auf Verstetigung, sondern auf ­Erweiterung.“

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Strategien des Digitalen haben auch Ein­ zug in die Ausstellungsgestaltung gefunden. Es gibt keine festgelegte Lesrichtung der sieben Themenbereiche. Die Besucher_innen sind dazu eingeladen, Mitproduzierende des Inhalts zu werden. Im Eingangsbereich der Ausstellung lie­ gen Kommentarzettel bereit, die ihnen die Mög­ lichkeit geben, Fragen zu stellen, Ergänzungen anzubringen, oder auch zu kritisieren. Hierfür verfügt jede Station über ein eingezeichnetes Kommentarfeld. Auch das Ausstellungsmobiliar selbst reflektiert Strategien, die mit dem Digi­ talen an Bedeutung gewonnen haben, denn es setzt nicht auf Verstetigung, sondern bietet Mög­ lichkeiten der Erweiterung. Was wir erzählen, ist nicht in Stein gemeißelt, sondern wird von Umzugskartons getragen, die Medium für Bewe­ gung und Veränderung sind.

Die Eröffnung der Ausstellung Alles bleibt anders am 10. Oktober 2014 war zugleich das Kick-Off-Event der EU Code Week und fand in Kooperation mit der Universität der Künste Ber­ lin statt. Sie war das Finale einer bereichern­ den und inspirierenden Zeit im Projektteam. Zugleich war damit die Ausstellung an die Öf­ fentlichkeit übergeben. Es folgte eine sechsmo­ natige Ausstellungslaufzeit, geprägt von einem anregenden Austausch mit den Ausstellungsbe­ sucher_innen und einem Begleitprogramm, das sich aus den Formaten eines klassischen Ver­ mittlungsprogramms heraustraute.


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Grundriss Tieranatomisches Theater Erdgeschoss


Plattform Polymythos mit der Gesellschaft für Kulturoptimismus 24.01.2015

Videoüberwachung durchschauen – Ein Rundgang durch die überwachte Mitte Berlins mit Peter Bittner 13.12.2014

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„Im Begleitprogramm wurden eine Vielzahl von Kulturtechniken angewandt, verhandelt und reflektiert.“

Dieser Katalog blickt zurück und bietet eine Dokumentation der Ausstellung Alles bleibt anders – Kulturtechniken im Digitalen.

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Um nur zwei Beispiele zu nennen: Der Spaziergang zu Überwachungskameras in Ber­ lin-Mitte mit dem Bürgerrechtler Peter Bittner war wissensvermittelnde Führung und politi­ sche Intervention im Stadtraum zugleich. Ähn­ lich hybrid war auch Plattform Polymythos. Die Gesellschaft für Kulturoptimismus mit F ­ riedrich Kirschner und Christiane Hütter bot einen Abend, der Elemente der künstlerischen Perfor­ mance und des Planspiels mit Vortragselemen­ ten kombinierte. Dabei wurden eine Vielzahl von Kulturtechniken angewandt, verhandelt und reflektiert, wie das Protestieren und Infor­ mieren, das Erzählen, das Handeltreiben und Verhandeln. Kurator_innen Sarah K. Becker, Arkadij Koscheew, Gwen Lesmeister, Teresa Reichert, Anna Lena Seiser, Linda Winkler, Mona Wischhoff und Irmela Wrogemann



„Spuren des Jetzt akribisch konservieren, hoffend sie würden von uns erzählen“

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„Spuren des Jetzt akribisch konservieren, hoffend sie würden von uns erzählen“


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Denis Diderot (1762-1777): “Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers.” Die Bildtafeln Bd. 2, Augsburg 1995


Das Bedürfnis nach der Speicherung von Er­ kenntnissen ist vermutlich so alt wie Sprache selbst. Hierfür schafft man Institutionen, die sich der Aufbewahrung von Schriftstücken – Ge­ setzestexte, Dokumente über Behördenvorgän­ ge, Staatshandlungen und sonstige Aktionen dieser Einrichtungen – verschreiben. Die mate­ rielle Form der Dokumente, ob in Steintafeln ge­ meißelt, auf Pergamentrollen festgehalten oder auf Papier geschrieben, liefert diese zwangs­ läufig dem Verfall aus, vor dem die Archive sie schützen sollen. Doch auch die Aufbewahrungs­ orte selbst sind vom Verschwinden bedroht, sei es durch politische oder ökonomische Faktoren oder durch höhere Gewalt. Der Brand der Herzo­ gin Anna Amalia Bibliothek in Weimar, bei dem im Jahr 2004 50.000 Bücher zerstört wurden, oder der Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln 2009 führen vor Augen, wie fragil Ar­ chive und Bibliotheken als Memorialorte sind.

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„Auch die Aufbewahrungsorte selbst sind vom Verschwinden bedroht.“


„Im Digitalen produzieren alle das globale Gedächtnis mit.“

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Der präsenten Gefahr, Teile des kulturel­ len Gedächtnisses zu verlieren, wird versucht, mit unterschiedlichen Mitteln entgegenzuwir­ ken. 1974 nahm der Barbarastollen in Oberried seinen Betrieb als Zentraler Bergungsort der BRD auf. Er steht als einziges Objekt in Deutschland unter Sonderschutz nach den Regeln der ­Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut. Das ehe­ malige Bergwerk lagert Mikrofilme, die fotogra­ fische Aufnahmen historischer Dokumente ent­ halten, in luftdicht verschlossenen Behältern unter besonderen klimatischen Bedingungen. Die auf Spulen aufgerollten Filme haben nach aktuellen Kenntnissen eine Haltbarkeit von 500 Jahren.

globalen Gedächtnisses. Eine zentrale Insti­ tution, die eine Auswahl des Festzuhaltenden trifft, scheint nicht mehr zu existieren. Soge­ nannte Sirenenserver, wie sie der Informatiker Jaron Lanier in seinem Buch Wem gehört die Zukunft? (2014) beschreibt, schaffen dennoch Informationsmonopole. Dies geschieht mithil­ fe sogenannter Elitecomputer, mit denen sich fast unendlich Daten sammeln und analysieren lassen und deren enorme Rechenleistungen die aller anderen im Netzwerk übertreffen. Geheim­ dienste, Banken, Versicherungsunternehmen, aber auch Suchmaschinen und soziale Netzwer­ ke wie Google und facebook oder Onlinehändler wie amazon besitzen solche Server.

Im Digitalen scheinen Phänomene wie Selektion des zu Speichernden oder Vergäng­ lichkeit auf den ersten Blick gebannt. Jede_r User_in wird zur/m Mitproduzierende_n des

In der Auflösung von Bild, Schrift und Zahl im digitalen Code ergeben sich zugleich neue, multimodale Möglichkeiten des Fest­ haltens von Information. Dies führt die Arbeit ­Synchronous Objects for One Flat Thing, reproduced (2009) von William Forsythe, Maria Pa­ lazzi und N ­ orah Zuniga Shaw vor Augen. Hierbei


In jener Zeit, genauer in den Jahren 1751 bis 1780, gab Denis Diderot zusammen mit Jean-Baptiste le Rond d‘Alembert in 35 Bänden die Enzyklopädie der Wissenschaften, Künste und Handwerke heraus. Nach dem Selbstver­ ständnis der Herausgeber sollte diese „später einmal alle Kenntnisse der Menschen enthal­

„In der Auflösung von Bild, Schrift und Zahl im digitalen Code ergeben sich neue, multimodale Möglichkeiten des Festhaltens von Information.“

ten“. Die Textausgaben mit beigefügten Bild­ bänden beschreiben und veranschaulichen beispielsweise die Instrumente, Techniken, Pro­ zesse und Produkte handwerklichen Arbeitens. Im Mittelpunkt der künstlerischen Arbeit Encyclopaedia Cinematographica (2001) von Christoph Keller stehen die Bewegungsmuster von Tieren. Dabei greift er auf das Filmarchiv ei­ nes wissenschaftlichen Filmprojekts der 1950er Jahre zurück. Es umfasst mehrere tausend meist zweiminütige Filme und archiviert diese nach Arten, Gattungen und deren spezifischen Bewe­ gungsspektren. Keller isoliert die kleinstmögli­ che Bewegungseinheit der Tiere und reiht diese Sequenzen zu Loops aneinander.

Georges Didi-Huberman, Knut Ebeling: Das Archiv brennt. Berlin: 2007. Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben. Berlin: 1997. Jaron Lanier: Wem gehört die Zukunft? Du bist nicht der Kunde der Internet-Konzerne, du bist ihr Produkt. Hamburg: 2014. Hedwig Pompe (Hg.): Archivprozesse. Die Kommunikation der Aufbewahrung. Köln: 2002.

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wurde eine Choreografie von William Forsythe mithilfe von Algorithmen untersucht und da­ durch Strukturen in den Bewegungsabläufen der Tanzenden aufgedeckt. Als grafische Mar­ kierungen werden sie über eine Videoaufnahme des Tanzes gelegt. Diese Form der Speicherung und Analyse von Bewegung lag im Frankreich des 18. Jahrhunderts noch in weiter Ferne.


Aus rechtlichen Gr端nden keine Vorschau


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Christoph Keller (2001): ­ “Encyclopaedia ­Cinematographica”, 20’40’’, Filmstills


Denis Diderot (1762-1777): “Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers.” Die Bildtafeln Bd. 1, Augsburg 1995



William Forsythe, Maria ­P­alazzi, ­Norah Zuniga Shaw (2009): “Synchronous Objects for One Flat Thing, reproduced”, 15’45’’, Screenshots

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Kodieren „Den Zeichen Bedeutung geben und manchmal den Schlüssel verstecken“


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William Forsythe, Maria ­P­alazzi, ­Norah Zuniga Shaw (2009): “Synchronous Objects for One Flat Thing, reproduced”, 15’45’’, Screenshots

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„Den Zeichen Bedeutung geben und manchmal den Schlüssel verstecken“


„Jeder Code ist eine Sprache – jede Sprache ist ein Code.“

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“Jefferson-Walze / Bazeries-Zylinder” (2008), Demonstrationsgerät, Leihgeber: Museumsstiftung Post und Telekommunikation / Museum für Kommunikation Frankfurt. Foto: Arkadij Koscheew, 2015


Zeichen, ihre Längen, Breiten, ihre Form und die Zwischenräume können Auskunft über die Ver­ wandtschaft zu anderen Schriftsprachen geben. Von der etruskischen Sprache, die vom 9. Jahr­ hundert v. Chr. bis zum 1. Jahrhundert n. Chr. in Etrurien, einer antiken Landschaft im heutigen Mittelitalien, gesprochen wurde, sind zum Bei­ spiel nur wenige Schriftdokumente erhalten. Ihre vorhandenen Texte können nur annähernd entziffert werden. Im historischen Verlauf erkennt der Literatur­wissenschaftler und Medientheoretiker Friedrich Kittler eine Entwicklung hin zu kom­ plexer, weil differenzierter werdenden Codesys­ temen. Das Codesystem der altgriechischen Sprache (ca. 800 v. Chr. – 600 n. Chr.) sei noch polyfunktional: Mit ihm ließen sich Schrift­ dokumente, Rechnungen und Musik gleicher­ maßen kommunizieren. Je ein Vokal, eine Zahl und eine Note drückten sich in einem einzigen Zeichen aus (α ist 1 ist ein bestimmter Ton auf einem Instrument). Diese Dreifaltigkeit, wie ­

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Erst das (De-)Kodieren ermöglicht Kommunika­ tion. Eine Sprache definiert sich als System von Einheiten und Regeln, das einer Sprach- und Kulturgemeinschaft zur Verständigung dient. Jeder Code ist eine Sprache – jede Sprache ist ein Code. Den einzelnen Zeichen, ob Noten, Zahlen oder Buchstaben, sind Bedeutungen zu­ gewiesen. Diese Bedeutungen sind kulturell be­ dingt und wandeln sich stetig. Das gesprochene Wort, ebenso wie Schrift und Bild, müssen vom/ von der Empfänger_in erst dekodiert werden, um Teilhabe an ihrer kulturellen Bedeutung zu haben. Die Sprachen früherer, nicht mehr aktiv gelebter Kulturen gelten als ausgestor­ bene Sprachen. Der Code ihrer Schrift scheint undurchsichtig und verschlüsselt. Erst die Rekonstruk­tion des Systems hinter der Schrift ermöglicht es, die Niederschriften jener Kultur und so auch die Kultur selbst zu lesen. Hierfür benötigen Sprachforscher_innen ausreichend Material. Die Ausrichtung der Schrift und ihrer


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­ ittler die Polyfunktionalität betitelt, löst sich K im Mittelalter auf: Um 1500 führt Guido von Arezzo Notenlinien ein und gibt damit der Musik ihre eigene Sprache. Etwa 100 Jahre später über­ nimmt Leonardo Fibonacci für die Algebra die numerischen, umgangssprachlich als arabische Ziffern bekannten, jedoch aus Indien stammen­ den Codes mit neun Ziffern (1-9) und einer Null. Weitere Differenzierungen folgen in der Arith­ metik mit Sonderzeichen wie + und –. Das bi­ näre Codesystem der Programmiersprache und der Computersysteme kehrt laut Kittler an die Anfänge der Zeichengeschichte zurück: Befehle, Buchstaben und Ziffern werden allein über die zwei Ziffern Null und Eins kommuniziert. Dieses Sprachsystem ist für die Maschine lesbar, für den Menschen jedoch zu abstrakt. Aus diesem Grund wird die binäre Sprache in Programmier­ sprachen wie C++ oder Java übersetzt, da diese mit für den Menschen leichter zugänglichen Zei­ chen arbeiten.

„Das binäre Codesystem kehrt an die Anfänge der Zeichengeschichte zurück.“

Ein Code kann jedoch auch bewusst zur Verschlüsselung von Informationen ent­ wickelt und eingesetzt werden; dies lehrt die Kryptologie. In der Geschichte der Datenver­ ­ schlüsselung geht es vor allem darum, in Zei­ ten des Krieges Informationen an Feinden und gegnerischen Parteien vorbeizuschleusen. Im Zweiten Weltkrieg und während des Kalten Krie­ ges kamen zum Beispiel sogenannte Rotor-Verschlüsselungsmaschinen wie die Hagelin BC-543


(Baujahr 1954) zum Einsatz. Die Maschine ähnelt äußerlich einer Schreibmaschine, denn die Text­ eingabe funktioniert über Buchstabentasten. Die Übersetzung in einen verschlüsselten Code übernimmt die Maschine. Der mechanische Vor­ gang, der vor dieser Erfindung noch von Hand ausgeführt werden musste, wird hier mithilfe von elektrischen Motoren verrichtet. Aus diesem Grund muss die/der Chiffrierer_in nicht mehr – anders als bei den manuell-mechanischen Gerä­ ten – den Schlüssel für den Code kennen. Me­ chanisch funktioniert die Kodierung hingegen noch beim Bazeries-Zylinder, entwickelt Ende des 19. Jahrhunderts: 20 Scheiben mit den Buch­

staben des Alphabets sind um die eigene Achse drehbar. Die/der Chiffrierer_in dreht die Räder so, dass in einer Zeile ein Textbaustein zu lesen ist. Dann wählt sie/er eine andere Zeile, deren Buchstabenfolge sie/er an die/den Empfänger_ in übermittelt. Diese_r stellt die Folge bei ihrem/ seinem Zylinder ein und schaut, in welcher Rei­ he die Buchstaben eine lesbare Zeile ergeben. Der Schlüssel des Verfahrens liegt im Besitz ei­ nes solchen Geräts mit der gleichen Reihenfolge der Scheiben und der gleichen Buchstabenfolge auf den einzelnen Scheiben. Ohne jenen Schlüs­ sel ist das Dechiffrieren des Texts mit mehr als zwei Milliarden Buchstabenkombinationen bei­ nahe unmöglich. Im Digitalen ist Verschlüsselung nicht mehr nur eine militärische Frage. Für den Schutz der Privatsphäre und anderer sensibler Daten werden Verschlüsselungssysteme pro­ grammiert. Diese sind unentbehrlich, um nicht gehackt zu werden, wie es Ed Piskor in seiner Graphic Novel Wizzywig: Das Porträt eines notorischen Hackers (2014) auf unterhaltsame Art illustriert. Adam Hyde et al.: CryptoParty Handbook. URL: http://mirror-de.cryptoparty.is/handbook/ (letzter Zugriff: 12.05.2015). Friedrich Kittler: Buchstaben → Zahlen → Codes. In: Jochen Brüning und Eberhard Knobloch (Hrsg.): Die mathematischen Wurzeln der Kultur. Mathematische Innovationen und ihre kulturellen Folgen. München 2005, S. 65-76.

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„Im Digitalen ist Verschlüsselung nicht mehr nur eine militärische Frage.“


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“Hagelin BC-543” (1954), Boris Hagelin; AB Cryptoteknik; Hagelin-Cryptos, Leihgeber: Museumsstiftung Post und Telekommunikation / Museum für Kommunikation Frankfurt, Foto: Arkadij Koscheew, 2015


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Ed Piskor (2014): “Wizzywig: Das Porträt eines notorischen ­Hackers”, Graphic Novel. Top Shelf Prod, Foto: Arkadij Koscheew, 2015


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Von oben nach unten: Kypro-足mionische Schrift, Elamische Schrift, Etruskische Schrift


Spielen „In das ,Als-Ob‘ eintauchen und plötzlich doch das Mögliche erproben“


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Von oben nach unten: Kypro-足mionische Schrift, Elamische Schrift, Etruskische Schrift


„In das ,Als-Ob‘ eintauchen und plötzlich doch das Mögliche erproben“


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“Das MALEFIZ-Spiel. ­Barricade” (1960), Ravensburger Otto Mayer Verlag (Ausschnitt)


„Das Spielverhalten ist an Regeln gebunden LARP (Live Action Role Playing), in denen die über mehrere Tage hinweg verklei­ und muss innerhalb dieses Spielenden det möglichst gänzlich in ihre ausgewählte Rol­ eintauchen. Das Spielverhalten ist an Regeln ordnenden Rahmens le(ludus) gebunden und muss zugleich innerhalb dieses ordnenden Rahmens improvisiert werden improvisiert werden.“ (paida). Während im Digitalen die Handlungs-

Wer spielt, tut so, als ob (mimikry): Im MMORPG (Massively Multiplayer Online ­Role-Playing Game) schlüpfen die Spielenden in die Rolle ihrer Avatare und entwickeln ihre Charaktere zumeist über längere Zeiträume hin­ weg. Solche Charakterspiele sind jedoch nicht an das Digitale gebunden, wie der dokumenta­ rische Low-Budget-Film Nur ein Spiel (2009) von ­Michael Schilhansl zeigt. Die analogen Formen, die das MMORPG wesentlich geprägt haben, sind das Tischrollenspiel mit Stift und Papier und das

und Entwicklungsmöglichkeiten durch den Code des Spiels vorgegeben sind, müssen die Re­ geln im analogen Rollenspiel durch die Spieler erdacht und kontrolliert, über Sinn und Unsinn von Handlungen diskutiert werden. Anschaulich für eine frühere Form des Rollenspiels ist die Commedia dell‘arte, eine Theaterform vor Jahrmarktpublikum aus dem Italien des 16. Jahrhunderts. Die Schauspie­ ler_innen wählen zwischen stereotypen Charak­ teren, wie dem wohlhabenden Pantalone oder dem närrischen Arlecchino. Innerhalb des ge­ setzten Korridors aus Geschlecht, Berufsstand, Alter sowie spezifischen Verhaltensweisen und Wesensmerkmalen interpretieren sie die eigene Rolle in der Interaktion zwischen Mit- und Ge­ genspielenden. Einmal eine Rolle angenommen, wechseln die Komödiant_innen traditionell nicht zu einer anderen Figur, sondern entwi­ ckeln – ähnlich den MMORPG-Spieler_innen – ihre Charaktere stetig weiter.

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Der Kulturtechnik des Spieles nähert sich Roger Caillois, indem er der Vielfalt der Spielformen Merkmale – ilinx, mimikry, agon, alea – und Pole – ludus und paida – zuordnet. Dynamisch verstanden kommen diese in sämtlichen Kombi­ nations- und Ausprägungsmöglichkeiten vor, im Analogen wie im Digitalen. Während das eine Merkmal im Digitalen eine Ausweitung erlebt, stößt das andere auf neue Grenzen.


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Berechnungen im Spiel können nie sei­ nen Verlauf in Gänze vorhersagen. Der Zufall (alea) schafft neben Spannung und Lust auch den Rahmen eines Spiels – so besteht er bei einfachen Würfelspielen nur aus sechs Möglich­ keiten. Im Digitalen kann der Zufall durch Algo­ rithmen auf Millionen von Möglichkeiten erhöht werden. In The Stanley Parable (2011) des Ent­ wicklerteams The Galactic Café werden die Spie­ lenden in Egoperspektive in ein Labyrinth ihrer eigenen Entscheidungen geführt. Der Erzählung können sie folgen oder nicht. Mal spielen sie als Stanley, dann wieder nicht. Auf jede Handlung folgt ihr Widerspruch. Das Spiel reflektiert vor­ programmierte Aktions-Reaktionsmuster von Mainstream-Computerspielen und führt sie so ad absurdum. Trotz des Wissens um das So-tun-als-ob nehmen Spielende die eigene Rolle und ihr Ver­ halten ebenso ernst wie die der Mitspielenden. Im Spielen richtet sich das Handeln auf den Pro­ zess des Spielgeschehens aus. Überlässt man sich dem Narrativ des Spiels, scheint man in die­ se Erzählung einzutauchen. Mit Gernot Böhme gesprochen wird die Immersion durch Interakti­ vität ins Spiel getragen – im Digitalen antworten Sound und Vibrationen sensuell auf die virtuelle Präsenz im Spielgeschehen. Eine solche Immer­ sion kann einen Rauschzustand (ilinx) ermög­ lichen, indem die eigene Leiblichkeit vor dem Computer aus dem Bewusstsein gedrängt wird.

„Trotz des Wissens um das So-tun-als-ob nehmen Spielende die eigene Rolle und ihr Verhalten ebenso ernst wie die der Mitspielenden.“ Im Spielraum des Als-obs beziehen sich die direkten Konsequenzen des eigenen Han­ delns auf diesen Raum selbst. Besonders für wettkampforientierte Spiele ist diese Prämisse wichtig. Im Wettkampf (agon) verfügen Spiel und Krieg über ähnliche Eigenschaften. So tei­ len sie die Gegenüberstellung von Gegner_in­ nen, wie etwa im Schach oder auch in vielen MMORPG. Dabei unterscheiden sich kriegssi­ mulierende Spiele dennoch fundamental vom Ernstfall, weil Zufall und körperliche Gewalt als grundlegende Eigenschaften des Krieges stets nur inszeniert und nie erlebt werden. Dennoch werden und wurden solche kriegssimulieren­ den Spiele nicht nur zur Unterhaltung, sondern


auch zu militärischen Zwecken entwickelt. Kö­ nig Friedrich Wilhelm III. erklärte das Taktische Kriegsspiel offiziell zur Trainingsmethode. Seine Offiziere konnten mit verschiedenen Bausteinen auf einer ausklappbaren Deckenplatte einen Kriegsschauplatz simulieren. Als Marketingtool für die Rekrutierung ließ das US-Pentagon ein sogenanntes Serious Game entwickeln. Die Spie­ lenden treten als virtuelle Soldat_innen in eine Kulisse, die in Architektur und Vegetation dem Irak ähneln soll. Der US-amerikanische Künst­ ler Joseph DeLappe zog 4474 Mal in das virtu­ elle Kriegsgebiet: so häufig, wie es tatsächlich gefallene US-Soldaten in diesem Krieg gab. Mit jedem virtuell tödlichen Schuss setzte er die­ sen ein Denkmal. Er gab Namen, Alter, Einheit und Todesdatum der Gefallenen im Text-Messa­ ging-System ein. In Screenshots hält er die un­ mittelbaren Reaktionen der Mitspielenden fest.

Das Spielen produziert seinen Sinn hier nicht mehr nur für den eigenen Spielraum, ist nicht mehr konsequenzlos für den Raum außer­ halb des Spiels. Die Realitäten des Spiels und Nichtspiels wirken ineinander und im Digitalen verschwinden begrenzte Räume – für die Kultur­ technik des Spielens ist dieser Balanceakt auch eine Frage danach, wo gespielt werden darf und wo nicht. 37

„Krieg und Spiel teilen die gegnerische ­Gegenüberstellung, wie etwa im Schach oder auch in vielen MMORPG.“

Gernot Böhme: Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik. Frankfurt am Main: 1995. Roger Caillois: Das Spiel und das Heilige. In: Ders.: Der Mensch und das Heilige. München, Wien: 1988, S. 202216. Mathias Fuchs et al.: Rethinking Gamification. Lüneburg: 2014. Stephan Schwingeler: Die Raummaschine. Raum und Perspektive im Computerspiel. Glückstadt: 2008.


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Georg Leopold Baron von Reiswitz (1812): “Domänen- und Kriegsrat: Kommode für Friedrich Wilhelm III.” Foto: Roman März, 1999, © Haus Hohenzollern, SKH Georg Friedrich Prinz von Preußen, SPSG


Maurice Sands (1860): “Masques et bouffons (comédie italienne)”, Illustrationen. Aus: Karl Riha (1980): Commedia dell‘ arte. Insel Suhrkamp

Aus rechtlichen Gründen keine Vorschau


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Joseph DeLappe (2006-2011): “dead-in-iraq”, Filmstills




„Die Kamera sieht, das Smartphone weiß“

Über wachen


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„Die Kamera sieht, das Smartphone weiß“


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Alphonse Bertillon (1890): “Bertillonage. Séance de mesurations: mensuration du crâne, face et plongée, 1890.” (1911), Detail. Aus: Identity and Alterity. Figures of the Body 1895/1995, la Biennale di Venezia. Venedig 1995, S. 112

„Mit einer umfassenden Verbrecherkartei kann man straffällige Personen vermeintlich eindeutig identifizieren.“


Bertillon entwickelt seinen Ansatz der Datenerfassung in einer Zeit, in der die Physio­ gnomik populär als wissenschaftliche Methode zur Verbrechererkennung wird. Grundgedanke der Physiognomik ist, dass von den physischen Merkmalen eines Menschen auf seinen Cha­ rakter geschlossen werden kann. Die früheste bekannte Schrift, die einen Zusammenhang zwischen Äußerem und Inneren einer Person be­ schreibt, wird Aristoteles und seinen Schülern im 4. Jahrhundert v. Chr. zugeschrieben. Überwachung kann jedoch auch zu ­einem Mittel staatlicher Repression werden, wie es etwa in der DDR praktiziert wurde. Mit analo­ gen, möglichst kleinen Abhörgeräten verwanzten sogenannte Inoffizielle Mitarbeiter des Minis­ teriums für Staatssicherheit Privatwohnungen ebenso wie öffentliche Einrichtungen, um

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Überwachung stützt sich auf technische Appa­ rate, um körperliche Spuren der Überwachten zu sammeln, festzuhalten und gegebenenfalls beobachtete Gesetzesübertretungen zu sankti­ onieren. Mit der Entwicklung der Fotografie im 19. Jahrhundert entsteht ein Verfahren, mithilfe dessen man die physische Präsenz vermeintlich indexikalisch auf ein Bildmedium bannen kann. Indexikalität meint die Idee, dass der materielle Gegenstand mittels der reflektierten Lichtstrah­ len auf der fotografischen Platte direkt abgebil­ det wird. Der französische Kriminologe Alphon­ se Bertillon bedient sich dieser noch jungen Technik, als er 1879/80 eine Methode zur Erfas­ sung und Identifikation straffälliger Personen entwickelt. Das Ergebnis dieser später auch nach ihm benannten Methode der Bertillonage ist eine umfassende Verbrecherkartei, denn von jeder/ jedem mutmaßlichen Straftäter_in legt Bertillon neben dem Vermerk von elf Körpermaßen auch zwei Fotografien – eine im Profil, eine frontal – ab. Somit ist es möglich, straffällige Personen vermeintlich eindeutig zu identifizieren.


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mögliche Dissident_innen überführen und dis­ ziplinieren zu können. In den Informationsberichten wurden die aufgezeichneten Gespräche verschriftlicht und akribisch in Personenakten gesammelt. Im Verlauf eines solchen Berichts vom 14.12.1982 offenbart sich insbesondere die tragische Ironie der Aufzeichnung einer Über­ wachung, derer sich die Überwachten häufig bewusst sind: Guck mal, hier! – [geschwärzt]: Stasi? War hier? [geschwärzt] bejaht die Frage und spricht von dem kleinen Knilch den sie schon mehrmals gesehen hat und [geschwärzt] ergänzt, daß ‚der‘ sie beschattet hat. Sie berichtet, daß sie am Donnerstag ‚dorthin‘ müssen und zeigt die ‚Einladung‘.

Die Digitalisierung eröffnet völlig neue Arten der Informationserfassung, bei der die Physis der überwachten Personen immer mehr in den Hintergrund rückt. Die Assemblage wird zum neuen Paradigma der Überwachungsstrate­ gien im Digitalen. Hierbei werden Daten aus un­ terschiedlichen Quellen zusammengeführt, die es in dieser Form nicht im Analogen gibt, um sie zu einem umfassenden Datendouble des Über­ wachten zusammenzustellen. Bewegungsmus­ ter können etwa über die Ortung des Smartpho­ nes erstellt werden. Mithilfe von Algorithmen sollen die gespeicherten personenbezogenen Daten auch mögliches Verhalten vorhersagen. Eklatant sichtbar wird diese Intention am Vorge­ hen der signature strikes der US-amerikanischen CIA. Hierbei wird nicht wie in der klassischen Kriminalistik ein Täter nach der Tat überführt,

„Überwachung kann zu einem Mittel staatlicher Repression werden.“


Zygmunt Bauman, David Lyon: Daten, Drohnen, Disziplin. Ein Gespräch über flüchtige Überwachung. Berlin 2013. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt 2013, Erstveröffentlichung auf Französisch: Surveiller et punir. La naissance de la prison. Paris 1975. Kevin D. Haggerty; Richard V. Ericson: The surveillant assemblage. In: British Journal Of Sociology, 2000 Sep, Bd. 51(4), S.605-622. David Lyon: The Electronic Eye. The Rise of Surveillance Society. Cambridge 1994.

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sondern die Wahrscheinlichkeit für einen ter­ riskant eingestuft. Die Folgen für die Zielperson roristischen Akt mithilfe geheimer Algorithmen können schwerwiegend sein. So arbeitet das berechnet. Als Datengrundlagen dienen digitale US-Militär mit der Option, solche Staatsfeinde Spuren der/des Verdächtigten wie Bewegungs- durch gezielte Drohnenangriffe zu töten. Der dä­ und Konsummuster nische Künstler Ruben sowie Teilnahme und „Mithilfe von Algorithmen sollen Pater macht mit seinem Ko m m u n i ka t i o n s­ Survival Guide die gespeicherten, personen­be­ Drone verhalten in als ‚ge­ (2012) auf die Gefahren zogenen Daten mögliches fährlich‘ eingestuften der neuen Form techno­ Personen-Netzwer­ logischer Kriegsführung Ver­­ h alten vorhersagen.“ ken. Ergibt die Be­ aufmerksam. Sein Leit­ rechnung eine hohe Wahrscheinlichkeit einer faden enthält Abbildungen der 27 bekanntesten zukünftigen terroristischen Handlung gegen Drohnentypen und Informationen darüber, wie die USA, wird das betreffende Individuum als man sich vor dem Kamerablick schützen kann.


Aus rechtlichen Gr端nden keine Vorschau


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Chris Oakley (2004): “The Catalogue”, 5’30’’, Filmstills


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“Identi-Kit-Koffer zur Erstellung von Phantombildern bei der Außenstelle Gera des Ministerium für Staatssicherheit (MfS)”, Leihgeber: Museumsstiftung Post und Telekommunikation / Museum für Kommunikation Frankfurt, Foto: Arkadij Koscheew, 2015

Ruben Pater (2013): “Drone Survival Guide”, Detail

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„Abklatsch, Wissenstransfer, Originalkopie – Piraten überall?“

Kopieren


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„Abklatsch, Wissenstransfer, Originalkopie – Piraten überall?“


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Felix Groll (2012/2013): “Ex Machina Computative Gestricke – Triangulierte Netze – Gyroide Geometrien”, Leihgabe des Künstlers, Foto: Arkadij Koscheew, 2015


Vervielfältigen, Nachahmen und Zitieren sind Techniken des Kopierens. Ohne solche Strate­ gien wären neue Ideen in Kunst und Wissen­ schaft kaum denkbar. Der Weg zu einer Inno­ vation in der Forschung oder einer eigenen künstlerischen Position führt meist über die Auseinandersetzung mit bereits Bestehendem. Auch das Vorhandene trägt bereits Aneignung und Beeinflussung durch Werte, Traditionen und frühere Ideen in sich. Gemeinhin wird dem Kopieren jedoch ein produktiver oder kreativer Anteil weitgehend abgesprochen. Formen des Zitats bilden ver­ breitete Kunstpraxen: Ein Pastiche in der Kunst und der Remix in der Musik folgen Prinzipien des Kopierens, indem sie Bestehendes in neue Zusammenhänge überführen. Sie zeichnen ihre reproduzierten Anteile bewusst als solche aus,

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„Vervielfältigen, Nachahmen und Zitieren.“


um sich in eine Tradition einzureihen oder die­ se zu kommentieren. Die kreative Kopie kann zugleich eine im Original noch nicht intendierte Bedeutung etablieren. Sie wird zu einem weite­ ren Original.

„Gemeinhin wird dem Kopieren ein produktiver oder kreativer Anteil weitgehend abgesprochen.“

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Die Strategien des Kopierens sind jedoch ju­ ristisch strukturiert. Le­ gale und illegale Formen des Kopierens liegen nahe beieinander. Die Abgren­ zung des Erlaubten vom Verbotenen ist oft nicht eindeutig. Gerade im Internet sehen sich auch Privatnutzer_innen alltäglich mit rechtlichen Abwägungen kon­ frontiert. Die in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts etablierten Urheberrechte fassen die Kulturtechnik des Kopierens trotz weitgrei­ fender technischer Neuerungen bis heute recht­ lich ein. Die Einordnung als Original bzw. Kopie bleibt das zentrale Kriterium. Wird Musik über Online-Tauschbörsen heruntergeladen, handelt es sich in Deutschland um eine Copyright-Ver­ letzung. Komplizierter wird die rechtliche Frage zudem, wenn nicht nur reproduzierend kopiert wird, sondern mit der Kopie etwas kreativ Neu­ es, ein weiteres Original entsteht.

Beim Sampling etwa wird eine Auswahl (zu englisch: sample) einer abgeschlossenen Komposition entnommen; es kann sich dabei um einen einzelnen Ton, einen Soundeffekt oder eine ganze Passage der Komposition handeln. Die ausgewählte Tonspur wird dafür zumeist digitalisiert und gespeichert, um dann bearbei­ tet und in eine neue Komposition übertragen zu werden. Solche kopierten Tonspuren provozie­ ren regelmäßig Rechtsstreits. Der dänische Dokumentarfilm Good Copy Bad Copy (2007) von Andreas Johnsen, Ralf Christensen und Henrik Moltke beleuchtet diese verschiedenen Formen digitalen Kopierens. Hier wird deutlich, dass die nationalen rechtlichen Schranken immer wieder am globalen Tausch­ handel, der über das Internet praktiziert wird, scheitern müssen.


„Die nationalen rechtlichen Schranken scheitern immer wieder am globalen Tauschhandel, der über das Internet praktiziert wird.“ Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. 22. Auflage. Frankfurt am Main 1996. Mercedes Bunz: Vom Speicher zum Verteiler. Die Geschichte des Internet. Berlin 2008. Dirk von Gehlen: Mashup. Lob der Kopie. Berlin 2011. 57

Eine weitere Form des digitalen Kopierens zeigt sich in einem freien Wissensaustausch, wie er etwa in Video-Tutorials stattfindet. Die Basis ist hier die Offenlegung eines Spezialwis­ sens und seine lizenzfreie Nachahmung. Die ­Open-­Source- und Open-Content-Gemeinschaf­ ten stehen für die uneingeschränkte Kopierbar­ keit zur Weiterentwicklung von Software bzw. digitalen Inhalten. Dieser Ansatz wirkt ins Ana­ loge zurück: Open-Design- und Do-It-­YourselfBewegungen praktizieren dieses Verständnis im Materiellen. 3D-Drucker ermöglichen es bei­ spielsweise, industrielle Objekte selbst zu (re-) produzieren und zu verbessern oder computer­ generierte Formen in analoge Kopien umzuset­ zen. Mit Letzterem experimentiert Felix Groll in seinem Designexperiment Ex Machina (2012/13). Die Objekte aus diesem Experiment basieren auf einem Algorithmus; der 3D-Drucker ermög­ licht die Übersetzung der abstrakten Formel in greifbare Objekte. Schon wenige gezielte Varia­ tionen einer einzigen Formel ergeben ein breites Spektrum an Formen, Oberflächen und Material­ eigenschaften. Nicht selten entstehen dabei Ge­ genstände, die mit traditionellen Fertigungsver­ fahren so nicht realisierbar wären.

Grolls Leitfrage How to turn data into things, and things into data spielt auch in der künstlerischen Arbeit von Gunnar Friel und Anja Vormann eine Rolle. In Ctrl+c/ Ctrl+v: The Living Park (2002) werden organische Strukturen einer Parklandschaft wie Computerdaten erfasst und an anderer Stelle eingefügt. Einzelne Versatz­ stücke der Parkanlage finden sich dupliziert an anderer Stelle im Park wieder. So wird die all­ tägliche Technik des Copy and Paste in den or­ ganischen Raum überführt. Was in der digitalen Bildbearbeitung Natürlichkeit suggeriert, wirkt in der Natur selbst künstlich.


Gunnar Friel, Anja Vormann (2002): “Ctrl+c / Ctrl+v: The Living Park”, Leihgabe der Künstler Buxusbusch Installation 1, C-Print, 12,5 x 18,7 cm

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Buxusbusch Installation 2 (Totale), C-Print,12,5 x 17,8 cm


Installation doppelter Weg, C-Print, 12,8 x 19 cm

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Installation doppelter Weg, print google earth Screenshot, 11,5 x 15 cm



Ansicht: Station Kopieren, zu sehen: Felix Groll (2012/2013): “Ex Machina Computative Gestricke – Triangulierte Netze – Gyroide Geometrien”, Leihgabe des Künstlers, Foto: Arkadij Koscheew, 2015


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Aby M. Warburg (1924 – 1929): “Tafel 55, Mnemosyne-Bilderatlas”, Rekonstruktion, Leihgeber: 8. Salon, Hamburg, Foto: Arkadij Koscheew, 2015


Protestieren & Informieren „Ströme aufhalten – eigene Kanäle graben“


nereitsetorP nereimrofnI & Aus rechtlichen Gründen keine Vorschau

Aby M. Warburg (1924 – 1929): “Tafel 55, Mnemosyne-Bilderatlas”, Rekonstruktion, Leihgeber: 8. Salon, Hamburg, Foto: Arkadij Koscheew, 2015


„Ströme aufhalten – eigene Kanäle graben“


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Unbekannter Künstler (1796): “Liberté de la presse”, Kolorierte Radierung, Reproduktion


Im Protest machen die Protestierenden ihre Meinung, die sich gegen aktuelle politische Zu­ stände richtet, publik, und versuchen, auf den öffentlichen Diskurs einzuwirken. Weil die me­ diale Berichterstattung eine öffentliche Meinung zeichnet, von der sie sich nicht repräsentiert fühlen, müssen sie abseits von traditionellen Medien wie Rundfunk oder Zeitung agieren. Um ihre Informationen zu teilen, nutzen sie alterna­ tive Kommunikationskanäle, ohne ins Agenda Setting großer Medienhäuser aufgenommen zu werden und zuvor deren sogenannte G ­ atekeeper passieren zu müssen.

Solche alternativen Kanäle spannen sich im Digitalen zu globalen Netzwerken Gleichge­ sinnter, die sich zum Protest zusammenschlie­ ßen und austauschen können. Die Video- und Fotofunktion von Smartphones verleiht De­ monstrierenden mehr Kontrolle über die Doku­ mentation und Verbreitung ihrer Botschaften. Beispielsweise kann aufgenommenes Beweis­ material von Missständen vor Ort die eigene Position untermauern. Zugleich können Bilder jedoch auch zur Propaganda instrumentalisiert werden. Scheinbar authentisches Material könn­ te ein Fake oder aus dem Kontext gerissen sein. Soziale Medien werden als Plattformen des ungefilterten Zeigens und unmittelbaren Austausches bespielt und verbinden die On­ line-Welt des Privaten mit der des Politischen.

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„Soziale Medien verbinden die Online-Welt des Privaten mit der des Politischen.“


Die Vernetzung Gleichgesinnter läuft schnell ab und ist durch staatliche Kontrolle kaum einzu­ schränken – ebenso wenig wie die Verteilung und Multiplikation von Botschaften.

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Anders verhält es sich bei Widerstands­ gruppen, die auf analoge Medien und persönli­ che Interaktion angewiesen sind. Ein bekanntes Beispiel stellt die Gruppe Weiße Rose dar. Ihre Mitglieder äußerten ihren Protest am damaligen NS-Regime über sechs re­ gimekritische Flugblätter, die sie an den eigenen Uni­ versitäten verteilten und per Post verschickten. Das politische Kollektiv Kommune I agierte von West­ berliner Wohngemeinschaften aus, die 1967-69 zum Zentrum ihres unkonventionellen Lebens­ konzepts und politischen Aktivismus wurden.

gleichen Guy Fawkes-Maske auf und bei Protest­ aktionen im Netz ist der Einzelne und das Kol­ lektiv nicht identifizierbar. Protestieren funktioniert nicht nur über die Verbreitung der eigenen Meinung, sondern auch über einen Eingriff in die kritisierten Ins­ tanzen. In der 68er-Studentenbewegung wurde der Körper in Sit-Ins zum Protestwerkzeug und zur Blockade. Eine sogenannte DDoS-Attacke kann als digitales Pendant zum Sit-In beschrieben wer­ den: Greifen große Mengen von Usern gleichzeitig auf die gleiche Website zu, kann diese überlastet und somit blockiert werden. Eine weitere Technik des Netzaktivismus ist das Defacement: Die Protestierenden hacken eine Website und platzieren ihre Kritik. Dabei be­ kommt zumeist die Startseite ein neues, durch sie gestaltetes Gesicht. Der Begriff Hacktivismus benennt diese Praxis des politischen Aktivismus im Digitalen.

„Die DDoS-Attacke ist ein digitaler Sit-In.“

Online-Communities wie Anonymous funktionieren und agieren hingegen dezentrali­ siert und ihre Mitglieder bleiben auch unterein­ ander anonym: Auf der Straße treten sie mit der


etwa die rote Sonne, die mit Atomkraft – Nein Danke! die Anti-AKW-Bewegung seit den 1980er Jahren begleitet. Zur Solidarisierung kommuni­ zieren Sympathisant_innen diese Symbole – im Analogen etwa als Aufnäher an ihrer Kleidung. Im Digitalen kommt ein Kommunikationstool hinzu, ein Zeichen, das die Bündelung von In­ formation verbessert: Ein Hashtag ermöglicht durch die Verschlagwortung, dass Informatio­ nen zu einem Thema schnell, einfach und frei zugänglich sind. Dies verändert die traditionelle Berichterstattung eklatant. Schon wenige Stun­ den nach Ausbruch der Proteste am Gezi Park 2013 gab es ca. zwei Millionen Tweets, kurze Nachrichten im sozialen Netzwerk Twitter, mit den Hashtags #gezi und #occupygezi. Der Hash­ tag wird nicht nur zum digitalen Schlagwort für Informationen im Netz, sondern darüber hinaus zum politischen Ausruf.

Donatella della Porta, Alice Mattoni (Hrsg.): Spreading Protest: Social Movements in Times of Crisis. Colchester: 2014. Marcus Maurer: Agenda Setting. Baden-Baden: 2010. Alain Touraine: Die postindustrielle Gesellschaft. Frankfurt a. M: 1972.

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„Der Hashtag wird nicht nur zum digitalen Schlagwort für Informationen im Netz, sondern darüber hinaus zum Häufig werden eingängige Slogans und Bilder zu Synonymen einer Protestgruppe, wie politischen Ausruf.“



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“Flugblatt der Weißen Rose” (1942), Gedenkstätte ­­ Deutscher Widerstand, Berlin


Shiloh Silverman (31.5. - 3.6.2013): ­“#OCCUPYGEZI Gezi Park Protest”, Smartphone-Video, 9’04’’, 23.754 Aufrufe auf youtube.com zu Beginn der Ausstellung.

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Sitzblockade in Frankfurt/Main am 30.05.1968. (© AP)


Selbst repräsen tieren

„Das Leben als Erzählung – im Abbild die Ewigkeit überdauern“


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Sitzblockade in Frankfurt/Main am 30.05.1968. (© AP)


„Das Leben als Erzählung – im Abbild die Ewigkeit überdauern“


„Die Vergegenwärtigung des physisch Abwesenden.“

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Totenmaske Friedrich des Großen (o.J.), Gips, Detail


„Bilder werden zu Akteuren von Erzählungen.“

Ein frühes Beispiel hierfür stellt die To­ tenmaske dar, die schon im Alten Ägypten ange­ fertigt wurde. Bei dieser Art der Memorialprak­ tik wird zunächst eine pastose Wachsschicht auf das Gesicht aufgetragen, die so das Negativ für eine Gipsfüllung bildet. Dieser Abzug kann dann sowohl als Erinnerungsstück als auch als Reprä­ sentant bei Beisetzungszeremonien dienen. Das Vokabular von Negativ und Abzug verweist auf die späteren Techniken der Fotografie, die eben­ falls auf das Prinzip des physischen Abdrucks rekurrieren. Vor der Entwicklung der Fotografie war das Genre des Porträts lange Zeit ­ Repräsen­­­-­ tant_innen eines Staates und der gesellschaft­ lichen Elite vorbehalten. Die Etablierung des fotografischen Verfahrens demokratisiert diese Praktik jedoch. Abzüge von Momentaufnahmen werden in Fotoalben gesammelt. Im Kreis einer kleinen Öffentlichkeit von Freund_innen oder der Familie der Autor_innen werden die Bilder zu Akteuren von Erzählungen.

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Selfie oder Porträt, ein Post oder eine Postkarte: Sie vergegenwärtigen die physisch Abwesenden und treten als deren mediale Stell­ vertreter auf. Sie stellen dar und inszenieren. Zugleich speichern sie und geben wieder, was ohne diese Medien an die körperliche Präsenz in Raum und Zeit gebunden wäre.


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„Die Gestaltung des eigenen ­ Profils ist größtenteils automatisiert und lässt wenig Spielraum für alternative Erzählmodelle.“ Auch im Digitalen werden Momente durch Bilder und Erzählungen (re-)konstruiert. Allerdings haben sich Bildproduktion, -verar­ beitung und -verbreitung enorm beschleunigt. Mit ihrem/seinem Smartphone kann jede_r eine Aufnahme schießen und sofort in ihr/sein di­ gitales Fotoalbum in den sozialen Netzwerken hochladen. Die Kommentarfunktion ermöglicht sofortige Reaktionen anderer User_innen auf die Bilder und damit eine gemeinsame Konstruktion des Erlebten.

Nicht nur die Benennung der digitalen Bildersammlung als Fotoalbum bei facebook referiert auf ein analoges Format und erinnert an seine Einbindung an analoge Praktiken. Die Selbstpräsentation der Nutzer_innen in einer persönlichen Chronik (bzw. timeline) verweist auch auf das Genre der Autobiografie. Doch die Gestaltung des eigenen Profils ist größtenteils automatisiert und lässt wenig Spielraum für alternative Erzählmodelle. Die


Vorgabe einer Zeichenbegrenzung für Beiträge bei Twitter oder die Begrenzung auf unterstützte Dateiformate auf facebook schränken die Erzäh­ lung der Benutzer_innen letztendlich stark ein.

Philippe Ariès: Geschichte des Todes, München: Dt. Taschenbuch-Verlag, 2005. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt: Suhrkamp, 2012. Alma-Elisa Kittner: Visuelle Autobiographien. Sammeln als Selbstentwurf bei Hannah Höch, Sophie Calle und Annette Messager, Bielefeld: Transcript-Verlag, 2009. Bernd Neumann: Von Augustinus zu Facebook. Zur Geschichte und Theorie der Autobiographie, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2013.

Die Frage, wie nicht nur die Biografie eines_r Einzelnen repräsentiert werden kann, sondern die der gesamten Menschheit, stellte sich in den 1970er Jahren die NASA. Auf zwei ver­ goldeten Kupferplatten wurden die sogenannten Voyager Golden Records gespeichert und an den Außenwänden der interstellaren Raumsonden Voyager 1 und 2 befestigt. Die gespeicherten Bild- und Audiodaten sind als Botschaft an in­ telligentes, außerirdisches Leben adressiert. Für die nächsten 500 Millionen Jahre – so der Ver­ fallswert der Platten – sollen sie Zeugnis und Re­ präsentation der menschlichen Kultur sein. Eine Anleitung zum Abspielen bzw. Dekodieren der Daten bildet das Cover ab.

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Eine experimentelle Erzählform der ei­ genen Lebensgeschichte wählt der kanadische Regisseur Guy Maddin in seiner surrealen, semi­ autobiografischen Dokumentation My Winnipeg (2007). Die prägenden Orte seiner Kindheit wer­ den zum Schauplatz für seine persönlichen Er­ innerungen; Schauspieler_innen übernehmen die Rollen seiner Familienmitglieder. Maddin verwebt Fakt, Fiktion und Erinnerung zu einem Porträt seiner Heimatstadt, das zwischen histo­ rischer Chronik, persönlicher Geschichte und urbanem Mythos changiert.


Aus rechtlichen Gr端nden keine Vorschau


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Guy Maddin (2007): “My Winnipeg”, 97’’, Filmstills


Fotoalbum (20. Jhd.), Detail



Voyager Golden Record (1977)

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Team SARAH K. BECKER (*1987) studierte Kunstwissenschaft und Medienwissenschaften in Braunschweig und Mai­ land. Seit 2012 ist sie Studentin der Kulturwissenschaft in Berlin und am Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik für grafische Gestaltung und Veranstaltungsorganisa­tion zuständig. Ausstellungspraxis sammelte sie als Kura­ torin der Ausstellung Humanimal und als Tutorin beim studentischen Projekt Mensch Macht Pferd. Gemeinsam mit Arkadij Koscheew und Mona Wischhoff initiierte und leitete sie Alles bleibt anders. Interessenschwerpunkte sind Memorialpraktiken und deren Medien sowie ästhe­ tische Praxis. 84

CHRISTIAN ERNST (*1993) studiert Kommunikationsde­ sign an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Ber­ lin und arbeitet freiberuflich für verschiedene Medien­ agenturen. Für Alles bleibt anders entwarf er die internen und externen Printprodukte.

beschäftigt sich in ihrem Masterstudium der Intercul­ tural Communication Studies mit Fragen nach interna­ tionaler Zusammenarbeit und Gender Studies. Sie ist als Werkstudentin bei Wikimedia Deutschland in Berlin tä­ tig. An der Ausstellung Alles bleibt anders wirkte sie als Bereichskuratorin der Station Spielen mit und betreute redaktionell die Ausstellungsdokumentation. EVA LÜTTMANN (*1985) schloss 2013 ihren Master of Science in Architektur an der Technischen Universität Berlin ab. Sie arbeitet selbstständig mit Fokus auf Bau­ en im Bestand. Zudem übersetzt sie ihre technische und gestalterische Expertise gern in andere Felder und Maß­ stäbe. Für Alles bleibt anders entwickelte sie die Ausstel­ lungsarchitektur und verantwortete ebenso deren Um­ setzung.

ARKADIJ KOSCHEEW (*1993) studiert seit 2012 im Ba­ chelor Kulturwissenschaft und Kunst- und Bildgeschich­ te an der Humboldt-Universität zu Berlin. Am Tier­ anatomischen Theater ist er für Führungsbetrieb und technischen Support zuständig. Gemeinsam mit Sarah K. Becker und Mona Wischhoff initiierte und leitete er Alles bleibt anders. Seine Interessenschwerpunkte liegen in französischer Philosophie des (Post-)Strukturalismus, zeitgenössischer Kunst und ihren theoretischen Grundlagen sowie ästheti­ schen Theorien des 20. Jahrhunderts.

TERESA REICHERT (*1989) studierte Bildende Kunst an der University of the Arts in London. Darauf folgten Aus­ stellungsbeteiligungen in London, Birmingham und Mai­ land. Fotografie, Video sowie medienübergreifende Ins­ tallationen bilden den Schwerpunkt ihrer künstlerischen Arbeit. Von 2011 bis 2014 studierte sie Kunstgeschichte und Kulturwissenschaft in Berlin. Seit 2010 ist sie an verschiedenen kuratorischen Projekten in England und Deutschland beteiligt. Zur Zeit studiert sie im postgradu­ alen Masterstudiengang Art in Context an der Universität der Künste Berlin. An der Ausstellung Alles bleibt anders war sie als Bereichskuratorin der Station Protestieren und Informieren beteiligt.

GWEN LESMEISTER (*1988) studierte Kulturwissen­ schaften in Lüneburg und Rom. Als ASA-Stipendiatin ar­ beitete sie im Nias Heritage Museum in Indone­sien und

JOHANNA SCHNEIDER (*1987) studierte Grafikdesign in Hannover und Breda (NL) und ist seitdem als Grafikde­ signerin im Bereich Editorial Design tätig. Als Grafikerin


ANNA LENA SEISER (*1985) studierte Medienkultur in Weimar und Belo Horizonte, Brasilien. Ihre Masterarbeit im Fach Europäische Medienwissenschaft am Institut für Künste und Medien der Universität und der Fachhoch­ schule in Potsdam untersuchte die Entwicklungen der Repräsentationen und Rekonstruktionen von Tieren an der Grenze von bildnerischer Tätigkeit und naturwis­ senschaftlicher Forschung am Beispiel der ‘Wiederbele­ bung‘ ausgestorbener Tiere innerhalb der Life Sciences. Nachdem sie im Tieranatomischen Theater bereits die Ausstellung Humanimal mitkuratiert hatte, wirkte sie an der Ausstellung Alles bleibt anders als Bereichskuratorin der Station Kopieren mit. LINDA WINKLER (*1989) machte ihren Bachelor of Arts in Medien- und Kulturwissenschaft in Düsseldorf. Seit 2012 studiert sie im Master Kulturwissenschaft in Ber­ lin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Film- und Mediengeschichte, die sie mit Fragen und Kon­ zepten aus Gedächtnistheorie und Erinnerungskultur verbindet. Für Alles bleibt anders beschäftigte sie sich mit Formen medialer Selbstinszenierung und war als Bereichskuratorin an der Station Selbstrepräsentieren be­ teiligt. Zudem wirkte sie am Rahmenprogramm der Aus­

stellung mit, unter anderem durch die Organisation eines Überwachungsspaziergangs durch Berlin-Mitte. MONA WISCHHOFF (*1986) schloss ihren Bachelor of Arts in Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg ab. Derzeit studiert sie im Master Kulturwissenschaft in Berlin. Sie ist als Redakteurin des Magazins Stadtaspekte tätig. Am Tieranatomischen Theater ist sie für die Presseund Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Als Kuratorin war sie an der Ausstellung Humanimal und dem Biopic zum Veterinärmediziner Wilhelm Nöller beteiligt. Als Tutorin unterstützte sie ein Praxisseminar, aus dem die Ausstel­ lung Mensch Macht Pferd hervorging. Gemeinsam mit Arkadij Koscheew und Sarah K. Becker konzipierte und leitete sie das Ausstellungsprojekt Alles bleibt anders. IRMELA WROGEMANN (*1990) ist gegenwärtig Master­ studentin der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunika­ tion an der Universität der Künste Berlin. Zudem studiert sie an der HPI School of Design Thinking und arbeitet als studentische Mitarbeiterin am Zentralinstitut für Weiter­ bildung der UdK. 2013 schloss sie mit einem Bachelor of Arts das Studium der Angewandten Kulturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Künste, Kulturkommunikation und -organisation an der Leuphana Universität Lüneburg ab. Bei Alles bleibt anders wirkte sie als Bereichskurato­ rin der Station Archivieren mit, baute die Kooperation mit der EU Code Week auf und unterstützte die Organisation des Begleitprogramms.

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gestaltet und illustriert sie u.a. Kunden- und Mitarbeiter­ magazine für unterschiedliche Branchen. Für das Aus­ stellungsprojekt Alles bleibt anders hat sie Illustrationen im Mixed-Media-Stil entworfen.


Dank 86

Leihgeber_innen & Künstler_innen

Eröffnungsabend in Kooperation mit

8. Salon Hamburg, Philipp Schwalb A MAZE. Anja Vormann und Gunnar Friel Arsenal Filmverleih Botspot GmbH BStU (Der Bundesbeauftrage für die Unter­ lagen des Staatssicherheitsdienstes der ehe­ maligen Deutschen Demokratischen Republik) Chris Oakley Christoph Keller Felix Groll Familie Heuer-Wischhoff Joseph DeLappe Landesarchiv Berlin, Dr. Martin Luchterhandt Mark Othmer Michael Schilhansl Museum für Kommunikation Frankfurt Ruben Pater Universtitätsbibliothek der Humboldt-­ Universität

EU Code Week, Prof. Gesche Joost, Steffi ­Hoffrichter

Referent_innen Bastian Schmidt Gesellschaft für Kulturoptimismus, Christiane Hütter und Friedrich Kirschner Dr. Peter Bittner


Impressum

Alles bleibt anders

Eine Ausstellung zu Kulturtechniken im Digitalen

Ausstellung

Katalog (intern)

IDEE UND LEITUNG

Hermann von Helmholtz-Zentrum

Kulturstiftende Praktiken wandeln und verschränken sich im Netz, produzieren aber auch Widersprüche.

Aktuelle Phänomene werden mit ihren historischen Vorläufern in den Sarah K. Becker für Kulturtechnik sieben Themenbereichen Kopieren, Spielen, Überwachen, Archivieren, Arkadij Koscheew REDAKTION Selbstrepräsentieren, Protestieren und Kodieren zusammengebracht. Mona Wischhoff Arkadij Koscheew ADMINISTRATIVE Gwen Lesmeister Idee und Leitung: PROJEKTLEITUNG Sarah K. Becker, Arkadij Koscheew, Mona Wischhoff & BERATUNG Dr. Cornelia Weber

Mona Wischhoff

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Felix Sattler

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Öffnungszeiten: KURATORINNEN Di - Sa / 14 - 18 Uhr

Eva Lüttmann kulturtechnik.hu-berlin.de/tat

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LEKTORAT Irmela Wrogemann GESTALTUNG / GRAFIK Sarah K. Becker unterstützt von Eva Lüttmann . Friedrichstr

(Zugang über Luisenstr. 56) AUSSTELLUNGSARCHITEKTUR

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Luisenstr.

Gwen Lesmeister Teresa Reichert Anna Lenageschlossen Seiser An Feiertagen Linda Winkler auf dem Campus Nord Irmela Wrogemann der Humboldt-Universität

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56

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Oranienburger Tor

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GRAFIK Christian Ernst ILLUSTRATION

„Alles bleibt Schneider anders – Eine Ausstellung zu Kulturtechniken im Digitalen“ ist Gewinner beim Johanna Hochschulwettbewerb „Mehr als Bits und Bytes – Nachwuchswissenschaftler kommunizieren ihre Arbeit“ und wird mit 10.000 Euro für die Umsetzung prämiert. Der Hochschulwettbewerb wird seit 2007 ausgeschrieben. Im Rahmen des Wissenschaftsjahrs 2014 – Die digitale Gesellschaft wird er von Wissenschaft im Dialog durchgeführt. Weitere Infos unter: www.hochschulwettbewerb2014.de und www.digital-ist.de.

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Eintritt frei KURATORISCHE BEGLEITUNG



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